Brasilien hat gewählt. Doch der Sieger wird erst im 2. Wahlgang bestimmt. Am 26. Oktober tritt Präsidentin Dilma Rousseff (PT) gegen Aécio Neves (PSDB) an. Was steht auf dem Spiel? Was muss sich nach den Wahlen ändern? Eine Analyse.
1. Wahlen in Brasilien 2014 07/10/2014
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Nach der Wahl ist vor der Wahl:
Der Kampf um die brasilianische Präsidentschaft geht in die 2. Runde
Brasilien hat gewählt, doch entschieden ist noch nichts. Lange sah es so aus, als
würde die zwei Jahrzehnte andauernde Polarisierung zwischen der regierenden
Arbeiterpartei (PT) und den konservativen Sozialdemokraten (PSDB) ein Ende
haben. Doch nun wird es doch wieder zu einem Duell der beiden prägenden
Parteien der letzten zwei Jahrzehnte kommen. Am 26. Oktober stehen sich die
beiden Spitzenkandidaten, Präsidentin Dilma Rousseff und Herausforderer
Aécio Neves, in der zweiten Wahlrunde gegenüber.
Am 26. Oktober kommt es zum Duell Aécio Neves (PSDB) gegen Dilma Rousseff (PT)
Der Grund für die zwischenzeitliche Verschiebung der Machtverhältnisse war der Tod
von Eduardo Campos, Vorsitzender der sozialliberalen Sozialisten (PSB) und
Präsidentschaftskandidat einer sechs-Parteienkoalition. Der Kandidat kam bei einem
Flugzeugabsturz Mitte August auf dem Weg zu einem Wahlkampftermin ums Leben.
Campos hatte in den Umfragen stets abgeschlagen bei etwa 10% gelegen, ein Duell
Rousseff - Neves galt als sicher. Der Tod Campos katapultierte die neue Kandidatin der
PSB, Marina Silva, an die Spitze der Umfragen. Für einige Wochen sah es so aus, als
würde Silva im zweiten Wahlgang gegen Dilma Rousseff antreten und eventuell sogar
gewinnen.
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Silva war über 20 Jahre lang Mitglied der PT,
Gemeinderätin, Abgeordnete und Senatorin, sowie
zwischen 2003 bis zu ihrem Rücktritt 2008
Umweltministerin der Regierung Lula. Ihr Rücktritt war
politischen Differenzen geschuldet, die sich aus der
Konfliktlinie zwischen Wirtschaftsentwicklungspolitik und
Umweltschutz ergeben hatten. Anfang 2009 trat sie auch
aus der PT aus. Bei den Präsidentschaftswahlen 2010
kandidierte sie dann für die grüne Partei PV und erhielt aus
dem Stand rund 19 Prozent der Stimmen. Anfang 2013
gründete sie mit ihren Getreuen das sogenannte
Nachhaltigkeitsnetzwerk (Rede Sustentabilidade),
scheiterte jedoch für die Teilnahme an den Wahlen 2014
an der formellen Einschreibung der neuen Partei.
Im Wahlkampf für die PSB versuchte Silva, sich als den „dritten Weg“ zur bisherigen
Politik der PT und der PSDB darzustellen, die nicht mehr die Kraft für Veränderungen
aufbrächten. Silva predigte eine „neue Form der Politik“ und präsentierte ein 250 Seiten
langes Regierungsprogramm. Für kurze Zeit schaffte sie es so, die Hoffnungen der
Unzufriedenen, der konservativen Elite und einer jungen Wählerschaft zu vereinen.
Doch letztendlich scheiterte Silva an den hohen Erwartungen, fehlender Unterstützung
in den eigenen Reihen sowie an inhaltlichen Widersprüchen. So änderte sie nach
öffentlicher Kritik eines evangelikalen Pastors wichtige Teile ihres
Regierungsprogrammes zu den Rechten von Homo-, Bi- und Transsexuellen. Auch
konnte sie nie überzeugend erklären, wie sie ihre Forderung nach einer aktiveren
Umweltpolitik mit den Interessen der mächtigen Agrarindustrie in Einklang bringen
wollte. Silvas Absturz in den Umfragen erfolgte schließlich genauso rapide wie ihr
Höhenflug zuvor.
Das Ergebnis der Wahl nach Bundestaaten: Der ärmere Norden wählt Dilma Rousseff,
der reichere Süden stimmt für Aécio Neves. Marina Silva gewinnt nur 2 Staaten
Marina Silva, PSB
3. Wahlen in Brasilien 2014 07/10/2014
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Neue politische Konstellation nach den Wahlen
Auch wenn Dilma Rousseff und die Arbeiterpartei den 2. Wahlgang am 26. Oktober
gewinnen sollten, werden die kommenden vier Jahre innenpolitisch noch komplizierter.
Brasilien ist eine Präsidentialdemokratie, trotzdem ist Dilma Rousseff auf Mehrheiten
im Senat und im Abgeordnetenhaus angewiesen. Da das brasilianische Parteiensystem
extrem zersplittert ist, muss oft für jede neue Gesetzesinitiative eine eigene Mehrheit
gefunden werden, die Politikwissenschaft spricht daher von einem
„Koalitonspräsidentialismus“. Rousseff regierte bisher mit einer informellen Koalition
von bis zu zwölf Parteien, ihre eigene Partei kam im Abgeordnetenhaus gerade einmal
auf 17% der Sitze. Nach der Wahl, bei der auch die Gouverneure der 27 Bundesstaaten,
das gesamte Abgeordnetenhaus und ein Drittel des Senats neu besetzt wurden,
gestaltet sich die Situation für die PT als noch schwieriger. Im Senat hat die Partei einen
Sitz verloren und stellt nur noch zwölf der 81 Senatoren; im Abgeordnetenhaus verlor
die PT ganze 18 Sitze, ist mit 70 Abgeordneten allerdings weiterhin die größte Fraktion.
Insgesamt haben es weitere kleinere Parteien in das Parlament geschafft, was die
Mehrheitsbildung noch ungewisser macht. Zudem hat das brasilianische Volk das
konservativste Parlament seit 1964, dem Beginn der Militärdiktatur, gewählt. Offen
linke Politik zu gestalten, dürfte zukünftig noch komplizierter werden.
Quo vadis, Brasilien? Die Wahl ist für die Zukunft des Landes entscheidend
Die neue brasilianische Machtstruktur kommt für das Land zu einer Unzeit, denn trotz
der Erfolge von zwölf Jahren PT-Regierung, vor allem in der Sozialpolitik, sind
tiefgehende Reformen notwendig. Dies wurde spätestens bei den Protesten im Juni
2013 deutlich, die sich nicht nur gegen die regierenden Parteien richteten, sondern auch
institutionelle Veränderungen forderten. So wird über ein Ende der privaten
Finanzierung der Wahlkämpfe, mehr Elemente direkter Demokratie sowie eine Reform
des Verhältniswahlrechtes im Abgeordnetenhaus nachtgedacht. Ende September hat es
ein Zusammenschluss von Organisationen der Zivilgesellschaft und Gewerkschaften
geschafft, in einer Woche 7,4 Millionen Stimmen für die Einsetzung einer Kommission
zu sammeln, die eine politische Reform ausarbeiten soll. Allerdings ist fraglich, ob die
Politik auf das nicht bindende Referendum eingehen wird. Präsidentin Dilma Rousseff
und andere Politiker haben zwar ihre Zustimmung signalisiert, doch ob sich das Projekt
wirklich umsetzen lässt, wird sich zeigen.
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Im Juni 2013 protestierten über 100.000 Brasilianer für politische Reformen, gegen
steigende Transportkosten und für ein besseres Gesundheits- und Bildungssystem
Politische Projekte der neuen Legislaturperiode
Um die teils enttäuschte Jugend und die aufstrebende Mittelschicht – Hauptprofiteure
der Regierungen Lula und Rousseff – wieder mehr für sich zu begeistern, muss die PT es
schaffen, auch in anderen Bereichen politische Erfolge zu erzielen. So wurden mittels
des Regierungsprogramms „Mehr Ärzte“ zwar 15.000 ausländische Ärzte, vor allem aus
Kuba, angeworben. Strukturelle Probleme des Gesundheitssystems wurden jedoch nicht
überwunden. Auch im Bildungsbereich hat die PT viel getan, neue öffentliche
Universitäten gegründet und durch Quoten und Stipendien das Bildungssystem sozial
inklusiver gestaltet. Doch gerade im Bereich der Primärbildung ist Brasilien international
weit abgeschlagen. Die Ankündigung, Teile der Einnahmen der neu endeckten Ölfelder
im Meer vor Rio de Janeiro in Bildung zu investieren, ist ein Schritt in die richtige
Richtung.
Ein weiterer Bereich, dem sich die PT nach der Wahl widmen muss, ist die
Wirtschaftspolitik, hier insbesondere die Industriepolitik. Zwar stimmt es, dass das Land
die internationale Finanzkrise ab 2007/2008 extrem robust überstanden hat, doch
aktuelle Wachstumsquoten von nur ein bis zwei Prozent jährlich sind für einen
aufstrebenden BRIC-Staat langfristig zu wenig. Vor allem die Industriepolitik läuft Gefahr
ins Unbedeutende abzudriften, hier sind Investitionen in Häfen, Straßen und
Stromleitungen dringend notwendig. Doch reine Infrastrukturmaßnahmen werden nicht
ausreichen, um langfristig Wirtschaftswachstum zu generieren. Die Regierung Dilma
muss die Wende hin zu einer nachhaltigen Industriepolitik schaffen, damit sich die
Wirtschaftspolitik in Zukunft auch sozial und ökologisch rechnet. Auch eine
Vereinfachung der Steuerpolitik und Bürokratieabbau könnten dazu beitragen, die
Investitionsfreude in Brasilien wieder steigen zu lassen.
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Mit den Milliardengewinnen aus der Ölgewinnung sollen Bildungsprojekte finanziert
werden. Gegenkandidat Aécio Neves will hingegen die größte Ölfirma Brasiliens
(Petrobras) privatisieren, was wohl vor allem privaten Investoren nützen würde
Allianzen für den sozialen Fortschritt
Bei aller berechtigter Kritik an der PT-Regierung: Die Situation Brasiliens ist weitaus
besser, als ein Blick in die Zeitung vermuten lässt. So liegt die Arbeitslosenquote seit
längerem auf einem Rekordtief von etwa 5%. Bei der Abwahl von Präsident Fernando
Henrique Cardoso - Parteikollege von Aécio Neves - im Jahre 2002, waren noch 12% der
Brasilianer ohne Job. Die PT-Regierung hat es geschafft, 40 Millionen Brasilianer aus der
Armut zu holen, den Wohlstand zu steigern und gleichzeitig die soziale Ungleichheit zu
reduzieren. Trotzdem konnte man vor den Wahlen bei einem Blick in die Medien
denken, das Land sei dem Untergang geweiht. Die konservativen Zeitungen schreiben
Erfolge wie die niedrige Arbeitslosigkeit klein und stilisieren vermeintlich Probleme wie
die stabile Inflationsrate von etwa 6% künstlich hoch. Auch am Höhenflug und
anschließenden Absturz Silvas waren die Medien nicht unbeteiligt. Anfangs jubelten sie
Silva als vermeintlichen „neuen Weg“ in den Himmel; als die Umfragewerte sanken,
setzten sie schnell auf das andere Pferd im Rennen, Aécio Neves. Hauptsache die
Wiederwahl von Dilma Rousseff verhindern, lautete die Devise. Auch die Börse wettete
offen gegen die Präsidentin, obwohl die Profite der Banken und großen Unternehmen
regelmäßig Rekorde knacken.
6. Wahlen in Brasilien 2014 07/10/2014
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Rousseff und ihre PT-Regierung müssen
daher im Falle eines Wahlsieges auch
weiterhin Allianzen im linken
Parteienspektrum, mit Gewerkschaften,
Vertretern der Zivilgesellschaft und
Nichtgerierungsorganisationen schmieden,
um für den sozialen Fortschritt Brasiliens zu
kämpfen und Erfolge auch als solche zu
präsentieren. Die konservative Elite scheint
nach zwölf Jahren PT-Regierung gewillter
denn je, progressive Politik zu sabotieren
und zu verunglimpfen. Diesem
destruktiven Handeln und negativen
Stimmungsbild eine fortschrittliche und
gleichzeitig selbstkritische politische Arbeit
entgegenzusetzen, wird die große
Herausforderung der nächsten vier Jahre.
Vier Jahre Stillstand und zaghaftes
Verwalten wird für die PT ein Scheitern bei
den nächsten Wahlen bedeuten. Daran
würde wohl selbst eine erneute Kandidatur
des weiterhin extrem beliebten Ex-
Präsidenten Lula nichts ändern, zumal
fraglich ist, ob dieser sein politisches Erbe
bei einer aussichtslosen politischen
Situation aufs Spiel setzen würde. Die PT
muss Forderungen der Juni-Proteste
umsetzen, politische Reformen anstoßen,
Korruption bekämpfen und das verkrustete
System aufbrechen. Wenn sie das schafft,
wird ihr das brasilianische Volk bei den
nächsten Wahlen danken. Eines ist klar:
Einfach wird dieses Unterfangen nicht.
Leonard Fried
Praktikant FES Brasilien
So schreiben drei große Tageszeitungen Dilma
vor den Wahlen schlecht