1. E4542
3 – 2008
Gedenkstätten
Lernorte zum nationalsozialistischen Terror
2. Zeitschrift für die Praxis der politischen Bildung
HEFT 3 – 2008, 3. QUARTAL, 34. JAHRGANG
Inhalt
»Politik & Unterricht« wird von der Landeszentrale Editorial 1
für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB)
herausgegeben. Geleitwort des Ministeriums
HERAUSGEBER für Kultus, Jugend und Sport 2
Lothar Frick, Direktor Autorinnen dieses Heftes 2
CHEFREDAKTEUR
Dr. Reinhold Weber
reinhold.weber@lpb.bwl.de
Unterrichtsvorschläge 3–19
REDAKTIONSASSISTENZ
Sylvia Rösch, sylvia.roesch@lpb.bwl.de Einleitung 3
Katharina Rapp, M. A., Offenburg Baustein A: Die frühen Konzentrationslager:
ANSCHRIFT DER REDAKTION Machtausbau durch Terror 9
Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart
Telefon: 0711/164099-45; Fax: 0711/164099-77
Baustein B: NS-Rassenideologie: Ausgrenzung,
REDAKTION
Gewalt und Mord 12
Simone Bub-Kalb, Studiendirektorin, Baustein C: Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler:
Staatl. Seminar für Didaktik und Lehrerbildung
Vernichtung durch Arbeit 17
(Gymnasien), Stuttgart
Judith Ernst-Schmidt, Oberstudienrätin, Literaturhinweise 19
Werner-Siemens-Schule (Gewerbliche Schule
für Elektrotechnik), Stuttgart
Ulrich Manz, Rektor der Schillerschule (Grund-
und Hauptschule mit Werkrealschule), Esslingen Texte und Materialien 21–55
Dipl.-Päd. Holger Meeh, Akademischer Rat,
Pädagogische Hochschule Heidelberg
Baustein A: Die frühen Konzentrationslager:
Horst Neumann, Ministerialrat, Machtausbau durch Terror 22
Umweltministerium Baden-Württemberg, Stuttgart
Angelika Schober-Penz, Studienrätin,
Baustein B: NS-Rassenideologie: Ausgrenzung,
Erich-Bracher-Schule (Kaufmännische Schule), Gewalt und Mord 32
Kornwestheim
Baustein C: Das Außenlagersystem des KZ Natzweiler:
GESTALTUNG TITEL Vernichtung durch Arbeit 46
Bertron.Schwarz.Frey, Gruppe für Gestaltung, Ulm
www.bertron-schwarz.de
GESTALTUNG INNENTEIL
Medienstudio Christoph Lang, Rottenburg a. N., Lehrerteil: Dr. Anette Hettinger
www.8421medien.de
Bausteine
VERLAG
A und B: Dr. Anette Hettinger
Neckar-Verlag GmbH, Klosterring 1,
78050 Villingen-Schwenningen Baustein C: Dr. Anette Hettinger und Angelika Stephan
Anzeigen: Neckar-Verlag GmbH, Uwe Stockburger
Telefon: 07721/8987-71; Fax: -50
anzeigen@neckar-verlag.de Das komplette Heft finden Sie zum Downloaden als PDF-Datei unter
Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2 vom 1.5.2005. www.politikundunterricht.de/3_08/gedenkstaetten.htm
DRUCK
PFITZER Druck und Medien e. K., Benzstraße 39,
71272 Renningen
Politik & Unterricht wird auf umweltfreundlichem Papier aus FSC-zertifizierten Frischfasern
Politik & Unterricht erscheint vierteljährlich. und Recyclingfasern gedruckt. FSC (Forest Stewardship Council) ist ein weltweites Label
Preis dieser Nummer: 3,00 EUR zur Ausweisung von Produkten, die aus nachhaltiger und verantwortungsvoller Waldbewirt-
Jahresbezugspreis: 12,00 EUR schaftung stammen. Das Papier wird in Unternehmen hergestellt, die alle nach ISO 9001
Unregelmäßige Sonderhefte werden zusätzlich und ISO 14001 sowie EMAS zertifiziert sind.
mit je 3,00 EUR in Rechnung gestellt.
Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht
unbedingt die Meinung des Herausgebers und der
Redaktion wieder. Für unaufgefordert eingesendete
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Genehmigung der Redaktion.
Nachhaltigkeit – am Beispiel Energie
Titelfoto: Archiv Gedenkstätte Grafeneck
Auflage dieses Heftes: 20.000 Exemplare
Redaktionsschluss: 15. Juni 2008
ISSN 0344-3531
3. Editorial
»Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten Es ist ein Zufall und doch symptomatisch, dass dieses Heft zu
und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« den NS-Gedenkstätten im Land unmittelbar auf das Themen-
Wer die Geschichte des NS-Unrechtsregimes kennt, weiß, heft »Rechtsextremismus« folgt. Die Querverbindungen liegen
warum die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes diese auf der Hand. Den Lehrerinnen und Lehrern des Landes wird
so gewichtigen Sätze zum Artikel 1 unserer Verfassung ge- rasch ersichtlich sein, wo beide Hefte auch zur gegenseitigen
macht haben. Sie kannten das Leid von Ausgrenzung und Ergänzung einsetzbar sind. Und die Hefte zeigen, dass die
Verfolgung, teilweise sogar aus eigener Erfahrung. Arti- Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit ein ganz zentraler Auf-
kel 1 des Grundgesetzes hat an Bedeutung in keiner Weise trag der Landeszentrale für politische Bildung ist, dem sie mit
verloren. Vor allem aus der Geschichte Deutschlands mit besonderem Engagement nachkommt. Für die Unterstützung
seinen beiden Unrechtsregimen des 20. Jahrhunderts, dem bei dieser Ausgabe von Politik & Unterricht bedanken wir uns
NS-Terror und der SED-Diktatur, wissen wir, dass es gerade sehr herzlich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
die staatliche Gewalt war, die die Würde zahlloser Menschen Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg in Ulm, des Stadt-
unrechtmäßig »angetastet« hat. Und immer waren es die archivs Karlsruhe, des Freundeskreises Ehemalige Synagoge
totalitären Machthaber, die selbstherrlich definiert haben, Sulzburg e. V., des Kulturamts Sulzburg, der Gedenkstätte Gra-
welches Leben »würdig« und »lebenswert« sei. feneck, des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher
Sinti und Roma in Heidelberg, des Staatsarchivs Ludwigsburg
Allein deshalb ist es so wichtig, dass die Gedenkstätten die sowie der KZ-Gedenkstätte Neckarelz e. V.
Aufarbeitung der Geschehnisse leisten, die Erinnerung wach
halten und das Gedenken ermöglichen. Baden-Württemberg
verfügt über eine außerordentlich große Bandbreite an re-
gional verteilten Gedenkstätten, die alle Verfolgungs- und
Vernichtungskategorien des NS-Regimes thematisieren. Das
hebt die südwestdeutsche Gedenkstättenlandschaft von an-
deren Regionen Deutschlands ab und ermöglicht es auch
den Lehrkräften, die Gedenkstätten vor Ort zu nutzen und
mit vielerlei Bezügen zu unterschiedlichen Fächern in den
Unterricht einzubinden. Im vorliegenden Heft haben wir
deshalb exemplarisch Gedenkstätten ausgewählt, die die
Themen »Verfolgung und Ausschaltung politischer und welt-
anschaulicher Gegner« in der Phase des Machtausbaus des NS-
Regimes, »Rassenpolitik« sowie »Vernichtung durch Arbeit« Lothar Frick Dr. Reinhold Weber
im KZ-Außenlagersystem des Südwestens behandeln. Direktor der LpB Chefredakteur
Beim Betreten der Ausstellung in der
Ulmer KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg
werden die Besucher mit den Worten
empfangen: »Die Würde des Menschen
ist unantastbar.«
DZOK Ulm
Politik & Unterricht • 3-2008 1
4. Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport
Gedenkstätten zum nationalsozialistischen Unrechtsregime und Schüler von heute die gesellschaftlichen Vorausset-
sind besondere außerschulische Lernorte. Denn hier wird das zungen und Bedingungen des Systems mit den bis in die
Unbegreifliche, das kaum Nachvollziehbare am historischen, Gegenwart reichenden Folgewirkungen. Sie erkennen, dass
teilweise auch authentischen Ort »greifbar«. Hier werden die bitteren Erfahrungen den demokratischen Wiederbeginn
abstrakte Sachverhalte konkret und hier wird deutlich, dass und den Aufbau unseres Gemeinwesens geprägt haben. Das
das, was im Geschichtsbuch behandelt wird, nicht fernab unbedingte Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschen-
im Osten Europas oder in Berlin stattgefunden hat, sondern würde, die in Artikel 1 unseres Grundgesetzes festgeschrie-
in der Mitte der Gesellschaft und ganz unmittelbar vor der bene Achtung vor dem menschlichen Leben, war und ist eine
eigenen Haustür. grundlegende Antwort auf das Unrechtsregime der National-
sozialisten. Diese Erinnerung fordert von uns, sich immer
Weshalb ist Erinnern im Sinne von reflektierter Erfahrung wieder dafür einzusetzen, dass die Menschenwürde nicht
so wichtig? Und: Welchen Beitrag kann und soll die Schule nur für unantastbar erklärt, sondern auch nicht angetastet
zum Thema Erinnerung leisten? Hier ist die Lehrkraft gefor- wird.
dert, durch Begegnungen bewusstes Erleben zu schaffen,
um gemeinsames Nachdenken und kritisches Reflektieren zu Im vorliegenden Themenheft von Politik & Unterricht werden
ermöglichen. Den Jugendlichen soll Zeit und Raum gegeben den Lehrerinnen und Lehrern des Landes Vorschläge zur
werden, um durch eigenes Tun intensive Lernerfahrungen zu didaktisch-methodischen Nutzung von Gedenkstätten ge-
machen. Dieser Ansatz wird immer wichtiger, je weiter wir geben. Die Landeszentrale für politische Bildung Baden-
uns zeitlich von den Verbrechen des NS-Regimes entfernen Württemberg, der ein besonderer Auftrag für die Gedenkstät-
und je weniger es für Schülerinnen und Schüler möglich tenarbeit im Land zukommt, unterstützt damit die didakti-
sein wird, von Zeitzeugen zu hören und diese befragen zu sche Arbeit der Gedenkstätten. Wir begrüßen sehr, dass mit
können. dieser pädagogischen Arbeitshilfe ein weiterer Beitrag zum
bewussten Umgang mit der Geschichte, zum Eintreten für die
Hier liegt der Anknüpfungspunkt zu den Gedenkstätten. freiheitlich demokratische Ordnung und gegen Rassismus,
Orte und Häuser erhalten ihre alten Gesichter; sie erzählen politischen Extremismus und Gewalt geleistet wird.
Geschichten, indem sie die ganze Lebenswirklichkeit im
Nationalsozialismus veranschaulichen, in der es Täter, Mit- Gernot Tauchmann
läufer und Zuschauer, aber auch Helfer und Retter gab. Der Ministerium für Kultus, Jugend und Sport
Lebensort wird zum Lernort, der biographische Ansatz und Baden-Württemberg
die Spurensuche führen zur Entwicklung von Empathie und
zur analysierenden Auseinandersetzung. Durch die exemp-
larische Beschäftigung mit sämtlichen Entwicklungsphasen
des nationalsozialistischen Terrors und dessen zahlenmäßig
bedeutendsten Opfergruppen erkennen die Schülerinnen
AUTORINNEN DIESES HEFTES
Dr. Anette Hettinger ist Akademische Oberrätin im Fach
Geschichte und ihrer Didaktik an der Pädagogischen Hoch-
schule Heidelberg. Im Jahr 2006 hat sie den Landeslehrpreis
Baden-Württemberg für ein fächerübergreifendes Projekt zur
Neuinszenierung der 1941 im Ghetto Theresienstadt aufge-
führten Kinderoper Brundibár bekommen.
Angelika Stephan hat an der PH Heidelberg studiert und ist
derzeit im Referendariat an der Realschule Osterburken.
2 Politik & Unterricht • 3-2008
5. Gedenkstätten
Lernorte zum nationalsozialistischen Terror
●●● EINLEITUNG ren Gedenkstätten, die das Besondere der hiesigen Gedenk-
stättentopographie ausmacht. Die Gedenkstätten im Land
dokumentieren dennoch alle Verfolgungs- und Vernichtungs-
komplexe des NS-Terrors:
◗ die ehemaligen frühen Konzentrationslager – oft ver-
harmlosend »Schutzhaftlager« genannt –, die an die erste
Baden-Württemberg zeichnet sich durch eine dichte und Phase der nationalsozialistischen Machtdurchdringung und
regional ausgerichtete Gedenkstättenlandschaft aus. Hier- »Gleichschaltung« der deutschen Gesellschaft unmittelbar
zulande gibt es keines der großen Konzentrationslager wie nach der »Machtergreifung« im Januar 1933 erinnern;
Dachau oder Buchenwald. Hier gibt es auch keines der Ver- ◗ ehemalige Synagogen, jüdische Einrichtungen und Orte
nichtungslager wie Auschwitz-Birkenau oder Treblinka, die der Deportation, die auf das reiche kulturelle Leben jüdi-
weltweit synonym für das Morden der Nationalsozialisten scher Mitbürger im Südwesten und auf dessen Auslöschung
stehen. Vielmehr ist es die Dezentralität der vielen kleine- durch den NS-Terror hinweisen;
Die Dichte der Gedenkstätten im
Land erlaubt es, Auskünfte darüber zu
geben, was in der Zeit des national-
sozialistischen Terrorregimes im Land –
buchstäblich vor der eigenen Haus-
türe – geschehen ist. Die meisten der
Gedenkstätten sind Orte der Erinnerung
an die Opfer der nationalsozialisti-
schen Verfolgungs- und Vernichtungs-
politik. Andere Orte erinnern an den
Widerstand gegen das NS-Regime sowie
an die demokratischen Traditionen und
Freiheitsbewegungen in Deutschland.
Lucia Winckler, 2008
Politik & Unterricht • 3-2008 3
6. Einleitung
◗ Gedenkstätten, die im Zusammenhang mit »Euthanasie« pläne des Landes Baden-Württemberg zwar die Beschäfti-
und Medizin stehen; gung mit außerschulischen Lernorten, nicht aber explizit
◗ Gedenkstätten, die an die rassische Verfolgung von Sinti die Nutzung von Gedenkstätten empfehlen, so wird doch
und Roma erinnern; erfreulicherweise in großem Umfang und in allen Schularten
◗ Orte der ehemaligen kleinen Konzentrationslager der letz- von dem Angebot der Gedenkstätten Gebrauch gemacht.
ten Kriegsjahre, in denen Häftlinge aus allen von Deutsch- Weil die Gedenkstätten gleichmäßig über das gesamte Land
land besetzten Gebieten Europas Zwangsarbeit verrichten verteilt sind, sind sie auch mit relativ geringem Aufwand in
mussten. Sie waren überwiegend in den Außenlagerkomplex die schulische Vermittlung der NS-Thematik einzubinden.
des Stammlagers Natzweiler im Elsass eingebunden und Teil
der NS-Ideologie »Vernichtung durch Arbeit«. Hierzu gehört Zur Konzeption dieses Heftes
auch die Erinnerung an die Todesmärsche bei der Auflösung Das vorliegende Themenheft wendet sich vorwiegend an
der Konzentrationslager angesichts der näherrückenden al- Geschichtslehrerinnen und -lehrer aller Schularten. Ein Teil
liierten Truppen; der Materialien wird sich besonders für die Behandlung des
◗ Gedenkstätten, die Kriegsgefangene und sogenannte Dis- Themas in der Sekundarstufe II eignen. Doch sind viele Ar-
placed Persons thematisieren; beitsmaterialien auch in der Sekundarstufe I einzusetzen.
◗ Gedenkstätten, die Aspekte des deutschen Widerstandes Darüber lassen sich einzelne Teile des Heftes zweifelsohne
behandeln; auch in anderen Fächern wie Gemeinschaftskunde/Politik,
◗ sowie Erinnerungsstätten, welche die Demokratiege- Religion, Ethik oder in den Fächerverbünden verwenden.
schichte Deutschlands (z. B. Rastatt) sowie Einzelpersonen
der Demokratiegeschichte wie Friedrich Ebert, Theodor Heuss Aus der Vielzahl der Gedenkstätten im Land wurden solche
oder Matthias Erzberger zum Gegenstand haben. herausgesucht und exemplarisch behandelt, welche die zent-
◗ Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe von Gedenk- ralen Verfolgungs- und Vernichtungskomplexe des national-
stätten im Ausland mit direktem Bezug zu Baden-Württem- sozialistischen Willkürregimes abdecken. Sie spiegeln die
berg, mit denen enge Kontakte und Kooperationen gepflegt vielfältigen Ausprägungen des NS-Terrors wider, welcher der
werden (z. B. Natzweiler, Gurs u. a.). Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung von politischen
und weltanschaulichen Gegnern, von Andersdenkenden
Die Gedenkstätten im Land erlauben es, Auskünfte darüber sowie angeblich rassisch Minderwertigen galt. Sie erinnern
zu geben, was in der Zeit des NS-Terrorregimes im Land – an die Ausschaltung der politischen Gegner und an die Ein-
buchstäblich vor der eigenen Haustür – geschehen ist. Die schüchterung der Bevölkerung in der Phase der »Machter-
meisten der Gedenkstätten sind dabei Orte der Erinnerung greifung«. Sie verweisen auf das Leben ehemaliger jüdischer
an die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Nachbarn und deren Gemeinden, auf die Verfolgung, Depor-
Vernichtungspolitik. Sie eröffnen spezifische pädagogische tation und Ermordung der jüdischen Mitbürger und somit auf
Angebote und bieten damit als außerschulische Lernorte ein verlorengegangenes, facettenreiches jüdisches Leben im
einen besonderen Bezug zum schulischen Geschichtsunter- deutschen Südwesten. Ebenso wird auch der Vernichtung
richt, aber mit vielfältigen Anknüpfungsmöglichkeiten an sogenannten »lebensunwerten Lebens« gedacht. Schließlich
gegenwärtige Probleme und Konflikte auch zum Politik- und erinnern die ausgewählten Gedenkstätten an die in den
Gemeinschaftskundeunterricht. Wenngleich die Bildungs- letzten Kriegsjahren entstandenen KZ-Außenlager und somit
Karteikarte aus einer 1934 durch-
geführten Reihenuntersuchung
»Rassenkundliche Landesaufnahme
in Württemberg« an der Universität
Tübingen.
Universitätsarchiv Tübingen (UAT 665/200)
4 Politik & Unterricht • 3-2008
7. Einleitung
an Zwangsarbeit und »Vernichtung durch Arbeit«. Dass dabei also vor allem Exemplarisches und weniger Allgemeines (wie
allein aus Platzgründen nicht alle Opfergruppen behandelt z. B. Quellen zur »Machtergreifung« oder zur Entrechtung
werden können, liegt auf der Hand. Dabei wird es im Un- der jüdischen Bevölkerung). Aus geschichtsdidaktischer
terricht eine Selbstverständlichkeit sein, auch auf andere Perspektive weisen Gedenkstätten besonders gute Voraus-
Opfer des NS-Terrors wie Homosexuelle und zahlreiche welt- setzungen für die Auseinandersetzung mit Geschichte auf.
anschaulich motivierte Gegner des Nationalsozialismus wie Das vorliegende Heft orientiert sich deshalb auch an den
beispielsweise die Zeugen Jehovas hinzuweisen. allgemeinen Erfordernissen einer Zusammenarbeit zwischen
Schulen und Gedenkstätten, die sich an nachfolgend vorge-
Das vorliegende Heft lässt sich in zweierlei Hinsicht im Un- stellten inhaltlichen wie didaktisch-methodischen Prinzi-
terricht oder in der Projektarbeit einsetzen. Zum einen dient pien ausrichten sollte.
es der konkreten Vorbereitung eines Gedenkstättenbesu-
ches. Dabei sind die hier ausgewählten Gedenkstätten zwar In der unmittelbaren Nachbarschaft: die Verortung
intensiver behandelt. Dennoch bieten sich die präsentierten des Geschehenen
Materialien auch größtenteils zur Übertragung auf andere Untersuchungen zeigen, dass Schülerinnen und Schüler
Gedenkstätten desselben NS-Verfolgungs- und Vernich- hohes Interesse am Lernen an außerschulischen Lernorten
tungskomplexes an. Zum andern ist das vorliegende Heft so haben, also an historischen Stätten und in Museen. Ihnen
konzipiert, dass es auch von Lehrern im Unterricht einzuset- schreiben sie hohe Motivationskraft, Vertrauenswürdigkeit,
zen ist, wenn kein Gedenkstättenbesuch geplant ist. Auch Zugänglichkeit und nicht zuletzt Verständlichkeit zu. In der
für die generelle Behandlung des Themas »Nationalsozialis- Tat fördert die Auseinandersetzung mit dem authentischen,
mus« im Schulunterricht bietet das Heft Arbeitsmaterialien, konkreten Ort sowie mit den historischen Relikten vor Ort
die sich nicht in den gängigen Schulbüchern wiederfinden, die historische Imagination. Denn hier spiegelt sich die
sondern die deren Angebot um konkrete Beispiele ergänzen. allgemeine historische Entwicklung: Terror und Vernichtung
Anders als ein Schulbuch liefert die vorliegende Ausgabe waren keine Angelegenheiten, die sich nur im fernen Berlin
BERATEN – VERNETZEN – UNTERSTÜTZEN – Die LpB arbeitet im Auftrag von Landtag und Landesregie-
FÖRDERN rung eng mit der Landesarbeitsgemeinschaft zusammen.
Der Fachbereich Gedenkstättenarbeit Die Aktiven, die Vereinigungen und Kommunen werden be-
der Landeszentrale für politische Bildung raten und unterstützt, Förderwege erschlossen und die tan-
gierten Instanzen, Vereinigungen und Institutionen ver-
In ihrer thematischen Breite und bürgerschaftlichen Ver- netzt – im Land, im Bund und international. Im Mittelpunkt
fasstheit ist die Gedenkstättenlandschaft Baden-Württem- der fachlichen Beratung wie der finanziellen Förderung
bergs singulär, so der Mannheimer Historiker Peter Stein- stehen die Sicherung des geschichtswissenschaftlichen
bach. Die Orte stehen für alle Verfolgungsbereiche der NS- Stands und der zeitgemäßen pädagogischen Arbeitsfähig-
Diktatur. Die meisten Gedenk- und Erinnerungsstätten in keit. Nicht zuletzt dienen Hefte wie dieses oder auch aus
Baden-Württemberg gehen auf örtliches bürgerschaftliches der Reihe MATERIALIEN der LpB dazu.
Engagement zurück. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida
Assmann wertet dies als »Demokratisierung durch Ehren- Gedenkstättenpädagogik ist immer auch historisch-politi-
amtlichkeit«. Gedenkstätten sind folglich vielgestaltig und sche Bildung, Demokratie- und Menschenrechtserziehung.
vielschichtig. Das bietet und erfordert jeweils unterschied- Sie trägt damit wesentlich zu den in der Landesverfassung
liche Zugänge. Vielfach ersetzen heute AV-Aufzeichnungen von 1953 niedergelegten Bildungszielen bei. Gedenk- und
die unmittelbare Begegnung mit den inzwischen verstor- Erinnerungsstätten gelten oftmals als Orte der »negativen
benen Zeugen. Die medienorientierte junge Generation Erinnerung«. Ein Überlebender des Lagers Bisingen schlug
kennt andererseits die wenigen, stets wiederholten doku- daher 2006 vor, der Ausstellung »Schwierigkeiten des Er-
mentarischen Filmausschnitte längst. Der reale historische innerns« nun den Titel »Mut zur Erinnerung – Mut zur
Schauplatz erhält daher durch seine Authentizität seine Verantwortung« zu geben. Er würdigte damit die Zivilcou-
besondere – und vor allem auch künftige – Bedeutung. rage und die Verdienste aller Beteiligten um den offenen,
ehrlichen und befreienden Umgang mit unserer schwie-
Im Jahr 1994 schlossen sich die in der Gedenkstätten- rigen Geschichte. Sie dabei zu unterstützen ist unsere
arbeit tätigen Gruppen zur »Landesarbeitsgemeinschaft vornehmlichste Aufgabe.
der Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen in Baden-
Württemberg« zusammen. Jedes Jahr besuchen fast Konrad Pflug leitet den Fachbereich Gedenkstättenarbeit
200.000 Menschen die Gedenkstätten im Land. Ziel der bei der LpB
Auseinandersetzung ist nicht nur das Geschichtsverständ-
nis, sondern auch der Transfer auf gegenwärtige gesell- E-Mail: konrad.pflug@lpb.bwl oder renate.baur@lpb.bwl
schaftliche Wirklichkeiten. Dieser Fokus wird heute in den Tel.: 0711/164099-31
Gedenkstätten europaweit gesetzt. www.gedenkstaetten-bw.de
Politik & Unterricht • 3-2008 5
8. Einleitung
oder in den von Hitler-Deutschland besetzten Gebieten ab- und in Handwerksbetrieben, bei kommunalen oder kirchli-
spielten. Allgemein lässt sich zudem der Umgang mit histo- chen Einrichtungen zur Arbeit gezwungen wurden, lebten
rischen Stätten üben, genauer: die Bindung von Geschichte wortwörtlich nebenan.
an den Raum. Denn kein Bauwerk wurde absichts- und funk-
tionslos an einer Stelle errichtet. Die Frage »Warum gerade Die meisten Gedenkstätten im Land erinnern an die Opfer
hier?« ist eine der Standardfragen historischer Erkundungen des Nationalsozialismus, an deren Leiden, an die Schika-
vor Ort. Die Auseinandersetzung mit ihr schärft die Fähig- nen, denen sie ausgesetzt waren, und an ihr Sterben. Doch
keit, räumliche Zusammenhänge wahrzunehmen. diese historischen Orte sind auch Orte der Täter und der
Zuschauer: Hier agierten gewöhnliche Männer und Frauen,
Ganz konkret: Die deutsche Gesellschaft die in abgestuftem Maß in den NS-Terror verwickelt waren.
und der Holocaust Sie kamen aus der Mitte der Gesellschaft und lebten in
Vor Ort wird die Einbettung von Verfolgung und Vernichtung ihrer Mitte. Oft findet man sie auch nach 1945 als »ganz
in das Alltagsleben der deutschen Gesellschaft im National- normale« Bürgerinnen und Bürger wieder. Ihre Handlungs-
sozialismus deutlicher: Der Terror fand buchstäblich am hell- spielräume und die Mechanismen des Mitmachens oder des
lichten Tag und vor aller Augen statt. Es waren die unmittel- Sich-Verweigerns lassen sich an ihrem konkreten Beispiel
baren Nachbarn, die politisch verfolgt und in »Schutzhaft« und in alltäglichen Situationen ausloten. Schülerinnen und
genommen wurden, deren Lebensumfeld zerstört wurde, Schülern wird damit zu einer differenzierten Sicht auf die
denen die materielle Lebensbasis entzogen wurde und die Durchsetzung einer Diktatur und auf die Lebensbedingungen
schließlich deportiert wurden. Es waren die eigenen Fami- in ihr verholfen.
lienangehörigen oder die der Nachbarn, die in Grafeneck
ermordet wurden, nur weil sie den Nationalsozialisten als Weil die wissenschaftlichen Recherchearbeiten vor Ort zu
»lebensunwert« galten. Auch die Zwangsarbeiterinnen und einem großen Teil auf den Erinnerungen Betroffener beru-
Zwangsarbeiter, die in Industrieanlagen schufteten, nach hen, bieten Gedenkstätten eine besondere Gelegenheit, den
Bombenangriffen Schutt räumten, die in der Landwirtschaft Opfern des Terrors Namen und Gesicht zu geben – und somit
Die thematisierten Gedenkstätten
und Gedenkorte in diesem Heft:
die frühen Konzentrationslager
Kislau bei Bruchsal, Welzheim,
Heuberg bei Stetten am kalten
Markt, Oberer Kuhberg in Ulm;
die ehemalige Synagoge Sulzburg,
Grafeneck bei Münsingen auf der
Schwäbischen Alb als Ort der
»Euthanasie«-Morde, Mulfingen
bei Schwäbisch Hall; schließlich
das KZ Neckarelz.
Lucia Winckler, 2008
6 Politik & Unterricht • 3-2008
9. Einleitung
Identität und Würde. Nicht zuletzt ist dies eine wesentliche Repräsentationen der Geschichtskultur wie dem genannten
Aufgabe und Bestimmung der Gedenkstätten. In den Ge- Mahnmal oder den Gedenkstätten angehalten werden. Dies
denkstätten wird aber auch den Tätern und den »Zuschau- ist angesichts der Bedeutung des Themas Nationalsozialis-
ern« Name und Gesicht gegeben. Dem persönlichen Handeln mus und Holocaust in der Gesellschaft besonders wichtig. Die
und Erleben dieser Menschen können sich Lernende leichter Auseinandersetzung vor Ort ist hierfür besonders geeignet,
annähern als abstrakt dargestellten Vorgängen, weil es kon- denn über die inhaltliche Beschäftigung mit den Fakten und
krete Schicksale »gewöhnlicher« Menschen sind. Im vor- mit dem Geschehenen vor Ort und seinen Weiterwirkungen
liegenden Heft finden sich deshalb zahlreiche Materialien, hinaus sind Gedenkstätten auch Lernorte für Medien- und
die einzelne Menschen vorstellen. Exemplarisch konkreti- Methodenkompetenz. Es sind Orte, an denen konkret erfah-
sieren sie allgemeine historische Aspekte und veranschau- ren und geübt werden kann, wie Geschichte »gemacht« wird.
lichen komplizierte Sachverhalte auf einer nachvollziehba- Hier können grundlegende geschichtswissenschaftliche Ver-
ren Ebene. Darüber hinaus thematisieren sie mit der Frage fahrens- und Erkenntnisweisen eingeübt werden.
»Was war denn eigentlich nach dem Untergang des Hitler-
Regimes?« einen weiteren wichtigen Aspekt. Denn sie zeigen Dies betrifft den historischen Ort als solchen, der nur in den
konkret die Bezüge zwischen dem Vorher und dem Nachher seltensten Fällen unverändert, meist aber zumindest teil-
auf, weil für die Opfer des Terrors der Nationalsozialisten der weise zerstört, überbaut und in seinen Funktionen verändert
Schrecken mit dem Kriegsende im Mai 1945 nicht vorbei war. vorhanden ist. Dennoch ist er eine historische Quelle: Seine
Er hatte lebenslange Folgen. Gestaltung verweist insgesamt und in seinen historischen
Einzelbestandteilen auf die Lebensbedingungen vor Ort und
Gedenkstätten: Spiegel der Geschichts- und auf seine Funktion für die Menschen, die sich hier aufhiel-
Erinnerungskultur ten. Seine Einbindung in den Raum deutet auf soziale und
Gedenkstätten spiegeln die sich ändernden Einstellungen wirtschaftliche Bezüge; seine Umgestaltungen zeigen den
und Haltungen wider, die die bundesdeutsche Gesellschaft Umgang der Nachfahren mit der Geschichte.
gegenüber Nationalsozialismus und Holocaust eingenom-
men hat und noch einnimmt. So zeigt etwa die Geschichte Auch die kritische Arbeit mit historischen Quellen als ein
der politischen und finanziellen Förderung der einzelnen Ziel historischen Lernens lässt sich an den in den Gedenk-
Gedenkstätte auf, wie die deutsche Gesellschaft und die po- stättenarchiven vorhandenen Quellenzeugnissen einüben.
litischen Kräfte vor Ort in einer bestimmten Epoche mit ihrer Gerade die Zeitzeugenberichte und Interviews, auf denen
Vergangenheit umzugehen gewillt waren. Genauso verweist viele der heute vorhandenen Informationen über das Ge-
die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Geschehenen schehen vor Ort beruhen, eignen sich besonders zu quellen-
auf die individuelle und gruppenspezifische »Verarbeitung« kritischen Fragestellungen: Die persönliche Wahrnehmung,
der NS-Zeit. Das Mahnmal zur Erinnerung an die deportierten Vergessen und Verdrängen, später Gehörtes, politische und
badischen Juden in Neckarzimmern, das verschiedene, von ethisch-moralische Überzeugungen der Erzählenden und die
Jugendgruppen gestaltete Gedenksteine zu einem zentralen Erwartungshaltung ihres Publikums, Zeitpunkt und äußerer
Gesamtkunstwerk vereinigt, ist hierfür ein eindrucksvolles Rahmen des Erzählens und Befragens – dies sind nur einige
Beispiel. In unserer mediendominierten Gegenwart müssen Aspekte, die es bei Zeitzeugenberichten zu beachten gilt.
Schüler vermehrt zur reflektierten Auseinandersetzung mit Ähnliches gilt für Bildquellen: Täterfotos und Opferbilder
Das Mahnmal in Neckarzimmern erin-
nert an die Deportation der badischen
Juden im Oktober 1940 in das südwest-
französische Lager Gurs. Im Rahmen
des Ökumenischen Jugendprojektes
arbeiten katholische und evangelische
Jugendgruppen aus ganz Baden seit
2002 an der Realisierung des Mahn-
mals. Es besteht aus einem 25 mal 25
Meter großen, als Betonband in den
Boden eingelassenen Davidstern, auf
Ökumenisches Jugendprojekt Mahnmal
dem die Projektgruppen individuell
gestaltete »Memorialsteine« anbringen
und der Platz für weitere Erinnerungs-
steine aus sämtlichen 137 Deporta-
tionsorten bietet.
Politik & Unterricht • 3-2008 7
10. Einleitung
zeigen unterschiedliche Perspektiven. Die quellenkritische Literatur ergänzen das Angebot und zeigen Möglichkeiten
Beschäftigung mit ihnen fördert die Methoden- und Me- der Weiterarbeit auf. Die Aufgabenstellungen sind bewusst
dienkompetenz der Schülerinnen und Schüler. Überdeutlich offen gehalten und zielen damit auf Arbeit in Projekten oder
und offensichtlich wird der »konstruierte« Charakter von in projektartigen Formen, die Schülerinnen und Schülern die
Geschichte schließlich bei künstlerischen Darstellungen, eigenständige Auseinandersetzung mit der Thematik erlauben
die höchst individuelle Interpretationen der Geschichte und ihnen helfen soll, ihren eigenen Standpunkt zu einem
sind. Letztlich sind es auch die »Inszenierungen« von Ge- zentralen Thema der deutschen Geschichte zu finden.
schichte, die an einer Gedenkstätte in Blick genommen
werden können. An den Ausstellungen vor Ort, die als solche Die Auswahl der Gedenkstätten erfolgte vor allem unter
Inszenierungen zu verstehen sind und ein bestimmtes Bild dem Gesichtspunkt einer regionalen Verteilung in Baden-
von »der« Geschichte vermitteln, lassen sich Fragen der Württemberg. Die inhaltliche Gliederung weist drei Schwer-
Perspektivität von Ausstellungsmachern und ihrem Publikum punkte auf: Baustein A beschäftigt sich mit den frühen na-
sowie der Deutung von Geschichte diskutieren. tionalsozialistischen Konzentrationslagern Kislau, Heuberg
und Oberer Kuhberg in Ulm. Baustein B zeigt am Beispiel
Mit den hier vorgelegten Materialien wird versucht, den ge- der jüdischen Gemeinde bzw. der Gedenkstätte im badi-
nannten Aspekten gerecht zu werden. Angesichts der Viel- schen Sulzburg, der Sinti-Kinder von Mulfingen (Hohenlohe)
zahl der Gedenkstätten in Baden-Württemberg ist allerdings und der Gedenkstätte Grafeneck auf der Schwäbischen Alb
exemplarisches Arbeiten notwendig: An einzelnen Orten soll drei Varianten nationalsozialistischer Rassepolitik auf. Bau-
aufgezeigt werden, welche Themen in der unabdingbaren stein C beschäftigt sich am Beispiel des ehemaligen Außen-
Vorbereitung eines Gedenkstättenbesuches erarbeitet werden lagers von Natzweiler bzw. der KZ-Gedenkstätte Neckarelz
sollten und welche thematischen und methodischen Ziel- (Neckar-Odenwald-Kreis) mit der letzten Phase der natio-
setzungen vor Ort verfolgt werden können. Die Vielfalt der nalsozialistischen Vernichtungspolitik, in der das System
Themen zwingt zu einer starken Reduktion der Materialien. der Konzentrationslager wieder in die unmittelbare Nach-
Ergänzende Hinweise auch auf spezifische Internetseiten und barschaft der deutschen Bevölkerung rückte.
HISTORISCHER HINTERGRUND: DAS SYSTEM schreckung anderer – aus politischen, konfessionellen oder
DER KONZENTRATIONSLAGER auch persönlichen Gründen in »Schutzhaft« genommen und
gerichtlich Verurteilte nach bereits verbüßter Haft in ein
Die Konzentrationslager gehörten zu den wichtigsten Lager gesteckt. Die »Schutzhaft« konnte unbegrenzt lange
Machtinstrumenten der Nationalsozialisten, doch sind un- dauern; ein Rechtsmittel gegen sie war nicht möglich.
terschiedliche Entwicklungsstufen und Formen der Ausge-
staltung zu berücksichtigen. Die frühen Lager dienten der Eine Vereinheitlichung zum »System der Konzentrations-
Ausschaltung und Einschüchterung der politischen und lager« begann erst 1934 mit der Ausgestaltung des KZ
weltanschaulichen Gegner der Nationalsozialisten sowie Dachau zum Modell für alle weiteren Lager. Die ab 1936
der Abschreckung potenzieller Widersacher, die (noch) in Deutschland gegründeten zentralen Konzentrationslager
in Freiheit lebten. Die frühen Konzentrationslager waren wie Sachsenhausen oder Buchenwald wiesen einheitliche
Sache der Länder: Eine zentral, auf Reichsebene gelenkte strukturelle Merkmale auf und standen unter der Leitung
Instanz, welche die Lager und ihre Ausgestaltung koordi- der SS. Neben den politischen Gegnern der Nationalsozia-
nierte, existierte noch nicht. listen wurden jetzt auch rassenideologisch Verfolgte (Sinti
und Roma, sogenannte »Asoziale«, Homosexuelle u. a.)
Frühe Konzentrationslager in Baden waren die Lager Kislau eingesperrt, was nach nationalsozialistischem Sprachge-
bei Bruchsal und Ankenbuck bei Villingen. Das größte brauch der »Reinigung des Volkskörpers« dienen sollte. In
Lager im Südwesten Deutschlands war das von März bis Baden oder Württemberg entstand kein derartiges Lager;
Dezember 1933 bestehende Lager Heuberg bei Stetten am das Lager Welzheim erfüllte nachgeordnete Funktionen.
kalten Markt auf der Schwäbischen Alb. Regimefeindliche
Frauen kamen in das württembergische Frauengefängnis Von diesen großen, zentralen Lagern sind die nach Beginn
Gotteszell bei Schwäbisch Gmünd. Schon Ende 1933 musste des Zweiten Weltkrieges gegründeten Lager zu unterschei-
das völlig überfüllte Lager Heuberg geschlossen werden. Es den, die – wie Natzweiler im Elsass – der SS als Terrormittel
wurde durch ein Konzentrationslager in der Festung Oberer gegen die Bevölkerung in den eroberten Gebieten dienten,
Kuhberg in Ulm ersetzt. und vor allem die Vernichtungslager auf erobertem polni-
schem Gebiet, in denen die massenhafte Tötung insbe-
Die wesentliche Grundlage der Einlieferung in ein Konzen- sondere von Juden und von Sinti und Roma durchgeführt
trationslager bildete die »Schutzhaft«. Der Begriff gibt wurde. Der Arbeitseinsatz von unzähligen Zwangsarbeitern
fälschlicherweise vor, der Verhaftete sei zu seinem eige- in der Industrie erforderte dann kleinere Außenlager am
nen Schutz in Haft genommen worden. Tatsächlich wurden Einsatzort der Häftlinge (vgl. hierzu Baustein C).
Gegner der Nationalsozialisten vorbeugend – und zur Ab-
8 Politik & Unterricht • 3-2008
11. Baustein A
●●● BAUSTEIN A zeigen einerseits den Zeitdruck, unter dem die Nationalso-
zialisten genügend Gefängnisse für die massenhafte Verhaf-
DIE FRÜHEN KONZENTRATIONSLAGER: tung politischer und weltanschaulicher Gegner zur Verfügung
MACHTAUSBAU DURCH TERROR stellen mussten. Andererseits belegen sie auch die geringe
Wertschätzung der Häftlinge und ihrer Menschenwürde durch
den nicht mehr funktionierenden Rechtsstaat. Der Ort wird
In Baustein A wird vor allem die Funktion der frühen Kon- so zur Quelle. Dabei sollte aber auch deutlich werden, dass
zentrationslager im Zuge des Machtausbaus und der For- er nur »zum Sprechen gebracht« werden kann, wenn die
mierung der deutschen Gesellschaft im nationalsozialisti- tatsächlichen Lebensverhältnisse durch weitere Zeugnisse
schen Sinn aufgezeigt. Ein Lernziel besteht darin, zwischen wie A 8 vorgestellt werden, auch wenn die Unwirtlichkeit
den frühen Konzentrationslagern, den Vernichtungslagern des Forts grundsätzlich erkennbar ist.
und den in Baustein C wieder aufgegriffenen Außenlagern
(»Vernichtung durch Arbeit«) differenzieren zu können. Die Das Lagersystem beruhte auf dem Instrument der »Schutz-
Entwicklung eines einheitlichen und zentral gesteuerten KZ- haft«, das bereits im 19. Jahrhundert bekannt war, von den
Systems wird hier am Beispiel der Häftlingskleidung und Nationalsozialisten aber als Terrorinstrument ausgestaltet
indirekt an den vorgestellten Orten verdeutlicht: Die Fotos, wurde. Ausgangspunkt hierfür war die Verordnung des Reichs-
die Häftlinge zeigen (A 9), sind Zeugnisse einer fortschrei- präsidenten »zum Schutz von Volk und Staat« (sogenannte
tenden Vereinheitlichung der Haftbedingungen. Gleichzeitig »Reichstagsbrandverordnung«) vom 28. Februar 1933, durch
verweisen sie auf die zunehmende, von den Lagerleitungen welche die wesentlichen bürgerlichen Grundrechte beseitigt
(und später der SS) angestrebte Entpersönlichung der Lager- (§ 1 abgedruckt in A 4) und die Strafbestimmungen für
insassen, denen durch Uniformierung und Haarschur jegliche bestimmte Vergehen verschärft wurden.
äußeren individuellen Züge genommen werden sollten (vgl.
C 3 – C 5). Weiteres Thema dieses Bausteins sind die Mittel und Metho-
den, welche die Nationalsozialisten zum Ausbau ihrer Macht
Orte wie Kislau und insbesondere der Obere Kuhberg in Ulm, benutzten. Die Darstellung des Konzentrationslagers in der
die ursprünglich nicht als Gefängnisbauten gedacht waren, Öffentlichkeit, also die gewünschte Berichterstattung in der
DAS EHEMALIGE KONZENTRATIONSLAGER die Räume der KZ-Kommandantur. Eine Dauerausstellung
OBERER KUHBERG IN ULM in der Gedenkstätte zeigt Bilder und Dokumente zu den
Häftlingen, den Haftbedingungen, den Haftgründen und
Das um 1850 erbaute Fort Oberer Kuhberg diente dem nicht zuletzt auch zu den Tätern.
NS-Regime von November 1933 bis Juli 1935 als Konzen-
trationslager. Kurz zuvor war das völlig überfüllte Lager www.dzokulm.telebus.de
Heuberg bei Stetten am kalten Markt geschlossen worden.
Das KZ Oberer Kuhberg war kein Vernichtungslager. Wohl Reinhold Weber
aber waren hier über 600 politische und weltanschauliche
Gegner aus Württemberg und Hohenzollern unter men-
schenunwürdigen Bedingungen eingekerkert. Unter ihnen
waren prominente Politiker wie der KPD-Landtagsabgeord-
nete Alfred Haag (1904 – 1982) oder die Sozialdemokraten
Albert Pflüger (1897 – 1965), Erich Roßmann (1884 – 1953)
und der spätere SPD-Bundesvorsitzende Kurt Schumacher
(1895 – 1952). Sie begannen hier ihren Leidensweg durch
die NS-Lager.
DZOK Ulm/DZOK-FArchiv R1 96
In Konzentrationslagern wie dem Oberen Kuhberg wurden
Regimegegner und -kritiker ihrer Würde beraubt, um sie –
zusammen mit ihren Angehörigen und Mitstreitern – ein-
zuschüchtern und verstummen zu lassen.
Heute ist das ehemalige Konzentrationslager Oberer Kuh-
berg Gedenkstätte. Es ist das einzige KZ in Süddeutsch- Das Kommandanturgebäude bzw. Reduit des Forts Oberer
land, das in seiner baulichen Substanz erhalten ist und Kuhberg.
besichtigt werden kann. Dazu gehören die unterirdischen
Verliese, in denen die Häftlinge untergebracht waren, das
Freigelände mit der Haftzelle von Kurt Schumacher sowie
Politik & Unterricht • 3-2008 9
12. Baustein A
Presse über Verhaftungen und (angebliche) Haftbedingun- entstehenden Lager typisch ist, für die frühen Lager zumin-
gen, zieht sich durch die Geschichte der frühen Konzentra- dest nach außen nicht besteht. Das Regime präsentierte
tionslager, wie hier an A 1, A 2 und A 5, A 9 und A 11 und demonstrierte der Öffentlichkeit – also den Gegnern
deutlich wird. Offensichtliches Ziel war die Abschreckung wie den Anhängern – am und über das Konzentrationslager
potenzieller Gegner und die Ausrichtung der Gesellschaft im die erreichte Macht. A 6 ist darüber hinaus Zeugnis für den
nationalsozialistischen Sinn. Die Mittel waren die Berichter- Triumph, den die Nationalsozialisten über die Gegner aus
stattung als solche und vor allem der diffamierende Ton. der Arbeiterschaft feierten: Der traditionelle Feiertag der
Arbeiterschaft wird instrumentalisiert. Der Terror, den das KZ
Auch A 6 gehört hierher: Der aus Anlass des 1. Mai zu Propa- zum Ausdruck bringt, wird mit den angeblich erreichten wirt-
gandazwecken geschmückte Eingang mit Hitlerbild, Haken- schaftlichen Erfolgen gerechtfertigt und die überwiegend
kreuzfahnen, Reichsfahne (in Schwarz-Weiß-Rot) und dem politisch linksstehenden Häftlinge werden damit verhöhnt.
Spruch »Gestern Hunger und Not, heute Arbeit und Brot« Schikanöse Strafen, Willkür und Terror richteten sich jedoch
zeigt, dass die bewusste äußere wie innere Abschottung gegen sämtliche Gegner des NS-Regimes. Sie wurden in allen
der Lagerwelt, wie sie für die seit Mitte der 1930er Jahre Konzentrationslager eingesetzt, um den Willen der Häftlinge
DAS KONZENTRATIONSLAGER KISLAU 3. April 1934 auf dem Karlsruher Friedhof beteiligten sich
trotz der Allgegenwart der Gestapo rund 3.000 Menschen.
Das Konzentrationslager Kislau bei Bruchsal bestand von
April 1933 bis April 1939. Während der gesamten Dauer Die Karlsruher SPD vergibt zum Andenken an Ludwig Marum
seines Bestehens blieb es dem badischen Innenministe- jährlich einen Preis. Im Oktober 1985 wurde das Gym-
rium unterstellt und wurde im Gegensatz zu den meisten nasium im nahegelegenen Pfinztal nach Ludwig Marum
anderen frühen Konzentrationslager nicht der zentralen benannt. Vor der ehemaligen Wohnung des Abgeordneten
»Inspektion der Konzentrationslager« unterstellt. Das Kon- in der Wendtstraße 3 in Karlsruhe wurden Stolpersteine in
zentrationslager wurde im Schloss Kislau errichtet, das be- den Boden gesetzt. Im Schloss Kislau selbst erinnert ein
reits seit 1819 als Strafanstalt gedient hatte. Parallel zum Gedenkstein im Schlosshof an das ehemalige Konzentrati-
Konzentrationslager existierte in einem Trakt des Schlosses onslager und an Ludwig Marum. In der Erinnerungsstätte
ein ebenfalls bereits im 19. Jahrhundert eingerichtetes Ständehaus in Karlsruhe wird mit zwei Tafeln an das Schick-
Arbeitshaus für Männer. sal von Ludwig Marum und Adam Remmele erinnert.
Im Konzentrationslager Kislau wurden bereits im April www.karlsruhe.de/kultur/stadtgeschichte/staendehaus.de
1933 Kommunisten, Sozialdemokraten und Zentrumspo- www.lpb-bw.de/publikationen/menschenausdemland/
litiker inhaftiert. Zahlreiche politisch Missliebige folgten. marum.pdf
Die höchste Belegungsstärke des KZ wurde 1937/38 mit
173 Häftlingen erreicht. Reinhold Weber
Einer der prominentesten Inhaftierten und Opfer des
NS-Terrors in Kislau war der jüdische SPD-Politiker und
Reichstagsabgeordnete Ludwig Marum (1882 – 1934) aus
Karlsruhe. Am 16. Mai 1933 wurden Marum, der frühere
badische Staatspräsident Adam Remmele (1877 – 1951) und
fünf weitere führende badische Sozialdemokraten in das
neu errichtete Konzentrationslager Kislau verbracht. Dabei
wurden sie unter entwürdigenden Umständen in einer vor-
bereiteten Aktion auf offenen Lastkraftwagen durch die
Stadt Karlsruhe gefahren – vorbei an pöbelnden SA-Horden
Stadtarchiv Karlsruhe
und tausenden Karlsruher Bürgern. Vereinzelt kam es zu
Protesten und Rufen wie »Rotfront«, die vom Regime sofort
geahndet wurden. Am selben Tag kam der »gleichgeschal-
tete« badische Landtag zu seiner Eröffnungssitzung zusam-
men. Der zeitliche Zusammenhang war keinesfalls zufällig.
Am 16. Mai 1933 werden – öffentlich inszeniert – sieben
Am 29. März 1934 wurde Ludwig Marum auf Weisung des sozialdemokratische Landtagsabgeordnete aus Karlsruhe in
badischen Reichsstatthalters Robert Wagner von drei KZ- das Konzentrationslager Kislau verschleppt. Von SS- und SA-
Aufsehern erdrosselt. Die von den Behörden verbreitete Männern umringt v. l. n. r.: Hermann Stenz, Adam Remmele,
Version des Selbstmordes des Politikers fand in der Bevöl- Erwin Sammet, Ludwig Marum, Gustav Heller, Sally Grüne-
kerung keinen Glauben. An der Einäscherung Marums am baum und August Furrer.
10 Politik & Unterricht • 3-2008
13. Baustein A
zu brechen – hier verdeutlicht am Beispiel der »Schaufahrt« entsprechenden Biographieordner, der im Dokumentations-
ins badische KZ Kislau (A 1 und A 2) und den Berichten in zentrum Oberer Kuhberg vorhanden ist.
A 8, A 9, A 10 und A 12. Gerade A 9 zeigt die Absurdität
des Lageralltags in Ulm, da eine an sich sinnvolle Beschäf- Mit Alois Dangelmaier (1889 – 1968) wird ein Repräsentant
tigung (die Reinigung der Kleider und der Kleiderappell) der Gruppe der NS-Gegner aus dem kirchlichen Bereich vor-
durch die Anweisungen des Lagerkommandanten zur Ver- gestellt. Die ausgewählten Materialien verweisen als Ein-
schlimmerung der Lebensumstände führt. Die entwürdigende führung auf die Ausstellung im Dokumentationszentrum
Behandlung von Alfred Haag durch den Lagerkommandanten Oberer Kuhberg in Ulm, machen aber noch einmal die Mittel
(A 10) verweist auf dessen nahezu absolute Stellung und in deutlich, mit denen die NS-Verfolgungsbehörden arbeite-
besonderem Maß auf seine Menschenverachtung. ten: Drohungen, öffentliche Zurschaustellung und damit
Missachtung grundlegender bürgerlicher Rechte, die auch
Die Lebensgeschichte des ehemaligen württembergischen Verdächtige genießen (vgl. A 11).
KPD-Landtagsabgeordneten Alfred Haag, dargestellt von
seiner Frau Lina, steht exemplarisch für die Verfolgung und Mit Karl Buck (1894 – 1977) wird ein Repräsentant der Täter
das Schicksal politischer Gegner der Nationalsozialisten. Am angesprochen, die größtenteils »ganz normale Männer« (so
biographischen Einzelfall werden hier das außergesetzliche ein Buchtitel des Historikers Christopher Browning) waren,
Wirken und die Willkür von Gestapo und Lagerleiter deut- die aber die NS-Ideologie verinnerlicht hatten und sie aus-
lich. Gleichzeitig eröffnet das Beispiel eine Perspektive auf lebten. Sein schikanöses Verhalten gegenüber den Häft-
die Auswirkungen der Verfolgung im familiären Umfeld der lingen kann auf der Grundlage der Texte zusammengestellt
Betroffenen. Die Angehörigen litten mit, blieben aber nach werden. Da es noch keine grundlegende Studie zu Buck gibt,
wie vor in der »normalen« Gesellschaft präsent – ein Hinweis kann mit den ausgewählten Materialien auf ein grundsätzli-
auf die vielfältigen Verwicklungen des KZ-Systems mit der ches Thema der Nachkriegsgeschichte – auf den Umgang der
»Zuschauer«-Gesellschaft. Indem die weiteren Lebensläufe westdeutschen Gesellschaft und Justiz mit den Tätern nach
von Alfred und Lina Haag recherchiert werden, werden die 1945 und ihre Integration – hier nur verwiesen werden.
Folgen von Verfolgung und Haft über die oftmals postulierte
»Stunde Null« des Mai 1945 hinaus deutlich gemacht. Der Mit der Materialseite zu den unterschiedlichen Formen des
Bericht dient zudem als Hinführung zur Arbeit mit dem Gedenkens soll die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen
Im Haus des Landtags von Baden-Württemberg in Stuttgart
erinnert seit 2004 ein Gedenkbuch an ermordete oder auf-
grund der NS-Verfolgung zu Tode gekommene Mitglieder der
Landtage des Freistaates Baden und des Freien Volksstaates
Württemberg von 1919 bis 1933. Die Dokumentation liegt
im Hauptgeschoss des Landtagsgebäudes frei zugänglich aus.
Sie schildert exemplarisch, schlaglichtartig und in äußers-
ter Knappheit das Lebensschicksal von 18 badischen und
württembergischen Landtagsabgeordneten.
Viele dieser Abgeordneten waren gleichzeitig Mitglieder
des Deutschen Reichstags, leisteten Widerstand gegen das
NS-Unrechtsregime und hatten infolgedessen unter Verfol-
gung und Unterdrückung bis hin zum Verlust ihres Lebens
zu leiden. Unter den 18 Abgeordneten sind auch der
württembergische Staatspräsident Eugen Bolz (1881 – 1945,
Zentrum), die Liberalen Fritz Elsas (1890 – 1945, DDP)
und der Schriftsteller und Journalist Johannes Fischer
(1890 – 1942, DDP), der kommunistische Widerstands-
kämpfer Georg Lechleiter (1885 – 1942), der Sozialdemokrat
Ludwig Marum (1882 – 1934), die Sozialdemokratin Laura
Schradin (1878 – 1937) und der spätere SPD-Bundesvor-
sitzende Kurt Schumacher (1895 – 1952), der mehrere KZ-
Inhaftierungen, unter anderem im Oberen Kuhberg in Ulm,
überlebte.
LMZ Baden-Württemberg
Politik & Unterricht • 3-2008 11
14. Baustein B
Ausprägungen der Geschichtskultur angeregt und gefördert ●●● BAUSTEIN B
werden: Während der Gedenkstein für Ludwig Marum, der
eine für Grabmale übliche Form hat, den mahnenden Charak- NS-RASSENIDEOLOGIE: AUSGRENZUNG,
ter des vergangenen Geschehens und damit dieses selbst in GEWALT UND MORD
den Vordergrund stellt und die Täter über den Begriff »Nazi-
terror« entpersönlicht, geht die Gestaltung im Dokumentati-
onszentrum Oberer Kuhberg von der Gegenwart der Besucher Die jüdische Gemeinde und ihre Synagoge in Sulzburg
aus. Sie werden zur Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Der Leerraum, den die Vernichtung der jüdischen Gemein-
Verständnis dieses Grundgesetz- und Menschenrechtsartikels den durch das NS-Regime hinterlassen hat, kann heutigen
aufgefordert. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Jugendlichen (und auch Erwachsenen) nicht sofort auffal-
in der Ausstellung wird somit mit pädagogisch-politischer len. Es gilt, ihn zu erarbeiten und zu erkennen, dass es
Absicht unter eine Losung gestellt (A 14). ein Raum ist, in dem sich ein Geflecht sozialer Bezüge
herausgebildet hatte, das sich unter dem Begriff »Nachbar-
schaften« zusammenfassen lässt. Nachbarschaft zeigt sich
im alltäglichen Zusammenleben: im Schwatz über den Zaun,
in der gegenseitigen Hilfe, vielleicht in Freundschaften, die
sich ausbilden, vor allem aber in einer Grundhaltung beider
GEDENKSTÄTTE EHEMALIGE SYNAGOGE bäude in städtischen Besitz und wurde als Kulturdenkmal
SULZBURG und Gedenkstätte restauriert.
Die Synagoge in Sulzburg war 1822 nach Karlsruhe und Ran- Die Geschichte der Sulzburger jüdischen Gemeinde geht bis
degg der dritte Synagogenbau einer jüdischen Gemeinde in das 16. Jahrhundert zurück. Im 18. und 19. Jahrhundert
im Großherzogtum Baden. Heute ist sie die einzige nicht war trotz der durchaus armseligen Bedingungen der jüdi-
zerstörte Synagoge aus der Architekturschule Friedrich schen Bevölkerung ihr Anteil am Leben und an der Kultur
Weinbrenners im spätbarock-klassizistischen Mischstil in der Stadt beträchtlich. Im Jahr 1864 zählte die jüdische
Baden-Württemberg. Mitte der 1970er Jahre kam das Ge- Gemeinde 416 Menschen und damit etwa ein Drittel der
Einwohnerschaft des Ortes. Zum Zeitpunkt der »Macht-
ergreifung« der Nationalsozialisten lebten 94 Menschen
jüdischen Glaubens in Sulzburg. Am 10. November 1938
wurde die Sulzburger Synagoge im Zuge des November-
pogroms schwer demoliert. Nach den Deportationen der
badischen Juden kamen mindestens 22 der 94 jüdischen
Menschen in Sulzburg ums Leben.
Heute organisiert der »Freundeskreis Ehemalige Synagoge
Sulzburg e. V.« die Erinnerungsarbeit als lebendiges Lernen
für die Demokratie und die Menschenrechte in der ehe-
maligen Synagoge. Von besonderer kulturgeschichtlicher
Bedeutung ist auch der jüdische Friedhof in Sulzburg.
www.sulzburg.de
LMZ Baden-Württemberg
Reinhold Weber
Die Ostseite der ehemaligen Synagoge in Sulzburg mit Rund-
fenster und Nische für den Thoraschrein. Die Synagoge in
Sulzburg war von 1727 bis 1886 Sitz des Rabbinats für
das badische Oberland. Während der Reichspogromnacht
(»Reichskristallnacht«) im November 1938 wurde die Syna-
goge verwüstet, aber nicht völlig zerstört. Sie konnte deshalb
erhalten werden.
12 Politik & Unterricht • 3-2008
15. Baustein B
Seiten, die darauf aus sind, miteinander auszukommen und Die Fotos in B 4 zeigen Aspekte deutsch-jüdischen Selbst-
in gegenseitiger Anerkennung und Achtung zu leben. Dieses verständnisses: Die Teilnahme am Ersten Weltkrieg als of-
Zusammenleben muss eine gewisse Distanz nicht ausschlie- fensichtliche Selbstverständlichkeit (vgl. auch das Beispiel
ßen. Integration und Assimilation sind zusätzliche Begriffe, des Leo Louis Kahn in B 7), der nationale Stolz, der sich
die das gegenseitige Aufeinanderzugehen kennzeichnen. im Ablichten in Uniform ausdrückt und den auch die Ho-
noratioren der jüdischen Gemeinde im Zentrum der Gruppe
Dementsprechend erfolgte die Auswahl der Materialien für zum Ausdruck bringen, und die typische bürgerliche Darstel-
Baustein B unter dem Aspekt der Nachbarschaft, die hier lungsform einer Gemeinschaft zeigen das Selbstverständnis
als didaktische Leitlinie gewählt wurde. Nachbarschaft lässt der deutsch-jüdischen Männer auf. Auch das Zusammensein
sich vor Ort an den räumlichen Gegebenheiten aufzeigen und in Vereinen kann als typisch bürgerliche Organisationsform
konkretisieren: Besonders Karten wie B 1 zeigen die enge angesehen werden. Das Foto vom Chorausflug ist damit
Verschränkung der Lebensbereiche auf. In Erinnerungen Zeugnis der privaten Beziehungen wie der gleichartigen In-
zum konkreten Alltag werden die Bedingungen des Zusam- teressen der beiden konfessionellen Gruppen.
menlebens veranschaulicht. Begriffe wie Assimilation und
Integration werden anschaulich und fassbar. Die Verhält- Die Darstellung des (außer-)schulischen Lebens der Sulz-
nisse in Sulzburg lassen sich auf andere »Judendörfer« und burger Kinder (B 5) dient als weitere Veranschaulichung
»Judengemeinden« im deutschen Südwesten übertragen. des offenbar problemlosen Zusammenlebens. Sie zeigt aber
Die Materialien beschreiben daher die Nachbarschaft von auch die existierenden Trennlinien auf, die auf den unter-
Juden und Christen und ihre Zerstörung im »Dritten Reich«. schiedlichen religiösen Riten beruhen. Darüber hinaus lässt
Bewusst wurden Texte und Bilder ausgewählt, die vor 1933 sich an diesem Text quellenkritisch arbeiten und im Vergleich
entstanden oder sich auf diese Zeit beziehen. So lässt sich zu B 6 die unterschiedlichen Intentionen von autobio-
der soziale und kulturelle Verlust besser verdeutlichen. graphischer Erinnerung und wissenschaftlicher Darstellung
aufzeigen.
Mit der Karte B 1 und den Fotos von der Synagoge (B 2,
vgl. auch Foto Seite 12) wird der Ort vorgestellt. Damit wird An B 6 lassen sich auch die Mittel erarbeiten, über welche
vor dem Gedenkstättenbesuch ein erster Eindruck vermit- die Nationalsozialisten in der Phase des Machtausbaus die
telt. Es sollte herausgearbeitet werden, dass insbesondere Grundlage für die Zerstörung der Nachbarschaften legten:
die Synagoge als öffentlicher Kultbau das Selbstverständ- Gewalt, Drohung und Einschüchterung, öffentliche Stigma-
nis und Selbstbewusstsein der Juden als vollwertige Bürger tisierung der jüdischen Opfer wie der christlichen Bevölke-
ausdrückte. Synagogen gehörten spätestens in der zweiten rung, »Schutzhaft«, Unterstellungen. Nicht genannt werden
Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr zur Minderheiten- hier die scheinlegalen Mittel wie die »Nürnberger Gesetze«,
architektur. B 3 beschreibt die allgemeinen Verhältnisse: die jedoch am lebensgeschichtlichen Beispiel herausgear-
Der Schriftsteller Jacob Picard verweist auf typische Formen beitet werden sollen (B 7). Die allgemeine Entwicklung
des Zusammenlebens und -arbeitens: Er benennt die wirt- der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung sollte vor einem
schaftlichen Grundlagen, die sozialen Beziehungen und die Gedenkstättenbesuch bekannt sein. Am lebensgeschichtli-
konfessionellen Gegensätze – Aspekte, die allgemeine Gel- chen Beispiel werden sie konkretisiert und damit eindrück-
tung beanspruchen dürfen. licher.
Am Morgen des 22. und des 23. Okto-
ber 1940 werden die jüdischen Ein-
wohner der damaligen Gaue Baden
und Saarpfalz in das im unbesetzten
Teil Frankreichs liegende Lager Gurs am
Fuß der Pyrenäen deportiert. Das Foto
zeigt die Deportation der Lörracher
Juden – vor aller Augen und am hell-
lichten Tag.
Stadtarchiv Lörrach
Politik & Unterricht • 3-2008 13
16. Baustein B
Der Antrag auf die Verleihung des Ehrenkreuzes (B 7) macht Bei den Mulfinger Sinti-Kindern handelt es sich um ein
den Versuch deutlich, sich in einer mehr und mehr feindlich ausgesprochen emotionales Thema, denn die Kinder werden
gesinnten Umwelt zu behaupten. Das Schicksal der Fami- als Opfer in ihrer ganzen Wehrlosigkeit vorgestellt. Auch
lie Kahn kann vor Ort anhand der in der Gedenkstätte in deshalb muss bei der Behandlung des Themas der Blick auf
Sulzburg vorhandenen, aber auch in Buchform zusammen- diejenigen gelenkt werden, die als Erwachsene am Gesche-
gestellten Materialien vertieft werden (vgl. die im Material- hen beteiligt waren – seien es die Schwestern im Heim, der
teil genannte Literatur). Es beleuchtet einzelne wichtige Pfarrer, der die Notkommunion vornimmt, die Lehrerin oder
Aspekte nationalsozialistischer Verfolgungs- und Vernich- vor allem die Personen in den Amtsstuben. Dieser Aspekt
tungspolitik. Wichtige Stationen nationalsozialistischer Ver- der graduell abgestuften »Zuschauerschaft« wird vor allem
folgung wie der Pogrom vom November 1938 sollten in ihren durch die Materialien B 10 – B 11 angesprochen, wobei über
Auswirkungen (insbesondere die Schändung der Synagoge) die direkt in den Verwaltungspapieren genannten Personen
vor Ort erarbeitet werden. hinaus auch an den indirekt damit befassten Personenkreis
zu denken ist wie der »Schulrat aus Crailsheim« in B 9 oder
Die Mulfinger Sinti-Kinder die den beiden betroffenen Dienststellenleitern nachgeord-
Die Materialien in diesem Teil des Bausteins B dienen der neten Beamten, Angestellten und Schreibkräfte in B 10,
Hinführung zu einem Besuch im Dokumentations- und Kul- die sich in dienstlichen Beratungen und im Alltagsgespräch
turzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg. Sie untereinander mit den Deportationen befasst haben dürften.
können aber auch für eine Beschäftigung mit dem Thema Kriterien der Beurteilung ihrer Handlungsspielräume und
an den angeführten Gedenkorten herangezogen werden. Das ihres Wissens über die Vernichtungspolitik könnten dabei
Thema ist nur ein Teil der umfassenden Heidelberger Ausstel- sein: das Alter der Einzelpersonen, ihr Dienstgrad, die Zu-
lung. Die hier abgedruckten Texte und Bilder beinhalten aber ständigkeitsbereiche und vor allem ihr räumlicher Abstand
Beziehungen zu anderen Aspekten, denen in der Ausstellung zum Geschehen vor Ort, das für sie möglicherweise nur als
nachgegangen werden soll. Angesprochen werden (in B 8 Verwaltungsvorgang in den entsprechenden Akten sicht-
und B 9) die »erbbiologische Sichtweise« bzw. Sinti und bar wurde. Das Denkmal im Jugendamt Stuttgart (B 12)
Roma in der NS-Rassenideologie und die »Rassenhygienische weist darauf eindrücklich hin. Die Einsicht, dass die Vernich-
Forschungsstelle in Berlin« (Dr. Robert Ritter/Eva Justin) tungspolitik nicht nur eine Sache der Täter war, sondern in
sowie die Themen Deportationen, Sinti und Roma in den die »normale« Gesellschaft hineinreichte und Mitwisser in
Konzentrationslagern, das »Zigeunerlager« Auschwitz und großer Zahl hatte, wird sich hier anschließen.
Zwangsarbeit.
DAS DOKUMENTATIONS- UND KULTURZENTRUM nung und des Dialogs. Eine der zentralen Aufgaben be-
DEUTSCHER SINTI UND ROMA IN HEIDELBERG steht darin, die über 600-jährige Geschichte der Sinti und
Roma in Deutschland zu dokumentieren. Ein besonderer
Seit Beginn der 1990er Jahre besteht in der Heidelberger Schwerpunkt liegt dabei auf dem Völkermordverbrechen
Innenstadt das Dokumentations- und Kulturzentrum Deut- der Nationalsozialisten, das lange Zeit aus dem öffentli-
scher Sinti und Roma. Es ist eine europaweit einzigartige chen Bewusstsein verdrängt wurde. Eine weitere wichtige
Einrichtung. Das Zentrum ist Museum zur Zeitgeschichte Aufgabe des Zentrums besteht darin, die kulturellen Bei-
und Ort der Erinnerung, aber auch ein Ort der Begeg- träge, die die Minderheit der Sinti und Roma etwa auf den
Gebieten Literatur, bildende Kunst und Musik erbracht hat,
darzustellen.
Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Im Heidelberger Zentrum ist eine ständige Ausstellung
zu sehen, die den NS-Völkermord an dieser Minderheit
dokumentiert. Auf fast 700 qm Fläche wird die Geschichte
der Verfolgung der Sinti und Roma in der Zeit des Na-
tionalsozialismus nachgezeichnet: von der stufenweisen
Ausgrenzung und Entrechtung im Deutschen Reich bis hin
zur systematischen Vernichtung im von Deutschland be-
setzten Europa.
www.sintiundroma.de
Reinhold Weber
Das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti
und Roma in der Heidelberger Altstadt.
14 Politik & Unterricht • 3-2008