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36 Wochenende Tages-Anzeiger – Samstag, 25. Juli 2015
Mon Amour! Die Liebe dieses Mannes
zu seinem mondänen Wohnort
Montreux geht weit. Er sammelt
eigenhändig den Müll am Seeufer ein.
Yann Cherix
Montreux
Roger Erismann ist ein Mann, der sich die Hände
dreckig macht. Zusammen mit seiner Frau Shay hat
er begonnen, am öffentlichen Strand von Montreux
sauber zu machen. Einfach so. Weil ihn die kleinen
Plastikteilchen zwischen den Steinen genervt ha-
ben. Die PET-Flaschen im Wasser. Die Wattestäb-
chen im Sand. Die Zigarettenstummel. Von Letzte-
ren hat er gestern 435 eingesammelt. Rekord! Nach-
zulesen ist das auf seiner Homepage, wo alles fein
säuberlich dokumentiert ist. Dank Roger Eris-
manns Akribie wissen nun alle, dass am 13. Juni
vier Picknickteller, drei kaputte Plastikspielzeuge
und zwei blütenweisse Tampons den vielleicht wei-
ten Weg in die malerische Bucht am oberen Genfer-
see gefunden haben.
Der private Müllsammler – gebürtiger US-Ameri-
kaner, einst UNO-Mitarbeiter, heute laut eigenen
Angaben Vollzeit im Dienst des Wassers – kämpft
noch alleine gegen die Wellen aus Abfall, die seinen
an sich properen Wohnort täglich erreichen. Uner-
kannt ist das Problem jedoch nicht. Die EPFL in
Lausanne hat jüngst eine Studie über die Plastik-
verschmutzung der Schweizer Gewässer veröffent-
licht. Die Hochschule kommt zum Schluss, dass alle
Gewässer stark betroffen sind. Täglich sollen zehn
Kilogramm Micromaterial den Genfersee runter-
wandern und bei Genf in die Rhône gelangen.
Unschlüssig und schuldig
Drei junge Frauen holen sich am Steinstrand von
Montreux die letzte Bräune für die abendliche
Party. Träge ruhen sie da auf ihren Holzliegen,
während Roger Erismann vor ihnen herumwuselt.
Clash der Kulturen am Strand von Montreux. Aber
die Aktion des Mannes mit dem Wuschelkopf stösst
beim Trio auf ein gewisses Verständnis. Denn:
«Abfall ist la merde.» Und wenn einer etwas
dagegen tue, sei das doch gut. Ihre Blicke verraten
aber, dass das vielleicht nicht gerade jetzt sein
müsse. Man beisst ja auch nicht gerne in einen
Burger, wenn gerade ein herziges Kälbchen vor-
beispaziert. So hält die Jüngste der Sonnenge-
bräunten schon die ganze Zeit verkrampft ihren
toten Zigarettenstummel in der Hand. Wohin jetzt
bloss damit? Sie sieht etwas unschlüssig aus – und
schuldig.
Das ist genau das Ziel von Roger Erismann. Mit
seiner Aktion Plagespropres will er das Bewusst-
sein für den stets grösser werdenden Müllberg
schärfen. Als Protest gegen die Arbeit der Com-
mune sieht er seinen Freiwilligeneinsatz nicht. Die
würden ihren Job schon okay machen, grummelt
er. Vielleicht ist es eher so, dass nur ein Bijou wie
Montreux, täglich von 75 Gemeindemitarbeitern
herausgeputzt und mit jährlich 300 000 neu ge-
setzten Pflanzen und Blumen verschönert, einen
Menschen wie Roger Erismann hervorbringen
kann. Schönheit verpflichtet eben.
Unterdessen in Montreux VD
Dreck an der Riviera
BE
FR
VD
F
VS
Montreux
In «Amy – The Girl Behind
the Name» gibt es gegen Ende
eine Szene, als Amy Wine-
house, wie ein Zootier auf
der Bühne stehend, das
Publikum anstarrt, stumm,
halb amüsiert. «Sing, oder
ich will mein Geld zurück»,
schreit einer hoch, sie bleibt
stumm. Der Tanzbär, der
nicht mehr tanzt. Wir alle haben diese Szene
schon einmal erlebt, damals, als sie in der Presse
und im Fernsehen breitgetreten wurde. Wir
haben uns für Amy geschämt, haben den Kopf
geschüttelt und sie peinlich gefunden mit ihren
Steckenbeinchen.
Im Film ist sie wieder da, die Sängerin mit
der göttlichen Stimme, als wäre sie nie aus dem
Leben und aus den Boulevardspalten verschwun-
den. Die Meinungen über den Film gehen selbst-
redend auseinander, es wird hier gelobt, dort
bemängelt. Ist das nicht zu viel an Voyeurismus?
Wieso kommen die Männer, die sie verdarben, zu
gut weg? Weshalb macht «Amy» aus einer starken
Musikerin eine schwache Frau? In dieser Kritik
kommt etwas zum Ausdruck, das zurzeit weit
verbreitet ist und den Anspruch entlarvt,
der ans Kino gerichtet wird: Filmen wird
zusehends die Rolle des sozialen Korrektivs,
des Geraderückers eines gesellschaftlichen
Missstandes zugeschrieben. Der künstlerische
Ausdruck soll einem politischen weichen,
als seien Appelle und Beschwörungen wichtiger
als Erzählungen.
Männer und Medien sind böse
Wir wollen mehr starke Frauen in der Gesell-
schaft, also dürfen Frauen von jetzt an nur noch
stark gezeigt werden. Wir wollen, dass alle Frauen
selbstbestimmt leben und entscheiden, also
dürfen die verhängnisvollen Abhängigkeiten
von Liebespartnern, denen viele Künstlerinnen
verfallen, nicht mehr im Zentrum eines Films
stehen. Und vor allem aber: Weil wir wünschten,
dass wir niemals zu jenen gehört hätten, die
Menschen auslachen, wenn sie krank werden,
darf ein Film keine zeigen, die krank sind. Wenn,
dann darf er dies nur mit der entsprechenden
Schuldzuweisung tun: Die Männer und die
Medien sind die Bösen.
Aber wir alle haben mitgelesen und -geschaut,
was wir zu gern vergessen würden. Und wir alle
haben über Jay Lenos Witze über die bulimische
Drogenabhängige gelacht. Das kommt im Film
vor, und das würden wir gern verdrängen.
Ebenso wie die Tatsache, dass teilweise dieselben
Namen, die noch vor einigen Jahren genüsslich
das Verhalten der Zerfallenden beschrieben,
jetzt den Film verteufeln.
Wir hätten diesen Film viel besser gemacht,
wenn man uns gefragt hätte. Man hat uns nicht
gefragt, weshalb wir uns das bessere Ich nun als
Zuschauer erschaffen müssen. Eines, das Amy
damals, als sie wieder sturzbetrunken aus einem
Auto schwankte, um an irgendwessen Seite in
irgendeiner Tür zu verschwinden, in den Arm
nahm. Das bessere Ich, das an ihren Konzerten
«Abbrechen!» rief, um die Getriebene vor dem
Auge des Mobs zu schützen, und nicht mit der
Handykamera draufhielt. Und schliesslich das
bessere Ich, das stets die Musikerin und deren
Werk wahrnahm und nicht die öffentlich gelebte
Attitüde von einer, die mit dem Leben nicht
klarkam.
Der Film soll uns nun, nach ihrem Tod, das
Gefühl vermitteln, dass unser Tun kein zerstöre-
risches war, dass Amy wiederauferstanden ist,
stärker als je zuvor. Er soll die spirituelle Erlösung
bringen. Nicht Amy Winehouse, sondern uns soll
er erlösen. Von der Scham des Mitwissers. Dass er
es nicht tut, spricht für ihn.
Bonbons & Granaten Von Güzin Kar
Miss Winehouse und wir alle
Wer sich zu dichten erkühnt und die Sprache
verschmäht und den Rhythmus,
Gliche dem Plastiker, der Bilder gehaun in die Luft!
Nicht der Gedanke genügt; die Gedanken
gehören der Menschheit,
Die sie zerstreut und benutzt; aber die Sprache
dem Volk:
Der wird währen am längsten von allen
germanischen Dichtern,
Der des germanischen Worts Weisen
am besten verstand.
August von Platen-Hallermünde (1748–1831)
Das Gedicht
Sprache
Guido Kalberer
Auch das ist Ironie des Schicksals: Am 7. Januar
2015, als Stéphane Charbonnier von islamistischen
Terroristen in Paris getötet wurde, erschien in der
aktuellen Ausgabe der Zeitschrift «Charlie Hebdo»
eine Karikatur mit der Überschrift «Noch keine At-
tentate in Frankreich». Die gezeichnete Antwort ei-
nes bewaffneten Islamisten lautete: «Warten Sie ab.
Man hat bis Ende Januar Zeit, seine Festtagsgrüsse
auszurichten.» Es war die letzte Zeichnung von
Charb, der das satirische Magazin seit 2009 als
Chefredaktor und Herausgeber geleitet hatte. Bei
dem Attentat starb ein Dutzend kritische Geister,
die mit spitzer Feder und scharfer Zunge das Zeit-
geschehen kommentiert hatten.
Heute erscheint das Vermächtnis von Charb, mit
bürgerlichem Namen Stéphane Charbonnier, unter
dem Titel «Brief an die Heuchler. Und wie sie den
Rassisten in die Hände spielen». Besser als die deut-
sche Überschrift bringt der Originaltitel «Lettre aux
escrocs de l’islamophobie qui font le jeu des racis-
tes» zum Ausdruck, worum es dem Satiriker geht.
Der überzeugte Atheist und Laizist plädiert in dem
zwei Tage vor seinem gewaltsamen Tod fertig ge-
stellten Text dafür, die Anschläge der Islamisten
nicht primär als religiöse, sondern als rassistische
Taten zu verstehen. Nur so könne es gelingen, das
Übel an der Wurzel zu packen. Wer sich zu sehr um
die religiöse Motivation der Täter kümmere, spiele
das Spiel der Terroristen mit, die mit dem Islam we-
nig gemein haben. «In erster Linie sind sie Rassis-
ten.» Auch hinter der sogenannten Islamfeindlich-
keit stecke letztlich Rassismus.
Schlecht geschriebene Romane
Die vollständige Entkoppelung der politischen Rea-
lität von jeder Religiosität ist das zentrale Anliegen
von Charb. «Man muss wirklich naiv sein, um die
Gründungstexte aller grossen Religionen wörtlich
zu nehmen. Ein ganz besonderer Psychopath ist,
wer ihre Anweisungen umsetzen will. Das Problem
sind weder Koran noch Bibel – beide Bücher sind
einschläfernde, unzusammenhängende und
schlecht geschriebene Romane –, sondern der
Gläubige, der Koran und Bibel wie eine Montagean-
leitung für ein Ikea-Regal liest.» Stéphane Char-
bonnier, ganz im Sinne der grossen französischen
Aufklärer argumentierend, sieht das Problem bei
der Rezeption, nicht bei der Produktion von sakra-
lem Wissen: «Es sei daran erinnert, dass es ohne
Gläubige keine Religion gibt.»
Der Satiriker empfiehlt allen sozialen Randgrup-
pen, sich mit einem religiösen Nimbus zu versehen
– damit sie die Öffentlichkeit, die auf die Wieder-
kehr der Religionen sensibilisiert ist, zur Kenntnis
nimmt. «Opfer des Rassismus, die von Roma ab-
stammen oder aus Indien, Asien, Schwarzafrika,
den Antillen usw. kommen, wären gut beraten, sich
zu ihrem Schutz nach einer Religion umzusehen.»
Da soziale Diskriminierung weniger auffällig sei als
religiöse, werde weniger über sie gesprochen. Die
Abwertung und Ausgrenzung von Menschen auf-
grund ihrer sozialen Herkunft ist in Charbs Augen
auch eine wesentliche Ursache für den sich religiös
gebenden Terrorismus in den westlichen Ländern.
Mit seinen Zeichnungen kämpfte Stéphane Char-
bonnier für eine bessere, tolerantere Welt, und das
ohne Rücksicht auf irgendwelche Empfindlichkei-
ten seitens der Gläubigen. «Man verlangt von uns,
den Islam zu respektieren, aber Respekt vor dem
Islam ist es nicht, wenn man Angst vor ihm hat.»
Mühe bereitete Charb die (wenig überraschende)
Tatsache, dass betroffene Leser die in einer Karika-
tur abgebildeten Einzelfälle verallgemeinerten:
«Die Zeichnung eines Jihadisten und seiner Taten
bedeutet schon, eine Milliarde Gläubige in den
Schmutz zu ziehen.» An solchen Stellen werden die
Schwächen seines rigiden Rationalismus offenbar:
Die Gefühlslagen werden nicht mitbedacht.
Schlagartig bekannt
Mit dem 2006 erfolgten Nachdruck der Moham-
med-Karikaturen, die in der rechtskonservativen
dänischen Zeitung «Jyllands-Posten» erschienen
waren, wurde das Nischenprodukt «Charlie Hebdo»
weitherum bekannt, und die Verbreitung auf den
elektronischen Kanälen führte zusätzlich zu einer
unerwarteten emotionalen Dynamik. Nach zahlrei-
chen Todesdrohungen und einem Brandanschlag
auf die Redaktionsräume im November 2011 wurde
die Polizei eingeschaltet. «Ich bin seit einem Jahr
unter Polizeischutz gestellt. Es ist schwer, im Alltag
unter ständiger Überwachung zu stehen. Aber ich
habe keine Angst vor Repressalien. Ich habe keine
Kinder, keine Frau, kein Auto, keinen Kredit. Es
hört sich gewiss ein wenig schwülstig an, aber
ich bevorzuge, stehend zu sterben, anstatt auf
Knien zu leben.» Mit diesen Worten hat Stéphane
Charbonnier in einem Gespräch mit der marokka-
nischen Zeitschrift «Tel Quel» 2012 seine Position
umrissen. Er sei «Atheist, nicht islamophob».
In dem «Brief an die Heuchler» geht Charbs
Kritik an jeglicher Religiosität so weit, dass sie fast
die verfassungsmässig garantierte Religionsfreiheit
ritzt. Als Reaktion auf die wiederholten Versuche,
ihn an der Blasphemie zu hindern (Gott bezeichnet
er als «euer höchstes Kuschelobjekt»), ist dies zwar
verständlich, sie lässt aber ausser Acht, dass die
Weltreligionen unterschiedliche historische Wege
eingeschlagen haben. Das säkulare Stahlbad der eu-
ropäischen Aufklärung, welches das Christentum
modernetauglich machte, blieb dem Islam bisher
erspart. Wer über diese Differenzen hinwegsieht,
bekommt die komplexe Welt nicht in den Blick.
Nun, ein Künstler wie Charb muss nicht alles zu-
sammendenken wie ein Religionshistoriker. Er soll
vielmehr mit seiner Feder die Konflikte zuspitzen.
Und das machte Charbonnier, indem er mit über-
legener Volte den Raum für seine unerbittliche Sa-
tire freischlug: «Wer nicht gläubig ist, kann trotz al-
ler Anstrengung Gott nicht lästern. Gott ist nur für
den Gläubigen heilig, und eine Beleidigung oder
Schmähung Gottes setzt die Überzeugung voraus,
dass Gott existiert.» In diesem intellektuellen Streit
zeigt sich Stéphane Charbonnier als ein radikaler
Aufklärer, der weder bereit noch willens ist, Kon-
zessionen einzugehen. Im Gegenteil, in der selbst-
auferlegten Zurückhaltung sieht er einen weiteren
Ausdruck von Islamophobie: «Der Hinweis, man
könne über alles lachen, ausser über einige Aspekte
des Islam, weil die Muslime viel empfindlicher rea-
gieren als die übrige Bevölkerung, ist doch nichts
anderes als eine Diskriminierung.»
Ohne Gläubige keineReligion
Kurz vor seiner Ermordung hat Stéphane Charbonnier, der Chefredaktor der Satirezeitung «Charlie
Hebdo», einen «Brief an die Heuchler» verfasst. Heute erscheint sein Vermächtnis auf Deutsch.
Stéphane Charbonnier bevorzugte, «stehend zu sterben, anstatt auf Knien zu leben». Foto: Fred Dufour (AFP)
Brief an die Heuchler
Und wie sie den Rassisten
in die Hände spielen.
Von Stéphane «Charb» Charbonnier
Aus dem Französischen
von Werner Damson.
Tropen-Verlag, Stuttgart 2015,
90 Seiten, ca. 17 Fr.

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  • 1. 36 Wochenende Tages-Anzeiger – Samstag, 25. Juli 2015 Mon Amour! Die Liebe dieses Mannes zu seinem mondänen Wohnort Montreux geht weit. Er sammelt eigenhändig den Müll am Seeufer ein. Yann Cherix Montreux Roger Erismann ist ein Mann, der sich die Hände dreckig macht. Zusammen mit seiner Frau Shay hat er begonnen, am öffentlichen Strand von Montreux sauber zu machen. Einfach so. Weil ihn die kleinen Plastikteilchen zwischen den Steinen genervt ha- ben. Die PET-Flaschen im Wasser. Die Wattestäb- chen im Sand. Die Zigarettenstummel. Von Letzte- ren hat er gestern 435 eingesammelt. Rekord! Nach- zulesen ist das auf seiner Homepage, wo alles fein säuberlich dokumentiert ist. Dank Roger Eris- manns Akribie wissen nun alle, dass am 13. Juni vier Picknickteller, drei kaputte Plastikspielzeuge und zwei blütenweisse Tampons den vielleicht wei- ten Weg in die malerische Bucht am oberen Genfer- see gefunden haben. Der private Müllsammler – gebürtiger US-Ameri- kaner, einst UNO-Mitarbeiter, heute laut eigenen Angaben Vollzeit im Dienst des Wassers – kämpft noch alleine gegen die Wellen aus Abfall, die seinen an sich properen Wohnort täglich erreichen. Uner- kannt ist das Problem jedoch nicht. Die EPFL in Lausanne hat jüngst eine Studie über die Plastik- verschmutzung der Schweizer Gewässer veröffent- licht. Die Hochschule kommt zum Schluss, dass alle Gewässer stark betroffen sind. Täglich sollen zehn Kilogramm Micromaterial den Genfersee runter- wandern und bei Genf in die Rhône gelangen. Unschlüssig und schuldig Drei junge Frauen holen sich am Steinstrand von Montreux die letzte Bräune für die abendliche Party. Träge ruhen sie da auf ihren Holzliegen, während Roger Erismann vor ihnen herumwuselt. Clash der Kulturen am Strand von Montreux. Aber die Aktion des Mannes mit dem Wuschelkopf stösst beim Trio auf ein gewisses Verständnis. Denn: «Abfall ist la merde.» Und wenn einer etwas dagegen tue, sei das doch gut. Ihre Blicke verraten aber, dass das vielleicht nicht gerade jetzt sein müsse. Man beisst ja auch nicht gerne in einen Burger, wenn gerade ein herziges Kälbchen vor- beispaziert. So hält die Jüngste der Sonnenge- bräunten schon die ganze Zeit verkrampft ihren toten Zigarettenstummel in der Hand. Wohin jetzt bloss damit? Sie sieht etwas unschlüssig aus – und schuldig. Das ist genau das Ziel von Roger Erismann. Mit seiner Aktion Plagespropres will er das Bewusst- sein für den stets grösser werdenden Müllberg schärfen. Als Protest gegen die Arbeit der Com- mune sieht er seinen Freiwilligeneinsatz nicht. Die würden ihren Job schon okay machen, grummelt er. Vielleicht ist es eher so, dass nur ein Bijou wie Montreux, täglich von 75 Gemeindemitarbeitern herausgeputzt und mit jährlich 300 000 neu ge- setzten Pflanzen und Blumen verschönert, einen Menschen wie Roger Erismann hervorbringen kann. Schönheit verpflichtet eben. Unterdessen in Montreux VD Dreck an der Riviera BE FR VD F VS Montreux In «Amy – The Girl Behind the Name» gibt es gegen Ende eine Szene, als Amy Wine- house, wie ein Zootier auf der Bühne stehend, das Publikum anstarrt, stumm, halb amüsiert. «Sing, oder ich will mein Geld zurück», schreit einer hoch, sie bleibt stumm. Der Tanzbär, der nicht mehr tanzt. Wir alle haben diese Szene schon einmal erlebt, damals, als sie in der Presse und im Fernsehen breitgetreten wurde. Wir haben uns für Amy geschämt, haben den Kopf geschüttelt und sie peinlich gefunden mit ihren Steckenbeinchen. Im Film ist sie wieder da, die Sängerin mit der göttlichen Stimme, als wäre sie nie aus dem Leben und aus den Boulevardspalten verschwun- den. Die Meinungen über den Film gehen selbst- redend auseinander, es wird hier gelobt, dort bemängelt. Ist das nicht zu viel an Voyeurismus? Wieso kommen die Männer, die sie verdarben, zu gut weg? Weshalb macht «Amy» aus einer starken Musikerin eine schwache Frau? In dieser Kritik kommt etwas zum Ausdruck, das zurzeit weit verbreitet ist und den Anspruch entlarvt, der ans Kino gerichtet wird: Filmen wird zusehends die Rolle des sozialen Korrektivs, des Geraderückers eines gesellschaftlichen Missstandes zugeschrieben. Der künstlerische Ausdruck soll einem politischen weichen, als seien Appelle und Beschwörungen wichtiger als Erzählungen. Männer und Medien sind böse Wir wollen mehr starke Frauen in der Gesell- schaft, also dürfen Frauen von jetzt an nur noch stark gezeigt werden. Wir wollen, dass alle Frauen selbstbestimmt leben und entscheiden, also dürfen die verhängnisvollen Abhängigkeiten von Liebespartnern, denen viele Künstlerinnen verfallen, nicht mehr im Zentrum eines Films stehen. Und vor allem aber: Weil wir wünschten, dass wir niemals zu jenen gehört hätten, die Menschen auslachen, wenn sie krank werden, darf ein Film keine zeigen, die krank sind. Wenn, dann darf er dies nur mit der entsprechenden Schuldzuweisung tun: Die Männer und die Medien sind die Bösen. Aber wir alle haben mitgelesen und -geschaut, was wir zu gern vergessen würden. Und wir alle haben über Jay Lenos Witze über die bulimische Drogenabhängige gelacht. Das kommt im Film vor, und das würden wir gern verdrängen. Ebenso wie die Tatsache, dass teilweise dieselben Namen, die noch vor einigen Jahren genüsslich das Verhalten der Zerfallenden beschrieben, jetzt den Film verteufeln. Wir hätten diesen Film viel besser gemacht, wenn man uns gefragt hätte. Man hat uns nicht gefragt, weshalb wir uns das bessere Ich nun als Zuschauer erschaffen müssen. Eines, das Amy damals, als sie wieder sturzbetrunken aus einem Auto schwankte, um an irgendwessen Seite in irgendeiner Tür zu verschwinden, in den Arm nahm. Das bessere Ich, das an ihren Konzerten «Abbrechen!» rief, um die Getriebene vor dem Auge des Mobs zu schützen, und nicht mit der Handykamera draufhielt. Und schliesslich das bessere Ich, das stets die Musikerin und deren Werk wahrnahm und nicht die öffentlich gelebte Attitüde von einer, die mit dem Leben nicht klarkam. Der Film soll uns nun, nach ihrem Tod, das Gefühl vermitteln, dass unser Tun kein zerstöre- risches war, dass Amy wiederauferstanden ist, stärker als je zuvor. Er soll die spirituelle Erlösung bringen. Nicht Amy Winehouse, sondern uns soll er erlösen. Von der Scham des Mitwissers. Dass er es nicht tut, spricht für ihn. Bonbons & Granaten Von Güzin Kar Miss Winehouse und wir alle Wer sich zu dichten erkühnt und die Sprache verschmäht und den Rhythmus, Gliche dem Plastiker, der Bilder gehaun in die Luft! Nicht der Gedanke genügt; die Gedanken gehören der Menschheit, Die sie zerstreut und benutzt; aber die Sprache dem Volk: Der wird währen am längsten von allen germanischen Dichtern, Der des germanischen Worts Weisen am besten verstand. August von Platen-Hallermünde (1748–1831) Das Gedicht Sprache Guido Kalberer Auch das ist Ironie des Schicksals: Am 7. Januar 2015, als Stéphane Charbonnier von islamistischen Terroristen in Paris getötet wurde, erschien in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift «Charlie Hebdo» eine Karikatur mit der Überschrift «Noch keine At- tentate in Frankreich». Die gezeichnete Antwort ei- nes bewaffneten Islamisten lautete: «Warten Sie ab. Man hat bis Ende Januar Zeit, seine Festtagsgrüsse auszurichten.» Es war die letzte Zeichnung von Charb, der das satirische Magazin seit 2009 als Chefredaktor und Herausgeber geleitet hatte. Bei dem Attentat starb ein Dutzend kritische Geister, die mit spitzer Feder und scharfer Zunge das Zeit- geschehen kommentiert hatten. Heute erscheint das Vermächtnis von Charb, mit bürgerlichem Namen Stéphane Charbonnier, unter dem Titel «Brief an die Heuchler. Und wie sie den Rassisten in die Hände spielen». Besser als die deut- sche Überschrift bringt der Originaltitel «Lettre aux escrocs de l’islamophobie qui font le jeu des racis- tes» zum Ausdruck, worum es dem Satiriker geht. Der überzeugte Atheist und Laizist plädiert in dem zwei Tage vor seinem gewaltsamen Tod fertig ge- stellten Text dafür, die Anschläge der Islamisten nicht primär als religiöse, sondern als rassistische Taten zu verstehen. Nur so könne es gelingen, das Übel an der Wurzel zu packen. Wer sich zu sehr um die religiöse Motivation der Täter kümmere, spiele das Spiel der Terroristen mit, die mit dem Islam we- nig gemein haben. «In erster Linie sind sie Rassis- ten.» Auch hinter der sogenannten Islamfeindlich- keit stecke letztlich Rassismus. Schlecht geschriebene Romane Die vollständige Entkoppelung der politischen Rea- lität von jeder Religiosität ist das zentrale Anliegen von Charb. «Man muss wirklich naiv sein, um die Gründungstexte aller grossen Religionen wörtlich zu nehmen. Ein ganz besonderer Psychopath ist, wer ihre Anweisungen umsetzen will. Das Problem sind weder Koran noch Bibel – beide Bücher sind einschläfernde, unzusammenhängende und schlecht geschriebene Romane –, sondern der Gläubige, der Koran und Bibel wie eine Montagean- leitung für ein Ikea-Regal liest.» Stéphane Char- bonnier, ganz im Sinne der grossen französischen Aufklärer argumentierend, sieht das Problem bei der Rezeption, nicht bei der Produktion von sakra- lem Wissen: «Es sei daran erinnert, dass es ohne Gläubige keine Religion gibt.» Der Satiriker empfiehlt allen sozialen Randgrup- pen, sich mit einem religiösen Nimbus zu versehen – damit sie die Öffentlichkeit, die auf die Wieder- kehr der Religionen sensibilisiert ist, zur Kenntnis nimmt. «Opfer des Rassismus, die von Roma ab- stammen oder aus Indien, Asien, Schwarzafrika, den Antillen usw. kommen, wären gut beraten, sich zu ihrem Schutz nach einer Religion umzusehen.» Da soziale Diskriminierung weniger auffällig sei als religiöse, werde weniger über sie gesprochen. Die Abwertung und Ausgrenzung von Menschen auf- grund ihrer sozialen Herkunft ist in Charbs Augen auch eine wesentliche Ursache für den sich religiös gebenden Terrorismus in den westlichen Ländern. Mit seinen Zeichnungen kämpfte Stéphane Char- bonnier für eine bessere, tolerantere Welt, und das ohne Rücksicht auf irgendwelche Empfindlichkei- ten seitens der Gläubigen. «Man verlangt von uns, den Islam zu respektieren, aber Respekt vor dem Islam ist es nicht, wenn man Angst vor ihm hat.» Mühe bereitete Charb die (wenig überraschende) Tatsache, dass betroffene Leser die in einer Karika- tur abgebildeten Einzelfälle verallgemeinerten: «Die Zeichnung eines Jihadisten und seiner Taten bedeutet schon, eine Milliarde Gläubige in den Schmutz zu ziehen.» An solchen Stellen werden die Schwächen seines rigiden Rationalismus offenbar: Die Gefühlslagen werden nicht mitbedacht. Schlagartig bekannt Mit dem 2006 erfolgten Nachdruck der Moham- med-Karikaturen, die in der rechtskonservativen dänischen Zeitung «Jyllands-Posten» erschienen waren, wurde das Nischenprodukt «Charlie Hebdo» weitherum bekannt, und die Verbreitung auf den elektronischen Kanälen führte zusätzlich zu einer unerwarteten emotionalen Dynamik. Nach zahlrei- chen Todesdrohungen und einem Brandanschlag auf die Redaktionsräume im November 2011 wurde die Polizei eingeschaltet. «Ich bin seit einem Jahr unter Polizeischutz gestellt. Es ist schwer, im Alltag unter ständiger Überwachung zu stehen. Aber ich habe keine Angst vor Repressalien. Ich habe keine Kinder, keine Frau, kein Auto, keinen Kredit. Es hört sich gewiss ein wenig schwülstig an, aber ich bevorzuge, stehend zu sterben, anstatt auf Knien zu leben.» Mit diesen Worten hat Stéphane Charbonnier in einem Gespräch mit der marokka- nischen Zeitschrift «Tel Quel» 2012 seine Position umrissen. Er sei «Atheist, nicht islamophob». In dem «Brief an die Heuchler» geht Charbs Kritik an jeglicher Religiosität so weit, dass sie fast die verfassungsmässig garantierte Religionsfreiheit ritzt. Als Reaktion auf die wiederholten Versuche, ihn an der Blasphemie zu hindern (Gott bezeichnet er als «euer höchstes Kuschelobjekt»), ist dies zwar verständlich, sie lässt aber ausser Acht, dass die Weltreligionen unterschiedliche historische Wege eingeschlagen haben. Das säkulare Stahlbad der eu- ropäischen Aufklärung, welches das Christentum modernetauglich machte, blieb dem Islam bisher erspart. Wer über diese Differenzen hinwegsieht, bekommt die komplexe Welt nicht in den Blick. Nun, ein Künstler wie Charb muss nicht alles zu- sammendenken wie ein Religionshistoriker. Er soll vielmehr mit seiner Feder die Konflikte zuspitzen. Und das machte Charbonnier, indem er mit über- legener Volte den Raum für seine unerbittliche Sa- tire freischlug: «Wer nicht gläubig ist, kann trotz al- ler Anstrengung Gott nicht lästern. 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