Seit Jahrzehnten werden in allen Bereichen der Kinderheilkunde mit steigender Tendenz Ernährungssonden eingesetzt. Die Sondenernährung stellt bei Kindern mit massiven Essstörungen eine ausreichende Ernährung sicher und sorgt für besseres Wachstum. In dieser Präsentation informieren wir Sie über die Hauptkategorien von Essverhaltensstörungen, beschreiben diese kurz und nennen die Charakteristika jeder Kategorie.
2. Die Entwickler des „Grazer Modells zur Sondenentwöhnung und des EAT-Programms“ waren als
Kinderärzte Mitglieder der Arbeitsgruppe, die 1994 die erste Fassung des
Klassifikationsschemas ZTT-DC:0-3 veröffentlichte.
Klassifikation von „Essverhaltensstörungen“ in 6 Hauptkategorien
Fütterstörung durch homöostatische Regulationsstörung (ZTT-DC:0-3, 601)
Fütterstörung im Zusammenhang mit Bindungsproblemen (ZTT-DC:0-3, 602)
Individuationsstörung, Infantile Anorexie (ZTT-DC:0-3, 603)
Sensorisch bedingte Nahrungsaversion (ZTT-DC:0-3, 604)
Fütterstörung im Zusammenhang mit einer somatischen Erkrankung (ZTT-DC:0-3, 605)
Fütterstörung im Zusammenhang mit traumatischen Eingriffen in den Gastrointestinaltrakt
(ZTT-DC:0-3, 606)
3. Fütterstörung durch homöostatische
Regulationsstörung (ZTT-DC:0-3, 601)
Beginn der Störung im Neugeborenenalter, meist während der ersten 2 Lebensmonate, ist
extrem spezifisch:
Das Baby ist agitiert, braucht sehr wenig Schlaf, ist sehr anstrengend und fast nie glücklich
und entspannt. Das Füttern klappt schon seit der Geburt nicht und das Problem
verschlimmert sich mit der Zeit.
Zusammenfassung ZTT-DC:0-3, 601: Das Kind lässt sich zunächst gut füttern, bricht aber dann ab und
wird unruhig - was bei Regulationsstörungen typischerweise der Fall ist, meist beim hypersensiblen
und/oder unorganisierten Typ. Ein Therapeut muss frühestmöglich spezifische Anleitungen geben.
4. Fütterstörung im Zusammenhang mit
Bindungsproblemen (ZTT-DC:0-3, 602)
Beim Beobachten der Füttersituation erhält man den Eindruck von Erschöpfung, Depression,
Verzweiflung, einer niedrigen Frequenz an Zeichen reziproker Interaktion, mangelndes Interesse
und wenig soziale Responsivität seitens des Kindes.
Charakteristisch bei Fütterstörungen, bei denen die Beziehung zwischen der Bezugsperson, die
das Kind füttert, und dem Kind symptomatischer ist als jedes andere spezifische Symptom
Der Säugling (meist 3-4 Monate alt) wird gebracht, weil mit seinem Verhalten offensichtlich
etwas nicht stimmt.
5. Fütterstörung im Zusammenhang mit
Bindungsproblemen (ZTT-DC:0-3, 602)
Mit dem Stillen wurde nach 2-3 Wochen aufgehört, das Füttern mit der Flasche scheint ein
wenig besser zu funktionieren, die orale Nahrungsaufnahme erfolgt jedoch langsam.
Zusammenfassung ZTT-DC:0-3, 602: Das Behandlungsziel ist die Therapie der
Bindungsstörung, es wird ein Netzwerk zur effektiven Unterstützung und sofortigen Hilfe
aufgebaut.
6. Individuationsstörung und
Infantile Anorexie (ZTT-DC:0-3, 603)
Das Auftreten dieses Zustandes ist dramatisch und erscheint zunächst auf den ersten Blick oft nicht als
gesundheitlich kritisch!
Der jetzt 6 oder 7 Monate alte Säugling entwickelt sich prächtig und hat starkes Interesse an der
selbstständigen Exploration seines Umfelds. Der Säugling kann aufrecht sitzen und verfügt über eine
gut entwickelte Muskulatur, greift nach der Nahrung mit dem Wunsch, sie zu berühren und möchte
den Löffel selbst halten.
Aufgrund eines verstärkten und etwas verbissenen Kontrollbedürfnisses, dem Wunsch, danach, einen
gewissen Zeitplan und ein gewisses Maß an Sauberkeit und Ordnung einzuhalten fühlt sich die Mutter
dazu verpflichtet, dem Baby genau festgelegte Mengen und Arten an Babynahrung zu füttern.
Der immer stärker werdende Entdeckungsdrang und das steigende Autonomiebedürfnis des Kindes
stehen in der Füttersituation in Konflikt mit der durch Druck und Angst der Mutter erzeugten
Atmosphäre.
7. Individuationsstörung und
Infantile Anorexie (ZTT-DC:0-3, 603)
Das Verweigerungsverhalten des Kindes verstärkt sich zunehmend, wobei das Kind aber
anhänglich ist bzw. ein starkes Interesse an sozialer Interaktion mit der Mutter hat.
Die Füttersituation wird für das Kind und die Bezugsperson zum Albtraum.
Eine PEG-Sonde sollte nur bei lebensbedrohlicher Mangelernährung empfohlen werden und
ist als erster Behandlungsansatz für dieses Störungsbild grundsätzlich kontraindiziert, da die
Ernährung mittels Sonde keine spezifische Therapie ist. Das Risiko, dass das Kind eine
Sondenabhängigkeit entwickelt, ist groß und sehr wahrscheinlich ergibt sich dadurch bei
der zugrundeliegenden Ess-Fütterstörung kein Therapieerfolg.
Zusammenfassung ZTT-DC:0-3, 603: Das Kind zeigt ein wachsendes Autonomiebedürfnis (diese Kinder
sind oft sehr unruhig, wobei die schnelle motorische Entwicklung sie mehr Energie kostet), welches mit dem
Kontrollbedürfnis der Mutter in Konflikt steht. Der Therapieansatz hier ist, das Kind aus dem durch
wachsende Kontrolle und Druck geprägten Teufelskreis zu befreien und das Kind über Finger-Food zum
selbstständigen Essen anzuregen und die Eltern beim Übergang vom aktiven Füttern hin zum lediglichen
Bereitstellen der Nahrung zu unterstützen.
8. Sensorisch bedingte Nahrungsaversion (ZTT-DC:0-3, 604)
Vermehrter Speichelfluss, Würgen, Husten und Erbrechen sind Symptome für Dysphagie
und eine eingeschränkte Schluckfunktion.
Davon häufig betroffen sind Kinder mit
• Wahrnehmungsstörungen,
• Globale Entwicklungsverzögerung,
• Infantile Larynx,
• Tracheomalazie,
•Lähmung der Stimmbänder oder Fehlfunktion der Epiglottis
und sie (diese Symptome) sind vor allem symptomatisch bei Hirnschädigungen.
Anhand einer spezialisierten diagnostischen Untersuchung des Schluckaktes muss
zunächst Aspiration ausgeschlossen werden bzw. wird – sollte sich der Verdacht
auf Aspiration bestätigen – die frühestmögliche Anlage einer Gastrostomiesonde
empfohlen.
9. Sensorisch bedingte Nahrungsaversion (ZTT-DC:0-3, 604)
Bei dieser Kategorie zeigen sich im Kontext der Ess- und Füttersituation neurosensorische
Essverhaltensstörungen.
Dabei gibt es drei Hauptkategorien:
1. Körperlich gesunde Kinder, bei denen die Ablehnung bestimmter Nahrungsmittel auf deren
Geschmack, Textur und Geruch bezogen ist und im Zusammenhang mit einer sensorischen
Überempfindlichkeit steht. Zu dieser Kategorie zählen Kinder mit globaler Entwicklungsstörung,
Frühkindlichem Autismus und Trisomie 21.
2. Kinder mit einer neurologischen Entwicklungsstörung, deren Auswirkung auf die Saug- und
Schluckfunktion häufig unbemerkt bleibt, bis die Ess- und Fütterstörung diagnostiziert wird.
10. Sensorisch bedingte Nahrungsaversion (ZTT-DC:0-3, 604)
3. Picky Eaters: Kinder, deren Entwicklung und Intelligenz meist im Normalbereich liegen,
die aber eine orale Hypersensibilität mit sehr ausgeprägten Präferenzen bei Geschmack und
Textur haben und nur bestimmte Nahrungsmittel essen.
Verschiedene kognitive und bewusstseinsbezogene Probleme, begleitet von einem die
Schluckfunktion betreffenden motorischen Defizit, Entwicklungsverzögerung und möglicher
neurodegenerativer Grunderkrankung.
Zusammenfassung ZTT-DC:0-3, 604: Es wird genau analysiert und überprüft, ob die Saug- und
Schluckkoordination funktioniert. Logopäden werden hierbei sehr hilfreich sein und sollten zusammen mit
dem Radiologen und dem Sondenernährungsteam die bestmöglichste und sicherste Ernährungsform für
jedes betroffene Kind finden.
11. Fütterstörung im Zusammenhang mit einer
somatischen Erkrankung (ZTT-DC:0-3, 605)
Zu dieser Kategorie zählen Kinder mit schwerwiegenden Grunderkrankungen wie etwa BPD,
andere Lungenkrankheiten, Kinder in immunsuppresiver Behandlung nach einer
Organtransplantation, Niereninsuffizienz, schwere Hautschäden, Brandwunden, etc.
Wenn mangelnder Appetit zu einer Gewichtsstagnation oder sogar zu beachtlichem
Gewichtsverlust geführt hat, muss dem Kind vermittelt werden, dass sein/ihr Körper für die
Regeneration Nahrung braucht.
Einige Kinder werden ihr Gewicht leicht wieder zunehmen, doch Kinder, die bereits vor ihrer
Erkrankung wenig Gewicht hatten, brauchen möglicherweise Nahrungszusätze oder müssen
sogar vorübergehend mittels Sonde ernährt werden.
Zusammenfassung ZTT-DC:0-3, 605: Im Fall einer vorliegenden Grunderkrankung muss der Arzt/die Ärztin
die von der Grunderkrankung oder ihrer spezifischen Behandlung verursachten Parameter als Ursache
identifizieren oder bei grundsätzlich positivem medizinischen Fortschritt feststellen, dass scheinbar die
wachsende, auf die Esssituation bezogene Verhaltensstörung das Hauptproblem ist.
12. Fütterstörung im Zusammenhang mit traumatischen
Eingriffen in den Gastrointestinaltrakt (ZTT-DC:0-3, 606)
Das Kind isst freudig circa ein Drittel der Mahlzeit, beginnt aber dann zu schreien und wird
schlagartig unglücklich, da es sehr wahrscheinlich schmerzhaften Reflux hat. Die meisten
Störungen dieser Kategorie sind reaktive Verhaltensstörungen in Folge von medizinischen
Problemen mit Zunge, Mund, Larynx, Ösophagus, Magen, Duodenum, Darm und
Analbereich.
Von diesen Problemen betroffen sind meist Kinder nach chirurgischen Eingriffen zur
Behebung einer Gaumenspalte, einer Ösophagusatresie, Duodenalstenose, Analchirurgie,
etc.
13. Seltene Krankheitsbilder, die nicht vom
Klassifikationsschema ZTT-DC:0-3 abgedeckt werden:
1. Ein Kind, das Nahrung aufnimmt, aber dann schnell sehr blass wird und fast wie im
Schock erscheint, Herzrasen bekommt und zu schwitzen beginnt, leidet am Dumping-
Syndrom.
2. Eine Reihe an Krankheitsbildern im Zusammenhang mit Fütterproblemen werden
durch genetische Syndromen bedingt. Der Gendefekt kann anatomisches, neurologisches
oder hormonelles Ungleichgewicht verursachen und dadurch Fütterprobleme zur Folge
haben.
3. Nach der Erfahrung des Würgens und wiederholten oralen Traumen (unabhängig von
deren klarer medizinischen Indikation) muss die Möglichkeit einer posttraumatischen
Fütterstörung in Erwägung gezogen werden.