Führungskräfte als Laiendiagnostiker und -therapeuten - angesichts von Depressionen und Burn-out setzt sich dieses Bild in Personalabteilungen und der Weiterbildungsbranche auf leisen Sohlen durch.
Zunehmend dringen psychologische und psychotherapeutische Modelle in den Pflichtenkatalog von Führungskräften ein. Verantwortungsvolle Führung wird heute häufig verknüpft mit „ganzheitlicher“, also umfänglicher Fürsorge für das Wohlbefinden von Mitarbeitenden – als gehorche diese Verknüpfung einem Naturgesetz. Die Kombination mit einer wuchernden Psychologisierung lässt Widerspruch dringend geboten erscheinen. Gerade wenn man dem Pathos der „Demokratisierung der Führung“, des „mündigen“ Mitarbeitenden, des „angestellten“ Entrepreneurs huldigt.
In ihrem neuen Buch warnt Unternehmensberaterin und Coach Regina Mahlmann vor einer weiteren Psychologisierung der Führungsaufgaben. Sie problematisiert die praktischen Zumutungen und grundsätzlichen Grenzen für Führungskräfte und Unternehmen und formuliert Vorschläge, wie diesem Trend Einhalt zu gebieten ist.
Ein provozierendes Buch, das die dringend fällige Kontroverse um verbreitete Zumutungen, Anforderungen und Appelle an Führungskräfte auslösen soll.
3. Regina Mahlmann
Unternehmen in der Psychofalle
Wege hinein. Wege hinaus.
Mein Coach. Mein Therapeut. Mein Chef.
BusinessVillage
Update your Knowledge!
5. „Führungskräfte sind verantwortlich für ihren Aufgabenbereich und müssen
Entscheidungen im betriebswirtschaftlichen Sinne fällen. (…) Eine ganzheit-
liche Betreuung von Mitarbeitern durch Vorgesetzte ist nicht nur eine Illusion,
sondern auch nicht in Einklang zu bringen mit den Zielsetzungen von Unter-
nehmen.“
Reiner Küster,
CEO Lorenz Snack World, Neu-Isenburg
„Führungskräfte haben ihre Kernkompetenz nicht in der psychologischen
Betreuung. Sie können Angebote machen, sind aber nicht dafür verantwortlich,
dass diese vom Mitarbeiter angenommen werden.“
Dr. Rüdiger Czapla,
bis Juni 2012 Director Sales Fachhandel, Coloplast, Hamburg
„Nach meinem Eindruck gibt es eine ganze Reihe an Mitarbeitern, die nicht
bereit sind, die Verantwortung für ihre eigene Persönlichkeit zu übernehmen.
Sie drücken sich davor und neigen dazu, das den Führungskräften anzulasten.“
Dr. Alfons Schräder,
Geschäftsführung Heise Zeitschriften Verlag, Hannover
„Ein Manager hat drei Aufgabenbereiche: Strategie – Ergebnisse – Personal.
Bei Personal muss ein Manager Empathie haben und zuhören können, aber
alles, was darüber an Psychologie hinausgeht, ist nicht leistbar, und man
verliert dann an Schärfe und Klarheit in der Führung.“
Walter Schmid,
CEO/CFO Vitaphone GmbH (Vitagroup), Mannheim
„Als Führungskraft bin ich auch nicht für die gute Laune und eine konstante
Wohlfühltemperatur der Mitarbeiter in allen Lebenslagen verantwortlich und
schon gar kein Therapeut.“
Stephan Scherzer,
Hautgeschäftsführer VDZ, Berlin
Hinweis: Die vollständigen Statements finden sich in Kapitel 6 ab Seite 151
6.
7. Inhalt | 5
Inhalt
Über die Autorin ............................................................................. 7
Danksagung .................................................................................... 8
1. Vorwort: Führungskräfte, Innen- und Außenansichten .................... 9
1.1 Führungskraft als Joker? ......................................................10
1.2 Führungskraft als Ausbeuterin?.............................................11
1.3 Führungskraft als Wissensumsetzerin? ...................................14
1.4 Zumutungen ......................................................................15
2. Einführung: Was brauchen Unternehmen –
„den ganzen Menschen“ oder „Rollenträger“? ..............................17
2.1 Mitarbeiterorientierung: „Ganzer Mensch“ versus
„Aufgabenerfüller“..............................................................18
2.2 Einverleibung und Totalisierung ............................................19
2.3 Psychologisierung statt Ökonomisierung.................................24
2.4 Rundgang durch die Argumentation.......................................28
3. Das Führungskräftedilemma: „Niete in Nadelstreifen“ und
„Weißer Ritter“ zugleich ............................................................33
3.1 Die Inkompetenten sollen’s richten .......................................37
3.2 Führungsfalle Burnout.........................................................40
3.3 Das Paradigma der „ganzheitlichen Betrachtung“.....................42
3.4 Und immer wieder in der Täterrolle........................................44
3.5 Der Gipfel an Zumutungen ist erreicht....................................44
4. Heroisches Management: Vom Manager zum psychologisierenden
Helferlein ..................................................................................49
4.1 Wege psychologischer Modelle ins Führungspflichtenheft ..........53
4.2 Naturwissenschaftliche Psychologie: Führen und Modulieren von
Verhalten .........................................................................54
4.3 Seelen- und Ganzheitspsychologie: Führen und Modulieren von
Persönlichkeit und Beziehung...............................................78
8. 5. Postheroisches Management: Vom Ballspieler zum Spielball ........105
5.1 Systemische Psychologie: Führen und
Modulieren von Kontext und Korrelationen............................110
5.2 Vom Tatsachendefinierer zum Wirklichkeitskonstrukteur ..........111
5.3 Vom Persönlichkeitsdiagnostiker zum
Entwicklungsmodulateur ...................................................116
5.4 Führung wird komplex: Vom Akteur zum Interakteur...............120
6. Der Status quo – Hybrides Management mit Psychotouch ............135
6.1 Klare Richtlinien? – Fehlanzeige! .......................................136
6.2 Inkompetenz-Kompensations-Kompetenz?
Stellungnahmen von Topmanagern ......................................151
6.3 Transformationen: Macht, Verantwortung, Führung.................163
7. Auswege aus der Psychofalle .....................................................173
7.1 Orientierung an Exposition und Verhalten ............................174
7.2 Führungsmanifest Passage eins...........................................180
7.3 Orientierung an Rolle und Funktion .....................................184
7.4 Führungsmanifest Passage zwei...........................................195
7.5 Orientierung an High Reliability Organisations (HRO) .............197
7.6 Führungsmanifest Passage drei ...........................................213
7.7 Mit einem Augenzwinkern ..................................................215
8. Exklusion versus Inklusion:
Unternehmen als totale Institution? ..........................................221
9. Nachwort: Work in Progress .......................................................229
Anhang .......................................................................................233
Anmerkungen ..........................................................................234
Literaturquellen ......................................................................248
9. Über die Autorin | 7
Über die Autorin
Dr. Regina Mahlmann, promovierte Soziologin und
Philosophin, war bis 1990 in Forschung und Lehre
tätig. Sie wechselte dann zum Management Zen-
trum St. Gallen und arbeitet seit knapp Mitte der
1990er-Jahre selbstständig als Coach und Beraterin,
Referentin in Unternehmen, als Gastdozentin sowie
als Autorin und Textcoach/Ghostwriter zahlreicher
Bücher, Artikel und Vorträge. Ihr Motto lautet: „Die
Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass wir wissen, was
wir wann warum wie mit welchen Zielen tun.“
Im Verlauf ihrer über zwanzigjährigen Aktivität liegt ihr Fokus darauf,
Unternehmen bei Veränderungen theoretisch fundiert und pragmatisch-
praktisch zu begleiten. Dies im Rahmen kulturell-strategischer Überlegun-
gen und in Form von Bedarfserhebungen und Konzeption, Prozessberatung
und Moderation, Coaching on- und off-the-job, lösungsorientierten Work-
shops und Impulsvorträgen.
Ihre Unterstützungsfunktionen nimmt sie vor allem wahr in der Rolle des
Sparringpartners des Topmanagements, als im Arbeitsalltag begleitender
„Schatten“ und persönlicher Coach für Führungskräfte, als kritischer Part-
ner für Personalabteilungen im Rahmen von Konzeptualisierungen, als
Moderatorin und Trainerin. Ende 2012 verlagert sie ihren Hauptsitz von
Neuried bei München nach Köln.
Kontakt:
Internet: www.dr-mahlmann.de
E-Mail: info@dr-mahlmann.de, drmahlmann@aol.com
10. 8 | Danksagung
Danksagung
Mein erstes großes Dankeschön gebührt den Führungspersönlichkeiten,
die mir namentlich oder vertraulich ihre Erfahrungen, Befürchtungen und
Dilemmata in der alltäglichen Mitarbeiterführung ungeschminkt mitgeteilt
haben. Dieses Vertrauen kann ich gar nicht genug würdigen und hoffe des-
halb besonders, ihnen mit diesem Buch wichtige Argumente und prakti-
sche Stützen zu liefern.
All die Namen der Personen aufzuführen, von deren Klugheit und Refle-
xionen ich in persönlichen Gesprächen und über Lektüre profitiert habe,
sprengte den Rahmen. Ihnen, die sich im Buch wiederfinden, gilt mein
zweites Dankeschön. In diese Gruppe gehören auch meine Diskussionspart-
ner, darunter mein Lebensgefährte Hanspeter Reiter, die durch kritische
Nachfragen manchen Gedankensprung entlarvt und dafür gesorgt haben,
jeden Schritt argumentativ zu gehen.
Schließlich ein Dankeschön an den Verlag, der mit diesem Buch durchaus
ein Wagnis eingeht.
12. 10 | Vorwort: Führungskräfte, Innen- und Außenansichten
Führungskräfte werden immer mehr dazu gedrängt, für ihre Mitarbeiter
die Psychologenrolle zu übernehmen. Unternehmen werden zunehmend zu
umfassenden Fürsorgeeinrichtungen.
Dieses Buch ist ein Plädoyer dafür, das psychologische Pflichtenheft von
Führungskräften auszudünnen, und dafür, Unternehmen aus der Allzu-
ständigkeit für das leibliche, seelisch-geistige und soziale Wohl von Mit-
arbeitenden zu entlassen. Die Argumentation regt Führende nicht nur zu
Gegenwehr an, sondern versorgt sie mit belastbaren Argumenten, um sich
jedem Gegenwind aufrecht entgegenstellen zu können.
Der Annäherung an das Thema dient das Vorwort. Die Einführung verdeut-
licht die Brisanz der Thematik.
1.1 Führungskraft als Joker?
Nachdem ich Mitte der 1990er-Jahre für Führungskräfte das Gleichnis vom
Joker eingeführt hatte1
, fragte ich meine Manager-Klienten immer wieder,
was sie davon hielten. Der Tenor hat drei Tonlagen:
Die einen schmunzeln: „Klasse! Auf mich kommt es an! Ich bin der ent-
scheidende Faktor!“
Andere fühlen sich weniger behaglich. „Einerseits natürlich schmeichel-
haft. Der Joker kann beliebig eingesetzt werden und trifft immer. Ande-
rerseits muss er sich in das einfügen, was da ist. Und das ist nicht immer
vergnüglich.“
Die dritte Gruppe lehnt ab. „Der Joker ist entscheidend. Allerdings wird er
eingesetzt, wenn nichts anderes mehr geht. So eine Art allumfassende Not-
lösung. So sehe ich mich aber nicht.“
13. Vorwort: Führungskräfte, Innen- und Außenansichten | 11
Konsens besteht darin: Der Joker rettet und hält das Spiel am Laufen.
Genau das wird für Führungskräfte immer schwieriger. Einer der Gründe
ist, dass immer mehr Psychologie bei ihnen abgeladen wird. Der Zuständig-
keitsraum von Führungskräften expandiert.
Psychologie, Psychosomatik, Verhaltensökonomie, sogar Neurowissen-
schaften unter der Chiffre Neuroleadership: Psychoexperten scheinen sich
einig darin zu sein, Führungskräfte als Joker zu behandeln: Welches Weh-
wehchen und welche Wünsche Mitarbeitende auch haben – Führungskräfte
haben dienend parat zu stehen. Ihre Aufgabe: für das psycho-physisch-so-
ziale Gesamtwohl der Mitarbeitenden sorgen.
Aktuell – und das ist der Auslöser für diese Streitschrift – kommt ange-
sichts des Burnout-Hypes eine Diskussion in Gang, die Führungskräfte als
Laienpsychologen und -therapeuten in der Mitarbeiterführung installieren
will, als präventiv und kurativ zuständig.
Das geht meines Erachtens entschieden zu weit. Deshalb dieses Buch.
1.2 Führungskraft als Ausbeuterin?
In der Rezension des bekannten Films „Work hard, play hard“ von 20112
findet sich das folgende Zitat: „Die Taktiken der Ausbeutung sind subtiler
geworden, man spürt sie gar nicht mehr.“ Und „das Wir“ der Firma sei „ein
Imperativ, der Anspruch an die Mitarbeiter totalitär.“ Damit wird ein tra-
ditionsreiches Klischee bedient. Das Unternehmen nimmt, vertreten durch
die Führungskraft, die Rolle des bösen Ausbeuters ein, und die Mitarbeiter
sind stets Opfer. Stimmt das wirklich?
14. 12 | Vorwort: Führungskräfte, Innen- und Außenansichten
Einspruch Nummer eins:
Nicht der Anspruch AN die Mitarbeiter, sondern DER Mitarbeiter ist
totalitär. Das Verlangen nach kinder- und familienfreundlichen Dienstleis-
tungen, nach Wellness- und Entspannungsangeboten, nach persönlich und
ganzheitlich umsorgenden Vorgesetzten – diese Forderungen rufen Mit-
arbeitende aus, nicht Exponenten von Unternehmen.
Fachbezogene Weiterbildung ohnehin, aber auch persönlich-psychologi-
sche (freilich im Dienst des Unternehmens stehende) Coachingmaßnahmen
versammeln sich unter dem Generalverdacht, „Ausbeutung“ zu perfek-
tionieren. Gleichzeitig machen sich Führungskräfte der Missachtung des
Mitarbeiterwohls schuldig, wenn sie sich der Finanzierung von Kursen
widersetzen, deren Bezug zur Mitarbeiterrolle nicht ersichtlich ist, etwa
Töpfer-, Mal-, Singkurse oder esoterische Klangschalen- und Engelkurse.
Die Rezensentin macht eine weitere Fiesheit aus: Der Film lasse „keinen
Zweifel daran, dass der grundsätzliche Interessenunterschied (…) zwi-
schen Arbeitnehmern und Arbeitgebern nicht aufgehoben sein wird, auch
wenn die Firmen viel dafür tun, das zu verschleiern.“
Einspruch Nummer zwei:
Die Grundsätzlichkeit der Interessenunterschiede ist unvermeidlich.
Eine soziale Organisation ist nicht rückführbar auf Individuen mit ihren
Interessen, ebenso wenig Operationsweise und Ziele (vgl. Kapitel 3 bis 5).
Die sozialromantische Auffassung allerdings, die die Rezensentin mit dem
Mainstream vertritt, strebt eine Einebnung von Interessen unter Gleich-
schaltung von Organisation und Individuum an. Deshalb die Rhetorik um
die Identifikation mit dem Unternehmen. Interessanterweise sind es Mit-
arbeitende, die diesen Anspruch auf die gesamte Persönlichkeit beziehen
und aus diesem Grund verteidigen (denn es geht primär um sie selbst).
Während Unternehmen an den für sie relevanten Ressourcen und Poten-
zialen interessiert sind, wollen sich Mitarbeitende „mit dem Unternehmen
identifizieren“ (Unternehmen = ich), „geistig-seelisch wachsen“, ihre „Per-
15. Vorwort: Führungskräfte, Innen- und Außenansichten | 13
sönlichkeit entwickeln“ und dergleichen. Andernfalls droht Demotivation,
eine Art angekündigte Leistungsverweigerung. Dabei kommt ihnen Psy-
chologisches zu Hilfe. Etwa in der Auffassung, man könne nur dann moti-
viert arbeiten, wenn man Sinn, Vision, Ethik und Ziele des Unternehmens
„guten Gefühls und Gewissens mittragen“ könne.
Der Vorwurf, Unternehmen wollten „verschleiern“, dass sie sich des
„Humankapitals“ bedienen, läuft ins Leere. Als was sollen Unternehmen
„Arbeitnehmer“ denn sonst sehen und deklarieren, wenn nicht in ihrer
Rolle als Lieferanten wertvoller Beiträge fürs Unternehmen? Wird einem
Fußballclub vorgeworfen, er sehe in seinen Mitgliedern primär Fußball-
experten? Und was, wenn der Fußballer vom Clubchef verlangt, in seinen
Schwimmleistungen gefördert zu werden? Der Deal lautet: „Arbeitsleistung
gegen Einkommen“ – heutzutage ohnehin eingepackt in allerlei Extras,
die dem Wohlergehen des Mitarbeiters und seiner Familie gelten – eine
unternehmerische Konzession an Forderungen, die offenkundig die Sehn-
sucht nach einer Vollversorgung verstärken. Wenn die Rezensentin zudem
beklagt, die Privatsphäre verschwinde aufgrund der Ausbeutung immer
mehr – nun ja, da biete ich eine andere Sichtweise: Die Privatsphäre ver-
schwindet nicht, weil Unternehmen sie rauben und ist nicht Resultat einer
betriebswirtschaftlichen Strategie. Vielmehr ist es das Ergebnis von Verhal-
tensweisen der Betroffenen (Facebookzugang auch während der Arbeits-
zeit!), von Forderungen, die in Unternehmen hinein- und an Führende
herangetragen werden, nämlich immer mehr Optionen für Ver-, Um- und
Fürsorge, für ein Rundumwohlgefühl zu erhalten. Man kann kritisch fra-
gen, ob diese gewünschte Delegation von Lebensverantwortung eine Reak-
tion darauf ist, dass die Komplexität der Welt über den Kopf wächst.
Verbleibt man in der Täter-Opfer-Logik des klassischen Klischees, stellt
sich die Frage: Wer beutet eigentlich wen aus? Haben sich die Rollen nicht
schon vertauscht?
16. 14 | Vorwort: Führungskräfte, Innen- und Außenansichten
Es ist möglich, den Befund nüchtern zu stellen. Ebenfalls aus der Filmsicht,
dieses Mal allerdings soziohistorisch eingebettet in die Rekonstruktion von
Fernsehserien3
: „In diesem Zusammenhang stellte zuerst wieder der kluge
Richard Beck im New Yorker Magazin n+1 etwas Bemerkenswertes fest: „Die
Serien aus den vergangenen drei Jahrzehnten spielen zunehmend, wenn
nicht sogar ausschließlich bei der Arbeit. (…) Seit nunmehr dreißig Jahren
sehen wir im Fernsehen Charaktere, die von ihren Kollegen – anstatt von
ihrer Familie – Mitgefühl, Liebe und Unterstützung erwarten.“ Für Beck
ist das eine Art Immunreaktion auf die veränderten gesellschaftlichen
Bedingungen: Während immer mehr Leute immer mehr arbeiten, auch am
Abend und an Wochenenden, spielt zunehmend mehr Leben im Büro. Und
damit bilden immer mehr Serien – Mad Men oder natürlich The Office – die
Arbeitswelt genauso ab. Andererseits findet alles, was früher in die Freizeit
gehört hätte, also Liebe, Sex, Freundschaft, dreckige Witze, heute eben
auch am Arbeitsplatz statt, wie man nicht zuletzt aus Arzt- oder Polizei-
serien weiß. Was früher Freizeit war, wird zur Arbeit.“
1.3 Führungskraft als Wissensumsetzerin?
Falls Sie versuchen, sich „gesund“ zu ernähren, irren Sie in einer Diä-
ten-Vielfalt umher, deren Ausgangspunkte, Untersuchungsbasis und Emp-
fehlungen nicht nur unterschiedlich, sondern gar konträr sind. Die Frage,
welche Diät die „richtige“ ist, ist nicht beantwortbar. Ebenso verhält es
sich mit psychologischen Theorien und Modellen. Sie setzen bei verschie-
denen Aspekten an und kommen daher zu verschiedenen, zuweilen einan-
der ausschließenden Empfehlungen. Theorie A empfiehlt ein Handeln nach
Logik A, Theorie B nach Logik B und so weiter.
Möchte ein Manager „gut“ führen im Sinne psychologischer Vorstellungen,
kann er zwischen Tiefen-, Verhaltens-, Humanistischer und Systemischer
Psychologie wählen. Neben allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, anthropologi-
schen Konstanten oder Universalien werden partikulare Regelmäßigkeiten
angeführt, also solche, die nur für ein Subjekt gelten. Sozialpsychologi-
17. Vorwort: Führungskräfte, Innen- und Außenansichten | 15
sche und systemische Überlegungen ergänzen beide Dimensionen um Kon-
textfaktoren. Die Tendenz zu Kasuistik macht sich breit, und mit ihr der
Verlust oder die Relativierung von Allgemeingültigkeit. Sie mündet in
Unübersichtlichkeit und schlussendlich Handlungsunfähigkeit (respektive
Beliebigkeit). Plakativ: Verhaltenspsychologisch agieren Führungskräfte
als Vorbilder, tiefenpsychologisch forschen sie nach verborgenen Motiven
und unerfüllten Wünschen, humanistisch-psychologisch bereiten sie das
Feld für Selbstverwirklichung, systempsychologisch achten sie auf inter-
aktive Prozesse, Wechselwirkungen und Kontextfaktoren.
Jedes psychologische Modell hat seinen Sinn, und den Kern psychologi-
scher Modelle zu kennen, hilft. Modelle modellieren. Sie bahnen Denken,
Fühlen, Deuten und Handeln. Psychologische Modelle produzieren Hand-
lungsanleitungen für eine Vielzahl von Einsatzfeldern und Kontexten.
Allerdings erzeugen unterschiedliche Modelle unterschiedliche Handlungs-
anweisungen. Genau deshalb haben sie Relevanz. Genau deshalb haben sie
aber auch ein hohes Verwirrpotenzial.
Psychologische Erkenntnisse sind längst in den Alltag, auch in den von
Führung, eingesickert. Nicht zuletzt durch Protagonisten in der Personal-
abteilung haben sie Messlattenfunktion für Führungsqualität bekommen.
Das heißt: Handeln Führungskräfte diesen Erkenntnissen zuwider, wird
ihre Mitarbeiterführung als „schlecht“ qualifiziert. Wissen, so das Diktum,
verpflichtet. Selbst wenn dies bejaht würde, lautet die Frage: Wen zu was?
Warum die Konzentration auf Führungskräfte?
1.4 Zumutungen
Hatten Sie schon einmal Mitarbeitende, die im Brustton eines spätpuber-
tierenden Teenagers verlangen, mit Ihnen als Chef oder Chefin „jederzeit“
und „über alles, was mich belastet“ reden zu können? – legitimiert mit
Wendungen wie: „Sie haben als Führungskraft eine Fürsorgepflicht!“?
18. 16 | Vorwort: Führungskräfte, Innen- und Außenansichten
Kennen Sie Mitarbeitende, die täglich exponierte Zuwendung verlangen,
um sich „wertgeschätzt“ zu fühlen? Waren Sie bereits in der beklemmen-
den Situation, weinende Mitarbeitende im Büro zu haben? Oder solche, die
expressis verbis „Rücksicht“ und „Unterstützung“ erwarten und dies so
lange, wie sie brauchen, um „aus einer privaten Krise“ wieder herauszu-
kommen? Oder solche, die Ihnen erläutern, was Sie alles zu tun hätten, um
zu garantieren, dass sie nicht Burnout-gefährdet sind?
Es wäre einfach: Bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert haben Logi-
ker und philosophische Analytiker sich dezidiert gegen „Psychologismus“
gewendet. Wenn Menschen nur gelten ließen, was sie subjektiv (psychisch)
erkennen, wäre der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet. Alles wäre rich-
tig und falsch zugleich. Damit ließe sich aber nicht arbeiten. Deshalb die
Suche nach allgemeingültigen Grundlagen. Deshalb die Abkehr von Kasu-
istik. Deshalb die Konstruktion von Ordnung und Standards. Deshalb das
Allgemeine als Handlungsgrundlage und nicht das Spezielle.
Das neueste Ansinnen, Führungskräfte auch noch psychotherapeutisch,
gar psychiatrisch so zu schulen (!), dass sie Frühanzeichen von Burnout,
Depressionen und anderen Seelenkrankheiten erkennen (und bereits Erste
Hilfe leisten!) können, treibt einen Trend auf die Spitze. Denn das heißt
ganz konkret, Führenden noch mehr Fach- und Sachfremdes als Pflicht im
Rahmen ihrer Führungsfunktion aufzuerlegen. Das halte ich grundsätzlich
für heikel und praktisch nicht leistbar.
Daraus ergibt sich das Programm der folgenden Ausführungen: Auswüchse
der Zumutung nach psychologisierter, individualisierter und ganzheitlicher
Führung zu verdeutlichen, herzuleiten, kritisch zu beleuchten und Alter-
nativen zur Debatte zu stellen.
20. 18 | Einführung: Was brauchen Unternehmen?
2.1 Mitarbeiterorientierung: „Ganzer Mensch“
versus „Aufgabenerfüller“
Zwei Positionen markieren das Spannungsfeld meiner Argumentation.
Erstens: „Führungskräfte tragen für das gesamte Wohl und Wehe ihrer Mit-
arbeiter Verantwortung. Sie haben eine umfassende Fürsorgepflicht!“ So
der Mainstream-Ruf aus Personalabteilungen und von Vertretern betrieb-
licher Weiterbildung und Führungs-Beratung.
Abgeleitet davon wird die vorwurfsvolle Konnotation der Feststellung
beim aktuell brisanten Modethema Burnout verständlich: „Chefs sind
ratlos gegenüber Burn-out-Opfern“. Offenkundig soll suggeriert werden,
Führungspersonen verfehlten damit ein zentrales Qualifikationsmerkmal.
Denn – noch in Fragform – die Folgerung liegt nahe, zu überlegen, ob
„Führungskräfte zu Therapeuten aus(zu)bilden“ seien4
.
Die Forderung danach, psychologisch motivierte Ein-, An- und Rücksichten
in den Führungsalltag einzubauen, kommt von zwei Seiten: von Psycho-
experten und deren Epigonen sowie von Mitarbeitenden, die als „ganze“
Menschen wahrgenommen, integriert und behandelt werden möchten.
Konsequenterweise werden Führungskräfte überfrachtet mit psychologi-
schen und psychotherapeutischen Weisheiten und Ansinnen, denen Folge
zu leisten ist. Denn der Mitarbeiter ist Mittelpunkt des Unternehmens, um
ihn oszilliert alles, das Unternehmen hat ihm zu dienen und zwar so, dass
er sich vollkommen und allumfassend wertgeschätzt fühlt.
Zweitens: Einem anderem Paradigma folgt Fritz B. Simon, Professor für
Führung und Organisation an der Universität Witten/Herdecke und einer
der bekanntesten systemischen Organisationspsychologen Deutschlands:
„Organisationen abstrahieren nicht nur vom menschlichen Körper, sie ab-
strahieren auch von vielen psychischen Fähigkeiten, Möglichkeiten und
Bedürfnissen ihrer Mitglieder.“ Insofern ist es sinnvoll, „eine psycholo-
21. Einführung: Was brauchen Unternehmen? | 19
giefreie Theorie der Organisation zu formulieren“5
. Und: Die „internen
Prozesse von Organisationen (sind) (…) so gestaltet, dass auf individu-
elle Besonderheiten keine Rücksicht genommen wird“. Diese sind vielmehr
„gewissermaßen ‚outgesourct‘, d.h. dem Bereich des Privatlebens oder spe-
ziellen Organisationen zugeordnet.“6
– Klingt ermutigend.
Helmut Willke, Professor für Planungs- und Entscheidungstheorie an
der Universität Bielefeld, der seit 2008 eine Professur für Global Gover-
nance an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen ausübt, stößt in
dieselbe Richtung: Wären Menschen „ganz, mit Haut und Haaren Teile
von sozialen Systemen, dann wären diese Systeme zwangsläufig ‚totale
Institutionen‘ im Sinne von totalitären Systemen. Das ist nicht gerade
wünschenswert.“7
So ist es!
Damit, mit dem Modell des Unternehmens als einem sozialen System, lässt
sich ein Alternativdiskurs aufbauen, der einer (weiteren) Psychologisierung
und Psychotherapeutisierung von Führungspraxis entgegenwirkt. Diese
Alternative grenzt eine zurzeit gängige Verfremdung von Wirtschaftsunter-
nehmen ein: der Umformung zu Organisationen mit einem ganzheitlichen
Persönlichkeitsbildungsauftrag.
2.2 Einverleibung und Totalisierung
Ein Blick in die Historie zeigt, dass Einverleibungs- oder Totalisierungsten-
denzen immer wieder beklagt werden (siehe unten). In den 1960er-Jahren
rief die postmoderne Philosophie „das Ende der großen Erzählungen“ aus
und meinte damit den Abschied von der Suche nach einer Theorie, die alle
Phänomene in Natur und Kultur erklären können sollte. Eine solche Theo-
rie ist sowohl reduktiv (reduziert Vielfalt, sodass diese in ihre Schema-
tik passt) als auch imperial (istisch), invasiv, expansiv, absorbierend oder
22. 20 | Einführung: Was brauchen Unternehmen?
eben: total (vollkommen, allumfassend). Wenn Unternehmen umfassend
für ihre Mitglieder sorgen sollen, gehorcht das der gleichen Logik.
Ein dem deutschen Publikum bekannter Zeitzeuge sieht genau diesen Pro-
zess der Totalisierung gegenwärtig am Werke, und zwar in der (schuli-
schen) Pädagogik.
In seiner „Streitschrift“ formuliert Norbert Blüm, ehemaliger Bundesmi-
nister für Arbeit und Sozialordnung: Pädagogik tendiere zu „totalitäre(r)
Vereinnahmung“, und es gelte, sich zu wehren. Die Gegenwehr müsse dem
„ganzheitlichen Schulkonzept“ den Garaus machen und den schulischen
„ehrgeizigen Expansionsdrang, für alles zuständig zu sein, was das Leben
an Aufgaben den zukünftigen Erwachsenen abfordern könnte“, bremsen.
Es gelte, die „professionelle pädagogische Omnipotenz zu demontieren und
die Erwartungen an die Schule zu relativieren.“8
Wird „Pädagogik“ durch „Psychologie“ ersetzt und auf Mitarbeiterführung
bezogen, erkennen Führungspersonen ihre eigene Situation in Umrissen
wieder:
Psychologie neigt zu totalitärer Vereinnahmung, indem sie den Führungs-
diskurs, das Reden über Führung sowie die Führungspraxis infiltriert, sogar
diktiert. Der Hase Psychologie ist immer schon da, wo und wann immer der
Igel Führungskraft auftaucht.
Das Konzept der „Ganzheitlichkeit“ macht breiten- und tiefenwirksam
Furore. Der „ganze Mensch“ müsse beachtet werden. So die Forderung
nicht nur von Psychologen, Sozialmedizinern und Psychosomatikern, son-
dern auch von Mitarbeitenden – selbstverständlich adressiert an die Füh-
rungskraft. Spätestens mit dem Psychoboom in den 1970er-Jahren haben
es Pädagogik/pädagogische Psychologie, Individual- und Sozialpsycholo-
gie sowie Psychotherapie geschafft, ihre eigene Legitimation zu erzeugen
und einen Selbstverstärkungsprozess in Gang zu setzen. Ihre Botschaften
23. Einführung: Was brauchen Unternehmen? | 21
sind gesellschaftsweit verinnerlicht. Längst sind Betriebspsychologen und
-therapeuten flächendeckend im Einsatz, flankiert von externen Psycho-
experten. Offenkundig genügt diese expertokratische Unterstützung im
Arbeitsalltag nicht; denn andernfalls würden Führungskräfte nicht genö-
tigt, sich quasi- oder laientherapeutisch um ihre Mitarbeiter zu kümmern.
Der Schulungsbedarf ist also enorm – das Überlastungspotenzial von Mana-
gerinnen und Managern allerdings auch. Von grundlegenden Zweifeln hier
gar nicht (aber später im Text) zu reden!
Norbert Blüms Konklusion etwas abwandelnd: Es gilt, die professionelle
Omnipräsenz und behauptete Omnipotenz der Psychodisziplinen zu
demontieren und die Erwartungen an Führungskräfte und Unternehmen
einer gründlichen Revision zu unterziehen und zu relativieren. Genau dies
ist das Ziel des Buches. Als Essay. Als Streitschrift. Als Beginn einer über-
fälligen Kontroverse.
Das Modell des „ganzen Menschen“, das heißt als Leib-, Seelen-, Geis-
tes- und Sozialwesen, ist eine wesentliche Komponente in der psycho-
pädagogisch-therapeutischen Durchdringung von Führung. Damit verwoben
und von einer individualistischen Dogmatik getragen, ist das Geheiß nach
„Selbstverwirklichung“, wahlweise „Selbstentfaltung“ oder, scheinbar weni-
ger psychologistisch, „Entwicklung des eigenen Potenzials“. Die Formel lau-
tet: „Werde, der du bist“ – und da schwingt viel antike Philosophie („Erkenne
dich selbst“ als Norm) und noch mehr Psychologie mit (Suche nach dem
Selbst, dessen Existenz behauptet wird und das unzählige Definitionen hat).
Die Pädagogik sekundiert insofern, als sie – um den Unternehmensbezug
ausdrücklich herzustellen – Führungskräften auferlegt, didaktisch zu füh-
ren, nach Maßgabe schulisch-erzieherischer Erkenntnisse.
Die Kombination dieser Imperative sorgt dafür, dass Führungsverantwort-
liche aus dem Psychodiskurs kaum oder nicht mehr aussteigen können. Wo
immer sie sind, was immer sie tun – sie sind aufgefordert, psychologischen
Implikationen und Direktiven zu folgen.
24. 22 | Einführung: Was brauchen Unternehmen?
Die dritte wirkungsvolle Komponente psycho-pädagogischer Einkreisung
verdanken Unternehmen einem klugen Schachzug der pädagogisch-psy-
chologischen Zunft, um ihre Allgegenwart und Allzuständigkeit zu sichern.
Der Schachzug trägt einen Namen, der als Motto auch von Psychologen
adoptiert wird: „Lebenslanges Lernen“. Wie mächtig diese Formel ist, lässt
sich etwa daran erkennen, dass sie
a) ein Faktum und scheinbar alternativlos ist,
b) als Faktum und alternativlos, also als zwingend gehandelt wird,
c) als unhinterfragbares Glaubenbekenntnis (Axiom) Anforderungen
und Weiterbildung in Unternehmen durchdringt,
d) bis dato in der Trivialität nicht erkannt, sondern als moderne Neue-
rung propagiert wird,
e) mit entsprechenden Geschäftsmodellen in Personal- und Organisa-
tionsentwicklung sowie externer Weiterbildung einhergeht.
Plakativ beschreibt Norbert Blüm die pädagogische Vereinnahmung und
schimpft: „Inzwischen ist die Schule nicht nur zuständig für ihre eige-
nen traditionellen Felder, sondern bietet zudem allerlei prophylaktische
Lebenshilfen an“, die bis dato außerhalb der Schule erworben wurden.
Und: „Das ganze Leben wird so zur Ganztagsschule (…). Die Verschulung
des Lebens entspricht einer schleichenden Regression der Gesellschaft
(…). Die Utopie einer goldenen Kindheit verlangt nach einer lebenslangen
pubertären schulischen Wohlfühlphase.“9
Auf die genannte Regression, die Fortschreibung des Pubertären in der
Erwachsenenwelt und Konsequenzen für Mitarbeiterführung komme ich
insbesondere in Kapitel 7 im Zusammenhang mit den „Multimedianern“,
den multimedial sozialisierten Berufstätigen zu sprechen.
Norbert Blüms Bemerkungen zur Pädagogik gelten analog für Führungskon-
texte. Inzwischen werden Unternehmen und Führungskraft nicht nur als
zuständig für unternehmerischen Erfolg erklärt, sondern verpflichtet, prä-
25. Einführung: Was brauchen Unternehmen? | 23
ventiv, therapeutisch, kurativ für das psycho-soziale und physische Wohl-
befinden der Mitarbeitenden zu sorgen. Diese Verantwortungszuschreibung
wird von vielen Unternehmen und Führenden angenommen („Was sollen
wir machen?! – Wir brauchen gute Leute!“). Sie mündet in eine beacht-
liche Palette von Angeboten, z.B. flexibilisierte Arbeitszeiten, Sabbatical,
gewünschtes Bürodesign, Gadgets und Zugang zu sozialen Netzwerken zum
Privatvergnügen, Sport und physiotherapeutische Angebote, firmeneigene
Kindertagesstätten und Shuttledienste für die Kleinen, fachliche und per-
sönliche Weiter- und Fortbildungen, Therapieangebote für Befindlichkeits-
störungen von Geist, Seele und/oder Körper.
Ein Klient von mir bezeichnet das als „Pempern“ von Menschen, die in
einer „Glücksbärchenwelt“ leben möchten. Sehr hübsch.
Das zündende Stichwort lautet: „totalitäre Vereinnahmung“. Diese wird
neben der Schule vor allem „der Wirtschaft“ angelastet. Seit Jahrzehnten
singt ein Chor mit wechselnder Besetzung das Lied von der Ökonomisie-
rung der (privaten) Lebenswelt und anderer Teilsysteme der Gesellschaft
wie Kulturinstitutionen, Gesundheitswesen, Bildungseinrichtungen. Diese
würden unangemessenerweise mit ökonomischen Kategorien wie Kosten-
Nutzenrechnung, Return on Investment und dergleichen überzogen.
Betriebswirtschaftliche Kategorien – so die Klage – verfremdeten das Leben
und verkürzten es zu einem „Projekt“. Die vielerorts gefeierte Ich-AG lässt
grüßen.
An dieser Stelle kommt es nicht darauf an, zu dieser These Stellung zu
beziehen. Worauf ich Ihre Aufmerksamkeit richten möchte, ist ein weiteres
Phänomen, das dem Gedanken der Totalisierungslogik entspringt: die Ver-
wissenschaftlichung. Damit gemeint ist das Eindringen wissenschaftlicher
Betrachtungsweisen, Paradigmen, Denkweisen und Erkenntnisse in den
Alltag10
. Unternehmen sind heute in einem Maß ge- und betroffen, dass es
kein Wunder ist, wenn Unternehmenslenker und Führungspersonen nicht
mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht und sie daher mehr oder weniger
26. 24 | Einführung: Was brauchen Unternehmen?
sich mit der Taktik des muddling through durch den Alltag wuseln. Oder
sie greifen zu drastischen Vereinfachungen, um zumindest die Illusion von
Steuerung und Kontrolle aufrechtzuerhalten – im Dienst der Handlungs-
fähigkeit und des Funktionierens, nicht – wie häufig publikumswirksam
unterstellt – im Dienst der eigenen Grandiosität.
Von hohem Erkenntniswert für Verwissenschaftlichungsprozesse in Unter-
nehmen ist ein Rückblick auf Erfahrungen mit der Vernaturwissenschaftli-
chung zuzeiten der Aufklärung und auf ihre Folgen bis in die Romantik. War
Naturwissenschaft den einen eine Chiffre für Manifestation und Triumph
der rationalen Vernunft, galt sie anderen als Chiffre für seelische Verro-
hung und emotionale Verkümmerung. Stellten die einen den Menschen als
Krone der Schöpfung auf das Podest aufgrund seiner Fähigkeit zu Vernunft
und Verstand, zu rationaler Reflexion und absichtsvollem Tun, hoben die
anderen ihn empor ob seiner Empfindsamkeit, seiner Feinfühligkeit, seiner
Fähigkeit zu Empathie. In Goethes Werken etwa und natürlich in denen der
Romantiker lässt sich das sehr schön verfolgen11
. Wer dies tut, findet Argu-
mentationen, Gefühlsäußerungen, Befürchtungen, Ängste und Hoffnun-
gen und damit verflochtene Forderungen, die ihm auch in Unternehmen
begegnen. Etwa die Forderung, den Menschen nicht nur als Vernunftwesen
bzw. Arbeitskraft zu betrachten, sondern als Leib-Seele-Geist-Einheit, als
„ganzen Menschen“.
2.3 Psychologisierung statt Ökonomisierung
Ich höre den Einwand: „Halt! Es ist die Ökonomisierung, unter der wir lei-
den!“ Das Eindringen betriebswirtschaftlicher Denkschablonen ist unbe-
streitbar. Das verharmlost allerdings die Diffundierung psychologischer
und psychotherapeutischer Kategorien nicht. Genau genommen, wird wirt-
schaftliches Denken und Handeln heute psychologisch (auch: moralisch)
überformt. Was immer Unternehmen und Führungspersonen tun oder las-
sen – es wird an moralischen („Ist das gut? gerecht? nachhaltig?“) und
27. Einführung: Was brauchen Unternehmen? | 25
psychologischen Überzeugungen gemessen („Tut das dem Einzelnen gut?
Welche seelischen Folgen hat eine Entscheidung? Welche Auswirkungen auf
Motivation hat ein Handeln oder Unterlassen?“).
Ökonomisierung seit Langem sichtbar
Die Ökonomisierung der Lebensverhältnisse im Sinn von Kosten-Nutzen-
Kalkülen wird übrigens schon seit Jahrzehnten generationenübergreifend
beklagt. Etwa durch den Philosophen Martin Heidegger („technische Ver-
nunft“); in den 1940er-Jahren durch Repräsentanten der Kritischen Theo-
rie, der Frankfurter Schule, insbesondere Theodor W. Adorno und Max
Horkheimer („instrumentelle Vernunft“); später und bis heute öffentlich
auftretend nahm der Sozialphilosoph Jürgen Habermas den Stab auf. Er
sprach von der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ und dem „Übergriff des
Systemimperativs“. Die Argumente dieser kritischen Positionen gewinnen
wieder an Gewicht angesichts Finanz-, Wirtschafts-, Ökologie-, Gerechtig-
keitskrise, sichtbar in „Occupy-Bewegung“ und Angeboten alternativer
Wirtschaftsmodelle.
Psychologisierung als langer unsichtbarer Prozess
Psychologisierung im wirtschaftlichen Umfeld hebt erstmals um die Wende
zum 20. Jahrhundert zum Höhenflug an, noch in einer naturwissenschaft-
lichen, fast technizistischen Form: Psychotechnik, Psychometrie, physiolo-
gische Psychologie, angewandt etwa im Ansatz des Scientific Managements
von Frederick W. Taylor und Henry Ford. Nach einer Delle in der Flughöhe
setzt sie um die 1970er-Jahre zum zweiten Höhenflug an, die Zeit des
deutschen Psychobooms. Dessen Botschaften genießen bis in die Gegen-
wart ungebrochene Aktualität und Relevanz, sowohl im Alltag als auch in
Unternehmen. Wenn etwa ein Mitarbeiter fordert, die Chefin müsse ihn so
führen, dass er seine Talente entdecken und entfalten und seinen ganz
28. 26 | Einführung: Was brauchen Unternehmen?
persönlichen Sinn in der Arbeit finden könne und dies die Voraussetzung
dafür sei, dass er motiviert arbeite, dann sind bestimmte Psychobotschaf-
ten tief in ihn eingesickert. Etwa: Eine Aufgabe des Menschen sei es, sich
selbst zu entfalten, auch in der Arbeit, damit er sich von sich selbst nicht
entfremde und er zufrieden und glücklich werden könne – nur ein glück-
licher Mensch könne auf Dauer gute Leistungen bringen.
Der Mythos „Vorbild Führungskraft“
Das wohl bekannteste Beispiel von Psycho-Pädagogisierung verdient,
exponiert zu werden: das Postulat, Führungskräfte müssten Vorbild sein
(ausführlicher siehe Kapitel 4). Wie funktioniert hier das Zusammenspiel
der beiden Disziplinen? Das Postulat ist ein lernpsychologisch hergelei-
teter und pädagogisch umzusetzender Imperativ: Die Führungskraft als
Modell, als Erzieher, als „leuchtendes Beispiel“, dem der Heranwachsende,
der Schüler, der Mitarbeiter nacheifern soll. Der psychologische Imperativ
im Kontext eines verbreiteten Führungsverständnisses: Vorbildlich agiert
eine Führungskraft in der Mitarbeiterführung dann, wenn sie auf jeden
Mitarbeiter einzeln eingeht, etwa um ihn zu motivieren, um seine Sorgen
kennenzulernen, um ihm Wohlbefinden zu verschaffen.
Psychologische Herleitungen und Argumentationen sind raffiniert und
expansiv. Mit der Kategorie der „Balance“, beispielsweise, ist es gelun-
gen, Führenden eine weitere Pflicht aufzuerlegen: Sie sind maßgeblich
verantwortlich für die Work-Life-Balance12
der Mitarbeitenden, weil nur
die „Balance“ zwischen Arbeitseinsatz und Privatem „Ausgleich“ und folg-
lich Leistungsfreude und Leistung ermöglichen. Die Führungspersönlich-
keit muss in diesem Szenario einen Spagat hinkriegen: Unternehmensziele
effektiv und effizient verfolgen (ökonomischer Imperativ) und gleichzeitig
zweckrationale Überlegungen nach hinten, die Persönlichkeit des Mitarbei-
ters nach vorn rücken, und dies, bitte, sozial kompetent, nämlich empa-
thisch (psychologisch-moralisierter Imperativ).
29. Einführung: Was brauchen Unternehmen? | 27
Denkfalle „gute“ Führungskraft
Was Manager und Managerinnen erleben, ist die ungebremste Übergriffig-
keit psychologischer und psychotherapeutischer Strömungen. Das Brisante
an dieser Omnipräsenz ist diese selbst und die praktische „Umsetzung“,
die als Personalisierung erscheint: Vorgesetzte sind Projektionsfläche
sowohl für Heils-, Versorgungs-, Fürsorgeerwartungen von Mitarbeitenden
als auch für einen Schwarm an Personalern, Beratern und Weiterbildnern.
Die Mehrheit der Führungsverantwortlichen läuft in diese Falle hinein, ist
zu anstrengenden Anpassungsleistungen bereit – aus gutem Glauben, aus
Opportunitätsgründen, aus Ehrgeiz, eine „gute“ Führungskraft zu sein.
Führungskraft als Nachhilfelehrerin?
Dabei bügeln Führende das aus, was andere sozialisierende und kulturi-
sierende Institutionen versäumt haben. Offenkundig machen Lehrende in
bildenden Einrichtungen aller Art keinen guten Job – gemessen am erzie-
herischen Anspruch, souveräne Persönlichkeiten zu formen. Die Auffor-
derung, Führungskräfte mögen diese Defizite ausgleichen, ist historisch
jung. Ihre Geburt fällt mit der Überzeugung zusammen, Unternehmen
beschäftigten nicht „Arbeitskräfte“, sondern „Menschen“. Dieses Glaubens-
bekenntnis öffnet das Tor für Psychologisierung.
Ich halte es für dringend erforderlich, diese Entwicklung zu verstehen,
kritisch zu überprüfen, zu überlegen, welche Konsequenzen ein Weiter-so
hätte und mögliche Auswege zu zeigen.
30. 28 | Einführung: Was brauchen Unternehmen?
2.4 Rundgang durch die Argumentation
Gegenwärtig wird Burnout medial verbreitet (Kapitel 3). Dieses „Syndrom“
dient mir als Anker dafür, zu verdeutlichen, worin die praktischen psy-
chologisierten Zumutungen von Psychoseite an Führungspraxis liegen.
Außerdem ist es Ausgangspunkt für die grundsätzliche Überlegung, Füh-
rungspflichten zu depsychologisieren. Die weitere Argumentation hat fol-
genden Ablauf:
Wie kam es zur Infiltration von Psychologie (Kapitel 3 und 4)?
Kapitel 3 und 4 widmen sich dieser (mir häufig von Managern gestellten)
Frage. Manager waren noch zur Wende zum 20. Jahrhundert dazu da, Unter-
nehmenserfolg dadurch zu sichern, dass sie Arbeitskräfte nach Kriterien
von Zielerreichung, Effizienz und Leistungsschwerpunkt einsetzten. So im
Taylorismus und Fordismus vor rund einhundert Jahren. Sogar die Human
Relations-Bewegung um die 1940er-Jahre hatte die Produktivität im Blick.
Sie entdeckte nur durch einen Unfall in der Versuchsanordnung, dass es
zur Produktivitätssteigerung günstig ist, dafür zu sorgen, dass sich Mit-
arbeiter beachtet fühlen (!). Ab dann wurde es komplizierter. Verhaltens-,
Tiefen-, Humanistische Psychologie, später System- und Neuropsychologie,
postieren „den Menschen“ ins Zentrum des Unternehmens. Folglich nah-
men Psychologisierung, Pädagogisierung und Psychotherapeutisierung des
Führens an Fahrt auf. Diese Dynamik zeichne ich in groben Strichen nach.
Der Status quo – Hybrides Management mit Psychotouch
(Kapitel 6)
Die Rekonstruktion der Grundzüge der Entwicklung ermöglicht, den Sta-
tus quo und jene Wandlungen zu verstehen, die die Konzepte von Macht,
Verantwortung und Führung durchlaufen haben. Der Fokus gilt also nicht
einer Geschichte der Führung! Vielmehr richtet er sich auf Erklärungen
dafür, wie sich Psychologie in Führung hat einnisten und Nachkommen
zeugen können und welche Auswirkungen das hat.
31. Resilienz
Erfolgreiche Menschen haben eine Eigenschaft, die sie von anderen unterscheidet
und doch sofort wahrnehmbar ist: Gelassenheit. Sie meistern schwierige Situatio-
nen scheinbar mit Leichtigkeit, persönliche Angriffe prallen an ihnen ab und selbst
unter hohem Druck büßen sie ihre Leistungsfähigkeit nicht ein.
Was machen diese Menschen anders? Sie beherrschen die Gelassenheit im
Umgang mit sich, mit ihren Mitmenschen und mit den Herausforderungen, die das
Leben und ihre tägliche Arbeit für sie bereithalten. Eine Eigenschaft, nach der sich
immer mehr Menschen sehnen und die in der heutigen Zeit immer bedeutender
wird. Resiliente Menschen verbinden diese Fähigkeit mit einer erstaunlichen Ziel-
orientierung, Konsequenz und Disziplin in ihrem Handeln und erreichen dadurch
etwas, was sie von vielen anderen unterscheidet: persönlichen Erfolg UND ein
sehr großes Wohlbefinden.
In einer der wahrscheinlich spannendsten Reisen, der Reise zu Ihrem eigenen
Leben, bringt Ihnen Dr. Denis Mourlane das Konzept der Resilienz näher und zeigt
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unser Gehirn werden Sie erkennen, warum wir so anfällig für falsche Entschei-
dungen sind und was wir dagegen machen können.
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