1. Das letzte Kapitel?
Eine kurze Geschichte über Bücher, Kultur und die Angst, beides zu verlieren
Das leise Knacken des Buchrückens, wenn man es zum ersten Mal aufschlägt. Eine mit
Füllfederhalter geschriebene Widmung auf der ersten Seite. Der Geruch von frischer
Druckerfarbe oder in Ehren gealtertem Papier steigt in die Nase. Die linke Hand umfasst das,
was man schon gelesen hat. Die Rechte spürt, wie viel noch kommen wird. Dazu die
Möglichkeit, vielleicht doch, nur mal ganz, ganz kurz, vorzublättern, um zu sehen, wer der
Täter ist oder ob sich die beiden schließlich bekommen. Schon der Schriftsteller Horace
Walpole erkannte: „Auf dem Sofa liegen und einen guten Roman lesen ist ein Vorgeschmack
der ewigen Seligkeit.“
Aus, vorbei, nie wieder? Die E-Books haben ihren Siegeszug angetreten, um die idyllische
Welt der Bibliophilen kräftig aufzumischen. Künftig sollen virtuelle Bücher ihre papierenen
Vorfahren ersetzen. Hippe Leseratten blättern nicht mehr, sie scrollen auf ihrem E-Book-
Reader. Und ist ein Schmöker geschafft, kann dank der Speicherkapazität von rund 200
Büchern gleich mit dem nächsten der Lesehunger gestillt werden. Gut möglich also, dass die
Verantwortlichen der UNESCO ihre seit 1964 gültige Definition, was ein Buch ausmacht,
demnächst nochmal überdenken. Damals hatte man entschieden, nur gedruckte als echte
Bücher anzuerkennen.
Der Beginn der schriftlichen Fixierung gilt als ein gravierender Einschnitt in der Entwicklung
der Menschheit. Lesen und Schreiben sind wichtige Kulturfertigkeiten. Wem beides ein Buch
2. „Das letzte Kapitel?“ Essay, 2009 Fiona Pröll
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mit sieben Siegeln ist, bleibt bei vielen Informationsprozessen außen vor. Zeitungen, Briefe,
Bücher: Seit Jahrhunderten prägt beschriftetes Papier das kulturelle Leben.
Alles begann mit den Papyrusrollen der Ägypter vor 5000 Jahren. Erst viel später, ab dem
ersten Jahrhundert nach Christus, kamen Kodizes auf. Deren Blätter waren in der Mitte
zusammengeheftet. Wie die späteren Bücher, nur bestanden ihre Seiten aus Pergament. Das
wurde im 14. Jahrhundert durch Papier ersetzt. Im Jahre des Herrn 1450 folgte der
denkwürdige Meilenstein in der abendländischen Kulturgeschichte: Johannes Gutenberg
erfindet den Buchdruck. Naja, nicht ganz. Eigentlich waren es die Koreaner. Und eigentlich
auch schon 200 Jahre vorher. Und da bereits mit beweglichen Lettern aus Metall. Sei’s drum.
Jedenfalls erfreute sich das gebundene Buch seither seiner feudalen Stellung als
unanfechtbares literarisches Medium. Bis zum Beginn des neuen Millenniums. Zwar ging
entgegen anderslautender Befürchtungen im Jahr 2000 nicht die Welt unter, dafür wurde mit
dem Erscheinen des E-Books das Ende des gebundenen Buches angekündigt.
Panik in den Feuilletons. Wir verlieren das größte Kulturgut. Keine schmucken Wälzer mehr.
Literatur als Produkt von Bits und Bytes. Nichts mehr zum Anfassen, Festhalten. Nichts mehr
schwarz auf weiß. Was soll man jetzt noch getrost nach Hause tragen? Ein Untergang der
abendländischen Kultur wie er im Buche steht.
Originell ist der gegenwärtige Kulturpessimismus allerdings nicht. Prognosen einer Dekadenz
des geistigen Lebens gibt es schon ewig. Und da Papier geduldig ist, soll an dieser Stelle
etwas ausgeholt werden. Bereits in der griechischen Antike war man sich sicher, von nun an
würde es mit der Intelligenzija bergab gehen. So erklärte der Dichter Hesiod im siebten
Jahrhundert vor Christus in seinem Epos „Werke und Tage“, das goldene Zeitalter sei ein für
alle Mal vorbei. Dem konnten Platon und die Hellenisten nur beipflichten. Nachdem sich das
Mittelalter ohnehin als finster präsentiert hatte, erkannten Jahrhunderte später die Aufklärer,
3. „Das letzte Kapitel?“ Essay, 2009 Fiona Pröll
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dass die Entfremdung der Gesellschaft von der Natur keine gute Idee war. Romantik,
Gründerzeit, Fin de Siècle: Wieder stand die befürchtete Apokalypse dank des Kulturverfalls
kurz bevor. Friedrich Nietzsche klagte über die „Kulturverflachung“. Ebenso Arthur
Schopenhauer, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno.
Der geflügelte Ausdruck vom „Untergang des Abendlandes“ stammt aus dem Titel eines
Werks des Philosophen Oswald Spengler, das in zwei Bänden 1918 und 1922 erschien. Für
Spengler ist jede Hochkultur ein Organismus. Sie wird geboren, wächst, reift, bis sie in voller
Blüte steht, um anschließend abzusterben. Der Theorie zufolge beträgt ihre Lebenszeit etwa
1000 Jahre. Als letzte gelte die abendländische Kultur, welche sich seit circa 900 entwickelt
hatte. Sie haben nachgerechnet? Stimmt, die ist definitiv vorbei. Laut Spengler ist zwischen
den Hochkulturen aber nicht alles verloren. Denn haben wir auch keine Kultur, so doch
zumindest eine Zivilisation. Und diese zeichnen sich per Definition durch innovative
technische Erfindungen aus. Der Beweis: 1876 das Telefon, 1886 der Fernsehapparat, 1983
das kommerzielle Handy, 1993 das World Wide Web und 2000 eben das E-Book. Jede
Erfindung löste Angst vor dem Untergang des kulturellen Lebens aus. Trotzdem gab es nach
jeder scheinbar noch genug Kultur, um bei der nächsten Neuerung wieder darum zu fürchten.
Aber ganz auf die alten Schmöker verzichten? „Ein Raum ohne Bücher ist ein Körper ohne
Seele“, befand Marcus Tullius Cicero. Tatsächlich verrät kaum etwas so viel über das Wesen
eines Menschen wie sein Bücherregal. Sind die Wälzer zerlesen oder nur angeschafft und
verstaut worden? Schnell lässt sich der Bibliomane vom Käufer der Literatur am Meter
unterschieden. Womit befasst sich der Mensch? Welche Autoren, welche Strömungen, welche
Genres haben sein Denken beeinflusst? Wie nüchtern wäre es, das stattdessen auf dem Kindle
abzurufen.
4. „Das letzte Kapitel?“ Essay, 2009 Fiona Pröll
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Sollte der Menschheit allerding doch der geistige Untergang bevorstehen, empfiehlt es sich,
die Zeit bis dahin mit einem guten Buch zu überbrücken. Mit „Firmin“ von Sam Savage zum
Beispiel. Der Titelheld, eine Leseratte im wörtlichen Sinn, lebt in einer Buchhandlung. Jede
Nacht verschlingt er Werke der Weltliteratur, ebenfalls im wörtlichen Sinn. Für Firmin
verschmelzen das Material Buch und inhaltliche Auseinandersetzung. Vielleicht liegt genau in
dieser Qualität der alten Schmöker ja ihre größte Stärke: Sie sprechen die Sinne an, genau wie
Literatur selbst.
Fiona Pröll