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Soziologisches Seminar der Rheinischen Friedrich – Wilhelms – Universität
Bonn

 Veranstaltung: Soziologie der Lebensformen (Übung für Fortgeschrittene)
 Leitung: PD Dr. Doris Lucke




   Die Politik der Lebensstile in einem Berliner Bezirk – unter
   besonderer             Berücksichtigung der ausländischen
   Bevölkerungsteile




                                                                      Ibrahim Mazari
                                        Soziologie, Psychologie, Islamwissenschaften
                                                                            SS 1997
Inhalt

Vorbemerkung ....................................................................................................................... S.3

Einleitung ............................................................................................................................... S.3

I. Entstehung des Stadtteils Schöneberg ............................................................................... S.5

II. Lebensstile heute .............................................................................................................. S.7

III. Die zweite und dritte Generation der „Ausländer“ ......................................................... S.9
      Exkurs: Zum Begriff der Integration ...................................................................... S.12
      Anhang: Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland ........................................ S.13

Literaturverzeichnis ............................................................................................................. S.16




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Vorbemerkung
Diese Arbeit beschäftigt sich mit den Lebensstilen in einem Berliner Bezirk, um dann genauer
auf die Lebenssituation der ausländischen Mitbürger einzugehen. Dabei stehen die zweite und
die dritte Generation der Ausländer im Mittelpunkt der Betrachtungen. Hier sollen
gesellschaftliche Prozesse veranschaulicht werden, die in den öffentlichen Debatten um die
Ausländer zitiert werden, wie etwa das Konzept der Integration und der Rassismus zwischen
Deutschen und Ausländern, aber auch zwischen den einzelnen Ausländergruppen.
Natürlich müssen die einzelnen Begriffe, die im politischen und wissenschaftlichen Diskurs
verwendet werden, einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. So ist durchaus die
Frage berechtigt, ob es richtig ist, die hier geborenen „Ausländer“ noch als solche zu
bezeichnen und ob nicht schon in solchen begrifflichen Zuweisungen eine rassistische
Tendenz zu vermuten ist. Weiterhin ist der Begriff der Integration zu hinterfragen. Darauf
wird in dieser Arbeit noch genauer einzugehen sein.
Als Grundlage meiner Arbeit wurde ein Aufsatz von Berking und Neckel aus dem
Sonderband Lebensstile der „Sozialen Welt“ verwandt. Die Autoren sind der Chicagoer
Stadtsoziologie verpflichtet, die in anschaulichen Studien des Großstadtlebens den
Augenmerk auf das Konkrete lenkt und weniger strukturanalytische Zusammenhänge auf
makrosoziologischer Ebene aufzeigen möchte. Die Arbeit von Berking und Neckel ist somit
„nur“ exemplarisch, so wie es meine Ausführungen auch sind. Nichtsdestotrotz habe ich mich
bemüht, auch statistisches Material zu verwenden, um einen globalen Einblick in die
Lebenssituation der Ausländer zu gewähren.
Den Ausführungen zu den Lebensstilen ist ein Textteil angegliedert, in dem ich allgemein auf
die „Ausländerproblematik“ eingehe und dabei die historische Entwicklung berücksichtige.
Hierbei beziehe ich mich auf alle Ausländer im gesamten Bundesgebiet. Dies ist m.E.
notwendig, um die spezielle Lebenssituation der jungen Ausländer in Schöneberg oder
Kreuzberg in einem globalen Zusammenhang zu betrachten. Diese Ausführungen sind
gesondert im Anhang aufgeführt.


Einleitung

Prozesse der Klassen- und Gruppenbildung zeigen sich besonders im Erscheinungsbild der
Städte, denn sie sind der zentrale Vergesellschaftungsraum der modernen Gesellschaft.
Schon zu allen Zeiten waren die Städte Orte, in denen soziale Mobilität und Segregation
besonders deutlich ausgeprägt waren. Doch erst mit dem Aufkommen der industriellen
Revolution und der damit verbundenen sozialen Frage (Massenarmut, Landflucht und
vermehrte Urbanisierung) wurde die Stadt als ein eigenständiges soziales Gebilde betrachtet.
Es ist kein Zufall, daß die Etablierung der Soziologie als Wissenschaft genau in diese Zeit
fällt. Die Stadt als soziales Gefüge gestaltet einen anderen Lebensrythmus, als es das
traditionelle, ländliche Lebensmuster bietet. Dies hängt mit der erhöhten Dichte zusammen,
die Anonymität und somit größeren Raum für unterschiedliche Formen der
Vergemeinschaftung zur Folge hat. Die traditionellen Strukturen verlieren immer mehr an
Bedeutung und weichen spezifischen Klassen- und Gruppenbildungen, die letztlich zur
Ausbildung vieler Lebensstile führten. Nach Beck (1986) ist davon auszugehen, daß die
moderne Gesellschaft eine Entwicklung von den traditionellen Beziehungsstrukturen weg zur
sogenannten Individualisierung hin vollziehe, die durch keine Klassen- und Gruppenbildung
kompensiert werde. So sei festzustellen, daß in den traditionellen Arbeitervierteln die Klasse
der Arbeiter nicht mehr auszumachen sei; vielmehr existierten zahlreiche, zumeist
voneinander unabhängige Gruppierungen, die ihren Ausdruck in den verschiedenen
Lebensstilen fänden.
Lebensstile kennzeichnen sich u.a. dadurch aus, daß sie sich schnell wandeln und daß sie
kurzlebig sind. Sie werden zwar auch von bestehenden Milieus geprägt, doch sie müssen nicht
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in ihnen beheimatet sein. Ökonomische Faktoren, die bei der Entstehung der Milieus
maßgeblich sind, spielen bei den Lebensstilen eine untergeordnete Rolle, obschon man ihre
Bedeutung auch nicht allzusehr unterschätzen darf.
Lebensstile sind nach Dubiel (1987) „nachtraditionelle Gemeinschaftsbildungen“, die ihre
Bindungsenergie nicht mehr aus wirtschaftlichen oder politischen Ressourcen bezögen,
sondern aus symbolischen Quellen. Augenfällig sind hier natürlich die Kleidung, die Sprache
(Soziolekt) und ritualisierte Handlungen, die unter Umständen den gesamten Alltag
bestimmen können. So kann es mitunter feinfühlige Differenzen in der „Kleiderordnung“
geben, deren Verletzung zu einem Ausschluß aus der Gruppe führen oder eben signalisieren,
daß der betreffende nicht zur Gruppe gehört. Das erschwerende ist, daß sich diese Codes im
ständigen Wandel befinden und kaum Einblick gewähren, wie sie sich in naher Zukunft
entwickeln könnten. Komplexe Begrüßungsrituale versinnbildlichen besonders das, was
Dubiel symbolische Quellen nennt. Wieviel der einzelne z.B. verdient, spielt keine Rolle.
Allein die Kenntnis der gemeinsamen Codes und die Identifikation mit dem entsprechenden
Lebensstil bestimmen die Zugehörigkeit. Der normative Druck, der durch diese Gruppen
gegeben ist, ist deutlich höher, als man erwarten könnte, wenn man die These Becks, wonach
sich die Gesellschaft immer mehr individualisiere, ernst nimmt. Die Komplexität der
normativen Strukturen der unterschiedlichen Lebensstile ist im Vergleich zu den der
traditionellen    Lebensmuster       nicht    geringer.   Die    Beständigkeit   und    ein
gesamtgesellschaftlicher Konsens über die Gültigkeit und Legitimität der Normen und Werte,
in den einzelnen Lebensstilen gelten, sind jedoch nicht gegeben.
Es ist der merkwürdiger Prozeß erkennbar, die Subkulturen zu vermarkten, da man die
Bedeutung der Jugendstile in den Vorstandsetagen diverser Unternehmen erkannt hat. Der
Umstand, daß diese Lebensstile in den Subkulturen ausschließlich auf der Grundlage
symbolischer Quellen bestehen, ermöglicht die Verknüpfung dieser Symbolwelt und des
daraus resultierenden Lebensgefühles mit konkreten Produkten, wie etwa Sportartikel, die in
ihrer Funktionalität ganz genau beschrieben werden können. Durch diese Verknüpfung wird
das zuvor funktionale Objekt Teil der Symbolwelt des Lebensstiles. Es wird nun ein Teil des
Codes und kann unter Umständen sogar entgegen seiner ursprünglichen Funktionalität
verwendet werden. Gelten Subkulturen zunächst als Abgrenzung zum „Mainstream“, werden
sie in diesem Prozeß, der im übrigen, um mit dem Titel zu sprechen, eine besondere Form der
Politik der Lebensstile darstellt, nämlich die des kapitalistischen Wirtschaftssystems,
vereinnahmt und zum „Mainstream“ pervertiert, was eigentlich in sich ein Widerspruch
darstellt, weshalb es auch notwendig ist, ständig neue Vermarktungsquellen ausfindig zu
machen. Die Modebranche verdeutlicht in besonderer Weise diese Gratwanderung.

Wenn sich Konturen traditionsfester Zugehörigkeiten tiefgreifend zersetzen und die Akteure
nicht mehr auf sicher geglaubte und handfest verifizierte Handlungsnormen und biographische
Erwartungen zurückgreifen können (Berking & Neckel), so treten Lebensstile auf. Verstanden
als „sozial distinkte Varianten kultureller Praktiken“ (Bourdieu), fungieren Lebensstile als
Strategien der Sinnfindung und der Bedeutungskonstitution.
Heute findet man Lebensstilgruppen auch auf dem Land. Dies hat seinen Grund in der
urbanen Kultur der Medien, die überall erreichbar und somit auch partizipierbar wird. Die
Lebenskultur der Großstadt ist mittlerweile in den modernen industrialisierten Gesellschaften
die Lebensrealität des größten Teiles der Bevölkerung und dominiert deshalb auch die
Medien.
Die Stadt muß deshalb Ausgangspunkt einer Analyse der verschiedenen Lebensstile sein. Die
Stadt, im besonderem die Großstadt, in der soziale Kälte, Armut und Wohnungsnot deutlicher
und konzentrierter auftreten und in der sich die diversen Lebensstile manifestieren, ist eine
multikulturelle Sozietät, eine mögliche Keimzelle einer anarchischen Kulturgesellschaft.
Hier fällt Berlin ins Auge, vor allem Kreuzberg. Doch im Blickfeld der ersten Ausführungen
soll der Stadtteil Schöneberg stehen, weil dieser der am stärksten durchmischte
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Innenstadtbezirk Berlins ist und deshalb besonders geeignet ist, die Entstehung der
verschiedenen Lebensstile und ihrer Wechselwirkungen zu beobachten, um die „Politik der
Lebensstile“ (Berking & Neckel), d.h. die Kompetenzen der sozialen Integration und der
politischen Konfliktfähigkeit, in den großstädtischen Räumen zu erforschen.
Ich möchte im folgendem die Entstehung und Veränderung des Stadtteils Schöneberg
historisch darstellen. Zuvor ist es jedoch notwendig, darauf hinzuweisen, daß die analytisch zu
gebrauchenden Begriffe wie Lebensraum, -zeit und –stil in der Realität nicht voneinander zu
trennen sind. Wie bereits gezeigt worden ist, entspringen aus den typischen (räumlich –
architektonischen) Strukturen der Stadt spezifische gesellschaftliche Prozesse, die wiederum
Wandlungen unterworfen sind und somit vom historischen Kontext abhängig sind. Die
Manifestation eines bestimmten Lebensstiles, und dies wird noch genauer zu zeigen sein,
zeigt sich an ganz konkreten Orte, wie Cafés oder Clubs, ohne die die Lebensstile oft nicht
existieren könnten. Lebensstile sind kulturell – normative Erscheinungen, die jedoch des
materiellen Unterbaus bedürfen; und dieser unterliegt den Zwängen der Räumlich- und
Zeitlichkeit. Wie bei dem Beispiel der Vermarktung der Lebensstile gezeigt worden ist,
werden konkrete Gegenstände in einer spezifischen Symbolwelt umgedeutet und erhalten
dann „neue“, ihnen zuvor nicht innewohnende, Konnotationen.


I. Entstehung des Stadtteils Schöneberg

Das zu untersuchende Gebiet ist zwischen dem Nollendorfplatz und der Potsdamer Straße,
entlang der Grünewaldstraße im Süden und der Eisennacherstraße im Westen gelegen. Ab den
80ern des vorigen Jahrhunderts wurde Schöneberg als Wohngebiet für höhere Beamte
errichtet. Die angrenzenden Stadtteile waren größtenteils Arbeiterviertel. Anfang dieses
Jahrhunderts erfuhr Schöneberg einen sozialen Abfall, und die sogenannte Halbwelt fand mit
Amüsierbetrieben, Bordellen und Kneipen Eingang in den Bezirk. Zur gleichen Zeit etablierte
sich in Schöneberg die homosexuelle Szene, die noch heute dort ihren Sitz hat. Auch die
„gehobene Boheme“ zog mit Künstlerlokalen und Ateliers ein und gab dem Stadtteil zu
Anfang des Jahrhunderts einen eigentümlichen Flair.
Das gehobene Bürgertum in Schöneberg wurde zusehends von Arbeitern und Angestellten in
den Südwesten verdrängt. Sie fanden vor allem um den Viktoria – Luise – Platz und im
Bayrischen Viertel eine neue Heimstätte. Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 führte zu einem
weiteren sozialen Abstieg des Viertels. Er wurde zu einem Problemfall.
Nach den Zerstörungen des 2. Weltkrieges wurden in Schöneberg Sozialbauwohnungen
errichtet, so daß es sich nunmehr um einen ganz durchschnittlichen Stadtbezirk handelte, der
sozial jedoch eher nach unten hin tendierte. Seine großbürgerliche Stellung konnte nicht mehr
hergestellt werden.
In den 60er und 70er Jahren fand ein erneuter Austausch der Bevölkerung statt. Es zogen
vermehrt ausländische Familien in die östliche Teile des Viertels ein. Die Ursache für diese
Entwicklung ist darin zu sehen, daß die ausländischen Arbeitnehmer, die zuvor alleine nach
Deutschland kamen, um hier für eine bestimmte Zeit zu arbeiten und daher mit provisorischen
Unterkünften, die manchmal von den Arbeitgebern zur Verfügung gestellt worden, zufrieden
waren, sich nun doch entschlossen, die Familienmitglieder nachkommen zu lassen. Der
Begriff des Gastarbeiters impliziert, daß der betreffende sich nur für eine begrenzte Zeit in
Deutschland aufhalten sollte, um schließlich in das Heimatland zurückzugehen. Dies war
zunächst auch die Absicht der ausländischen Arbeitnehmer, doch es stellte sich bald heraus,
daß die Vorstellung der nahen Rückkehr für den größten Teil der ersten Generation der in
Deutschland lebenden Ausländer eine Lebenslüge darstellt, deren Konsequenzen nicht nur ein
Leben als ständiger Außenseiter, sondern auch eine Ignoranz seitens der deutschen Politik und
Gesellschaft sind. Die deutsche Öffentlichkeit war nicht an eine „Integration“ bemüht, da es
sich hier nur um kurzfristige „Gäste“ handelte, und die Ausländer bemühten sich kaum, die
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deutsche Sprache zu erlernen, da sie stets der Ansicht waren, bald zurückzukehren. Die
Ausländer lebten im Grunde auf ständig gepackten Koffern.
Nichtsdestotrotz wurden ab Ende der 60er Jahre vermehrt die Familienangehörige nach
Deutschland geholt, wodurch die Notwendigkeit entstand, nach größerem Wohnraum
Ausschau zu halten, da nun die provisorischen Unterkünfte in den Betrieben und den
Wohnheimen nicht mehr den Ansprüchen der Familie genügen konnten. Neben Kreuzberg
zogen die Ausländer auch in den Osten Schönebergs, weil die Altbauwohnungen wesentlich
billiger waren.
Neben dem Anteil der Ausländer, dessen Mehrheit Türken waren, wuchs auch der Anteil der
Studenten, die in diesem Viertel neue Lebensformen (d.h. Kommunen bzw.
Wohngemeinschaften) erprobten.
Am Nollendorfplatz entstand die neue Drogenszene, die rasch wuchs. Das kulturelle Zentrum
verschob sich in die Mitte des Kiezes, die auf dem Winterfeldplatz liegt. Dort entstehen zwei
Kneipen, die über den Stadtteil hinaus bekannt und wirksam werden: einmal die „Ruine“ (auf
dem Gelände eines zerbombten Hinterhauses), die zuerst eine Studentenkneipe ist und in den
80ern zu einer Punkerkneipe wird. Dann gibt es noch den legendären „Dschungel“, der später
zu „Slumberland“ umgetauft und zum Treffpunkt der ersten New – Wave – Generation
werden sollte.
Mit dem Einzug der Punker etabliert sich zunehmend eine starke linksalternative Szene, die
das Viertel stark prägt. 1980 findet das erste Stadtteilfest statt. Die kräftig gewachsene
Alternativszene bot Nachbarschaftsinitiativen, alternative Projekte, Kneipen, Läden und
Cafés. Anfang der 70er setzt eine verstärkte Sanierungspolitik ein, die im westlichen Teil
Schönebergs ihren Anfang nimmt, mit den bekannten sozialen Folgeerscheinungen: sozial
schwache Mieter werden in den baufälligen östlichen Teil Schönebergs und nach Kreuzberg,
das an Schöneberg grenzt, verdrängt. Dies waren Ausländer, Studenten, Sozialhilfeempfänger
und Obdachlose. Im „Westen“ zog die sogenannte Mittelschicht ein, aus deren Reihe, wie
noch zu sehen ist, viele der Lebensstile rekrutiert werden.
In dieser Situation der zwangsweisen Segregation setzten bald die ersten Hausbesetzungen
ein, die zunächst ungeplant und aus einem spontanen Protest heraus durchgeführt wurden. Sie
konzentrierten sich vor allem auf Schöneberg und Kreuzberg.
Im Frühjahr 1981 waren es über 160 Häuser in der ganzen Stadt, davon 11 in der
unmittelbaren Nähe zum Winterfeldplatz, dem kulturellem Mittelpunkt, nun bekannt und
berüchtigt als Mekka des Punk und Zentrum der neuen Jugendbewegung.
In dieser Phase der Straßenkämpfe zwischen Polizei und Autonomen wurde ein Mythos
geboren. Die Hausbesetzer erschienen vielen als romantische Revolutionäre, die sich selber
als „Robin Hoods“ im Dschungel des kapitalistisch ausgebluteten Wohnungsmarktes
verstanden. Altlinke, Künstler, Schriftsteller Intellektuelle, Soziologen und jugendliche
Touristen pilgerten vom ganzen Bundesgebiet in den Kiez.
Dieser Prozeß war entscheidend für die Entstehung diverser Lebensstilgruppen. Wie bereits
gesagt worden ist, beziehen diese Gruppen ihre Bindungsenergie aus einer Welt der Symbolik.
Im Diskurs der oben genannten Gruppen, die zumeist akademisch gebildet war, gewann die
Jugend ein Fundament an Symbolen und Begrifflichkeiten, die in Form eines Patchworkes die
Identität der einzelnen Lebensstilgruppen bildete. Der intellektuelle Diskurs schuf eine
symbolische Realität, mit der sich die Jugendlichen identifizieren konnten, so daß ein
spezifisches Lebensgefühl entstand. Indem die Akteure sich dieser Symbolwelt annahmen,
manifestierten sie den Lebensstil, sie gaben ihm die materielle Basis.
Die Hausbesetzungen wurden größtenteils von den Behörden unter Einsatz größter staatlicher
Gewalt aufgelöst. Nur wenige Häuser erhielten im Rahmen eines eigenständigen Projektes
einen „offiziellen“ Status.
Im Sommer 1984 war mit den Besetzungen Schluß.



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II. Lebensstile heute

Um die Neonkneipe „Mitropa“ siedelt sich eine Lebensstilgruppe an, die von den Autoren
Berking und Neckel mit neoexistentialistischer Postpunk tituliert wird. Diese sei durch einen
schrillen und schrägen Stil des sogenannten New – Wave gekennzeichnet.
New Wave entstand als Gegenreaktion auf die hochtechnisierte, vorwiegend kommerziell
ausgerichtete Rockmusik der 70er Jahre. Sie war zunächst eine angloamerikanische
Musikströmung, die 1976/77 gleichzeitig mit dem Punk auftrat, aber kompliziertere und
experimentellere Harmonie- und Textstrukturen verwendete (Siouxsie & The Banshees, Wire,
XTC; Talking Heads, Residents); zunächst wurden die meisten Schallplatten von
unabhängigen Firmen vertrieben, aber in den 80er Jahren erfolgte eine rasche
Kommerzialisierung und eine fast vollständige Integrierung der meisten New-Wave-Bands in
die bestehende Plattenindustrie. In der Bundesrepublik fand Anfang der 80er Jahre der New –
Wave seine Entsprechung in der kurzlebigen „Neuen Deutsche Welle“: Sie löste sich von
angloamerikanischen Vorbildern, verwendete deutsche Texte, die teilweise am
Vorkriegsschlager orientiert waren.
Diese Lebensstilgruppe ist in die Jahre gekommen, wenn man sich die oben aufgeführten
Daten vergegenwärtigt. Die Szene im Mitropa ist durch ein deutlich älterer Personenkreis
(25 – 35 Jahre) gekennzeichnet. Dieser Lebensstil, der eine betonte Künstlichkeit des
Ausdrucks und des Outfits präferiert, gleichgültig ob später Punk, Hillbilly ober Beat – Typ
der 60er, rekrutiert seine Anhängerschaft größtenteils aus der „no – Future“ – Generation, die
nicht der proletarischen Arbeiterschaft entsprangen, sondern vielmehr Söhne und Töchter des
„exekutiven Kleinbürgertums“ (Bourdieu) sind und am besten von der Gruppe „Einstürzende
Neubauten“ unter dem Leadsänger Blixa Bargeld repräsentiert werden.
Die Kreuzberger Version des Neo – Existentialismus sei, so die Autoren Berking und Neckel,
heftiger, hungriger, körperlicher und proletarischer. In Schöneberg wird die Szene eher von
drop – outs der unteren Mittelklasse dominiert.
Das bestimmende Merkmal dieses Lebensstiles, wie der anderen eigentlich auch, sei die
ständige Suche.
Etwa 300 Meter nördlich von „Mitropa“ entfernt ist die Heimstätte der örtlichen Yuppies im
Kiez, mit Edelboutique, Futongeschäft und schicken Wohnungen. Das Café „Sidney“ ist der
Brennpunkt dieses Stiles, denn hier trifft sich, was sich als erfolgreich bezeichnet und was
verächtlich „Schicki - Micki“ genannt wird.
Das Kürzel „Yuppie“ steht für „young urban professionals“ und bezeichnet in unserem
Kontext all jene Akteure, die über eine halbwegs sichere Beschäftigung in den formell
geregelten Sektoren des Arbeitsmarktes, ein festes, kalkulierbares und kreditwürdiges
Einkommen und ein konsumorientiertes Verhalten verfügen. Es dürfte nicht verwundern, daß
das Gros der Yuppies Singles sind. Mit 58.9 % rangiert Schöneberg hinter dem Bezirk
Tiergarten an oberster Stelle unter den Bezirken Berlins mit dem größten Anteil an
Singlehaushalten in der Gesamtbevölkerung. 38 % der Schöneberger Bevölkerung ist
zwischen 20 und 40 Jahre alt.
In unmittelbarer Nähe zum Café „Sidney“, genauer gesagt auf der gegenüberliegenden
Straßenseite, steht eine Kneipe, die den Namen „Slumberland“ trägt, früher besser bekannt
unter dem Namen „Dschungel“. Ihre Klientel unterscheidet sich trotz physischer Nähe
grundsätzlich von dem des Yuppie – Cafés „Sidney“. Im Slumberland treffen sich eher ABM
– beschäftigte Akademiker, alternative Freiberufler und neue Selbständige.
Es ist natürlich wichtig, darauf hinzuweisen, daß die hier gemachten Differenzierungen und
Kategorisierungen keineswegs ein vollständiges Bild liefern können. Es ist vor dem
Hintergrund der oben genannten Prämisse, wonach die Lebensstile einem ständigen Wandel
unterliegen, aussichtslos, den Versuch zu unternehmen, ein Lebensstil umfassend zu erfassen.
Diesen Anspruch erhebt die Studie auch nicht. Ihr kommt es darauf an, zu einem bestimmten
Zeitpunkt Beobachtungen in einem konkret vorgegebenen Feld durchzuführen, um dann
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qualitativ die vorgefundenen Lebensstile analytisch einzuordnen. Seit der Veröffentlichung
der Studie mag sich einiges getan haben, so daß die hier angeführten Beobachtungen nicht
mehr ihre Gültigkeit haben. Es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, daß die Studie
natürlich selektiv bei der Auswahl von Lebensstilgruppen vorgehen mußte, so daß einige nicht
aufgeführt werden, wie etwa die boomende Techno – Szene, die in der sogenannten „Love –
Parade“ auf beeindruckende Weise den Zuwachs ihrer Bedeutung vor Augen führte.

Natürlich stellt sich die Frage, wie die einzelnen Lebensstilgruppen zueinander stehen und wie
sie sich gegebenenfalls beeinflussen. Die Autoren Berking und Neckel kommen zur Ansicht,
daß die Lebensstilgruppen trotz der physischen Nähe zueinander nicht miteinander, sondern
nebeneinander existierten.
Es wird später zu zeigen sein, daß Prozesse der Gettoisierung von Ausländergruppen zu
verzeichnen sind, die äußerst problematisch sind und oft mit gewaltvollen und
konfliktbeladenen Spannungen einhergehen.
Im Grunde muß festgestellt werden, daß es keine Politik der sozialen Integration zwischen den
einzelnen Lebensstilgruppen gibt, sondern             ein nebeneinander ohne gegenseitige
Ausdifferenzierungen.
Neben den oben genannten Lebensstilgruppen existiert noch eine Gruppe, die in der Studie
Berücksichtigung findet: die der Ausländer, und hier natürlich primär die jugendlichen
Türken. Diese frequentieren zum größten Teil nicht die oben genannten Einrichtungen, weil
ihnen die Angebote und die Preise nicht zusagen. Wenn es zu einer Berührung kommt, so nur
von einigen wenigen jungen „Ausländern“, die die in den Kneipen und Cafés vorherrschenden
Lebensstile für sich angenommen haben und sich damit auch identifizieren, so daß sie sich
nicht primär als Türke oder Ausländer sehen, sondern als Teil des besagten Lebensstiles.
Diese Menschen haben zumeist mit der Generation ihrer Eltern keine Gemeinsamkeiten. Es
kommt oft zum Bruch der Beziehung zwischen der Elterngeneration und der in einem
Lebensstil integrierten Jugendlichen, weil die Eltern nicht bereit sind, dies zu tolerieren. Die
Entfremdung ist in diesen Fällen im Grunde genommen so groß wie zwischen
Elterngeneration der jungen „Ausländer“ und der deutschen Bevölkerung. Dies erhärtet die
Bedenken, die hier geborenen „Ausländer“ überhaupt als solche zu bezeichnen.
Dessenungeachtet darf nicht übersehen werden, daß nur ein kleiner Teil der jungen
„Ausländer“ in den verschiedenen Lebensstilen ein Zuhause finden. Die Mehrheit schafft sich
eigene Lebensstile, die jetzt etwas näher beleuchtet werden sollen. Diese Lebensstile sind
genauso vielfältig und verschieden, wie es bei den deutschen Jugendlichen der Fall ist,
weshalb es auch falsch ist, die Türken als eine Lebensstilgruppe zu denken.
Im Osten Schönebergs beträgt der Arbeiteranteil 40 % und 15 % der erwerbsfähigen
Bevölkerung ist arbeitslos. Jeder 4. Einwohner ist Ausländer.
Die Hauptschule ist hier der weitaus verbreitetste Bildungsweg, wenn überhaupt, denn die
Elterngeneration, die sogenannte „erste Generation“, verfügt kaum über Schulbildung, die
Analphabetenrate ist extrem hoch und die Mehrheit ist nur als ungelernter Hilfsarbeiter
beschäftigt. Das Ungleichgewicht zur deutschen Bevölkerung konnte auch in der zweiten
Ausländergeneration nicht behoben werden, was an mehreren sozioökonomischen Faktoren
liegt, auf die im Anhang in den allgemeinen Ausführungen zur „Ausländerproblematik“ in der
Bundesrepublik Deutschland einzugehen ist.
Der Osten Schönebergs, der unmittelbar an Kreuzberg grenzt, ist städtebaulich stark
vernachlässigt und droht zu einem Slum mit Liverpoolern Verhältnissen auszuarten. Die
Ausländer Schönebergs sind nicht nur räumlich näher an Kreuzberg, sondern auch kulturell
und ökonomisch. Kreuzberg, das zur Zeit der Teilung an der Mauer lag und somit „vergessen“
war, weist schon Tendenzen einer Gettoisierung der türkischen Bevölkerungsgruppen auf. Für
die Türken, die den größten Anteil der Ausländer in Berlin stellen (allein in Kreuzberg um die
30.000 Personen), existiert eine geradezu autarke Infrastruktur mit Geschäften, Vereinen,
Moscheen, Lokalsendern, Gastronomiebetrieben, Zeitungen und Amüsierbetrieben. Hier
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besteht die Möglichkeit, ohne des Deutschen mächtig zu sein, das Leben dennoch erfolgreich
zu meistern. In Berlin gibt es sogar eine islamische Grundschule, etliche Sportvereine,
Frauenvereine und Bestattungsinstitute, die die Überführung des Leichnams in die „Heimat“
organisieren oder, was vermehrt versucht wird, die Errichtung eigener Friedhöfe (den
religiösen Vorschriften entsprechend) in Deutschland durchzusetzen. Neuerdings beklagen die
Grundschulen, daß ausländische Kinder, die zur dritten Generation gehören, mit
unzureichenden Deutschkenntnissen zur Schule kommen, obwohl sie in Deutschland geboren
sind. Sie wachsen ohne jeden Kontakt zu Deutschen in ihrer eigenen Welt auf.


III. Die zweite und dritte Generation der „Ausländer“

Die oben beschriebene Infrastruktur ist größtenteils von der Elterngeneration mühevoll
errichtet worden und erfüllt letztlich die Sehnsucht nach der Heimat. Die Lebenssituation der
jungen Türken ist aber eine ganz besondere, da sie zwischen zwei Kulturen aufwachsen, ohne
wirklich einer ganz anzugehören. Die jungen Türken in Schöneberg und Kreuzberg wachsen
in einem doppelten Dilemma auf. Sie sind nicht nur wie ihre Väter in einer sozioökonomisch
problematischen Lage, sondern haben auch den Kampf der unterschiedlichen Kulturen
auszutragen. Einerseits werden sie von ihrem Elternhaus stark geprägt, andererseits lernen sie
westliches Gedankengut in der Schule und in den Medien kennen. Dabei kommt es zu
Konflikten zwischen den unterschiedlichen normativen Strukturen. Viele junge Ausländer
sitzen zwischen zwei Stühlen, fühlen sich heimatlos und nicht angenommen. Von ihren Eltern
haben sie sich entfremdet, die deutsche Öffentlichkeit ist jedoch nur selten bereit, sie als
vollwertige Mitglieder der Gesellschaft anzuerkennen. Die Folge ist nur allzuoft die Flucht in
die Kriminalität. Die zunehmenden sozialen Konflikte verstärken die Tendenz, sich einer
Öffnung anderer Bevölkerungsgruppen gegenüber zu verwehren. Fatale Konsequenz ist eine
„Ethnisierung der sozialen Konflikte“ (Heitmeyer), die sich nicht nur in der Schürung von
Ausländerfeindlichkeit und Rassismus auf beiden Seiten zeigt, sondern auch zu einem
verstärkten Rückzug auf vermeintliche „Wurzeln“ wie Nationalität und Religion führt.
Bedauerlicherweise ist dieser Prozeß auch in der Politik und in den Medien vernehmbar, die
von den sozialen Konflikten und der Kriminalität ausgehen, um einen Kampf der Kulturen zu
propagieren, ohne zu bedenken, daß es sich hier um Phänomene handelt, die gesellschaftlich
geschaffen sind. Nicht die Nationalität vermag abweichendes Verhalten zu erklären, sondern
die soziale und ökonomische Stellung, die sich natürlich auch durch die Nationalität erklärt,
aber nur, weil die Gesellschaft auf der Grundlage von Ressentiments dem einzelnen die
Chance für einen sozialen Aufstieg explizit verweigert.
Die jungen Ausländer erhalten nach ihrer Sozialisation eine gespaltene Identität, da sie oft
„inkommensurable“ Normen und Werte verinnerlichen müssen, die nicht die Schaffung einer
integeren Persönlichkeit mit einer gesunden Ich – Stärke gerade begünstigen.
Die Bildung von Clans (peer – groups) versucht dies zu kompensieren. Hierbei treten die
Gruppen rivalisierend auf. So gibt es etwa in Berlin Kreuzberg die Gruppe „36 Boys“, die
wegen ihrer Gewaltbereitschaft in ganz Berlin berüchtigt ist. Die Symbolik solcher Gruppen
ist entweder nationalistisch oder islamistisch geprägt; dennoch distanzieren sie sich von ihren
Eltern. Nationalistische Gruppierungen wie die rechtsextremistischen „Grauen Wölfe“, die ein
Ableger der MPH – Partei sind, erhalten immer größeren Zulauf, wie übrigens die Moscheen
auch, die als Vereine organisiert sind. Bei den „Grauen Wölfen“ macht sich eine explosive
Mischung aus primitivem Chauvinismus, heldenhaftem Türkentum und Islamismus
bemerkbar. Die islamistischen Tendenzen in einer nationalistischen Gruppierung dürften
verwundern, wenn man bedenkt, daß der islamischen Denktradition der rassisch definierte
Nationalbegriff fremd ist. Doch es stellt sich bald heraus, daß der Islam aus rein
populistischen und opportunistischen Ambitionen instrumentalisiert wird.

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Die anderen Gruppierungen definieren sich religiös, ohne jedoch auf nationalistische
Symbolik zu verzichten, so daß es auch keine Annäherung zwischen Türken und
muslimischen Gruppierungen anderer Nationalitäten gibt. Obwohl sie sich auf ein religiöses
Fundament beziehen, gibt es kaum Berührungspunkte zwischen den einzelnen Gruppen. Die
Beziehungen sind zumeist von Unverständnis und Mißtrauen, manchmal gar von offener
Feindschaft gekennzeichnet.
Die Moschee ist nicht nur eine religiöse Stätte, sondern auch sozialer und kultureller
Treffpunkt. In letzter Zeit wachsen die Bemühungen seitens der Vereine, die Jugendlichen mit
speziellen Freizeitangeboten für sich zu gewinnen. Angesichts der Tatsachen, daß städtische
Einrichtungen wegen Finanzknappheit schließen müssen, verwundert es nicht, daß diese
Angebote auch wahrgenommen werden. Die Intention der Vereine ist ohne Zweifel, die
Jugendlichen als spätere Mitglieder zu gewinnen, weshalb auch eine schleichende
Indoktrination praktiziert wird. Es ist äußerst fragwürdig, ob nun die Jugendlichen sich der
Ideologien bemächtigen. Sie identifizieren sich kaum mit den ideologischen und politischen
Zielen der entsprechenden Organisation, wenn sie überhaupt Kenntnis von den Zielen haben.
Sie nutzen die Angebote und anerkennen die Mühen, indem sie sich als Solidargemeinschaft
mit den Vereinsträgern verstehen. Die Angriffe der deutschen Öffentlichkeit auf die diversen
Vereine, die durchaus berechtigt sein dürfen, zwingen oft die Jugendlichen in eine
Defensivhaltung, so daß sie den Verein verteidigen, obwohl sie mit ihm kaum etwas zu tun
haben.
Es gibt unter den religiös angehauchten Gruppierungen viele Schattierungen; und teilweise
stehen sie sich auch feindlich gegenüber. In letzter Zeit ist aus Berlin vermeldet worden, daß
der Führer der Kaplan – Bewegung in Kreuzberg von einem Landsmann erschossen worden
sei, was höchstwahrscheinlich auf ein ideologisches Motiv zurückgeht.
Es gibt in Kreuzberg und Schöneberg über 30 Moscheen, die von unterschiedlichen
eingetragenen Vereinen geleitet werden. Diese Moscheen sind oft in Hinterhöfen angesiedelt
und sind von außen als solche nicht erkennbar. Da gibt es zunächst die sogenannte DITIB –
Vereinigung, die eine offizielle staatliche Institution der Türkei ist und dementsprechend unter
staatlicher Kontrolle steht.
Sie widerspricht eindeutig dem laizistischen Staatsverständnis des Gründungsvaters Atatürk,
der mit seinen repressiven Maßnahmen gegen den Islam auf großen Widerstand stieß.
Die DITIB (islamisch – türkische Religionsvereinigung), die ihren Hauptsitz in Köln hat und
die meisten Moscheevereine in der BRD führt, beansprucht für sich, alle Türken in
Deutschland zu repräsentieren. Sie vertritt ein national geprägten Islam, lehnt jedoch, aus
einleuchtenden Gründen, eine Systemänderung in der Türkei grundlegend ab. Daneben gibt es
die sogenannte Milli – Görüs (Nationale Weltsicht), die eine Schwesterorganisation der Refah
– Partei von Erbakan ist und einen Staat mit islamischer Rechtsordnung anstrebt.
Diese Organisation hat zahlreiche Mitglieder (30.000 in der BRD) und einen großen
Immobilienbesitz. Sie, und nicht die DITIB – Vereinigung, betreibt die meisten
Moscheenneubauten.
Weitere Splittergruppen, wie die ATIB oder die sogenannte Kaplan – Bewegung, führen auch
Vereinshäuser. Erstere, die von einem Aussteiger der „Grauen Wölfe“ gegründet wurde,
vertritt eine nationalistische Ideologie mit islamistischen Elementen, wohingegen die Kaplan
– Bewegung eine fundamentalistische Gruppierung ist, die einen Staat mit islamischer
Rechtsordnung sowohl in der Türkei als auch in Deutschland etablieren möchte. Der
verstorbene Gründer, der sich selber zum Kalifen aller Gläubigen ernannte, erklärte seine
Domäne in Köln kurzerhand zu einem Kalifat. Diese Gruppierung gewinnt an Bedeutung.
Alle genannten Gruppierungen sind mehr oder weniger antidemokratisch und somit
verfassungswidrig. Viele, wie etwa die Milli – Görüs, weisen auch starke antisemitische
(genauer: antijudaistische) Tendenzen auf und werden deshalb auch vom Verfassungsschutz
beobachtet. Natürlich gibt es auch zahlreiche unpolitische Gruppierungen, wie die Sufi –
Bruderschaften und einige sektiererische Strömungen, die jedoch für unsere Betrachtung nicht
                                                                                           10
wesentlich sind. Das Islamverständnis der Elterngeneration ist eher von einem einfachen und
traditionellen Volksglauben geprägt, das aus den 50er Jahren unverändert beibehalten wird.
Während in den arabischen Ländern und in der Türkei mittlerweile auch ein tolerantes und
weltoffenes Islamverständnis existiert, ist die Elterngeneration einem beschränkten
Volksglauben verhaftet geblieben, und der Umstand, daß die Mehrheit weder schreiben noch
lesen kann, konserviert geradezu diesen Zustand. Traditionelle Wertvorstellungen, wie
Geschlechterrollen, prägen die Elterngeneration; dabei entsprechen diese Vorstellungen
keineswegs den religiösen, womit die These der Konfrontation zwischen Islam und Moderne
obsolet ist.
Die jugendlichen Türken stehen in einem Spannungsfeld der Ideologien. Initiativen, den
Religionsunterricht z.B. aus den Hinterhöfen in die Schule mit kontrollierten Lehrplänen zu
holen, kommen spät und werden nur halbherzig verfolgt, womit die Möglichkeit, den Einfluß
der extremistischen Gruppierungen in diesem wichtigen Bereich zurückzudrängen, nicht
wahrgenommen wurde.
Natürlich stehen nicht alle türkischen Jugendliche unter dem Einfluß der nationalistischen
bzw. religiösen Gruppierungen, dennoch, und das ist eigentümlich, vertreten auch sie
traditionelle Norm- und Wertvorstellungen, auch wenn sie sich modern geben und von den
Äußerlichkeiten her kaum von ihren deutschen Altersgenossen zu unterscheiden sind.
Viele in Berlin geborene Türken bezeichnen sich als Kreuzberger, weisen jedoch die
Bezeichnung „Deutscher“ weit von sich. Sie sehen sich selber zwar auch als Türken und
geben sich nationalbewußt, einen wirklichen bezug zur Heimat ihrer Vorfahren haben sie aber
nicht. In der Türkei werden die Kinder der Emigranten in Deutschland als „Deutschländer“
bezeichnet. Die deutsche Bevölkerung sieht in ihnen Türken. Die Jugendlichen reagieren,
indem sie sich als eigenständige Gruppe mit ihrem spezifischen Lebensstil verstehen.
So gehen auch die jugendlichen Türken in die Disco, nur das es eine eigene ist. In Berlin –
Kreuzberg gibt es mehrere Discos und Cafés (wie das Pasha´s), die ausschließlich von Türken
frequentiert werden. Sie zeigen im Grunde das gleiche Konsum- und Freizeitverhalten wie
vergleichbare Deutsche, aber sie können sich mit Deutschland bzw. den „Deutschen“ nicht
identifizieren und haben allzu oft ein sehr negatives Bild, das von Rassismus und anderen
Ressentiments geprägt ist. Natürlich kann nicht außer Acht gelassen werden, daß diese
Jugendliche in einer Atmosphäre des „Fremdseins“ mit allen negativen Folgeerscheinungen
wie Rassismus und Ausländerfeindlichkeit aufwachsen müssen, und für viele zeigt sich dieser
Rassismus ganz konkret in ihrem alltäglichen Leben, wenn es etwa darum geht, sich für eine
Stelle zu bewerben.
Die Lebensstilgruppe, die sich im „Pasha´s“ trifft, legt großen Wert auf ein gepflegtes
Äußeres, wobei Marken - und Designerartikel eine wichtige Rolle spielen. Auch Frauen
besuchen dieses Café.
Die Jugendlichen, die dieser Szene angehören, haben kaum einen Bezug zum Glauben, wie er
von ihren Eltern verstanden und praktiziert wird. Dennoch sind sie von traditionellen
Wertvorstellungen geprägt, was oft zu zahlreichen Widersprüchen in ihren Überzeugungen
führt. So können sie sich mit dem Gebot, vor der Ehe keine geschlechtlichen Beziehungen
einzugehen, nicht mehr identifizieren, doch erwarten sie von ihrer zukünftigen Frau,
jungfräulich in die Ehe zu gehen.
Dies ist nur ein Beispiel für die normativen Konflikte, die für diese Gruppe der Jugendlichen
charakteristisch ist. Natürlich befinden sich nicht alle Jugendlichen in solchen
„Gewissenskonflikten“, wenn sie sich entscheiden, einen Lebensstil für sich zu wählen.
Hier stellt sich die Frage der sogenannten Integration. Es wird seitens der deutschen
Öffentlichkeit oft der Vorwurf laut, die Ausländer seien nicht willig, sich in die Gesellschaft
integrieren zu lassen. Interessanterweise läßt sich nur schwer sagen, was die Gesellschaft, in
die integriert werden soll, nun ausmacht. In meinen Ausführungen wurde deutlich, daß die
Jugend in vielen Lebensstilgruppen aufzuteilen ist, ohne daß diese Lebensstilgruppen sich
gegenseitig beeinflussen müssen. Zudem unterscheiden sie sich teilweise sehr voneinander, so
                                                                                          11
daß durchaus die Frage berechtigt ist, inwiefern die Summe dieser unterschiedlichen Gruppen
und Strömungen etwas gemeinsames hervorzubringen vermag, was als die deutsche
Gesellschaft bezeichnet wird.


Exkurs: Zum Begriff der "Integration"

Wenn es darum geht, die Schwierigkeiten der Ausländer in der Bundesrepublik oder generell
der Minoritäten in einer Gesellschaft zu ergründen, stoßt man auf den Begriff "Integration",
womit, je nach politischer Gesinnung oder sonstiger Weltbilder, stets etwas anderes gemeint
ist. Die einen sehen darin die völlige Auflösung der ursprünglichen Werte und
Verhaltensweisen und die Übernahme der normativen Strukturen des "Gastlandes"
(Assimilation), die anderen ein "sich-gegenseitig-beeinflußen und prägen" auf der Grundlage
eines interkulturellen Diskurses, bei dem in einem dialektischen Prozeß etwas neues, "drittes"
entsteht, also jener Prozeß, der die heutige, uns bekannte abendländische Kultur erst möglich
gemacht hat, und der durch den künstlichen Riegel des unitarischen Nationalstaatsgedankens
unterbunden werden soll - ein Unterfangen, welches in Vergangenheit nur zu oft mit
untragbaren Konsequenzen scheitern mußte.
Wenn man von der Möglichkeit einer Assimilation spricht, so stellt sich die Frage, welche
Werte man internalisieren muß, um als "quasi-Deutscher" gelten zu dürfen. Was, so kann
gefragt werden, haben ein randalierender Punker und ein Generaloberst der Bundeswehr
gemeinsam, was sie als "Volkseinheit" charakterisieren würde und auf dessen Grundlage die
Assimilation der ausländischen Bevölkerungsgruppe möglich wäre.
Letztlich zielt diese Überlegung dahin, daß die "Integration" der Minoritäten gelingt, wenn
ihre "Andersartigkeit" von der Majorität akzeptiert werden. Die Pluralität der Lebensstile
weist einen möglichen Weg. Wesentlich ist die Akzeptanz in der Gesellschaft, d.h. von den
anderen Gruppen.
Natürlich müssen die Ausländer die Sprache beherrschen. Doch unabhängig davon kann eine
Assimilation, die eine Aufgabe der eigenen Kultur bedeutet, nicht verlangt werden.
Wesentlich für eine Politik der Lebensstile ist die Kommunikationsfähigkeit, d.h. Wissen vom
anderen zu haben. Letztlich weiß ein Punker, wie er sich kleiden müßte, wenn er in einer
Bank arbeiten möchte. Dieses Wissen, das soziale Kompetenzen zur Verfügung stellt,
ermöglicht eine Entkrampfung der Beziehungen zueinander, und dies gilt nicht nur für
„Ausländer“ und „Deutsche“, sondern für alle Lebensstilgruppen in einer Gesellschaft.
Grundsätzlich läßt sich eine erhöhte Diskriminierung der Ausländer aus den zahlreichen
Ungleichheitsstrukturen herleiten. Somit wäre in der Emanzipation zu rechtlicher Parität und
sozioökonomischer Chancengleichheit ein Weg in die "Integration" gefunden.
Dies setzt natürlich einen Bewußtseinswandel in der Majorität voraus.
Aber genauso ist es notwendig, die Tendenz zur Gettoisierung bei den Türken in Schöneberg
und Kreuzberg zu konstatieren. Im Grunde ist diese Tendenz bei fast allen Lebensstilgruppen
zu verzeichnen und somit kein primäres Problem der Ausländer. Weiterhin wurde festgestellt,
daß die Türken selber in zahlreiche Gruppen aufgeteilt sind, die untereinander kaum Kontakt
haben.
Es existieren unter den Türken Gruppierungen, die von den diversen Moscheevereinen heftig
bekämpft werden, wie etwa die Aliviten und die kleine Gruppe der Schiiten. Hier von einer
Einheit der Türken zu sprechen ist genauso unangemessen wie von den „Deutschen“ sprechen
zu wollen. Selbst wenn diese Ausführungen trivial und selbstverständlich erscheinen mögen,
so beruhen doch viele Fehleinschätzungen und Vorurteile genau darin, daß man diese
unwissenschaftliche Pauschalisierung verwendet. Dies wird etwa ersichtlich, wenn man die
Kriminalitätsstatistik der Ausländer heranzieht, um eine erhöhte Gewaltbereitschaft ober
Neigung zur Kriminalität bei Ausländern beweisen zu wollen. Das Argumentationsmuster ist
das gleiche, daß in den Vereinigten Staaten verwendet worden ist, als man behauptete, die
                                                                                         12
Intelligenz der schwarzen Bevölkerung sei geringer, weil sie schlechtere Schulabschlüsse
vorwiesen. Daß die Nationalität oder die Hauptfarbe keine Rolle spielt, entgeht der Intelligenz
vieler Menschen. Ausländer sind verglichen mit Deutschen in ähnlichen oder gleichen
sozioökonomischen Verhältnissen nicht mehr oder weniger kriminell. Einige Forscher
konstatieren gar, daß die Kriminalitätsrate der Ausländer für ihre sozioökonomischen
Verhältnisse äußerst gering ausfalle, was möglicherweise auf die verschärften Bestimmungen
des Ausländerrechtes zurückführbar sei.




Anhang



Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland

Als nach dem zweiten Weltkrieg bald der Wiederaufbau folgte, erzwang die positive
wirtschaftliche Lage die Anwerbung von ausländischen Arbeitnehmern, um den Mangel an
Arbeitskräften zu kompensieren.
Von 1951 bis 1956 wuchs das Bruttosozialprodukt im Jahresdurchschnitt real um 9.5%
(Informationen zur politischen Bildung 237).
Vermehrte Investitionen führten bald zu einem Stellenüberangebot, vor allem im Bereich der
Bau- und Schwerindustrie. Diese Stellen konnten in jener Zeit weder durch eigene Ar-
beitskräfte noch durch eine rationalistische Arbeitsweise ersetzt werden, weil für letzteres die
Technologie noch nicht ausgereift war. Alle Parteien und Institutionen begrüßten den
Vorschlag, Arbeiter aus ärmeren Ländern anzuwerben, um sie für die eigene Industrie zu
nutzen. Die Herkunftsländer der Gastarbeiter waren und sind teilweise bis heute strukturell
und industriell unterentwickelte Länder, die, wie alle "Dritt-Welt-Staaten", einen Überschuß
an Arbeitskräften hatten bzw. haben. Die Idee der Gastarbeiteranwerbung (übrigens keine
Innovation der Deutschen, vielmehr eine bewährte Methode der imperialistischen Staaten im
Europa des 19. und 20. Jahrhundert) fand auch in den Herkunftsländern starken Zuspruch,
weil dies eine Entlastung des eigenen Arbeitsmarktes und die Möglichkeit, an Devisen zu
gelangen, bedeutete, denn die Gastarbeiter sollten das meiste Geld nach Hause zu ihren
Familien senden.
Der Begriff des Gastarbeiters impliziert, daß es sich um Arbeit für eine kurze bzw.
überschaubare Zeit handeln soll. Die ersten Arbeiter waren sich dessen bewußt, und sie
wollten auch alle in ihre Länder zurückkehren, sobald sie genügend Geld verdient hätten, um
eine eigene Existenz zu gründen.
Die Frage der "Integration" stellte sich überhaupt nicht, weil die Arbeiter nach kurzer Zeit
zurückkehren sollten. Es wurden bilaterale Vereinbarungen zwischen der BRD und den
verschiedenen Anwerberstaaten geschlossen (Griechenland 1960, Türkei 1961, Marokko
1963, Portugal 1964, Tunesien 1965 und Jugoslawien 1968) (Informationen zur politischen
Bildung 237).
Die Anwerbung erfolgte bis 1973, d.h. bis der Bedarf an Arbeitskräften gedeckt war, und die
Rezession, begleitet von der Erdölkrise, verschlechterte zusehends die wirtschaftliche
Situation in den westlichen Industrienationen und folglich auch in der Bundesrepublik.
Ab 1973 erfolgte dann ein Anwerbestopp; es durften nur noch Familienmitglieder ins Land
geholt werden.
In der Statistik wird ersichtlich, daß 1973 die meisten Ausländer in der BRD arbeitstätig
gewesen sind, insgesamt 2.595.000 (zum Vergleich 1991: 1.908.000) (Bundesministerium für
Arbeit und Soziales, 1992).
                                                                                           13
Der Rückgang ist aus dem Anwerbestopp, der hohen Arbeitslosigkeit in den 80er und 90er
Jahre und der zunehmenden Alterung der ersten Generation, die in das Rentenalter kommt, zu
erklären. Daß in schweren wirtschaftlichen Zeiten die ausländischen Mitarbeiter in
erster Linie die Leidtragenden sind, ist leider eine Tatsache und ein Indiz dafür, daß selbst vor
dem System der sozialen Absicherung die Diskriminierungsmechanismen nicht haltmachen.
Die erste Generation der ausländischen Arbeitnehmer lebte lange Zeit im Provisorium, d.h. es
wurden keine Mühen gemacht, die Sprache des Landes zu erlernen; Kontakte zu Deutschen
wurden nicht gesucht, und man hielt sich an einen rigiden "Sparkurs", so daß die
Lebensverhältnisse mehr als bescheiden gewesen sind.
Diese Fehleinschätzung der Ausländer in der BRD ist mitunter für die heutige
sozioökonomische Diskriminierung verantwortlich.
Der Wunsch zurückzukehren erwies sich für die meisten als eine Illusion oder gar Lebenslüge.
Leidtragende war und ist vor allem die zweite Generation der ausländischen Arbeitnehmer.
Zunächst muß genauer betrachtet werden, welchen Problemen sich die zweite Generation
gegenüber sah und sieht, und ob man die Problemfelder hinsichtlich der verschiedenen
Kohorten unterscheiden kann.
Kinder, die vor 1973 geboren sind, haben zumeist die Grundschule in ihrer Heimat besucht
und sie wurden erst später nach Deutschland geholt. In Anbetracht der ungeklärten Zukunft
wußten die Eltern oft nicht, welchen Schulweg ihre Kinder einnehmen sollten, so daß man
von "Pendelkindern" spricht, die zwischen zwei Ländern hin und her geschickt wurden, und
somit nicht die Möglichkeit erhalten hatten, sich in einer Kultur zu sozialisieren, was
sich oft in deutlich ausgeprägten psychischen Belastungssyptomen zeigte. Zudem kommen
große Sprachprobleme (sowohl die Sprache des "Gastlandes als auch die des "eigenen"
Landes) hinzu.
Der Grad der "Integration" solcher Kinder ist extrem gering, und die Gefahr der kulturellen
und sozialen Isolation ist sehr groß.
Im Grunde genommen spiegeln diese Pendelkinder in verschärfter Form die Probleme aller
Kinder und Jugendlicher der zweiten Generation wider, die in der besonderen Situation
stehen, zwischen zwei Kulturen aufzuwachsen; und die Unterschiede zwischen ihnen sind
teilweise so groß, daß die Assimilation beider Lebensformen aufgrund zu großer Differenzen
scheitern muß (so z.B. bei muslimischen Türken).

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Konflikte der zweiten Generation und
generell aller Ausländer in der BRD in folgenden Punkten auftreten:

Sprachprobleme
das Leben in zwei Kulturen
die Ungewißheit der Zukunft
der Grad der Akzeptanz und "Integration"
die Auswirkungen der rechtlichen Situation (Ausländerrecht)
die Bildungssituation (Bildungsdefizite, Schulversagen)
Vorurteile seitens der deutschen Bevölkerung
Familie und Identität
(Informationen zur politischen Bildung 237)

Wie hier dargestellt, ist die Bildungssituation der Pendelkinder unzureichend (häufig keine
Schulabschlüsse), und es ist interessant festzustellen, daß die vertikale soziale Mobilität
dieser Gruppe der zweiten Generation sehr eingeschränkt ist, folglich sind sie zumeist in die
Arbeitsplätze ihrer Väter eingetreten, die ihrerseits ungelernte Hilfsarbeiter sind.
Die Sprachprobleme sind für diese spezifische Gruppe der Pendelkinder und generell, mit
Einschränkung, für die Kinder und Jugendlichen der zweiten Generation evident.

                                                                                            14
Trotz langen Aufenthaltes in der BRD gelingt es ihnen nicht, die Sprache ganz zu erlernen,
was einleuchtet, wenn man die Kenntnisse der Sprachpsychologie heranzieht, wonach vor
allem in den ersten Lebensjahren die wichtigste Phase zum Erwerb von muttersprachlichen
Kompetenzen liegt.
Anders sieht die Situation bei den Jugendlichen aus, die nach 1973 geboren worden sind. Die
Mehrheit ist in Deutschland aufgewachsen, und diese Gruppe stellt die erste überhaupt dar,
die das deutsche Bildungssystem von Anfang bis zum Ende absolviert. Es entstanden oftmals
Probleme in Kindergärten und Schulen, weil die Erzieher und Lehrer in die Unterweisung von
ausländischen Kindern nicht ausgebildet worden sind. Hier ist ein Defizit seitens der
bundesrepublikanischen Gesellschaft auszumachen, die bis dahin keine Anstrengung
unternommen hat, den Bedürfnissen der ausländischen Mitbürger gerecht zu werden.
Die Gruppe dieser Jugendlichen hatte vor allem an der Ungewißheit der Zukunft zu leiden.
Man lebte in einem Bewußtsein stets "gepackter Koffer", obwohl die Jahre dahingingen und
die Schulausbildung voranschritt.
Die Ungewißheit der Aufenthaltsdauer verbietet den Gedanken an "Integration", was noch
durch die vorurteilsbeladene Beziehung der Deutschen zu den Ausländern und vice versa
verschärft worden ist.
Die Probleme der Jugendlichen, sich in der Bundesrepublik einzuleben, machen sich in der
Schulleistung bemerkbar.
Zwar ist man in den 80er Jahren bemüht, den ausländischen Schülern entgegenzukommen,
indem man muttersprachlichen Förderunterricht an den Schulen anbietet, dennoch ist eine
schulische Integration nicht ganz möglich, weil die politische und kulturelle Integration nicht
gewährt bzw. nicht ermöglicht wird, wobei letzteres per se zu bezweifeln ist, wohingegen
unter politischer Integration einfach die rechtliche Gleichstellung zu verstehen ist.
1990 wurden folgende Zahlen der Verteilung der ausländischen Jugendlichen auf die
verschiedenen Schularten ermittelt (Informationen zur politischen Bildung 237):

45.9 % Hauptschulabschluß
25.2 % Realschulabschluß
6.4 % Hochschulreife (Abitur)
1.2 % Studierende
22 % keinen (Haupt-) Schulabschluß
3.8 % Sonderschulen

Im Vergleich dazu stellt man einen großen Abstand der deutschen zu den ausländischen
Schulabgängern fest. So gab es 1990 bei den deutschen Schülern mehr Abiturienten als
Hauptschulabgänger, und die Ausländer sind prozentual gemessen am Anteil der
Gesamtbevölkerung in den höheren Lehranstalten unterrepräsentiert.
Das spiegelt sich auch auf dem Arbeitsmarkt wider, in dem hohe, gesellschaftlich privilegierte
Ämter und Berufe mehrheitlich von Deutschen besetzt sind (Informationen zur politischen
Bildung 237).
Ein wesentliches Problem für die bundesrepublikanische Gesellschaft besteht im kulturellen
und sozialen Status der Jugendlichen und der daraus resultierenden Identität.
Kennzeichen für die Identitätsbildung ist die Zugehörigkeit zu einer spezifischen Sozietät.
Wenn man aus einer anderen Kultur stammt, die der "Gastkultur" ähnlich ist, kann auf der
Grundlage der gemeinsamen Werte und Institutionen eine Sozialisation stattfinden, die dem
Kind eine integere Persönlichkeits- und Identitätsstruktur verleiht.
Wenn aber die Kulturen sich sehr fremd sind, dann ist es unmöglich, eine integrative
Sozialisation zu erfahren, so lange die eine Kultur nicht zugunsten der anderen internalisiert
wird, ansonsten hängt man de facto zwischen zwei Stühlen.


                                                                                          15
Die deutsche Bevölkerung versteht größtenteils unter "Integration" die völlige Anpassung an
die Sitten und Werte der deutschen Sozietät, was implizit die Aufgabe und Verleugnung der
eigenen Kultur bedeuten würde. Das andere Extrem wäre eine Gettoisierung, denn nur dann
könnte die eigene Kultur quasi "ungestört" gelebt werden.
Beide Einstellungen sind zu verurteilen. Viele Politiker sprechen sich für die doppelte
Staatsangehörigkeit aus, was in ihren Augen einen Beitrag zur Integration darstellt. Diese
Diskussion wurde auf dem Hintergrund neonazistischer Umtriebe und Angriffe auf Ausländer
entfacht.
Weitere Hindernisse auf dem Weg zur Akzeptanz ist die Unwissenheit seitens der deutschen
Bevölkerung, die die ausländischen Jugendlichen der zweiten und dritten Generation in einen
Topf wirft mit Asylbewerber, Bona-fide-Flüchtlinge (Flüchtlinge, die nach Genfer
Konvention akzeptiert worden sind), de-facto-Flüchtlinge (aus humanitären Gründen
genehmigter Aufenthalt wegen globaler, politischer Probleme im eigenen Land),
Kontigentflüchtlinge, Aussiedler und Illegale.
Die interkulturellen Konflikte der ausländischen Jugendlichen müssen so angegangen werden,
wie man es bei der Konfrontation zweier Kulturen tun müßte, nämlich mit dem Versuch, im
interkulturellen Austausch eine neue, gemeinsame Identität zu schaffen und zu finden.
Die dritte Generation, die ab etwa 1986 auf die Welt kommt, wird zeigen, inwiefern sich diese
problematische bzw. problematisierte Sozialisation gestalten wird.


 Literaturverzeichnis
 Berkenkopf, B. "Kindheit im Kulturkonflikt", Frankfurt 1984
 Berking, H. & Neckel, S. „Die Politik der Lebensstile in einem Berliner Bezirk aus: „Die
                             soziale Welt – Sonderband Lebensstile“
 Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.)"Ausländerarbeit und Integrationsforschung", München
 1987
 Esser, H. / Friedrichs, J (Hrsg.) "Generation und Identität", Opladen 1990
 Konrad Adenauer Stiftung "Integration ausländischer Arbeitnehmer", Bonn 1976
 Savelsberg, J.J. "Ausländische Jugendliche", München 1982
 Weber, C. "Selbstkonzept, Identität und Integration", Berlin 1989




                                                                                        16

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Die politik der lebensstile

  • 1. Soziologisches Seminar der Rheinischen Friedrich – Wilhelms – Universität Bonn Veranstaltung: Soziologie der Lebensformen (Übung für Fortgeschrittene) Leitung: PD Dr. Doris Lucke Die Politik der Lebensstile in einem Berliner Bezirk – unter besonderer Berücksichtigung der ausländischen Bevölkerungsteile Ibrahim Mazari Soziologie, Psychologie, Islamwissenschaften SS 1997
  • 2. Inhalt Vorbemerkung ....................................................................................................................... S.3 Einleitung ............................................................................................................................... S.3 I. Entstehung des Stadtteils Schöneberg ............................................................................... S.5 II. Lebensstile heute .............................................................................................................. S.7 III. Die zweite und dritte Generation der „Ausländer“ ......................................................... S.9  Exkurs: Zum Begriff der Integration ...................................................................... S.12  Anhang: Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland ........................................ S.13 Literaturverzeichnis ............................................................................................................. S.16 2
  • 3. Vorbemerkung Diese Arbeit beschäftigt sich mit den Lebensstilen in einem Berliner Bezirk, um dann genauer auf die Lebenssituation der ausländischen Mitbürger einzugehen. Dabei stehen die zweite und die dritte Generation der Ausländer im Mittelpunkt der Betrachtungen. Hier sollen gesellschaftliche Prozesse veranschaulicht werden, die in den öffentlichen Debatten um die Ausländer zitiert werden, wie etwa das Konzept der Integration und der Rassismus zwischen Deutschen und Ausländern, aber auch zwischen den einzelnen Ausländergruppen. Natürlich müssen die einzelnen Begriffe, die im politischen und wissenschaftlichen Diskurs verwendet werden, einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. So ist durchaus die Frage berechtigt, ob es richtig ist, die hier geborenen „Ausländer“ noch als solche zu bezeichnen und ob nicht schon in solchen begrifflichen Zuweisungen eine rassistische Tendenz zu vermuten ist. Weiterhin ist der Begriff der Integration zu hinterfragen. Darauf wird in dieser Arbeit noch genauer einzugehen sein. Als Grundlage meiner Arbeit wurde ein Aufsatz von Berking und Neckel aus dem Sonderband Lebensstile der „Sozialen Welt“ verwandt. Die Autoren sind der Chicagoer Stadtsoziologie verpflichtet, die in anschaulichen Studien des Großstadtlebens den Augenmerk auf das Konkrete lenkt und weniger strukturanalytische Zusammenhänge auf makrosoziologischer Ebene aufzeigen möchte. Die Arbeit von Berking und Neckel ist somit „nur“ exemplarisch, so wie es meine Ausführungen auch sind. Nichtsdestotrotz habe ich mich bemüht, auch statistisches Material zu verwenden, um einen globalen Einblick in die Lebenssituation der Ausländer zu gewähren. Den Ausführungen zu den Lebensstilen ist ein Textteil angegliedert, in dem ich allgemein auf die „Ausländerproblematik“ eingehe und dabei die historische Entwicklung berücksichtige. Hierbei beziehe ich mich auf alle Ausländer im gesamten Bundesgebiet. Dies ist m.E. notwendig, um die spezielle Lebenssituation der jungen Ausländer in Schöneberg oder Kreuzberg in einem globalen Zusammenhang zu betrachten. Diese Ausführungen sind gesondert im Anhang aufgeführt. Einleitung Prozesse der Klassen- und Gruppenbildung zeigen sich besonders im Erscheinungsbild der Städte, denn sie sind der zentrale Vergesellschaftungsraum der modernen Gesellschaft. Schon zu allen Zeiten waren die Städte Orte, in denen soziale Mobilität und Segregation besonders deutlich ausgeprägt waren. Doch erst mit dem Aufkommen der industriellen Revolution und der damit verbundenen sozialen Frage (Massenarmut, Landflucht und vermehrte Urbanisierung) wurde die Stadt als ein eigenständiges soziales Gebilde betrachtet. Es ist kein Zufall, daß die Etablierung der Soziologie als Wissenschaft genau in diese Zeit fällt. Die Stadt als soziales Gefüge gestaltet einen anderen Lebensrythmus, als es das traditionelle, ländliche Lebensmuster bietet. Dies hängt mit der erhöhten Dichte zusammen, die Anonymität und somit größeren Raum für unterschiedliche Formen der Vergemeinschaftung zur Folge hat. Die traditionellen Strukturen verlieren immer mehr an Bedeutung und weichen spezifischen Klassen- und Gruppenbildungen, die letztlich zur Ausbildung vieler Lebensstile führten. Nach Beck (1986) ist davon auszugehen, daß die moderne Gesellschaft eine Entwicklung von den traditionellen Beziehungsstrukturen weg zur sogenannten Individualisierung hin vollziehe, die durch keine Klassen- und Gruppenbildung kompensiert werde. So sei festzustellen, daß in den traditionellen Arbeitervierteln die Klasse der Arbeiter nicht mehr auszumachen sei; vielmehr existierten zahlreiche, zumeist voneinander unabhängige Gruppierungen, die ihren Ausdruck in den verschiedenen Lebensstilen fänden. Lebensstile kennzeichnen sich u.a. dadurch aus, daß sie sich schnell wandeln und daß sie kurzlebig sind. Sie werden zwar auch von bestehenden Milieus geprägt, doch sie müssen nicht 3
  • 4. in ihnen beheimatet sein. Ökonomische Faktoren, die bei der Entstehung der Milieus maßgeblich sind, spielen bei den Lebensstilen eine untergeordnete Rolle, obschon man ihre Bedeutung auch nicht allzusehr unterschätzen darf. Lebensstile sind nach Dubiel (1987) „nachtraditionelle Gemeinschaftsbildungen“, die ihre Bindungsenergie nicht mehr aus wirtschaftlichen oder politischen Ressourcen bezögen, sondern aus symbolischen Quellen. Augenfällig sind hier natürlich die Kleidung, die Sprache (Soziolekt) und ritualisierte Handlungen, die unter Umständen den gesamten Alltag bestimmen können. So kann es mitunter feinfühlige Differenzen in der „Kleiderordnung“ geben, deren Verletzung zu einem Ausschluß aus der Gruppe führen oder eben signalisieren, daß der betreffende nicht zur Gruppe gehört. Das erschwerende ist, daß sich diese Codes im ständigen Wandel befinden und kaum Einblick gewähren, wie sie sich in naher Zukunft entwickeln könnten. Komplexe Begrüßungsrituale versinnbildlichen besonders das, was Dubiel symbolische Quellen nennt. Wieviel der einzelne z.B. verdient, spielt keine Rolle. Allein die Kenntnis der gemeinsamen Codes und die Identifikation mit dem entsprechenden Lebensstil bestimmen die Zugehörigkeit. Der normative Druck, der durch diese Gruppen gegeben ist, ist deutlich höher, als man erwarten könnte, wenn man die These Becks, wonach sich die Gesellschaft immer mehr individualisiere, ernst nimmt. Die Komplexität der normativen Strukturen der unterschiedlichen Lebensstile ist im Vergleich zu den der traditionellen Lebensmuster nicht geringer. Die Beständigkeit und ein gesamtgesellschaftlicher Konsens über die Gültigkeit und Legitimität der Normen und Werte, in den einzelnen Lebensstilen gelten, sind jedoch nicht gegeben. Es ist der merkwürdiger Prozeß erkennbar, die Subkulturen zu vermarkten, da man die Bedeutung der Jugendstile in den Vorstandsetagen diverser Unternehmen erkannt hat. Der Umstand, daß diese Lebensstile in den Subkulturen ausschließlich auf der Grundlage symbolischer Quellen bestehen, ermöglicht die Verknüpfung dieser Symbolwelt und des daraus resultierenden Lebensgefühles mit konkreten Produkten, wie etwa Sportartikel, die in ihrer Funktionalität ganz genau beschrieben werden können. Durch diese Verknüpfung wird das zuvor funktionale Objekt Teil der Symbolwelt des Lebensstiles. Es wird nun ein Teil des Codes und kann unter Umständen sogar entgegen seiner ursprünglichen Funktionalität verwendet werden. Gelten Subkulturen zunächst als Abgrenzung zum „Mainstream“, werden sie in diesem Prozeß, der im übrigen, um mit dem Titel zu sprechen, eine besondere Form der Politik der Lebensstile darstellt, nämlich die des kapitalistischen Wirtschaftssystems, vereinnahmt und zum „Mainstream“ pervertiert, was eigentlich in sich ein Widerspruch darstellt, weshalb es auch notwendig ist, ständig neue Vermarktungsquellen ausfindig zu machen. Die Modebranche verdeutlicht in besonderer Weise diese Gratwanderung. Wenn sich Konturen traditionsfester Zugehörigkeiten tiefgreifend zersetzen und die Akteure nicht mehr auf sicher geglaubte und handfest verifizierte Handlungsnormen und biographische Erwartungen zurückgreifen können (Berking & Neckel), so treten Lebensstile auf. Verstanden als „sozial distinkte Varianten kultureller Praktiken“ (Bourdieu), fungieren Lebensstile als Strategien der Sinnfindung und der Bedeutungskonstitution. Heute findet man Lebensstilgruppen auch auf dem Land. Dies hat seinen Grund in der urbanen Kultur der Medien, die überall erreichbar und somit auch partizipierbar wird. Die Lebenskultur der Großstadt ist mittlerweile in den modernen industrialisierten Gesellschaften die Lebensrealität des größten Teiles der Bevölkerung und dominiert deshalb auch die Medien. Die Stadt muß deshalb Ausgangspunkt einer Analyse der verschiedenen Lebensstile sein. Die Stadt, im besonderem die Großstadt, in der soziale Kälte, Armut und Wohnungsnot deutlicher und konzentrierter auftreten und in der sich die diversen Lebensstile manifestieren, ist eine multikulturelle Sozietät, eine mögliche Keimzelle einer anarchischen Kulturgesellschaft. Hier fällt Berlin ins Auge, vor allem Kreuzberg. Doch im Blickfeld der ersten Ausführungen soll der Stadtteil Schöneberg stehen, weil dieser der am stärksten durchmischte 4
  • 5. Innenstadtbezirk Berlins ist und deshalb besonders geeignet ist, die Entstehung der verschiedenen Lebensstile und ihrer Wechselwirkungen zu beobachten, um die „Politik der Lebensstile“ (Berking & Neckel), d.h. die Kompetenzen der sozialen Integration und der politischen Konfliktfähigkeit, in den großstädtischen Räumen zu erforschen. Ich möchte im folgendem die Entstehung und Veränderung des Stadtteils Schöneberg historisch darstellen. Zuvor ist es jedoch notwendig, darauf hinzuweisen, daß die analytisch zu gebrauchenden Begriffe wie Lebensraum, -zeit und –stil in der Realität nicht voneinander zu trennen sind. Wie bereits gezeigt worden ist, entspringen aus den typischen (räumlich – architektonischen) Strukturen der Stadt spezifische gesellschaftliche Prozesse, die wiederum Wandlungen unterworfen sind und somit vom historischen Kontext abhängig sind. Die Manifestation eines bestimmten Lebensstiles, und dies wird noch genauer zu zeigen sein, zeigt sich an ganz konkreten Orte, wie Cafés oder Clubs, ohne die die Lebensstile oft nicht existieren könnten. Lebensstile sind kulturell – normative Erscheinungen, die jedoch des materiellen Unterbaus bedürfen; und dieser unterliegt den Zwängen der Räumlich- und Zeitlichkeit. Wie bei dem Beispiel der Vermarktung der Lebensstile gezeigt worden ist, werden konkrete Gegenstände in einer spezifischen Symbolwelt umgedeutet und erhalten dann „neue“, ihnen zuvor nicht innewohnende, Konnotationen. I. Entstehung des Stadtteils Schöneberg Das zu untersuchende Gebiet ist zwischen dem Nollendorfplatz und der Potsdamer Straße, entlang der Grünewaldstraße im Süden und der Eisennacherstraße im Westen gelegen. Ab den 80ern des vorigen Jahrhunderts wurde Schöneberg als Wohngebiet für höhere Beamte errichtet. Die angrenzenden Stadtteile waren größtenteils Arbeiterviertel. Anfang dieses Jahrhunderts erfuhr Schöneberg einen sozialen Abfall, und die sogenannte Halbwelt fand mit Amüsierbetrieben, Bordellen und Kneipen Eingang in den Bezirk. Zur gleichen Zeit etablierte sich in Schöneberg die homosexuelle Szene, die noch heute dort ihren Sitz hat. Auch die „gehobene Boheme“ zog mit Künstlerlokalen und Ateliers ein und gab dem Stadtteil zu Anfang des Jahrhunderts einen eigentümlichen Flair. Das gehobene Bürgertum in Schöneberg wurde zusehends von Arbeitern und Angestellten in den Südwesten verdrängt. Sie fanden vor allem um den Viktoria – Luise – Platz und im Bayrischen Viertel eine neue Heimstätte. Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 führte zu einem weiteren sozialen Abstieg des Viertels. Er wurde zu einem Problemfall. Nach den Zerstörungen des 2. Weltkrieges wurden in Schöneberg Sozialbauwohnungen errichtet, so daß es sich nunmehr um einen ganz durchschnittlichen Stadtbezirk handelte, der sozial jedoch eher nach unten hin tendierte. Seine großbürgerliche Stellung konnte nicht mehr hergestellt werden. In den 60er und 70er Jahren fand ein erneuter Austausch der Bevölkerung statt. Es zogen vermehrt ausländische Familien in die östliche Teile des Viertels ein. Die Ursache für diese Entwicklung ist darin zu sehen, daß die ausländischen Arbeitnehmer, die zuvor alleine nach Deutschland kamen, um hier für eine bestimmte Zeit zu arbeiten und daher mit provisorischen Unterkünften, die manchmal von den Arbeitgebern zur Verfügung gestellt worden, zufrieden waren, sich nun doch entschlossen, die Familienmitglieder nachkommen zu lassen. Der Begriff des Gastarbeiters impliziert, daß der betreffende sich nur für eine begrenzte Zeit in Deutschland aufhalten sollte, um schließlich in das Heimatland zurückzugehen. Dies war zunächst auch die Absicht der ausländischen Arbeitnehmer, doch es stellte sich bald heraus, daß die Vorstellung der nahen Rückkehr für den größten Teil der ersten Generation der in Deutschland lebenden Ausländer eine Lebenslüge darstellt, deren Konsequenzen nicht nur ein Leben als ständiger Außenseiter, sondern auch eine Ignoranz seitens der deutschen Politik und Gesellschaft sind. Die deutsche Öffentlichkeit war nicht an eine „Integration“ bemüht, da es sich hier nur um kurzfristige „Gäste“ handelte, und die Ausländer bemühten sich kaum, die 5
  • 6. deutsche Sprache zu erlernen, da sie stets der Ansicht waren, bald zurückzukehren. Die Ausländer lebten im Grunde auf ständig gepackten Koffern. Nichtsdestotrotz wurden ab Ende der 60er Jahre vermehrt die Familienangehörige nach Deutschland geholt, wodurch die Notwendigkeit entstand, nach größerem Wohnraum Ausschau zu halten, da nun die provisorischen Unterkünfte in den Betrieben und den Wohnheimen nicht mehr den Ansprüchen der Familie genügen konnten. Neben Kreuzberg zogen die Ausländer auch in den Osten Schönebergs, weil die Altbauwohnungen wesentlich billiger waren. Neben dem Anteil der Ausländer, dessen Mehrheit Türken waren, wuchs auch der Anteil der Studenten, die in diesem Viertel neue Lebensformen (d.h. Kommunen bzw. Wohngemeinschaften) erprobten. Am Nollendorfplatz entstand die neue Drogenszene, die rasch wuchs. Das kulturelle Zentrum verschob sich in die Mitte des Kiezes, die auf dem Winterfeldplatz liegt. Dort entstehen zwei Kneipen, die über den Stadtteil hinaus bekannt und wirksam werden: einmal die „Ruine“ (auf dem Gelände eines zerbombten Hinterhauses), die zuerst eine Studentenkneipe ist und in den 80ern zu einer Punkerkneipe wird. Dann gibt es noch den legendären „Dschungel“, der später zu „Slumberland“ umgetauft und zum Treffpunkt der ersten New – Wave – Generation werden sollte. Mit dem Einzug der Punker etabliert sich zunehmend eine starke linksalternative Szene, die das Viertel stark prägt. 1980 findet das erste Stadtteilfest statt. Die kräftig gewachsene Alternativszene bot Nachbarschaftsinitiativen, alternative Projekte, Kneipen, Läden und Cafés. Anfang der 70er setzt eine verstärkte Sanierungspolitik ein, die im westlichen Teil Schönebergs ihren Anfang nimmt, mit den bekannten sozialen Folgeerscheinungen: sozial schwache Mieter werden in den baufälligen östlichen Teil Schönebergs und nach Kreuzberg, das an Schöneberg grenzt, verdrängt. Dies waren Ausländer, Studenten, Sozialhilfeempfänger und Obdachlose. Im „Westen“ zog die sogenannte Mittelschicht ein, aus deren Reihe, wie noch zu sehen ist, viele der Lebensstile rekrutiert werden. In dieser Situation der zwangsweisen Segregation setzten bald die ersten Hausbesetzungen ein, die zunächst ungeplant und aus einem spontanen Protest heraus durchgeführt wurden. Sie konzentrierten sich vor allem auf Schöneberg und Kreuzberg. Im Frühjahr 1981 waren es über 160 Häuser in der ganzen Stadt, davon 11 in der unmittelbaren Nähe zum Winterfeldplatz, dem kulturellem Mittelpunkt, nun bekannt und berüchtigt als Mekka des Punk und Zentrum der neuen Jugendbewegung. In dieser Phase der Straßenkämpfe zwischen Polizei und Autonomen wurde ein Mythos geboren. Die Hausbesetzer erschienen vielen als romantische Revolutionäre, die sich selber als „Robin Hoods“ im Dschungel des kapitalistisch ausgebluteten Wohnungsmarktes verstanden. Altlinke, Künstler, Schriftsteller Intellektuelle, Soziologen und jugendliche Touristen pilgerten vom ganzen Bundesgebiet in den Kiez. Dieser Prozeß war entscheidend für die Entstehung diverser Lebensstilgruppen. Wie bereits gesagt worden ist, beziehen diese Gruppen ihre Bindungsenergie aus einer Welt der Symbolik. Im Diskurs der oben genannten Gruppen, die zumeist akademisch gebildet war, gewann die Jugend ein Fundament an Symbolen und Begrifflichkeiten, die in Form eines Patchworkes die Identität der einzelnen Lebensstilgruppen bildete. Der intellektuelle Diskurs schuf eine symbolische Realität, mit der sich die Jugendlichen identifizieren konnten, so daß ein spezifisches Lebensgefühl entstand. Indem die Akteure sich dieser Symbolwelt annahmen, manifestierten sie den Lebensstil, sie gaben ihm die materielle Basis. Die Hausbesetzungen wurden größtenteils von den Behörden unter Einsatz größter staatlicher Gewalt aufgelöst. Nur wenige Häuser erhielten im Rahmen eines eigenständigen Projektes einen „offiziellen“ Status. Im Sommer 1984 war mit den Besetzungen Schluß. 6
  • 7. II. Lebensstile heute Um die Neonkneipe „Mitropa“ siedelt sich eine Lebensstilgruppe an, die von den Autoren Berking und Neckel mit neoexistentialistischer Postpunk tituliert wird. Diese sei durch einen schrillen und schrägen Stil des sogenannten New – Wave gekennzeichnet. New Wave entstand als Gegenreaktion auf die hochtechnisierte, vorwiegend kommerziell ausgerichtete Rockmusik der 70er Jahre. Sie war zunächst eine angloamerikanische Musikströmung, die 1976/77 gleichzeitig mit dem Punk auftrat, aber kompliziertere und experimentellere Harmonie- und Textstrukturen verwendete (Siouxsie & The Banshees, Wire, XTC; Talking Heads, Residents); zunächst wurden die meisten Schallplatten von unabhängigen Firmen vertrieben, aber in den 80er Jahren erfolgte eine rasche Kommerzialisierung und eine fast vollständige Integrierung der meisten New-Wave-Bands in die bestehende Plattenindustrie. In der Bundesrepublik fand Anfang der 80er Jahre der New – Wave seine Entsprechung in der kurzlebigen „Neuen Deutsche Welle“: Sie löste sich von angloamerikanischen Vorbildern, verwendete deutsche Texte, die teilweise am Vorkriegsschlager orientiert waren. Diese Lebensstilgruppe ist in die Jahre gekommen, wenn man sich die oben aufgeführten Daten vergegenwärtigt. Die Szene im Mitropa ist durch ein deutlich älterer Personenkreis (25 – 35 Jahre) gekennzeichnet. Dieser Lebensstil, der eine betonte Künstlichkeit des Ausdrucks und des Outfits präferiert, gleichgültig ob später Punk, Hillbilly ober Beat – Typ der 60er, rekrutiert seine Anhängerschaft größtenteils aus der „no – Future“ – Generation, die nicht der proletarischen Arbeiterschaft entsprangen, sondern vielmehr Söhne und Töchter des „exekutiven Kleinbürgertums“ (Bourdieu) sind und am besten von der Gruppe „Einstürzende Neubauten“ unter dem Leadsänger Blixa Bargeld repräsentiert werden. Die Kreuzberger Version des Neo – Existentialismus sei, so die Autoren Berking und Neckel, heftiger, hungriger, körperlicher und proletarischer. In Schöneberg wird die Szene eher von drop – outs der unteren Mittelklasse dominiert. Das bestimmende Merkmal dieses Lebensstiles, wie der anderen eigentlich auch, sei die ständige Suche. Etwa 300 Meter nördlich von „Mitropa“ entfernt ist die Heimstätte der örtlichen Yuppies im Kiez, mit Edelboutique, Futongeschäft und schicken Wohnungen. Das Café „Sidney“ ist der Brennpunkt dieses Stiles, denn hier trifft sich, was sich als erfolgreich bezeichnet und was verächtlich „Schicki - Micki“ genannt wird. Das Kürzel „Yuppie“ steht für „young urban professionals“ und bezeichnet in unserem Kontext all jene Akteure, die über eine halbwegs sichere Beschäftigung in den formell geregelten Sektoren des Arbeitsmarktes, ein festes, kalkulierbares und kreditwürdiges Einkommen und ein konsumorientiertes Verhalten verfügen. Es dürfte nicht verwundern, daß das Gros der Yuppies Singles sind. Mit 58.9 % rangiert Schöneberg hinter dem Bezirk Tiergarten an oberster Stelle unter den Bezirken Berlins mit dem größten Anteil an Singlehaushalten in der Gesamtbevölkerung. 38 % der Schöneberger Bevölkerung ist zwischen 20 und 40 Jahre alt. In unmittelbarer Nähe zum Café „Sidney“, genauer gesagt auf der gegenüberliegenden Straßenseite, steht eine Kneipe, die den Namen „Slumberland“ trägt, früher besser bekannt unter dem Namen „Dschungel“. Ihre Klientel unterscheidet sich trotz physischer Nähe grundsätzlich von dem des Yuppie – Cafés „Sidney“. Im Slumberland treffen sich eher ABM – beschäftigte Akademiker, alternative Freiberufler und neue Selbständige. Es ist natürlich wichtig, darauf hinzuweisen, daß die hier gemachten Differenzierungen und Kategorisierungen keineswegs ein vollständiges Bild liefern können. Es ist vor dem Hintergrund der oben genannten Prämisse, wonach die Lebensstile einem ständigen Wandel unterliegen, aussichtslos, den Versuch zu unternehmen, ein Lebensstil umfassend zu erfassen. Diesen Anspruch erhebt die Studie auch nicht. Ihr kommt es darauf an, zu einem bestimmten Zeitpunkt Beobachtungen in einem konkret vorgegebenen Feld durchzuführen, um dann 7
  • 8. qualitativ die vorgefundenen Lebensstile analytisch einzuordnen. Seit der Veröffentlichung der Studie mag sich einiges getan haben, so daß die hier angeführten Beobachtungen nicht mehr ihre Gültigkeit haben. Es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, daß die Studie natürlich selektiv bei der Auswahl von Lebensstilgruppen vorgehen mußte, so daß einige nicht aufgeführt werden, wie etwa die boomende Techno – Szene, die in der sogenannten „Love – Parade“ auf beeindruckende Weise den Zuwachs ihrer Bedeutung vor Augen führte. Natürlich stellt sich die Frage, wie die einzelnen Lebensstilgruppen zueinander stehen und wie sie sich gegebenenfalls beeinflussen. Die Autoren Berking und Neckel kommen zur Ansicht, daß die Lebensstilgruppen trotz der physischen Nähe zueinander nicht miteinander, sondern nebeneinander existierten. Es wird später zu zeigen sein, daß Prozesse der Gettoisierung von Ausländergruppen zu verzeichnen sind, die äußerst problematisch sind und oft mit gewaltvollen und konfliktbeladenen Spannungen einhergehen. Im Grunde muß festgestellt werden, daß es keine Politik der sozialen Integration zwischen den einzelnen Lebensstilgruppen gibt, sondern ein nebeneinander ohne gegenseitige Ausdifferenzierungen. Neben den oben genannten Lebensstilgruppen existiert noch eine Gruppe, die in der Studie Berücksichtigung findet: die der Ausländer, und hier natürlich primär die jugendlichen Türken. Diese frequentieren zum größten Teil nicht die oben genannten Einrichtungen, weil ihnen die Angebote und die Preise nicht zusagen. Wenn es zu einer Berührung kommt, so nur von einigen wenigen jungen „Ausländern“, die die in den Kneipen und Cafés vorherrschenden Lebensstile für sich angenommen haben und sich damit auch identifizieren, so daß sie sich nicht primär als Türke oder Ausländer sehen, sondern als Teil des besagten Lebensstiles. Diese Menschen haben zumeist mit der Generation ihrer Eltern keine Gemeinsamkeiten. Es kommt oft zum Bruch der Beziehung zwischen der Elterngeneration und der in einem Lebensstil integrierten Jugendlichen, weil die Eltern nicht bereit sind, dies zu tolerieren. Die Entfremdung ist in diesen Fällen im Grunde genommen so groß wie zwischen Elterngeneration der jungen „Ausländer“ und der deutschen Bevölkerung. Dies erhärtet die Bedenken, die hier geborenen „Ausländer“ überhaupt als solche zu bezeichnen. Dessenungeachtet darf nicht übersehen werden, daß nur ein kleiner Teil der jungen „Ausländer“ in den verschiedenen Lebensstilen ein Zuhause finden. Die Mehrheit schafft sich eigene Lebensstile, die jetzt etwas näher beleuchtet werden sollen. Diese Lebensstile sind genauso vielfältig und verschieden, wie es bei den deutschen Jugendlichen der Fall ist, weshalb es auch falsch ist, die Türken als eine Lebensstilgruppe zu denken. Im Osten Schönebergs beträgt der Arbeiteranteil 40 % und 15 % der erwerbsfähigen Bevölkerung ist arbeitslos. Jeder 4. Einwohner ist Ausländer. Die Hauptschule ist hier der weitaus verbreitetste Bildungsweg, wenn überhaupt, denn die Elterngeneration, die sogenannte „erste Generation“, verfügt kaum über Schulbildung, die Analphabetenrate ist extrem hoch und die Mehrheit ist nur als ungelernter Hilfsarbeiter beschäftigt. Das Ungleichgewicht zur deutschen Bevölkerung konnte auch in der zweiten Ausländergeneration nicht behoben werden, was an mehreren sozioökonomischen Faktoren liegt, auf die im Anhang in den allgemeinen Ausführungen zur „Ausländerproblematik“ in der Bundesrepublik Deutschland einzugehen ist. Der Osten Schönebergs, der unmittelbar an Kreuzberg grenzt, ist städtebaulich stark vernachlässigt und droht zu einem Slum mit Liverpoolern Verhältnissen auszuarten. Die Ausländer Schönebergs sind nicht nur räumlich näher an Kreuzberg, sondern auch kulturell und ökonomisch. Kreuzberg, das zur Zeit der Teilung an der Mauer lag und somit „vergessen“ war, weist schon Tendenzen einer Gettoisierung der türkischen Bevölkerungsgruppen auf. Für die Türken, die den größten Anteil der Ausländer in Berlin stellen (allein in Kreuzberg um die 30.000 Personen), existiert eine geradezu autarke Infrastruktur mit Geschäften, Vereinen, Moscheen, Lokalsendern, Gastronomiebetrieben, Zeitungen und Amüsierbetrieben. Hier 8
  • 9. besteht die Möglichkeit, ohne des Deutschen mächtig zu sein, das Leben dennoch erfolgreich zu meistern. In Berlin gibt es sogar eine islamische Grundschule, etliche Sportvereine, Frauenvereine und Bestattungsinstitute, die die Überführung des Leichnams in die „Heimat“ organisieren oder, was vermehrt versucht wird, die Errichtung eigener Friedhöfe (den religiösen Vorschriften entsprechend) in Deutschland durchzusetzen. Neuerdings beklagen die Grundschulen, daß ausländische Kinder, die zur dritten Generation gehören, mit unzureichenden Deutschkenntnissen zur Schule kommen, obwohl sie in Deutschland geboren sind. Sie wachsen ohne jeden Kontakt zu Deutschen in ihrer eigenen Welt auf. III. Die zweite und dritte Generation der „Ausländer“ Die oben beschriebene Infrastruktur ist größtenteils von der Elterngeneration mühevoll errichtet worden und erfüllt letztlich die Sehnsucht nach der Heimat. Die Lebenssituation der jungen Türken ist aber eine ganz besondere, da sie zwischen zwei Kulturen aufwachsen, ohne wirklich einer ganz anzugehören. Die jungen Türken in Schöneberg und Kreuzberg wachsen in einem doppelten Dilemma auf. Sie sind nicht nur wie ihre Väter in einer sozioökonomisch problematischen Lage, sondern haben auch den Kampf der unterschiedlichen Kulturen auszutragen. Einerseits werden sie von ihrem Elternhaus stark geprägt, andererseits lernen sie westliches Gedankengut in der Schule und in den Medien kennen. Dabei kommt es zu Konflikten zwischen den unterschiedlichen normativen Strukturen. Viele junge Ausländer sitzen zwischen zwei Stühlen, fühlen sich heimatlos und nicht angenommen. Von ihren Eltern haben sie sich entfremdet, die deutsche Öffentlichkeit ist jedoch nur selten bereit, sie als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft anzuerkennen. Die Folge ist nur allzuoft die Flucht in die Kriminalität. Die zunehmenden sozialen Konflikte verstärken die Tendenz, sich einer Öffnung anderer Bevölkerungsgruppen gegenüber zu verwehren. Fatale Konsequenz ist eine „Ethnisierung der sozialen Konflikte“ (Heitmeyer), die sich nicht nur in der Schürung von Ausländerfeindlichkeit und Rassismus auf beiden Seiten zeigt, sondern auch zu einem verstärkten Rückzug auf vermeintliche „Wurzeln“ wie Nationalität und Religion führt. Bedauerlicherweise ist dieser Prozeß auch in der Politik und in den Medien vernehmbar, die von den sozialen Konflikten und der Kriminalität ausgehen, um einen Kampf der Kulturen zu propagieren, ohne zu bedenken, daß es sich hier um Phänomene handelt, die gesellschaftlich geschaffen sind. Nicht die Nationalität vermag abweichendes Verhalten zu erklären, sondern die soziale und ökonomische Stellung, die sich natürlich auch durch die Nationalität erklärt, aber nur, weil die Gesellschaft auf der Grundlage von Ressentiments dem einzelnen die Chance für einen sozialen Aufstieg explizit verweigert. Die jungen Ausländer erhalten nach ihrer Sozialisation eine gespaltene Identität, da sie oft „inkommensurable“ Normen und Werte verinnerlichen müssen, die nicht die Schaffung einer integeren Persönlichkeit mit einer gesunden Ich – Stärke gerade begünstigen. Die Bildung von Clans (peer – groups) versucht dies zu kompensieren. Hierbei treten die Gruppen rivalisierend auf. So gibt es etwa in Berlin Kreuzberg die Gruppe „36 Boys“, die wegen ihrer Gewaltbereitschaft in ganz Berlin berüchtigt ist. Die Symbolik solcher Gruppen ist entweder nationalistisch oder islamistisch geprägt; dennoch distanzieren sie sich von ihren Eltern. Nationalistische Gruppierungen wie die rechtsextremistischen „Grauen Wölfe“, die ein Ableger der MPH – Partei sind, erhalten immer größeren Zulauf, wie übrigens die Moscheen auch, die als Vereine organisiert sind. Bei den „Grauen Wölfen“ macht sich eine explosive Mischung aus primitivem Chauvinismus, heldenhaftem Türkentum und Islamismus bemerkbar. Die islamistischen Tendenzen in einer nationalistischen Gruppierung dürften verwundern, wenn man bedenkt, daß der islamischen Denktradition der rassisch definierte Nationalbegriff fremd ist. Doch es stellt sich bald heraus, daß der Islam aus rein populistischen und opportunistischen Ambitionen instrumentalisiert wird. 9
  • 10. Die anderen Gruppierungen definieren sich religiös, ohne jedoch auf nationalistische Symbolik zu verzichten, so daß es auch keine Annäherung zwischen Türken und muslimischen Gruppierungen anderer Nationalitäten gibt. Obwohl sie sich auf ein religiöses Fundament beziehen, gibt es kaum Berührungspunkte zwischen den einzelnen Gruppen. Die Beziehungen sind zumeist von Unverständnis und Mißtrauen, manchmal gar von offener Feindschaft gekennzeichnet. Die Moschee ist nicht nur eine religiöse Stätte, sondern auch sozialer und kultureller Treffpunkt. In letzter Zeit wachsen die Bemühungen seitens der Vereine, die Jugendlichen mit speziellen Freizeitangeboten für sich zu gewinnen. Angesichts der Tatsachen, daß städtische Einrichtungen wegen Finanzknappheit schließen müssen, verwundert es nicht, daß diese Angebote auch wahrgenommen werden. Die Intention der Vereine ist ohne Zweifel, die Jugendlichen als spätere Mitglieder zu gewinnen, weshalb auch eine schleichende Indoktrination praktiziert wird. Es ist äußerst fragwürdig, ob nun die Jugendlichen sich der Ideologien bemächtigen. Sie identifizieren sich kaum mit den ideologischen und politischen Zielen der entsprechenden Organisation, wenn sie überhaupt Kenntnis von den Zielen haben. Sie nutzen die Angebote und anerkennen die Mühen, indem sie sich als Solidargemeinschaft mit den Vereinsträgern verstehen. Die Angriffe der deutschen Öffentlichkeit auf die diversen Vereine, die durchaus berechtigt sein dürfen, zwingen oft die Jugendlichen in eine Defensivhaltung, so daß sie den Verein verteidigen, obwohl sie mit ihm kaum etwas zu tun haben. Es gibt unter den religiös angehauchten Gruppierungen viele Schattierungen; und teilweise stehen sie sich auch feindlich gegenüber. In letzter Zeit ist aus Berlin vermeldet worden, daß der Führer der Kaplan – Bewegung in Kreuzberg von einem Landsmann erschossen worden sei, was höchstwahrscheinlich auf ein ideologisches Motiv zurückgeht. Es gibt in Kreuzberg und Schöneberg über 30 Moscheen, die von unterschiedlichen eingetragenen Vereinen geleitet werden. Diese Moscheen sind oft in Hinterhöfen angesiedelt und sind von außen als solche nicht erkennbar. Da gibt es zunächst die sogenannte DITIB – Vereinigung, die eine offizielle staatliche Institution der Türkei ist und dementsprechend unter staatlicher Kontrolle steht. Sie widerspricht eindeutig dem laizistischen Staatsverständnis des Gründungsvaters Atatürk, der mit seinen repressiven Maßnahmen gegen den Islam auf großen Widerstand stieß. Die DITIB (islamisch – türkische Religionsvereinigung), die ihren Hauptsitz in Köln hat und die meisten Moscheevereine in der BRD führt, beansprucht für sich, alle Türken in Deutschland zu repräsentieren. Sie vertritt ein national geprägten Islam, lehnt jedoch, aus einleuchtenden Gründen, eine Systemänderung in der Türkei grundlegend ab. Daneben gibt es die sogenannte Milli – Görüs (Nationale Weltsicht), die eine Schwesterorganisation der Refah – Partei von Erbakan ist und einen Staat mit islamischer Rechtsordnung anstrebt. Diese Organisation hat zahlreiche Mitglieder (30.000 in der BRD) und einen großen Immobilienbesitz. Sie, und nicht die DITIB – Vereinigung, betreibt die meisten Moscheenneubauten. Weitere Splittergruppen, wie die ATIB oder die sogenannte Kaplan – Bewegung, führen auch Vereinshäuser. Erstere, die von einem Aussteiger der „Grauen Wölfe“ gegründet wurde, vertritt eine nationalistische Ideologie mit islamistischen Elementen, wohingegen die Kaplan – Bewegung eine fundamentalistische Gruppierung ist, die einen Staat mit islamischer Rechtsordnung sowohl in der Türkei als auch in Deutschland etablieren möchte. Der verstorbene Gründer, der sich selber zum Kalifen aller Gläubigen ernannte, erklärte seine Domäne in Köln kurzerhand zu einem Kalifat. Diese Gruppierung gewinnt an Bedeutung. Alle genannten Gruppierungen sind mehr oder weniger antidemokratisch und somit verfassungswidrig. Viele, wie etwa die Milli – Görüs, weisen auch starke antisemitische (genauer: antijudaistische) Tendenzen auf und werden deshalb auch vom Verfassungsschutz beobachtet. Natürlich gibt es auch zahlreiche unpolitische Gruppierungen, wie die Sufi – Bruderschaften und einige sektiererische Strömungen, die jedoch für unsere Betrachtung nicht 10
  • 11. wesentlich sind. Das Islamverständnis der Elterngeneration ist eher von einem einfachen und traditionellen Volksglauben geprägt, das aus den 50er Jahren unverändert beibehalten wird. Während in den arabischen Ländern und in der Türkei mittlerweile auch ein tolerantes und weltoffenes Islamverständnis existiert, ist die Elterngeneration einem beschränkten Volksglauben verhaftet geblieben, und der Umstand, daß die Mehrheit weder schreiben noch lesen kann, konserviert geradezu diesen Zustand. Traditionelle Wertvorstellungen, wie Geschlechterrollen, prägen die Elterngeneration; dabei entsprechen diese Vorstellungen keineswegs den religiösen, womit die These der Konfrontation zwischen Islam und Moderne obsolet ist. Die jugendlichen Türken stehen in einem Spannungsfeld der Ideologien. Initiativen, den Religionsunterricht z.B. aus den Hinterhöfen in die Schule mit kontrollierten Lehrplänen zu holen, kommen spät und werden nur halbherzig verfolgt, womit die Möglichkeit, den Einfluß der extremistischen Gruppierungen in diesem wichtigen Bereich zurückzudrängen, nicht wahrgenommen wurde. Natürlich stehen nicht alle türkischen Jugendliche unter dem Einfluß der nationalistischen bzw. religiösen Gruppierungen, dennoch, und das ist eigentümlich, vertreten auch sie traditionelle Norm- und Wertvorstellungen, auch wenn sie sich modern geben und von den Äußerlichkeiten her kaum von ihren deutschen Altersgenossen zu unterscheiden sind. Viele in Berlin geborene Türken bezeichnen sich als Kreuzberger, weisen jedoch die Bezeichnung „Deutscher“ weit von sich. Sie sehen sich selber zwar auch als Türken und geben sich nationalbewußt, einen wirklichen bezug zur Heimat ihrer Vorfahren haben sie aber nicht. In der Türkei werden die Kinder der Emigranten in Deutschland als „Deutschländer“ bezeichnet. Die deutsche Bevölkerung sieht in ihnen Türken. Die Jugendlichen reagieren, indem sie sich als eigenständige Gruppe mit ihrem spezifischen Lebensstil verstehen. So gehen auch die jugendlichen Türken in die Disco, nur das es eine eigene ist. In Berlin – Kreuzberg gibt es mehrere Discos und Cafés (wie das Pasha´s), die ausschließlich von Türken frequentiert werden. Sie zeigen im Grunde das gleiche Konsum- und Freizeitverhalten wie vergleichbare Deutsche, aber sie können sich mit Deutschland bzw. den „Deutschen“ nicht identifizieren und haben allzu oft ein sehr negatives Bild, das von Rassismus und anderen Ressentiments geprägt ist. Natürlich kann nicht außer Acht gelassen werden, daß diese Jugendliche in einer Atmosphäre des „Fremdseins“ mit allen negativen Folgeerscheinungen wie Rassismus und Ausländerfeindlichkeit aufwachsen müssen, und für viele zeigt sich dieser Rassismus ganz konkret in ihrem alltäglichen Leben, wenn es etwa darum geht, sich für eine Stelle zu bewerben. Die Lebensstilgruppe, die sich im „Pasha´s“ trifft, legt großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres, wobei Marken - und Designerartikel eine wichtige Rolle spielen. Auch Frauen besuchen dieses Café. Die Jugendlichen, die dieser Szene angehören, haben kaum einen Bezug zum Glauben, wie er von ihren Eltern verstanden und praktiziert wird. Dennoch sind sie von traditionellen Wertvorstellungen geprägt, was oft zu zahlreichen Widersprüchen in ihren Überzeugungen führt. So können sie sich mit dem Gebot, vor der Ehe keine geschlechtlichen Beziehungen einzugehen, nicht mehr identifizieren, doch erwarten sie von ihrer zukünftigen Frau, jungfräulich in die Ehe zu gehen. Dies ist nur ein Beispiel für die normativen Konflikte, die für diese Gruppe der Jugendlichen charakteristisch ist. Natürlich befinden sich nicht alle Jugendlichen in solchen „Gewissenskonflikten“, wenn sie sich entscheiden, einen Lebensstil für sich zu wählen. Hier stellt sich die Frage der sogenannten Integration. Es wird seitens der deutschen Öffentlichkeit oft der Vorwurf laut, die Ausländer seien nicht willig, sich in die Gesellschaft integrieren zu lassen. Interessanterweise läßt sich nur schwer sagen, was die Gesellschaft, in die integriert werden soll, nun ausmacht. In meinen Ausführungen wurde deutlich, daß die Jugend in vielen Lebensstilgruppen aufzuteilen ist, ohne daß diese Lebensstilgruppen sich gegenseitig beeinflussen müssen. Zudem unterscheiden sie sich teilweise sehr voneinander, so 11
  • 12. daß durchaus die Frage berechtigt ist, inwiefern die Summe dieser unterschiedlichen Gruppen und Strömungen etwas gemeinsames hervorzubringen vermag, was als die deutsche Gesellschaft bezeichnet wird. Exkurs: Zum Begriff der "Integration" Wenn es darum geht, die Schwierigkeiten der Ausländer in der Bundesrepublik oder generell der Minoritäten in einer Gesellschaft zu ergründen, stoßt man auf den Begriff "Integration", womit, je nach politischer Gesinnung oder sonstiger Weltbilder, stets etwas anderes gemeint ist. Die einen sehen darin die völlige Auflösung der ursprünglichen Werte und Verhaltensweisen und die Übernahme der normativen Strukturen des "Gastlandes" (Assimilation), die anderen ein "sich-gegenseitig-beeinflußen und prägen" auf der Grundlage eines interkulturellen Diskurses, bei dem in einem dialektischen Prozeß etwas neues, "drittes" entsteht, also jener Prozeß, der die heutige, uns bekannte abendländische Kultur erst möglich gemacht hat, und der durch den künstlichen Riegel des unitarischen Nationalstaatsgedankens unterbunden werden soll - ein Unterfangen, welches in Vergangenheit nur zu oft mit untragbaren Konsequenzen scheitern mußte. Wenn man von der Möglichkeit einer Assimilation spricht, so stellt sich die Frage, welche Werte man internalisieren muß, um als "quasi-Deutscher" gelten zu dürfen. Was, so kann gefragt werden, haben ein randalierender Punker und ein Generaloberst der Bundeswehr gemeinsam, was sie als "Volkseinheit" charakterisieren würde und auf dessen Grundlage die Assimilation der ausländischen Bevölkerungsgruppe möglich wäre. Letztlich zielt diese Überlegung dahin, daß die "Integration" der Minoritäten gelingt, wenn ihre "Andersartigkeit" von der Majorität akzeptiert werden. Die Pluralität der Lebensstile weist einen möglichen Weg. Wesentlich ist die Akzeptanz in der Gesellschaft, d.h. von den anderen Gruppen. Natürlich müssen die Ausländer die Sprache beherrschen. Doch unabhängig davon kann eine Assimilation, die eine Aufgabe der eigenen Kultur bedeutet, nicht verlangt werden. Wesentlich für eine Politik der Lebensstile ist die Kommunikationsfähigkeit, d.h. Wissen vom anderen zu haben. Letztlich weiß ein Punker, wie er sich kleiden müßte, wenn er in einer Bank arbeiten möchte. Dieses Wissen, das soziale Kompetenzen zur Verfügung stellt, ermöglicht eine Entkrampfung der Beziehungen zueinander, und dies gilt nicht nur für „Ausländer“ und „Deutsche“, sondern für alle Lebensstilgruppen in einer Gesellschaft. Grundsätzlich läßt sich eine erhöhte Diskriminierung der Ausländer aus den zahlreichen Ungleichheitsstrukturen herleiten. Somit wäre in der Emanzipation zu rechtlicher Parität und sozioökonomischer Chancengleichheit ein Weg in die "Integration" gefunden. Dies setzt natürlich einen Bewußtseinswandel in der Majorität voraus. Aber genauso ist es notwendig, die Tendenz zur Gettoisierung bei den Türken in Schöneberg und Kreuzberg zu konstatieren. Im Grunde ist diese Tendenz bei fast allen Lebensstilgruppen zu verzeichnen und somit kein primäres Problem der Ausländer. Weiterhin wurde festgestellt, daß die Türken selber in zahlreiche Gruppen aufgeteilt sind, die untereinander kaum Kontakt haben. Es existieren unter den Türken Gruppierungen, die von den diversen Moscheevereinen heftig bekämpft werden, wie etwa die Aliviten und die kleine Gruppe der Schiiten. Hier von einer Einheit der Türken zu sprechen ist genauso unangemessen wie von den „Deutschen“ sprechen zu wollen. Selbst wenn diese Ausführungen trivial und selbstverständlich erscheinen mögen, so beruhen doch viele Fehleinschätzungen und Vorurteile genau darin, daß man diese unwissenschaftliche Pauschalisierung verwendet. Dies wird etwa ersichtlich, wenn man die Kriminalitätsstatistik der Ausländer heranzieht, um eine erhöhte Gewaltbereitschaft ober Neigung zur Kriminalität bei Ausländern beweisen zu wollen. Das Argumentationsmuster ist das gleiche, daß in den Vereinigten Staaten verwendet worden ist, als man behauptete, die 12
  • 13. Intelligenz der schwarzen Bevölkerung sei geringer, weil sie schlechtere Schulabschlüsse vorwiesen. Daß die Nationalität oder die Hauptfarbe keine Rolle spielt, entgeht der Intelligenz vieler Menschen. Ausländer sind verglichen mit Deutschen in ähnlichen oder gleichen sozioökonomischen Verhältnissen nicht mehr oder weniger kriminell. Einige Forscher konstatieren gar, daß die Kriminalitätsrate der Ausländer für ihre sozioökonomischen Verhältnisse äußerst gering ausfalle, was möglicherweise auf die verschärften Bestimmungen des Ausländerrechtes zurückführbar sei. Anhang Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland Als nach dem zweiten Weltkrieg bald der Wiederaufbau folgte, erzwang die positive wirtschaftliche Lage die Anwerbung von ausländischen Arbeitnehmern, um den Mangel an Arbeitskräften zu kompensieren. Von 1951 bis 1956 wuchs das Bruttosozialprodukt im Jahresdurchschnitt real um 9.5% (Informationen zur politischen Bildung 237). Vermehrte Investitionen führten bald zu einem Stellenüberangebot, vor allem im Bereich der Bau- und Schwerindustrie. Diese Stellen konnten in jener Zeit weder durch eigene Ar- beitskräfte noch durch eine rationalistische Arbeitsweise ersetzt werden, weil für letzteres die Technologie noch nicht ausgereift war. Alle Parteien und Institutionen begrüßten den Vorschlag, Arbeiter aus ärmeren Ländern anzuwerben, um sie für die eigene Industrie zu nutzen. Die Herkunftsländer der Gastarbeiter waren und sind teilweise bis heute strukturell und industriell unterentwickelte Länder, die, wie alle "Dritt-Welt-Staaten", einen Überschuß an Arbeitskräften hatten bzw. haben. Die Idee der Gastarbeiteranwerbung (übrigens keine Innovation der Deutschen, vielmehr eine bewährte Methode der imperialistischen Staaten im Europa des 19. und 20. Jahrhundert) fand auch in den Herkunftsländern starken Zuspruch, weil dies eine Entlastung des eigenen Arbeitsmarktes und die Möglichkeit, an Devisen zu gelangen, bedeutete, denn die Gastarbeiter sollten das meiste Geld nach Hause zu ihren Familien senden. Der Begriff des Gastarbeiters impliziert, daß es sich um Arbeit für eine kurze bzw. überschaubare Zeit handeln soll. Die ersten Arbeiter waren sich dessen bewußt, und sie wollten auch alle in ihre Länder zurückkehren, sobald sie genügend Geld verdient hätten, um eine eigene Existenz zu gründen. Die Frage der "Integration" stellte sich überhaupt nicht, weil die Arbeiter nach kurzer Zeit zurückkehren sollten. Es wurden bilaterale Vereinbarungen zwischen der BRD und den verschiedenen Anwerberstaaten geschlossen (Griechenland 1960, Türkei 1961, Marokko 1963, Portugal 1964, Tunesien 1965 und Jugoslawien 1968) (Informationen zur politischen Bildung 237). Die Anwerbung erfolgte bis 1973, d.h. bis der Bedarf an Arbeitskräften gedeckt war, und die Rezession, begleitet von der Erdölkrise, verschlechterte zusehends die wirtschaftliche Situation in den westlichen Industrienationen und folglich auch in der Bundesrepublik. Ab 1973 erfolgte dann ein Anwerbestopp; es durften nur noch Familienmitglieder ins Land geholt werden. In der Statistik wird ersichtlich, daß 1973 die meisten Ausländer in der BRD arbeitstätig gewesen sind, insgesamt 2.595.000 (zum Vergleich 1991: 1.908.000) (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 1992). 13
  • 14. Der Rückgang ist aus dem Anwerbestopp, der hohen Arbeitslosigkeit in den 80er und 90er Jahre und der zunehmenden Alterung der ersten Generation, die in das Rentenalter kommt, zu erklären. Daß in schweren wirtschaftlichen Zeiten die ausländischen Mitarbeiter in erster Linie die Leidtragenden sind, ist leider eine Tatsache und ein Indiz dafür, daß selbst vor dem System der sozialen Absicherung die Diskriminierungsmechanismen nicht haltmachen. Die erste Generation der ausländischen Arbeitnehmer lebte lange Zeit im Provisorium, d.h. es wurden keine Mühen gemacht, die Sprache des Landes zu erlernen; Kontakte zu Deutschen wurden nicht gesucht, und man hielt sich an einen rigiden "Sparkurs", so daß die Lebensverhältnisse mehr als bescheiden gewesen sind. Diese Fehleinschätzung der Ausländer in der BRD ist mitunter für die heutige sozioökonomische Diskriminierung verantwortlich. Der Wunsch zurückzukehren erwies sich für die meisten als eine Illusion oder gar Lebenslüge. Leidtragende war und ist vor allem die zweite Generation der ausländischen Arbeitnehmer. Zunächst muß genauer betrachtet werden, welchen Problemen sich die zweite Generation gegenüber sah und sieht, und ob man die Problemfelder hinsichtlich der verschiedenen Kohorten unterscheiden kann. Kinder, die vor 1973 geboren sind, haben zumeist die Grundschule in ihrer Heimat besucht und sie wurden erst später nach Deutschland geholt. In Anbetracht der ungeklärten Zukunft wußten die Eltern oft nicht, welchen Schulweg ihre Kinder einnehmen sollten, so daß man von "Pendelkindern" spricht, die zwischen zwei Ländern hin und her geschickt wurden, und somit nicht die Möglichkeit erhalten hatten, sich in einer Kultur zu sozialisieren, was sich oft in deutlich ausgeprägten psychischen Belastungssyptomen zeigte. Zudem kommen große Sprachprobleme (sowohl die Sprache des "Gastlandes als auch die des "eigenen" Landes) hinzu. Der Grad der "Integration" solcher Kinder ist extrem gering, und die Gefahr der kulturellen und sozialen Isolation ist sehr groß. Im Grunde genommen spiegeln diese Pendelkinder in verschärfter Form die Probleme aller Kinder und Jugendlicher der zweiten Generation wider, die in der besonderen Situation stehen, zwischen zwei Kulturen aufzuwachsen; und die Unterschiede zwischen ihnen sind teilweise so groß, daß die Assimilation beider Lebensformen aufgrund zu großer Differenzen scheitern muß (so z.B. bei muslimischen Türken). Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Konflikte der zweiten Generation und generell aller Ausländer in der BRD in folgenden Punkten auftreten: Sprachprobleme das Leben in zwei Kulturen die Ungewißheit der Zukunft der Grad der Akzeptanz und "Integration" die Auswirkungen der rechtlichen Situation (Ausländerrecht) die Bildungssituation (Bildungsdefizite, Schulversagen) Vorurteile seitens der deutschen Bevölkerung Familie und Identität (Informationen zur politischen Bildung 237) Wie hier dargestellt, ist die Bildungssituation der Pendelkinder unzureichend (häufig keine Schulabschlüsse), und es ist interessant festzustellen, daß die vertikale soziale Mobilität dieser Gruppe der zweiten Generation sehr eingeschränkt ist, folglich sind sie zumeist in die Arbeitsplätze ihrer Väter eingetreten, die ihrerseits ungelernte Hilfsarbeiter sind. Die Sprachprobleme sind für diese spezifische Gruppe der Pendelkinder und generell, mit Einschränkung, für die Kinder und Jugendlichen der zweiten Generation evident. 14
  • 15. Trotz langen Aufenthaltes in der BRD gelingt es ihnen nicht, die Sprache ganz zu erlernen, was einleuchtet, wenn man die Kenntnisse der Sprachpsychologie heranzieht, wonach vor allem in den ersten Lebensjahren die wichtigste Phase zum Erwerb von muttersprachlichen Kompetenzen liegt. Anders sieht die Situation bei den Jugendlichen aus, die nach 1973 geboren worden sind. Die Mehrheit ist in Deutschland aufgewachsen, und diese Gruppe stellt die erste überhaupt dar, die das deutsche Bildungssystem von Anfang bis zum Ende absolviert. Es entstanden oftmals Probleme in Kindergärten und Schulen, weil die Erzieher und Lehrer in die Unterweisung von ausländischen Kindern nicht ausgebildet worden sind. Hier ist ein Defizit seitens der bundesrepublikanischen Gesellschaft auszumachen, die bis dahin keine Anstrengung unternommen hat, den Bedürfnissen der ausländischen Mitbürger gerecht zu werden. Die Gruppe dieser Jugendlichen hatte vor allem an der Ungewißheit der Zukunft zu leiden. Man lebte in einem Bewußtsein stets "gepackter Koffer", obwohl die Jahre dahingingen und die Schulausbildung voranschritt. Die Ungewißheit der Aufenthaltsdauer verbietet den Gedanken an "Integration", was noch durch die vorurteilsbeladene Beziehung der Deutschen zu den Ausländern und vice versa verschärft worden ist. Die Probleme der Jugendlichen, sich in der Bundesrepublik einzuleben, machen sich in der Schulleistung bemerkbar. Zwar ist man in den 80er Jahren bemüht, den ausländischen Schülern entgegenzukommen, indem man muttersprachlichen Förderunterricht an den Schulen anbietet, dennoch ist eine schulische Integration nicht ganz möglich, weil die politische und kulturelle Integration nicht gewährt bzw. nicht ermöglicht wird, wobei letzteres per se zu bezweifeln ist, wohingegen unter politischer Integration einfach die rechtliche Gleichstellung zu verstehen ist. 1990 wurden folgende Zahlen der Verteilung der ausländischen Jugendlichen auf die verschiedenen Schularten ermittelt (Informationen zur politischen Bildung 237): 45.9 % Hauptschulabschluß 25.2 % Realschulabschluß 6.4 % Hochschulreife (Abitur) 1.2 % Studierende 22 % keinen (Haupt-) Schulabschluß 3.8 % Sonderschulen Im Vergleich dazu stellt man einen großen Abstand der deutschen zu den ausländischen Schulabgängern fest. So gab es 1990 bei den deutschen Schülern mehr Abiturienten als Hauptschulabgänger, und die Ausländer sind prozentual gemessen am Anteil der Gesamtbevölkerung in den höheren Lehranstalten unterrepräsentiert. Das spiegelt sich auch auf dem Arbeitsmarkt wider, in dem hohe, gesellschaftlich privilegierte Ämter und Berufe mehrheitlich von Deutschen besetzt sind (Informationen zur politischen Bildung 237). Ein wesentliches Problem für die bundesrepublikanische Gesellschaft besteht im kulturellen und sozialen Status der Jugendlichen und der daraus resultierenden Identität. Kennzeichen für die Identitätsbildung ist die Zugehörigkeit zu einer spezifischen Sozietät. Wenn man aus einer anderen Kultur stammt, die der "Gastkultur" ähnlich ist, kann auf der Grundlage der gemeinsamen Werte und Institutionen eine Sozialisation stattfinden, die dem Kind eine integere Persönlichkeits- und Identitätsstruktur verleiht. Wenn aber die Kulturen sich sehr fremd sind, dann ist es unmöglich, eine integrative Sozialisation zu erfahren, so lange die eine Kultur nicht zugunsten der anderen internalisiert wird, ansonsten hängt man de facto zwischen zwei Stühlen. 15
  • 16. Die deutsche Bevölkerung versteht größtenteils unter "Integration" die völlige Anpassung an die Sitten und Werte der deutschen Sozietät, was implizit die Aufgabe und Verleugnung der eigenen Kultur bedeuten würde. Das andere Extrem wäre eine Gettoisierung, denn nur dann könnte die eigene Kultur quasi "ungestört" gelebt werden. Beide Einstellungen sind zu verurteilen. Viele Politiker sprechen sich für die doppelte Staatsangehörigkeit aus, was in ihren Augen einen Beitrag zur Integration darstellt. Diese Diskussion wurde auf dem Hintergrund neonazistischer Umtriebe und Angriffe auf Ausländer entfacht. Weitere Hindernisse auf dem Weg zur Akzeptanz ist die Unwissenheit seitens der deutschen Bevölkerung, die die ausländischen Jugendlichen der zweiten und dritten Generation in einen Topf wirft mit Asylbewerber, Bona-fide-Flüchtlinge (Flüchtlinge, die nach Genfer Konvention akzeptiert worden sind), de-facto-Flüchtlinge (aus humanitären Gründen genehmigter Aufenthalt wegen globaler, politischer Probleme im eigenen Land), Kontigentflüchtlinge, Aussiedler und Illegale. Die interkulturellen Konflikte der ausländischen Jugendlichen müssen so angegangen werden, wie man es bei der Konfrontation zweier Kulturen tun müßte, nämlich mit dem Versuch, im interkulturellen Austausch eine neue, gemeinsame Identität zu schaffen und zu finden. Die dritte Generation, die ab etwa 1986 auf die Welt kommt, wird zeigen, inwiefern sich diese problematische bzw. problematisierte Sozialisation gestalten wird. Literaturverzeichnis Berkenkopf, B. "Kindheit im Kulturkonflikt", Frankfurt 1984 Berking, H. & Neckel, S. „Die Politik der Lebensstile in einem Berliner Bezirk aus: „Die soziale Welt – Sonderband Lebensstile“ Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.)"Ausländerarbeit und Integrationsforschung", München 1987 Esser, H. / Friedrichs, J (Hrsg.) "Generation und Identität", Opladen 1990 Konrad Adenauer Stiftung "Integration ausländischer Arbeitnehmer", Bonn 1976 Savelsberg, J.J. "Ausländische Jugendliche", München 1982 Weber, C. "Selbstkonzept, Identität und Integration", Berlin 1989 16