Dr. Achim Gmilkowsky: Vertragsgestaltung für Fotografen, Teil 1
Prof. Dr. Oliver Scheytt: Kulturpolitische Leitbegriffe
1. B 1.7
Kulturpolitische Leitbegriffe
Prof. Dr. Oliver Scheytt
Der Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen wird nicht „irgendwie“ erfüllt. Kulturpolitik wird
argumentativ begründet. Dabei gibt es eine Reihe von Begründungsmustern, die in Leitbegriffen
kulminieren. In diesem Beitrag werden neun Leitbegriffe erläutert, die in kulturpolitischen Begrün-
dungen und Diskursen immer wieder anzutreffen sind. Sie sind auch als Elemente der künstleri-
schen Freiheitsgarantie und als Prinzipien öffentlicher Kulturförderung anzusehen. Das Selbstver-
ständnis der Bundesrepublik Deutschland als Kulturstaat ist ganz wesentlich durch die hier darge-
stellten Leitideen geprägt.
Gliederung Seite
1. Einleitung 2
2. Identität 3
3. Tradition 4
4. Innovation 6
5. Qualität 6
6. Vielfalt 7
7. Teilhabe 9
8. Autonomie 10
9. Neutralität 12
10. Offenheit 13
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2. B 1.7 Kultur und Politik
Strukturen und Prozesse in der Kulturpolitik
1. Einleitung
Kulturpolitik wird durch Begründungsmuster fundiert, die im Laufe
der Jahrzehnte verschieden variiert und akzentuiert wurden. Kulturpo-
litische Begründungen und Debatten leiden mitunter darunter, dass die
Begrifflichkeiten nur schlagwortartig und unreflektiert verwendet
werden. Andererseits wird das Arsenal möglicher Argumente oft nicht
ausgeschöpft, das sich aus einer Reflexion der verwendeten Schlag-
worte ergibt. Letztlich zielt Kulturpolitik auf einen Konsens: Es muss
eine Mehrheit für das Anliegen im politischen Prozess her- und si-
chergestellt werden. Ausgehend vom jeweiligen kulturpolitischen
Kontext – dem gesellschaftlichen Zusammenhang, der sozialräumli-
chen Ausganglage, den gesellschaftlichen Entwicklungen wie Globali-
sierung, Medialisierung oder Individualisierung – werden inhaltlich
Ziele formuliert, die meist auf ein immer wiederkehrendes Vokabular
zurückgreifen, das im Folgenden dargestellt werden soll.
Leitbegriffe auf Darüber hinaus gibt es Leitbegriffe, die die Umgangsweise betreffen,
argumentativen also die Frage, wie der Staat im Verhältnis zur Kultur seine Schutz-
Gehalt prüfen und Förderaktivitäten gestaltet. Eine vertiefte Auseinandersetzung der
häufig auftauchenden Begrifflichkeiten ist daher für Reflexion und
Praxis der Kulturpolitik von erheblicher Relevanz. Es soll hier nicht
darum gehen, im Sinne lexikalischer Begriffsanalyse Bedeutungen zu
klären – dem dienen einschlägige Werke, insbesondere Lexika. Viel-
mehr geht es darum, die in der kulturpolitischen Literatur und in den
Debatten der letzten Jahre wichtigsten Leitbegriffe auf ihren argumen-
tativen Gehalt für Begründungen in der Praxis zu beleuchten.
Drei Begriffsgruppen Die im Folgenden dargestellten neun Leitbegriffe lassen sich im We-
sentlichen in drei Gruppen einteilen:
– Die ersten vier – Identität, Tradition, Innovation und Qualität –
sind Merkmale, die den Inhalt ausmachen: Sie sind Institutionen,
Produkten oder Werken der Kunst und Kultur immanent.
– Die Leitbegriffe Vielfalt und Teilhabe sind ganz wesentlich für die
Begründung öffentlicher Förderung von Kunst und Kultur. Sie sind
auch Megathemen kulturpolitischer Texte und Diskurse („Kultur
für alle und von allen“).
– Die letzten drei Begriffe – Autonomie, Neutralität und Offenheit –
sind Kernelemente eines Leitbildes kulturpolitischen Handelns und
öffentlicher Förderung.
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3. Kultur und Politik B 1.7
Strukturen und Prozesse in der Kulturpolitik
2. Identität
Kunst und Kultur leisten einen entscheidenden Beitrag zur Identität
des Einzelnen, der Gemeinschaft, der Gesellschaft und des Staates.
Mit Identität ist in diesem Sinne das „Eigenbild“ der Person oder der
Personengemeinschaft gemeint, die Summe der Faktoren, die dieses
Bild inhaltlich festlegen.1 Dabei erfasst die Identität bei den Kollekti-
ven das „Selbstverständnis“ dieser Gemeinschaft.
Es geht um die prägenden Gemeinsamkeiten und die Unterschiede, die Prägende
gegenüber dem Selbstbild anderer menschlicher Gemeinschaften be- Gemeinsamkeiten
stehen.2 So ist der Begriff der Identität sowohl ein Begriff der Abgren- und Unterschiede
zung als auch der integrierenden Standortbestimmung.3 Identität kann
in einer Nation, einem Bundesland oder Region hinsichtlich der jewei-
ligen politischen, sozialen, religiösen und kulturellen Besonderheiten
(unterschiedlich) entwickelt sein.
Die Identität des Kulturstaates Deutschland ist von erheblicher Rele-
vanz für den freiheitlichen Verfassungsstaat, denn die vorherrschenden
Werthaltungen und Verhaltensweisen prägen das Zusammenleben der
Menschen. Die Aufrechterhaltung des Grundkonsenses innerhalb der
Gesellschaft ist vor allem auch von der gelebten und erlebten kulturel-
len Identität abhängig. Genau darin liegt die Brisanz, aber auch die
Notwendigkeit der Diskussion über Verbindliches und Verbindendes,
das sich in Kultur ausdrückt, indes nicht mit dem missverständlichen
Begriff der „Leitkultur“ erfasst werden sollte.
Identität ist in einem weiteren Sinne als Inbegriff der typischen Le- Kulturbegriff
bensformen, Wert- und Verhaltenseinstellungen innerhalb der Gesell- der UNESCO
schaft zu verstehen.4 Damit hat dieser kulturpolitische Leitbegriff
engen Bezug zum Kulturbegriff der UNESCO, der seit der Erklärung
der UNESCO von Mexico City über Kulturpolitik aus dem Jahre 1982
Gültigkeit hat:
„Deshalb stimmt die Konferenz im Vertrauen auf die letztendliche
Übereinstimmung der kulturellen und geistigen Ziele der Menschen
darin überein:
– dass die Kultur in ihrem weitesten Sinne als die Gesamtheit der
einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotiona-
len Aspekte angesehen werden kann, die eine Gesellschaft oder ei-
ne soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schließt nicht nur Kunst und
Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des
Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen;
– dass der Mensch durch die Kultur befähigt wird, über sich selbst
nachzudenken. Erst durch die Kultur werden wir zu menschlichen,
rational handelnden Wesen, die über ein kritisches Urteilsvermögen
und ein Gefühl der moralischen Verpflichtung verfügen. Erst durch
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4. B 1.7 Kultur und Politik
Strukturen und Prozesse in der Kulturpolitik
die Kultur erkennen wir Werte und treffen die Wahl. Erst durch die
Kultur drückt sich der Mensch aus, wird sich seiner selbst bewusst,
erkennt seine Unvollkommenheit, stellt seine eigenen Errungen-
schaften in Frage, sucht unermüdlich nach neuen Sinngehalten und
schafft Werke, durch die er seine Begrenztheit überschreitet.“5
Dieser UNESCO-Text beschreibt einen wei-
ten Kulturbegriff, indem er menschliches Le-
ben und gesellschaftliches Zusammenleben
derart in Beziehung setzt, dass Kultur einer-
seits die eine Gesellschaft charakterisierenden
Besonderheiten umfasst, andererseits die Ent-
faltungsmöglichkeiten des einzelnen Indivi-
Wie kaum ein anderer Text enthält der Kultur-
begriff der UNESCO Ansatzpunkte für grundle-
duums6 anspricht. Wie der Mensch lebt und
gende Argumentationen. Dabei ist besonders arbeitet – um die Lebensweise – geht es bei
wichtig, die kollektive und die individuelle Di- der Kultur in diesem weiteren gesellschaftlich
mension der Argumentation zu unterscheiden. verstandenen Sinne. Kultur hat danach sowohl
Der Zusammenhalt von Gemeinschaft und eine gesellschaftliche als auch eine individu-
Gesellschaft, der in einer gemeinsamen Identi- elle Komponente. Individualität und Kollekti-
tät seinen Ausdruck findet, umfasst die kollekti- vität sind Bezugsdimensionen des Kulturbe-
ve Dimension. In der individuellen Dimension griffs und der Identität: Diese macht jeden
der Kultur wird die Identität der Persönlichkeit Einzelnen aus, aber auch Gemeinschaft und
angesprochen, die sich in und durch Kultur Gesellschaft. Kulturpolitik entfaltet demnach
ausdrückt.
Wirkung sowohl auf Individuen als auch auf
Gemeinschaft und Gesellschaft und hat letzt-
lich auch Rückwirkungen auf den Staat, der in und durch seine eigene
Kulturpolitik seine Identität als Kulturstaat findet.
3. Tradition
Kollektives Gedächtnis Identität lebt ganz wesentlich auch von Tradition(en). Die mit dem
als Traditionsspeicher „Wir“ umschriebene Gemeinschaft oder Gesellschaft, insbesondere
eine Stadt, eine Region, ein Land oder auch die Bundesrepublik
Deutschland, haben nicht einfach nur eine Identität, die sich aus Tradi-
tion speist und in einem „kollektiven Gedächtnis“ wiederfindet. Viel-
mehr gestalten sie diese auch mit Hilfe von Zeichen und Symbolen.7
Das kollektive Gedächtnis bringt eine „starke vereinheitlichende Wir-
Identität“ hervor.8 Damit hat der Begriff „Tradition“ sowohl eine sozi-
ale als auch eine politische Dimension. In der Beschäftigung mit der
Herkunft und dem kollektiven Gedächtnis liegt die gesellschaftliche
Chance, mit Gegenwart und Zukunft kundiger umzugehen.
Individuelles Gedächtnis Durch die Gestaltung von kollektiver Erinnerung in und durch Ge-
schichts- und Erinnerungskultur werden individuelle Einstellungen
beeinflusst: Das individuelle Gedächtnis basiert auf der Erinnerungs-
fähigkeit des Menschen und speist sich aus Erfahrungen und Wahr-
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