Wenn Technik unser täglicher Begleiter wird, wenn mehr und mehr Physisches in die virtuelle Welt übergeht und Virtuelles vermehrt die physische Welt durchdringt, wie verändert dies unseren Umgang mit Musik?
Bei der App-Musik wird Musik als Kunstform nicht neu erfunden. Vielmehr adaptiert sie Handlungsformen und Ästhetiken aus vergangenen musikalischen Epochen, ohne besonders innovativ zu werden. Wir befinden uns ganz am Anfang! Durch alle Ausprägungen von App-Musik zieht sich jedoch das hier zum Leitprinzip erhobene Element des Erkundens und des Musikmachens.
App-Musik – neues Musizieren? Musikmachen mit Smartphone- Instrumenten
1. Perspektiven 52
App-Musik –
Vordruckfassung
Erschienen in:
neues Musizieren?
Musikmachen mit Smartphone-
Instrumenten auf iPhone, iPod
touch und iPad
Matthias Krebs
Wenn Technik unser täglicher Begleiter wird, wenn mehr und
mehr Physisches in die virtuelle Welt übergeht und Virtuelles
vermehrt die physische Welt durchdringt, wie verändert dies
unseren Umgang mit Musik?
Musikerinnen und Musiker stellen hohe An- Profil eines modernen Musik-PCs zugrunde MUSIZIEREN IST
forderungen an die Funktionsweise, die Hand- legt. Bescheidene Rechenleistung, einge- INNOVATION
habe und die Verlässlichkeit ihrer Instrumente. schränkte Schnittstellen und eine eher auf die
Alles muss im Augenblick entstehen, muss Consumer-Klientel ausgerichtete Audio-Hard- Für Musikerinnen und Musiker, die sich den
expressiv und gleichzeitig intim sein. Die neue ware sind von dieser Warte aus der Albtraum neuen Herausforderungen stellen, ist es span-
digitale Technik liefert potenziell nicht nur ein eines jeden auch nur halbwegs technikaffinen nend, die Entwicklung zu begleiten und mit-
Medium und eine Werkstatt für Musik. Viel- Musikers. zugestalten. Es überrascht, wie einige diese
mehr zielt sie auf die Erzeugung virtueller Er- Andererseits erlauben die portablen, per Trends begeistert aufnehmen und andere
fahrungswelten, die den Nutzern den Eindruck Touchscreen steuerbaren Geräte auch eine ihnen skeptisch gegenüberstehen. Ein nahe
vermitteln, sie seien Teil dieser erfahrenen ganze Reihe neuer Möglichkeiten zum Musik- liegender Grund dafür besteht darin, dass
Welt und nicht nur externe Beobachter. Dies machen. An einer Vielzahl von Softwarebei- selbst Technik-Interessierte nur schwer den
gelingt immer dann auf überzeugende Weise, spielen lässt sich zeigen, dass dieses noch Überblick über das Spektrum der technischen
wenn die neuartige Technik in ihren genuinen junge Medium einen wahren Fundus an in- Entwicklungen bewahren und sich von der
Eigenschaften für die künstlerische Praxis ge- novativen Musikinstrumenten und ein musi- rasanten Weiterentwicklung überfordert füh-
nutzt wird, sodass neue Formen der musika- kalisches Experimentierlabor offenbart. Die len. Andere argumentieren, dass mit den vor-
lischen Interaktion und des ästhetischen Aus- entscheidenden Herausforderungen für die gefertigten Apps der künstlerische Ausdruck
drucks entstehen. Weiterentwicklung bestehen in den Interakti- vorbestimmt sei. Allerdings widerspricht eine
Nach Programmierern und Hackern waren onsmöglichkeiten und der Steuerung. Reicht rein passive Sichtweise der künstlerischen
es vor allem Künstler, die die spezifischen Ei- es aus, die Spielweise traditioneller Instru- Grundhaltung: Musizieren ist stets ein aktiver
genschaften von Computern und Netzwerken mente auf den Tablet-PCs zu imitieren? Wie Innovationsprozess.2 Zunächst muss man sich
erforscht haben. Als neuartige Geräteklasse können technische Barrieren beseitigt werden, arrangieren, bei einigen gewohnten Schritten
treten nun Smartphones und Tablet-PCs in um intuitiv mit mobilen Geräten zu musizieren heißt es umzudenken, um gewisse Vorteile
Erscheinung – allen voran iPhone und iPad1 –, – egal, ob am gleichen Ort oder über das In- überhaupt nutzen zu können. Gleichzeitig ver-
die neue Möglichkeitswelten eröffnen. In ge- ternet? Gleichzeitig suchen Musikerinnen und ändert sich durch die neue Verwendungsweise
wisser Weise handelt es sich bei diesen mobi- Musiker nach Lösungen, die lange Bestand die Musik und es entsteht etwas Neues. Der
len Geräten um Computer im Kleinformat für haben. Sie suchen in intensiver Auseinander- Feind der Innovation ist die Gewohnheit, die
unterwegs. Es können darauf Programme (so setzung eine enge Beziehung zu ihren Instru- gleichbedeutend ist mit Stillstand.
genannte Apps) wie Rhythmusmaschinen, menten und Stücken. Dieser Prozess bedarf Um einen Eindruck von den Möglichkeiten ak-
Synthesizer und Effektgeräte installiert wer- eines enormen Durchhaltevermögens, um tueller mobiler Geräte auf der musikalischen
den. Diese Universalgeräte geben allerdings künstlerische Qualitäten und die gewünschte Ebene zu bekommen, werden exemplarisch
kein überzeugendes Bild ab, wenn man das Versiertheit zu erlangen. einige Charakteristika der Nutzungsweise
2. 53 Perspektiven
Foto: Cora-Mae Gregorschewski
mobiler Endgeräte vorgestellt. Diese gliedern
sich sinngemäß in drei unterschiedliche musi-
kalische Anwendungsbereiche. Musikspiel Musizieren
Musikproduktion Die meisten professionellen Computer-Pro- Musikinstrumente zeichnen sich im Allge-
gramme sind in ihrer Bedienung sehr komplex. meinen durch eine gezielte Kontrollierbarkeit
Die rein digitale Musikproduktion ist heute Zum Ausprobieren sind sie zu teuer und für den eines spezifischen, fein nuancierbaren Spekt-
Standard. Studio-PC oder heimischer Laptop Gelegenheitsnutzer zu hoch gegriffen. Um da- rums an Klangfarben aus. Sie geben Musizie-
geben Musikerinnen und Musikern eine Viel- mit befriedigende Ergebnisse zu produzieren, renden Möglichkeiten an die Hand, sich durch
zahl an Werkzeugen in die Hand, mit denen braucht man – nicht anders als bei herkömm- Kombination verschiedener Klangfarben und
sie in Eigenregie qualitativ hochwertige Er- lichen Musikinstrumenten – Ausdauer und die Gestaltung von Klangverläufen musikalisch
gebnisse produzieren können – unabhängig Erfahrung. Die mit der komplexen Bedienung auszudrücken. App-Instrumente erweitern die
von teurem Equipment. Was noch fehlt, ist ein verbundenen Einstiegshürden sind mit dem strukturelle Flexibilität von Software-Instru-
Weg, sein Studioprojekt immer bequem mit Touchscreen gefallen, denn moderne Handys menten, indem sie die Vorteile einer prinzipiell
sich zu führen. Einige Musiker haben nun ihren werden über eine intuitive Spieloberfläche be- frei gestaltbaren Klangerzeugung mit einer
Studio-PC für bestimmte Aufgaben gegen das dient. variablen Spieloberfläche kombinieren. Be-
iPad ausgetauscht. Ein Gitarrenriff auf „iSh- Eine Schlüsselstelle bei der Entwicklung der sonders grafische Konzepte, die nicht einfach
red“, eine expressive Melodie mit „Organ+“ Musik-Apps nehmen einfache Musik-Spiele nur traditionelle Instrumente abbilden, son-
oder ein Rhythmuspattern auf „NanoStu- ein, so genannte Soundtoys. Sie sind am ehes- dern ein musikalisches Konzept anbieten, das
dio“ sind Beispiele für diese Musikpraxis. Das ten als spielerisch zu entdeckende, atmosphä- schlüssig auf die mobilen Geräte abgestimmt
Smartphone eignet sich so als musikalischer risch mystifizierte, virtuelle Klangräume zu ist, haben sich als musikalisch gut nutzbar er-
„Notizzettel“, um spontane Einfälle, sei es im beschreiben. Ein populäres Beispiel ist „Magic wiesen. So lassen sich Tonhöhen und Effekt-
Bus, in der Bahn oder zu Hause, unkompliziert Piano“, das eine skurrile, runde Klaviatur und modulationen über skalierbare Balken oder
auszuprobieren und festzuhalten. Es sind aber eine funkelnde Spielhilfe für Lieder bereit- kontinuierlich über die gesamte Fläche des
sogar schon erste Alben mit dem iPad produ- stellt. Darüber hinaus erlaubt die App an, über Displays spielen. Außerdem gibt es eine Reihe
ziert worden.3 das Internet mit einem zufälligen Spielpartner von Sensoren, mit denen beispielsweise durch
Die Schnittstellen an den Geräten sind zwar irgendwo auf der Welt im Duett zu musizieren. Kippen, Drehen und Schütteln der Geräte Mo-
stark limitiert, nichtsdestotrotz hat sich bei Weitere interessante Soundtoys sind „Singing- dulationen wie Lautstärke, Vibrato oder Glis-
den Musik-Apps schnell eine Bandbreite an Fingers“, „Bebot“, „BeatWave“ und „iAmBe- sando erzeugt werden können.
Formen des Datenaustausches entwickelt. Mit atBox“. Ihnen gemein ist, dass sie spielerisch Um die Gestaltungsmöglichkeiten von Apps
manchen Apps lassen sich ganze Musikprojek- zu bedienen sind, aber trotzdem expressive wie „SoundPrism Pro“, „Tenori-On“ und „Syn-
te zwischen Smartphone und Computer hin Gestaltungsmöglichkeiten bieten. Ohne be- thX“ jedoch ausschöpfen zu können, ist es
und her spielen. Die professionelle Produktion sondere musikalische Fähigkeiten vorauszu- nötig, dass sich die Spielerin oder der Spieler
im Studio kann zudem von Controller-Apps setzen, kann sich eine breite Nutzerschaft auf eingehender mit diesen Instrumenten ausei-
wie „TouchOSC“ profitieren, die die iPods und explorative Art austoben. Damit eignen sich nandersetzt. Damit wie in Band oder Orches-
iPads in frei programmierbare Universalfern- die Soundtoys als Ausgangspunkt für eine aus- ter miteinander musiziert werden kann, ist es
bedienungen für MIDI-fähige Geräte oder Stu- baufähige Reise in die Welt des Musizierens. auch bei App-Instrumenten notwendig, inten-
dio-Software verwandeln. siv zu proben.
3. Perspektiven 54
Die einfach gehaltene App „Rockmate“ bietet
sich eher als musikalischer Gruppenspaß
an. Bis zu vier Leute können gleichzeitig
auf nur einem einzigen iPad Musik machen.
Dafür stehen Gitarren, Schlagzeug und
Keyboard sowie verschiedene Hilfsmittel
zur Verfügung. Die aufgenommenen Songs
lassen sich per Mail versenden.
SMARTPHONE-ORCHESTER
AN DER UDK BERLIN
Täglich kommen neue Apps mit fortentwickel-
ten Funktionen und neuen instrumentalen
Möglichkeiten auf den Markt. Während das
musikalische Aktionsfeld für Smartphones
immer größer wird und einige technische He-
rausforderungen ungelöst bleiben, stellt sich
nunmehr die Frage, welche Prinzipien (letzt-
endlich) für die Musikperformance konzepti-
onell oder ästhetisch sinn- und wirkungsvoll
sind. Das künstlerische Experiment kann dar-
über Aufschluss geben. An der Universität der
Künste Berlin wurde dazu ein Smartphone-Or- APP-MUSIK – EINE MODE- die Kreativität des Nutzers, nicht durch die
chester, das DigiEnsemble Berlin, gegründet, ERSCHEINUNG? Bedienung eines Geräts definieren. Aber war-
in dem Musikerinnen und Musiker mit unter- um von Hardware reden, scheint doch genau
schiedlichem musikalischen Hintergrund spie- Bei der App-Musik wird Musik als Kunstform deren allmähliches Verschwinden die Magie
len. Sie erproben, wie mit Smartphones und nicht neu erfunden. Vielmehr adaptiert sie der digitalen Welt auszumachen. Denkt man
Tablet-PCs im gemeinsamen Spiel musiziert Handlungsformen und Ästhetiken aus vergan- diese Entwicklung zu Ende, wird schließlich
werden kann, und experimentieren mit unter- genen musikalischen Epochen, ohne beson- sämtliches musikalisches Schaffen eine Form
schiedlichen Musikgenres. Dabei beschränken ders innovativ zu werden. Wir befinden uns des kreativen Umgangs mit und Austauschs
sie sich allein auf Apps, die frei auf dem Markt ganz am Anfang! Durch alle Ausprägungen von Klang sein – eine App.
erhältlich sind. von App-Musik zieht sich jedoch das hier zum
Erste Konzerte zeigen, dass das musikalische Leitprinzip erhobene Element des Erkundens 1 Auch für andere portable Geräte wie Nintendo DS
oder Android-Smartphones existieren Musik-Apps.
Experimentieren mit Apps durchaus lohnens- und des Musikmachens. Die Touch-Steuerung
Doch bisher in einem bei Weitem geringem Umfang
wert ist. Für populäre Musikrichtungen gibt ermöglicht es Nutzern, auf eine intuitive und und mit geringerer Leistungsfähigkeit. Daher beziehen
es einige brauchbare Synthesizer-, Schlag- direkte Art auf die Konkretisierung von Musik sich die folgenden Ausführungen insbesondere auf
zeug- und Gitarren-Apps sowie expressive einzuwirken. App-Musik bestätigt zudem in Beispiele für iPhone, iPod touch und iPad.
2 Dies zeigt schon der interpretatorische Umgang mit
Step-Sequenzer,4 mit denen man ohne Weite- besonderer Prägnanz die Sichtweise, dass ein
dem Notentext, der auch ständiger Orientierung und
res Bühneneinlagen spielen kann. Am überra- wesentlicher und häufig unterschätzter Wert Anpassung bedarf.
schendsten sind die Ergebnisse im Stil klassi- jeder Form von Musik in ihrer sozialen Funkti- 3 Am 25.12.2010 erschien unter dem Titel The Fall
scher Musik. Die Eigenkomposition „Ostinato on liegt. eines der ersten auf dem iPad produzierten Alben der
populären Zeichentrick-Band Gorillaz.
für 8 iPods“ ist ein Versuchsaufbau, der speziell Oder handelt es sich hierbei um nicht mehr 4 z. B. Apps wie „NLog Pro“, „Drum Meister“,
für die App „ThumbJam“ entworfen wurde. als eine massentauglich zugeschnittene Pseu- „OMGuitar“, „BeatMaker2“ und „GarageBand“.
Das Stück lässt sich aber natürlich auch mit an- do-Musikpraxis? Es ist offensichtlich, dass
deren Apps oder auf traditionellen Instrumen- „Gadgets“ wie iPhone und iPad für den Mas- Linktipp:
ten spielen. senmarkt hochstilisiert werden. Andererseits www.appmusik.de
Unter www.digiensemble.de/ostinato können ist das Musizieren im Gegensatz zu früheren
Interessenten die Noten, Spielhinweise und ein Zeiten nicht mehr so stark auf professionelle Weitere Literatur zu diesem Thema:
Video finden, in dem zu sehen ist, wie das Mu- Musiker zentriert. Heutzutage geht kaum ein Krebs, M. (2012): App-Musik - Musizieren
sizieren mit Smartphones aussehen kann. Es Mensch ohne Handy aus dem Haus. Darüber mit Smartphones, in: MusikForum
soll dazu ermuntern, kreativ mit Musik-Appli- hinaus kann für die allgemeine Mediennutzung 01/2012, Schott Music, S. 14-19
kationen umzugehen und neue musikalische die gesteigerte Integration von spontanem,
Erfahrungen zu sammeln. kreativen Selbstausdruck in den Datenstrom Matthias Krebs
Der nächste Schritt im Experiment „App-Mu- der modernen Kommunikationswege als ein ist Medien- und Diplom-Musikpädagoge und
sik“ wird sein, die spezifischen Charakteristika Bedürfnis interpretiert werden. Sicher ist, dass hat als Tenor das Studium zum Opernsänger
noch detaillierter zu erforschen und über das sich die Entwicklung nicht umkehren lässt, absolviert. Er entwickelt als wissenschaftlicher
Spielen herkömmlicher Musik hinauszugehen. eine Zeit ohne „mobile Kommunikationsgerä- Mitarbeiter am Zentralinstitut für Weiterbil-
Als interessante Aspekte treten dabei die Ver- te“, das, was wir „Smartphones“ nennen, wird dung an der UdK Berlin die Zertifikatskurs
netzung über das Internet, die Synchronisation es nicht mehr geben. „DigiMediaL“ und ist Lehrbeauftragter im Fach
mehrerer Geräte und Apps oder die hohe funk- Eine Vision ist es, musikalische Ausdrucksmög- Musikpädagogik an der Universität Potsdam
tionale Flexibilität in den Fokus. lichkeiten zu schaffen, die sich nur noch über und der UdK Berlin.