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der kleine mann im ohr
Dokumentation zur Diplomarbeit




                   Fakultät Medien/Mediengestaltung
                   Bauhaus Universität Weimar

                   Sommersemester 2006

                   betreut von:
                   Prof. Wolfgang Kissel
                   Prof. Robin Minard
inhaltsverzeichnis


___________________________________________________ ___________________________________________________ 
einleitung  7                                       organisation  25
___________________________________________________
der weg zum diplom  9                               Die Sprecher 25
                                                    ___________________________________________________
Das Studium 9                                       die nachbearbeitung  27

Das erste Exposé   6                                  die Dialoge und Gespräche   27

Die Recherche 10                                    die Komposition 27
___________________________________________________ Die „andere Atmos“  28
martin hagemeier und das manuskript  11
                                                    Ableton live 29
Martin Hagemeier 11                                 Beispiel  30
                                                    ___________________________________________________
Das Manuskript 13                                   schlusswort  31
Inhalt  14  Exposé  14  Die Geschichte  14          ___________________________________________________
Themen  14  Das Hören  14  Der Tinnitus  14         der kleine mann im ohr (manuskript)  33
                                                    ___________________________________________________
Inhalt & Form im Manuskript 16                      credits  53
Die Sprache  17                                     ___________________________________________________
Die Sprachverfremdungen  18                         bibliografie  54
Die Stimmverfremdung  18                            ___________________________________________________
___________________________________________________ ehrenwörtliche erklärung  57
mein gestaltungskonzept  21                         ___________________________________________________

ein Hörspiel im Hörspiel   21

Die Stimme   22

Mein Konzept 24
___________________________________________________
einleitung                                                   


Als Diplomarbeit stelle ich die akustische Umsetzung
des Hörspielmanuskripts „der kleine Mann im Ohr“ von
Martin Hagemeier vor.
   Meine Arbeit besteht aus der Produktion des Hör-
spiels (Organisation, Aufnahme, Bearbeitung, Vertonung
und die Klangkompositionen) und dieser beiliegenden
Dokumentation. Dieser versteht sich als Einleitung
zum Hörspiel: ich werde Ihnen erstens beschreiben,
wie ich zu meinem Diplomthema kam, dann werde ich
Ihnen den Autor Martin Hagemeier vorstellen und das
Manuskript analysieren. Im Anschluss daran werde ich
meine Interpretation des Manuskripts und mein Ge-
staltungskonzept erläutern, gefolgt von einem Einblick
in die Organisation und die Technik und endlich die
technische Bearbeitung des Hörspieles.

In dem Stück „der kleine Mann im Ohr“ geht es um
akustische Kommunikation und Wahrnehmungsstörung:
Ein junger Mann wird von der alltäglichen Informations-
flut überwältigt. Er schafft es nicht mehr Informationen
von außen aufzunehmen. Um sich vor der realen Welt zu
schützen, bildet er einen Filter - einen kleinen Mann - in
seinem Ohr, der die eingehenden Informationen von der
Außenwelt dekonstruiert und neu zusammensetzt.

Die Hörspielproduktion geht über eine simple Verto-
nung des Manuskripts hinaus. Sie stellt auch Fragen zur
Grundlage der Kommunikation und der Sprache, des
Hörens und Verstehens, der Subjektivität und der Ob-
jektivität. Sie ist eine akustische Auseinandersetzung mit
der Stimme in ihrer Funktionalität als Informationsträger
der Sprache (Sinnvermittelnd) und in ihrer Materialität
(als Klangerzeuger).
 der weg zum diplom                                           Das Studium
                                                                  Einige Projekt- und Fachkursarbeiten an der Universität
    Bevor ich Ihnen „der kleine Mann im Ohr“ vorstelle,           können durch die verwendeten Techniken und Konzepte
    möchte ich an dieser Stelle einen kurzen Einblick in meine als Grundlagen meiner Diplomarbeit gelten. Ich möchte
    bisherigen Arbeiten anbieten. Die Suche nach einem Di-        sie Ihnen kurz beschreiben.
    plomthema ist auch ein großer Teil der Arbeit gewesen und        Mit verfremdeter Sprache habe ich bereits im Rahmen
    eine Entscheidung zu treffen fiel nicht so leicht: die Arbeit des Projektes „Erfahrungsaustausch: die D.D.R. in der
    sollte möglichst viele Facetten meiner Fähigkeiten und        aktuellen Kunst“ bei Katharina Tietze experimentiert.
    Kenntnisse wiedergeben können. Wie sollte ich am besten Ich realisierte den Remix eines französischen Sprach-
    in einer Abschlussarbeit darstellen, was ich während          kurses aus der D.D.R. Die Stimmen der Lehrer aus der
    meines Studiums an der Bauhaus-Universität erlernt habe? Tonbandaufnahme wurden digitalisiert, in Wörter und
                                                                  Silben zerlegt und neu zusammengesetzt. Der Text hatte
    Das Studium der Mediengestaltung an der Bauhaus-Uni-          einen gewöhnlichen Arbeitstag in einer Fabrik zum Ge-
    versität-Weimar umfasst ein breites Lehrangebot. Es wird      genstand, daher komponierte ich einen Techno-artigen
    dem Studierenden viel Freiheit in Hinsicht der Wahl seiner Song mit repetitivem Rhythmus und entsprechender
    Werkzeuge und Themen gelassen. Daher fand ich es wich- Dynamik.1
    tig, mit gut ausgearbeiteten Konzepten an die praktischen        Entscheidend war auch die Abschlussarbeit „as Bill
    Arbeiten heranzugehen. Es geht für mich nicht um tech-        walks through the cities of OS“2, entstanden im Projekt
    nische Performance oder reine theoretische Forschung,         „Open Cultures“ bei Cornelia Sollfrank, ein Hörspiel über
    sondern um eine gute Balance zwischen der künstleri-          künstlerisches Eigentum und Urheberrechte. Ich bear-
    schen/technischen Praxis und einer medientheoritischen        beitete die Stimmen der Hörspielsprecher live (während
    Fragestellung. Das Studium hat es mir ermöglicht vieles       der Sendung im Radio). Ergebnis war eine atmosphä-
    auszuprobieren, Konzepte zu entwickeln und umzusetzen. rische Klangcollage, die wiederum die Stimmen der
                                                                  Sprecher begleitete.
    Es sind Themen und Techniken, die mich schon lange
    vor meinem Studium interessiert haben. Die Suche nach An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass ich mich auch
    Formen der Kommunikation zum Beispiel: wie kann man außerhalb der Universität mit Vertonung von Filmen3 und
    am besten eine Idee mitteilen? Welche Prozesse finden         Musik beschäftige. Mein Musikprojekt „sta:ry 6“4 mit
    bei der sprachlichen Kommunikation statt und welche           Tobias Blumtritt, der für „der kleine Mann im Ohr“ einige
    Möglichkeiten der Darstellung bieten sich an? Wie             Geräusche und die Hintergrundmusik der Fernsehsen-
    werden Informationen vermittelt? In meinem Studium            dung zur Verfügung gestellt hat, entwickelte sich zu einer
    habe ich erst in Seminaren, Vorlesungen, praktischen          spielerische Plattform für unterschiedliche musikalische
    Übungen und Projekten nach Antworten gesucht. Bei             Zusammenarbeit. Einerseits komponiere und produziere
    dieser Suche nach Antworten eröffneten sich immer             ich Songs im Popformat, andererseits remixe (Neuabmi-
    weitere neue Fragen, denen nachzugehen mir wesent-            schung und Neustrukturierung) ich Titel anderer Künstler:
    lich interessanter erschien.                                  ich arbeite dann ausschließlich mit den originalen Ton-
spuren, die ich durch Cut  Paste und Effektfilter neu                                                                
gestalte und anders zusammensetze, um eine andere
Komposition zu erhalten. Oft wird dabei das Eingangs-
material ganz anders verwendet als beim Original-Titel
(die Stimme wird zum rhythmischen Part, die Rhythmen
werden zu Gesang, usw…). Des Weiterem startete ich im
Sommer 2005 eine Zusammenarbeit mit Martin Hagemei-
er, der Texte für neue Musikstücke schreibt.

Neben den praktischen Übungen habe ich mich in
Seminaren und Vorlesungen mit Semiotik, Linguistik
und Akustik beschäftigt. In der Medientheorie sehe
ich die Möglichkeit, die praktische Arbeit förmlich und
inhaltlich zu verfestigen und zu vertiefen. Gleichzeitig
kann sie auch Anregungen für neue praktische Arbeiten
liefern. Die Veranstaltungen von Prof. Dr. Lorenz Engell
über Semiotik, Dr. Sonja Neef über Theorie und Ge-
schichte der Schrift so wie von Dr. Ute Holl „Inszenie-
rung der Stimme“ um nur einige zu nennen, haben eine
medientheoretische Grundlage für meine Diplomarbeit
geschaffen. Auf diese Theorie werde ich später im Lau-
fe der Dokumentation genauer zu sprechen kommen.
Dank der Fachkurse von David Moufang (experimen-
telles radio: „sounds, politics and poetry“ und „Bauhaus
Jingles“) von Dieter Kemter „Computerklänge“ und von
Joachim Müller „Tonstudiotechnik“ wurde ich mit Auf-
nahme- und Klangbearbeitungstechniken sicherer.

Das erste Exposé.
All diese Erfahrungen bilden die Grundlage für meine
Diplomarbeit. Diese Arbeit sollte meine Fähigkeiten
im technischen Bereich verbinden mit den im Studium        1   http://www.uni-weimar.de/~lechevin/monsieurbrunet
behandelten medientheoristischen Fragestellungen.              (remix2004).mp3
Ich wollte ein Diplomthema finden, bei dem ich mit         2   http://www.uni-weimar.de/~lechevin/as-bill-walks.mp3
Klängen, Stimmen und Sprache (und dem Prozess der          3   http://gonzo.uni-weimar.de/~lechevin/musik_film.htm
Kommunikation) arbeiten konnte.                            4   http://www.stary6.com
10   Meine ersten Gedanken gingen in Richtung eines               um, Klanggestaltung und Klanginstallation, Poesie, Mu-
     menschlichen Interfaces: Ein Mensch als Schnittstelle        sik und Hörspiele. Nicht alle meine Recherchen haben
     zwischen Körper, Sprache und Stimme. Ich wollte ein          mir direkt für meine Arbeit geholfen, meistens waren sie
     Projekt finden, in welchem der Mensch nicht nur als          aber interessante Anregungen für weitere Forschung und
     Sender und Empfänger von Informationen verstanden            die Entwicklung neuer Ideen.
     werden konnte, sondern darüber hinausgehend als
     Kommunikation selbst. Ein Subjekt, das gleichzeitig
     Objekt seiner Kommunikation sein kann.
        Womit ich arbeiten und was ich damit erreichen
     wollte, war mir schon ziemlich klar, aber das konkrete
     Umsetzungskonzept musste ich noch entwickeln. Sollte
     es eine Klanginstallation werden? Eine Komposition?
     Mein erstes Exposé, das ich zur Diplomanmeldung vor-
     legte, lautete:

     […] Was ich vor habe? Ich möchte an einer Audiokomp-
     osition arbeiten. Als Soundquelle werde ich Stimmen (In-
     terviewausschnitte von Prominenten…?, Politikerreden…?
     -- jedenfalls Aussagen zum Thema Echtheit/ Realität/
     Wahrheit) verarbeiten, die durch eine Art „Klanglabora-
     torium“ und durch verschiedene Verfahren verfremdet
     werden. Untersucht wird dabei die Beziehung von Inhalt
     (Sprache/Rede) und Form (Stimme), sowie die Interaktion
     zwischen Information und Informationsträger (inwiefern
     der Informationsträger die Information beeinflusst) […]
     Was passiert denn, wenn die durch das Medium übertra-
     genen Informationen gedehnt und verfremdet werden, bis
     sie ihre grundsätzliche Substanz verloren haben und nur
     noch Form sind? Ob meine Arbeit statisch (Vorführung)
     oder dynamisch (interaktive Installation) sein wird, steht
     noch nicht fest. […]5

     Die Recherche.
     Ich sammelte zunächst Literatur und Dokumentationen
     zu diesen Themen: Akustik und Phonetik, Linguistik und
     Semiotik, Sprache und Psychoanalyse, Stimme als Medi-
martin hagemeier und das manuskript                                                                                           11


Auf der Suche nach Inspiration und Material traf ich
mich mit meinem Freund, dem Schriftsteller Martin
Hagemeier und berichtete ihm von meinen Vorstel-
lungen. Er schlug mir vor sein Hörspielmanuskript „der
kleine Mann im Ohr“ zu lesen, das viele Themen, die ich
bearbeiten wollte, beinhaltet. Ich las den Text und war
so begeistert, dass ich mich nach kurzer Zeit entschied,
für meine Diplomarbeit das Manuskript als Hörspiel
umzusetzen. Bei der ersten Lektüre flossen die Ideen für
eine akustische Interpretation.
   Ich fand es erstaunlich, wie die im Hörspiel aufgegrif-
fenen Themen mit jenen Ideen meines ersten Diplomex-
posés übereinstimmten und sah in der akustischen Um-
setzung des Textes eine sehr interessante Möglichkeit,
das Spiel zwischen Inhalt und Form zu betonen und zu
erweitern. In diesem Abschnitt möchte ich Ihnen Martin
Hagemeier und sein Manuskript vorstellen.

Martin Hagemeier
Martin Hagemeier, geboren 16, ist Schriftsteller und
arbeitet als Werbetexter. Bereits vor seinem Studium
der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation mit
Hauptfach verbale Gestaltung an der Universität der
Künste in Berlin und der Semiotik an der Technische
Universität veröffentlichte er Kurzgeschichten in Litera-
turzeitschriften6. 13 erhielt er das Alfred-Döblin-Sti-
pendium der Preußischen Akademie der Künste Berlin
und 14 die Berliner Künstlerförderung.
   Martin Hagemeier versteht Literatur nicht als eine
Verschriftlichung der Welt, ein politisches Werkzeug
oder belehrendes Objekt, sondern er sieht in ihr eine
Kunstform: das Schreiben ist eine Suche nach und eine
Entwicklung von Formen und Strukturen und soll sich          5   In einer privaten E-mail vom 24. März 2006 an Prof. Minard
mit seiner Zeit auseinandersetzen.                               und Prof. Kissel.
12   Er setzt seine Arbeiten deutlich als Gegenpol zur aktu-    der Sprache und die Strukturen des Romans vermittelt
     ellen vorherrschenden Literatur, die sonst gerne Stories   wird. Vor allem bekommt der Leser eine besondere Po-
     und Plots mit Sensation und Spektakel aufbaut, die neue    sition: ihm bleibt die Auffindung von Sinn überlassen.
     Stories entwickelt, aber in altbekannten Denkmustern,      Alain Robbe-Grillet definiert die Funktion der Kunst in
     welche die Leser in ihren Wahrnehmung rückversichern.      „Argumente für einen neuen Roman“:
     Statt dessen stellt Martin Hagemeier lieber Fragen,
     möchte die Wahrnehmungsgewohnheiten der Leser              „… Denn die Funktion der Kunst ist niemals, eine Wahr-
     aufbrechen und die Form und Struktur des Textes auch       heit zu illustrieren - oder auch eine Frage-, die man schon
     zur Vermittlung von Information nutzen.                    kennt, sondern Fragen aufzuwerfen (und vielleicht auch
        Diese Auseinandersetzung mit der Form und der           zur rechten Zeit Antworten zu geben), die sich selbst noch
     Sprache geht weit über ein einfaches Spiel mit dem Text    nicht kennen. …“
     und den Wörtern hinaus, sie stellt eine Auseinanderset-
     zung mit der Wirklichkeit dar. Es wird bei Martin Ha-      Neben dem Nouveau Roman zählt die Beatliteratur, mit
     gemeier die Skepsis an der eigenen Wahrnehmung und         ihrer Spontaneität, ihrem Rhythmus, ihrer Musikalität
     Haltung gegenüber (oder Zweifel an) der Wirklichkeit       und dem Wegwerfen von Prinzipien und traditionellen
     entwickelt, so dass sich die persönlichen Grenzen des      Strukturen zu den Vorbildern von Martin Hagemeier.
     Lesers erweitern können und er sich in Konfrontation       Auch die Konkrete Poesie spielt für ihn eine wichtige
     mit dem Text selbst bilden kann.                           Rolle: die Sprache dient nicht mehr nur einer Be-
                                                                schreibung, sondern wird auch selbst zum Zweck des
     Die neuen Literaturformen der Nachkriegszeit, wie der      Gedichtes. Die phonetischen, visuellen und akustischen
     Nouveau Roman haben seine Arbeiten am stärksten            Komponenten der Sprache werden zum literarischen
     beeinflusst. Das Experimentieren mit der Form steht        Mittel. Die Poesie besteht aus der Konstruktion des
     im Vordergrund der neue Literaturbewegung aus dem          Gedichtes, aus seiner Zusammensetzung von Sprach-
     Frankreich der 50er Jahre. Die Nouveau Roman-Schrift-      elementen und nicht nur aus dem sinnvermittelnden
     steller wenden sich gegen die überlieferten Erzähl-        Inhalt.
     formen des traditionellen Romans. Sie möchten nicht           Dem Klang der Wörter, auch wenn sie zunächst nur
     durch narrative Texte eine Wahrheit vorstellen, eine       niedergeschrieben werden, kommt eine große Bedeu-
     Ideologie vertreten oder ihre Weltansicht durchsetzen.     tung zu. Wie eng das Schreiben und Lesen bei Martin
     Sie sehen keine moralische oder politische Kraft in        Hagemeier an das Akustische gebunden ist, wird in
     der Literatur, zumindest wollen sie diese nicht durch      einem kritischen Text über die heute vorherrschende
     Erzählungen vermitteln. Das gilt auch für die Arbeiten     Literatur und ihre „sensationellen Stories“ auf dem Buch-
     von Martin Hagemeier: die Themen, die dargestell-          markt deutlich:
     ten Situationen, die Charaktere und die Struktur des
     Schreibens selbst sprechen aktuelle soziale Themen an,     „Das ist eine Beleidigung des Lesers: Wird diesem doch
     werden aber meist ironisch und satirisch aufgegriffen.     unterstellt, dass er taub für die feinen Töne ist und daher
     Weit wichtiger ist die Aussage, die durch die Form         viel Radau gemacht werden muss, damit er überhaupt
noch etwas mitbekommt. Als litte jener Leser, an denen                                                                             13
jene Schriftsteller so viel denken, unter einer Art geistigen
Gehörschaden.
   Auf diese Weise ist die vorherrschende gegenwärtige
Literatur zu einem Jahrmarkt voller Schreihälse verkom-
men, die mit lautem Gekreische und Getöse versuchen, das
Publikum für ihre persönliche Schaubude zu gewinnen.
[…]“

Wir können seine Ansichten folgendermaßen zusam-
menfassen: Die Literatur soll die Konstruktion der Wahr-
nehmung fördern. Sie soll es dem Leser ermöglichen,
sich selbst ein Bild zu machen, statt ihm vorgefertigte
Antworten zu geben. Außerdem sind seine Texte in
realistischen Situationen verankert. Keine unglaublichen
Charakteren oder außergewöhnlichen Ereignisse. Es geht
um eine Auseinandersetzung mit unserer Wirklichkeit
und Welt, ohne sich hermetisch und selbstrückbezüglich
abzuschotten.

Das Manuskript
Inhalt | Exposé9
Junior leidet an einem Tinnitus, einem dauerhaften Oh-
rensausen. Eine Auseinandersetzung mit der Gesellschaft
fällt ihm schwer. Er möchte gerne einen Job finden, er ist
bemüht, sich gut zu präsentieren, möchte dazu gehören.
Nur fehlt ihm an Selbstbewusstsein, an Selbstvertrauen.
Er traut sich nicht die Dinge zu hinterfragen, sich mit
Problemen zu konfrontieren. Wenn er in Konfliktsituati-
onen kommt, wenn zu viele oder unangenehme Infor-
mationen auf ihn einströmen, verzerrt und verfremdet er
durch seinen kleinen Mann im Ohr die Welt und verän-            6   Siehe Bibliografie.
dert auf dieser Weise seine Wahrnehmung der Welt. Er               Robbe-grillet, 165
fühlt sich wie Sender und Empfänger gleichzeitig.                  Martin Hagemeier, einige Anmerkungen zur Literarischen Mono-
                                                                kultur von Heute, 2004, unveröffentlicht.
                                                                   Vollständiges Manuskript, siehe Kapitel VIII.
14   Inhalt | Die Geschichte                                       und wissenschaftlicher Sicht erläutere, möchte ich kurz
                                                                   über das Ohr, das Hören und das Hörsystem berichten.
     Die Rahmenhandlung des Hörspiels ist das Vorstellungs-
     gespräch von Junior bei einem Arbeitgeber. Der Chef           Themen | Das Hören
     stellt die Motivationen und das Selbstbewusstsein des         Hören ist die Fähigkeit vieler Lebewesen Schall wahr-
     jungen Mannes in einer unerhörten Art auf die Probe. Er       nehmen zu können: Luftdruckveränderungen stimulieren
     mit ihm spielt. Aus seiner Machtposition heraus drängt        ein Sinnesorgan - das Ohr - und werden in elektrische
     er Junior zu Stellungnahmen, will ihm aber auch helfen.       Impulse über das Nervensystem an das Gehirn weiter-
     Junior, der von Natur aus nicht selbstsicher ist, weiß sich   geleitet. Das Ohr besteht aus drei Hauptelementen: Das
     nicht zu helfen und flüchtet immer wieder in seine eige-      Außenohr, das die Luftschwingungen einfängt und ihre
     nen Gedanken. Eine Welt der verzerrten Wahrnehmung.           Einfallsrichtung kodiert, das Mittelohr, das die Signale
     Er weigert sich Informationen aufzunehmen, schützt            des Außenohres mechanisch an das Innenohr überträgt
     sich vor der Realität, indem er sich seine eigene kreiert,    und das Innenohr, das den Schall in Nervenimpulse
     durch seinen Tinnitus. In diese Haupthandlung sind an-        umwandelt und an das Gehirn sendet. Die Verarbeitung
     dere Szenen eingebettet: ein Besuch bei der Ärztin, ein       im Gehirn erfolgt in drei Takten: erstens kommt die
     Telefonat mit der Sekretärin der Firma, Junior am Bahn-       Information an, dass etwas zu hören ist: der Schall wird
     hof und im Zug auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch,          wahrgenommen. Zweitens wird das Hörereignis identifi-
     Erinnerungen an ein Frühstück mit seinem Vater, ein           ziert (im Fall der Sprache heißt es z. B. das Wort „Hallo“
     Abend in einer Bar, eine Fernsehsendung… Nicht nur            wird phonetisch gehört, nämlich die Laute [ha’lo ]) und
     wegen des Chefs bekommt Junior den Tinnitus, sondern          endlich werden die Laute [ha'lo ] als Zeichen der Begrü-
     auch wegen seiner Lebenseinstellung: wo immer er ist,         ßung erkannt und verstanden.
     wird er von der Menge der Kommunikation überwältigt.
                                                                   Themen | Der Tinnitus
     Themen                                                        Unter dem Begriff „Tinnitus“ (auf deutsch „das Klin-
     „Der kleine Mann im Ohr“ steht, wie die Redensarten-          geln“) versteht man eine akustische Wahrnehmung, der
     Index-Seite im Internet berichtet, für spinnen, verrückt      keine äußere für andere Personen wahrnehmbare Quelle
     sein, wird aber auch als Bezeichnung für einen Tinnitus       entspricht. Der Tinnitus ist eine Störung der Hörfunk-
     verwendet. Dieser umgangssprachliche Ausdruck leitet          tion, jedoch ist er keine Krankheit an sich, sondern das
     sich aus folgender Vorstellung ab: Wenn jemand etwas          Symptom einer oder mehrerer anderer Krankheiten,
     Unsinniges oder Verrücktes sagt, wird es damit erklärt,       also das Zeichen einer Krankheit: er kann nur durch den
     dass ein Männchen in seinem Ohr sitzt, das ihm dies           Betroffenen wahrgenommen werden. Lärmtrauma und
     eingeflüstert hat. Auch der Fall von jemandem, der an         zahlreiche Krankheiten wie z. B. eine Entzündung des
     Ohrgeräuschen leidet, geht auf die Vorstellung eines von      Ohres können einen Tinnitus verursachen, allerdings
     einem kleinen Mann Besessenen zurück.10                       wird häufig von den Betroffenen der Stress als Auslöser
        Der Tinnitus spielt eine zentrale Rolle im Hörspiel.       erkannt. In solchen Fällen ist ein psychosomatischer
     Bevor ich den Tinnitus als Krankheit aus medizinischer        Einfluss nicht auszuschließen.
Die Klangeigenschaften des Tinnitus sind sehr varia-                                                     15
bel: er wird mit Brumm- oder Pfeiftönen, Zischen und
Rauschen verglichen, deren Frequenzen zwischen 0 und
1000 Hz bzw. bei 000 Hz liegen und mit gleichmäßiger
Intensität oder rhythmisch-pulsierendem Charakter.
Jedoch ist auch anzumerken, dass der Tinnitus nicht
immer einem realen Geräusch entspricht. Als Folgen
eines Tinnitus können Schlafstörungen, Angstzustände,
Depressionen und Arbeitsunfähigkeit auftreten.11

Da der Tinnitus eine subjektive Wahrnehmung ist,
haben Wissenschaftler keine Möglichkeit ihn zu messen.
Über seine Lokalisierung im Hörsystem gibt es auch nur
Hypothesen. Ich möchte jetzt nicht über die mecha-
nischen Hypothesen berichten (physische Beschädigung
der Hörnerven oder der Hörzellen im Innenohr), lieber
konzentriere ich mich auf die psychischen Störungen
der Prozesse des Hörsystems entlang oder während der
Verarbeitung im Gehirn, die für meine Arbeit entschei-
dend sind.
   Die Luftschwingungen, die das Ohr betreten, können
im Innenohr falsch verarbeitet werden. Das Innenohr ist
von Haarzellen bedeckt, die durch den aus dem Außen-
und Mittelohr mechanisch weitergeleiteten Schall ge-
kippt werden können. Dabei werden Poren geöffnet, in
denen elektrisch geladene Teilchen die Schallinformati-
onen als Impulse an den Hörnerv übergeben. Ob dieser
Mechanismus gestört ist oder erst die Interpretation der
Impulse im Gehirn, ist nicht bekannt. Jedoch wurde fest-
gestellt, dass Leute mit geschädigtem Hörnervensystem
auch unter Tinnitus leiden können.
   Eine akustische Fehlinformation allein ist aber noch
kein Tinnitus. Im Gehirn gerät sie in einen Regelkreis
hinein und selbst wenn die Ursache im Ohr aufhört,          10   http://www.redensarten-index.de/
läuft sie als Wahrnehmungsschleife im Zentralnervensys-     11   http://de.wikipedia.org/wiki/Tinnitus
tem weiter: man redet nun vom zentralisierten Tinnitus.12   12   Zenner, 1.
16      Das Hörsystem ist auch eng mit dem emotionalen           zu verstehen, was der Tinnitus bedeutet, was er zu sagen
     Bereich des Gehirns verbunden, daher sind die Tinnitus-     hat, was der kleine Mann im Ohr zu sagen hat. Junior
     Betroffenen schnell emotional belastet und umgekehrt        setzt seine Unfähigkeit sich sozial zu integrieren kör-
     kann eine emotionale Belastung wie Stress den Tinnitus      perlich um, in Form eines Tinnitus, die Materialisierung
     unterstützen.                                               seiner inneren Stimme.
        Es sind für den zentralen Tinnitus keine seriösen
     wissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse bekannt,         Dass Junior fähig ist oder sich zumindest für befähigt
     die die Wirksamkeit einer Behandlung belegen. Manche        hält, Nachrichten und Signale zu senden und zu empfan-
     Wissenschaftler und Mediziner empfehlen eine Retrai-        gen, stellt die Frage der Grenze zwischen dem eigenen
     ning Therapy des Hörens: bei chronischem Tinnitus muss      Körper und der Außenwelt, zwischen dem Subjekt und
     der Betroffene lernen, mit seinem Ohrgeräusch umzuge-       dem Objekt, der Verkörperlichung des Mediums. Junior
     hen. Wenn man hörgesund ist, werden alle Schallwellen       ist empfindlich und sensibel, besonders in sozialen
     der Umgebung aufgenommen und unbewusst gefiltert.           Kontexten, und reagiert körperlich darauf. Er schafft es
     Also entscheidet man sich, was man hören möchte oder        nicht, sich in seine soziale Umgebung zu integrieren. Er
     braucht. Wenn man sich auf ein Geräusch konzentriert,       ist Sender und Empfänger von Botschaften und zugleich
     wird es im Gehirn verstärkt. Wer unter chronischem          die Botschaft selbst. Medium und Information treffen
     Tinnitus leidet, sollte wieder lernen sich auf andere       sich in seinem Ohr. Er kann die Außenwelt nicht mehr
     Geräusche zu konzentrieren, die Klänge der realen Welt      von seiner Innenwelt unterscheiden. Sein Körper ist
     erneut hören lernen. Es geht darum sich für etwas zu        nicht mehr Akteur im Kommunikationsprozess, sondern
     entscheiden und nicht gegen etwas: Hören wählen statt       Materie der Kommunikation. Junior findet seinen Platz
     weghören.13                                                 in der Realität nicht mehr.

     Wenn wir diesen Prozess andersherum betrachten,             Inhalt  Form im Manuskript.
     könnte man den Tinnitus als Schutz gegen die Außen-         Die Ideen, die auf der inhaltlichen Ebene vermittelt
     welt verstehen, als Filter, um die echten Geräusche der     werden, spiegeln sich auch in der Form des Manusk-
     Realität nicht wahrnehmen zu müssen. Der Tinnitus           ripts wieder. Das Spiel mit der Struktur findet man in
     kann also als eine Art innerer Störsender oder Informati-   der Struktur der Sprache des Textes und im Rhythmus
     onswandler begriffen werden.                                zwischen den Repliken wieder. Der Aufbau der Szenen
        Und genau das ist das Problem von Junior im Hör-         missachtet die Chronologie: das Vorstellungsgespräch
     spiel. Er weigert sich Informationen aufzunehmen,           wird durch Erinnerungen oder Ereignisse unterbrochen.
     etwas in sich eindringen zu lassen, stellt sich gegen den   Der Rhythmus zwischen den Repliken innerhalb einer
     Chef, schirmt sich von der Welt ab, statt sich mit der      Szene ist abwechslungsreich: die Dialoge zwischen Chef
     Wirklichkeit auseinanderzusetzen: er entwickelt einen       und Junior bestehen aus kurzen Repliken nach dem
     Tinnitus, um seinen Mangel an Kraft die Welt wie sie ist    Muster Frage/Antwort, die immer wieder von Mono-
     zu akzeptieren, zu kompensieren. Also geht es in dem        loge begleitet oder durch den Auftritt der Sekretärin
     Hörspiel um das Hören, um das Besserhören, um somit         unterbrochen werden. Junior fasst sich während des
Gesprächs eher kurz, der Chef verfällt gerne in längere,                                   1
belehrende Monologe. Allein, verträumt in seine Welt
zurückgezogen, entwickeln sich Juniors Monologe zu
Aufzählungen, Wiederholungen und Gedankenassoziati-
onen. Sie scheinen nicht mit der Zeit verbunden zu sein.
Seine Gedanken laufen quer durch seinen Kopf, ohne
Linearität.

„der Kleine Mann im Ohr“ wurde für das Radio geschrie-
ben. Der Autor hat bereits mit dem Wort als Klangträ-
ger gearbeitet. Die Sprache und die Stimmen, die die
verschiedenen Rollen verkörpern, haben im Text ihre
bestimmten Eigenschaften. Schon die Regieanweisungen
im Manuskript stellen eine (durch verschiedene Verfah-
ren bewirkte) Verfremdung dar. Einerseits wird die Spra-
che selbst verfremdet – durch die Art und Weise, wie
sich ein Charakter im Hörspiel ausdrückt; andererseits
wird die Stimme durch Technik (Telefon, Sprechanlage,
Durchsagen…) moduliert.

Die Sprache
Die Sprache stellt ein Zeichensystem dar. Nach Ferdin-
and de Saussure wird die Sprache als Verbindung von
Lautbild und Vorstellung gefasst. In der „Cours de lingu-
istique générale“14 hat er die Prozesse des Sprechens un-
tersucht. Er unterscheidet die langue, ein Regelsystem,
einen Zeichenvorrat, von der langage, der allgemeinen
Sprachfähigkeit der Menschen, und von der parole, den
Sprechakt selbst. Er erforscht die Konventionalität und
die Arbitrarität des Zeichens: die Laute, die wir beim
Sprechen mitteilen, verweisen auf die Vorstellung eines
Objekts und nicht auf das Objekt selbst. Die Sprache
ist das Bild eines Objekts, ein Designationprozess: das
Nennen. Das Zeichen hat zwei Seiten: einerseits den Na-
men, das signifiant (Bezeichnende), das image acoustique    13   http://www.tinnitus.org
(Lautbild) und andererseits die Vorstellung eines Ob-       14   Saussure, 16, S. 2
1   jekts, das signifié (Bezeichnete). Die Beziehung zwischen   zung der Wörter schafft eine neue Ebene der Bedeu-
     dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten ist beliebig,        tung. Junior hat wenig Selbstbewusstsein und ihm
     arbiträr. Innerhalb einer langue (Sprachsystem) werden      fehlen die Eigenlaute.
     diese sprachlichen Zeichen konventionell benutzt, man
     kann sich untereinander verstehen, weil ein Lautbild auf    Die Stimmverfremdung
     dieselbe oder eine ähnliche Vorstellung verweist.           Die Stimme, Vehikel der Sprache, wird in den Manus-
        Das Bezeichnende ist von der Zeit bestimmt. Saussure     riptanweisungen durch Technik und Mediengeräte ver-
     redet von der Linie der Zeit, in der man sich akustisch     zerrt. Diese Stimmen werden durch Telefon, Sprechanla-
     ausdrücken kann.                                            ge, Radio, Fernseher wiedergegeben, sie finden jedoch
     „Das Bezeichnende, als etwas Hörbares, verläuft aus-        in der Realität statt, im Gegensatz zu den Stimmen, die
     schließlich in der Zeit und hat zwei Eigenschaften, die     Junior in seinen Verwirrungen hören kann.
     von der Zeit bestimmt sind: a) es stellt eine Ausdehnung
     dar, und b) diese Ausdehnung ist meßbar in einer einzigen   Szene 1: bei der Ärztin.
     Dimension: es ist eine Linie.“15                            Dialog: Während eines Besuchs bei einer Ärztin erfährt
                                                                 Junior, dass sein Ohrensausen, unter dem er leidet, ein
     Die Sprachverfremdungen                                     Tinnitus ist: eine psychosomatische Krankheit, die meis-
     Bei Junior wird der Prozess des Entzifferns der Sprache     tens durch Stress verursacht wird. Nur er allein kann sich
     gestört. Er verbindet das Lautbild nicht mehr mit dem       von der Krankheit befreien. Der Tinnitus ist ein Teil von
     Bezeichneten. Die Linearität der Sprache wird durch         ihm, mit dem er sich auseinandersetzen soll.
     die Schleife des Tinnitus unterbrochen. Die surrealis-
     tischen Aufzählungen, Gedankenassoziationen und             Monolog: Junior ruft die Sekretärin der Firma, bei der er
     Träumereien ähneln der Redeweise der Pennerin am            sich vorstellen soll, an – und verliert sich in der Telefon-
     Bahnhof. Auch der Chef, Auslöser vieler Versenkungen        leitung. (Telefon)
     von Junior, spielt mit der Sprache: Er benutzt gern
     Metaphern („Ich habe ja nur ihr eigenes Bild weiterge-      Szene 2: mit der Sekretärin, am Telefon.
     malt! Ich bin kein Frosch, sie sind kein Wurm“, Szene 5.)   Dialog: Junior erkundigt sich telefonisch bei der Sekretä-
     und Wortspiele („Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein      rin der Firma, wie er zum Vorstellungsgespräch antreten
     Franzos, jeder Tritt ein Britt“, „Sie haben eine Vorstel-   soll. (Telefon)
     lung, ich habe eine, und wir haben ein Vorstellungsge-
     spräch.“, Szene ). Die deutlichste Verfremdung der         Monolog: Weil Junior neue Informationen aufnehmen
     Sprache findet man in der Szene 10: Junior, angetrun-       muss, versinkt er wieder in Gedanken: er ist ein Sender,
     ken in einer Bar, redet ohne Vokale (auch Selbst-laute      ein Empfänger, ein Medium.
     genannt). Dieser Effekt erinnert an den Lettrismus, eine
     französische Literaturbewegung der Nachkriegszeit. Die      Szene 3: der Vater und das Radio.
     Wörter werden atomisiert, das heißt, in Stückchen, in       Junior sitzt am Frühstückstisch mit seinem Vater, der ihm
     Buchstaben oder Laute geteilt. Die Neuzusammenset-          ständig grundlos Vorwürfe macht: Er habe sein Radio
verstellt, esse zu langsam. Junior, während er isst, kann                   1
nur unverständliche Wörter erzeugen. (Radio)

Szene 4: Junior am S-Bahnhof mit einer Pennerin.
Am S-Bahnhof und im Zug, auf dem Weg zu der Firma
macht sich Junior Gedanken über das Vorstellungsge-
spräch. Im Hintergrund brabbelt eine Pennerin wirres
Zeug vor sich hin. Junior ist von den Zugdurchsagen
verwirrt. (Zugdurchsage)

Szene 5: das Vorstellungsgespräch I.
Junior erst voller Enthusiasmus wird von dem Arbeitge-
ber gedemütigt. Dieser testet auf sadistisch-spielerische
Weise die Selbstwahrnehmung des Kandidaten. Junior
flüchtet in seine Welt. (Sprechanlage)

Szene 6: Junior verträumt.
Junior in Gedanken während des Vorstellungsgesprächs.
(Gesang/Kanon)

Szene 7: das Vorstellungsgespräch II.
Der Chef hat Juniors Wahrnehmungsprobleme erkannt
und versucht, sie ihm zu erläutern. Nur redet er in
Rätseln: Junior ist verloren und zieht sich wieder in seine
eigene Welt zurück.

Szene 8: vor dem Fernseher.
Junior kommentiert eine Fernsehsendung über Sinne
und Wahrnehmung. (Fernseher)

Szene 9: das Vorstellungsgespräch III.
Der Chef verliert seine Geduld angesichts Juniors Unfä-
higkeit, die Aussagen des Chefs zu empfangen.

Szene 10: in der Bar.
Junior angetrunken in einer Bar – ihm fehlen die Selbstlaute.   15   Ebd.
20   Szene 11: das Vorstellungsgespräch IV.
     Dass Junior nichts von der Rede des Chefs begriffen
     hat, macht den Chef wütend. Er regt sich auf, stolpert
     und stürzt. Junior hat wieder keine Stelle bekommen.
     (Wechselsprechanlage)

     Szene 12: Schluss.
     Ein Konzert von Weck- und Morgengeräuschen weckt
     Junior auf. Er entscheidet sich diesmal aber, im Bett zu
     bleiben.

     Da das Hörspiel sich mit unterschiedlichen Formen der
     Sprache und der Stimme auseinandersetzt, ist es inhalt-
     lich direkt mit dem Medium Radio verbunden. Es ist für
     ein akustisches Medium geschrieben worden.
         An „der kleine Mann im Ohr“ gefällt mir, dass der Text
     all diese Verfremdung nicht direkt vorstellt, sondern dass
     Sprach- und Formspiele in einen klassischen Rahmen
     eingebettet sind und immer mit einer konkreten Situa-
     tion verbunden werden. Es wird dem Zuhörer nicht auf
     plakative Weise eine Kunst vorgestellt, mit der er sich
     allein auseinandersetzen soll. Die künstlerische Arbeit
     wird ausgehend von realistischen, bekannten Situati-
     onen entwickelt, vorbereitet und langsam eingeleitet.
     Die im Hörspiel behandelte Frage nach der Form und
     der Substanz der Kommunikation spiegelt sich im Inhalt
     und in der Form des Textes wieder und bietet daher eine
     sehr interessante Vorlage für eine akustische Inszenie-
     rung.
mein gestaltungskonzept                                                                   21


Ein Hörspiel im Hörspiel.
Es wurden viele Definitionen von Hörspiel seit seiner
Geburt in den 20er Jahren geliefert. Christian Hörburger
schlägt folgende Definition vor:

„Hörspiel umreißt im Kontext des öffentlich-rechtlichen
und des privaten Rundfunks und im Sortiment der Verlage
ein fiktionales oder non-fiktionales akustisches Ereig-
nis, das mittels elektromagnetischer Wellen von einem
Sender (Rundfunkanstalt) zu einem Empfänger (Hörer)
abgestrahlt werden kann. […] Technische Voraussetzung
des Hörspiels ist die Umwandlung von Schallenergie in
elektrische Energie.“16

Das Hörspiel kann sich auch als „Zusammentreffen
signifikanter akustischer Signale (oder Pausen)“1 ver-
stehen: Menschliche Sprachsignale (mit der Stimme als
Instrument der Verlautbarung des Wortes), Musik und
Geräusche, die durch das Medium Radio gesendet und
empfangen werden. Das gesprochene Wort ist im Hör-
spiel mehr als nur Informationsträger. Die Form, der Klang
des Wortes durch die Stimme des Sprechers, die Insze-
nierung und die technische Verarbeitung sind auch Sinn
vermittelnd – und genau das wird in „der kleine Mann im
Ohr“ thematisiert: Junior nimmt akustische Signale auf,
wandelt sie in elektrische Signale um. Er fühlt sich wie
eine Maschine, wie ein Radio, das sendet und empfängt.
   „Mit dem Eingang ins Mikrofon wird das Schallereig-
nis herausgenommen, herausgelöst aus seiner natürlichen
Umgebung, in elektrische Spannungen umgewandelt und
damit in verschiedener Weise verfügbar und modellierbar
gemacht. Es wird ein neuer Aggregatzustand erreicht, der,    16   Hörburger, 1.
ästhetisch-dramaturgisch gesehen, eine völlig neue Dar-      1   Ebd.
stellungsebene eröffnet.“1                                  1   Klippert, 1. S. 15
22   Im Manuskript sind Juniors Monologe mit „ab hier              Klangkomposition aus Stimmen. Die dargestellte reale
     abgleiten in den Monolog mit anderer Atmo“ gekenn-            Welt, Basis der Handlung, wird zugleich Audio-Rohma-
     zeichnet. Diese „andere Atmos“ bedeutet für das Hör-          terial für die „anderen Atmos“: es ist keine Neuschöpfung
     spiel, was die oben zitierte neue Darstellungsebene für       – es ist eine Neuverwendung oder eine Andersverwen-
     Hörspiele meint: Modellierte, verfremdete Stimmen in          dung. Die Gesetzte der Sprache entgehen Junior. Die
     neuem Aggregatzustand. Und diese neue Darstellungs-           Stimmen sind da, er kann sie empfangen. Aber ihre
     ebene möchte ich für diese „anderen Atmos“ akustisch          Zusammenstellung, das System, das ermöglicht, sie zu
     umsetzen in eine elektro-akustische Komposition für           kombinieren, zu dekodieren und zu verstehen, fehlt ihm.
     Stimme. Aus den Wortspielen des Textes zum Hörspiel.
                                                                   Ich nutze den Spannungsbogen der Haupthandlung, der
     „Wird Musik als Hörspiel deklariert, dann ist man grund-      klassischen, vertrauten, narrativ erzählten Geschichte,
     sätzlich vom Zwang befreit, alles Sprechbare singen zu        um in Juniors Welt hineinzugleiten. Ich lade die Zuhörer
     lassen, oder die Worte so zu artikulieren, daß Verzerrungen   ein, nachdem ich ihnen nach bekanntem Muster eine
     unvermeidbar sind. Das Komponieren von Hörspielen soll        Story vorgestellt habe, in Juniors verfremdete Wahrneh-
     kein Ersatz für alle anderen Möglichkeiten der Verwen-        mung mitzukommen. Hinter dem kleinen Mann, hinter
     dung von Sprache in der Musik sein, sondern eine legitime     dem Filter: die Zuhörer müssen selbst den Filter deko-
     Form mehr, welche allerdings eine semantische Entschär-       dieren. Die Stimmen, verzerrt, verfremdet, verweisen
     fung des Wortes vermeidet. Das musikalische Material          nicht mehr auf erkennbare, vertraute Worte. Das System
     kann im Kontakt mit dem Hörspiel bereichert werden und        der Sprache ist gestört, unbekannt: dem Hörer ist die
     vice versa.“1                                                Interpretation der Kompositionen überlassen.

     Ich habe mich dazu entschlossen, nahe an den Grund-           Die Stimme.
     ideen und dem Schreibstil von dem Autor zu bleiben.           Das Benutzen einer Sprache enthält zwei Aspekte: die
     Seine Art zu schreiben, sein Umgang mit Sprache und           Produktion und das Verstehen. Wenn wir sprechen, den-
     Wörtern werden zu meiner Art mit Stimmen zu arbeiten:         ken und formulieren wir einen Satz, den wir durch eine
     da es auf der Beziehung zwischen Inhalt und Form oder         Lautfolge wiedergeben. Das Verstehen erfolgt in der an-
     besser gesagt, auf der Gleichstellung von Inhalt und          deren Richtung: Klänge werden aufgenommen, an einen
     Form als Informationsvermittelnde beruht, möchte ich          Sinn angeknüpft und verstanden. Wir unterscheiden bei
     diese Charakteristik in mein Gestaltungskonzept aufneh-       diesem Kommunikationsprozess drei Ebenen: die Syntax
     men: die Stimmen sollen die Hauptrolle übernehmen.            (die Sätze, das System in dem Wörter miteinander
        Die Dualität im Text, zwischen den „realen“ line-          kombiniert werden können), die Wörter und Morpheme
     aren Dialoge einerseits und den „Atmos“ von Juniors           (bedeutende Lautzusammensetzung) und die Phoneme
     Monologe andererseits, soll im Akustischen erhalten           (gesprochene Laute).
     bleiben. Das Hörspiel folgt zwei Arbeitsverfahren: die           Die gesprochene Sprache wird durch die Stimme
     „klassische“ Inszenierung realer Situationen (die Dialoge     übertragen. Die Stimme erlaubt die Materialisierung der
     mit Geräuschvertonung) und Juniors verträumte Welt als        Sprache durch Kombination von Zeichen. Das durch die
Stimme erzeugte akustische Phänomen (Lautfolge) wird                                                      23
erst Sprache, semantisches Phänomen durch die Wahr-
nehmung anderer. Wie andere analoge Medien, stellt
die Stimme kein neutrales Werkzeug der Sinnübertra-
gung dar. In dem Text „Sechs Lektionen über Stimme und
Bedeutung“ beschreibt Mladen Dollar, was die Stimme
über den Sinn hinaus vermittelt. Auf einer Seite hat man
die Ebene der Bedeutung: die Laute werden kombiniert
und ergeben Sinn. Auf der anderen Seite, gibt es die
Materialität der Stimme, ihre Musik, eine Lautkunst, die
nichts mit der Bedeutungsebene zu tun hat. Ein schönes
Beispiel dafür ist die Übersetzung des Titels einer Vorle-
sung von Roman Jakobson ins Französische „Six leçons
sur le son et le sens“20. Die S-Alliteration trägt nichts
zu der Bedeutung der Wörter bei, sie ist Material für
poetische Wirkung. Dieser Überschuss kann außerhalb
des linguistischen Codes inszeniert werden, auf einer
anderen Bedeutungsebene, wie es beim Gesang der Fall
ist. Sehr interessant sind auch die Bemerkungen von
Mladen Dollar über die Beziehungen zwischen Stimme
und Körper.
    Die Stimme braucht einen Körper um zu senden und
zu empfangen. Sie gehört jedoch eigentlich nicht dem
Körper, sondern sie ist Schnittstelle zwischen Körper und
Sprache. Sie signalisiert die Anwesenheit des Sprechers.
Dadurch, dass man seine Stimme erklingen lässt, dass
man seine Sprache vermittelt, wird man zu einer Person
                      ¯                            ¯ ¯
(von lateinisch persona von per = durch und sonare =
tönen)21. Wenn aber eine Stimme nicht geortet werden
kann, wenn ihr Ursprung nicht lokalisierbar ist, scheint
sie von überall her zu kommen, sie gewinnt dann an
Kraft, sie scheint omnipotent. Die innere Stimme (so der
kleine Mann im Hörspiel) ist an der Schnittstelle zwi-
schen dem Subjekt und dem Anderen, spielt die Rolle          1   Zitiert in Hörburger, 16. S. 11
des innerlichen Anderen.                                     20   Six lectures on sound and sense. Ebd.
                                                             21   Krämer, 2003. S.2
24   Mein Konzept                                               Stimmen handelt. Meine Verfremdung der Stimmen
                                                                befindet sich nicht an der Quelle des Klangs, bei den
     „Versuchen sie doch erst einmal, aus dem Ohrensausen       Sendern, sondern bei den Empfänger.
     etwas herauszuhören. Es ist ihr Ohrensausen, ihr ganz
     eigenes. Es hat ihnen mehr zu sagen als jeder Mensch.“22

     Ein der wichtigsten Bestandteile meiner Arbeit, jenseits
     der Inszenierung der Stimmen im Raum und den Re-
     gieanweisungen an die Sprechern, ist die Komposition
     des Tinnitus, eine technische Verarbeitung der Stimme
     selbst. Die „bedeutenden“ Stimmen, die Stimmen, die
     Sprache übertragen, sind im Hörspiel zugleich Rohma-
     terial für den Aufbau der im Manuskript markierten
     „Atmos“ („ab hier mit anderer Atmo“). Sie werden in
     ihrer Substanz auseinandergenommen (von Sätzen zu
     Wörtern zu Morphemen zu Phonemen und sogar noch
     weiter) und neu zusammengesetzt. Die Stimmen, die
     Junior empfängt, verlieren durch ihre Dekomposition
     ihre Rolle als Sprachvermittler, nur der Überschuss, die
     Materialität der Stimme bleibt erhalten. Die Stimmen
     weisen nicht mehr auf Sprache hin. Sie brechen die
     Verbindung zwischen Objekt, Wörtern und Ideen ab.
     Sie werden in ein neues unbekanntes semiotisches
     System eingebettet, das die Welt neu ordnet. Die
     Dekomposition/Komposition ist ein klassischer Prozess
     des Verstehens, z. B. in der Lösung von Rätseln oder
     mathematischen Problemen.

     Ich setze sozusagen den kleinen Mann im Ohr ein, den
     Filter, den Parasiten, das Element im Junior, das seine
     Wahrnehmung der Welt verzerrt. Wie ich konkret mit den
     Stimmen der jeweiligen Szenen umgegangen bin, werden
     Sie in Kapitel die nachbearbeitung näher erfahren.
         Ich möchte noch betonen, dass diese Verarbeitung
     der Stimmen nicht aus einer Arbeit mit den Sprechern
     resultiert, sondern, dass es sich um Nacharbeitung der
organisation                                                                                                    25


Parallel zur Literaturrecherche und Analyse des Manusk-
ripts startete ich die Suche nach Sprechern und Aufnah-
memöglichkeiten. Ich meldete mich bei unterschied-
lichen Online-Plattformen und bei Hörspielforen an, um
Sprecher und Schauspieler zu finden, und erhielt einige
Rückmeldungen.

Bei Tesla23 in Berlin, Labor für mediale Performance, Mu-
sik, Klang- und Medienkunst, wo ich 2005 ein Praktikum
absolvierte, besuchte ich eine Radioveranstaltung von
Lars Feistkorn mit Séamus O‘Donnell und Jürgen Eckloff
zum Thema „Sprache/sprechen“ über Samuel Beckett:
„Samuels Hintergrund Strahlen“. Diese Live-Performance
für Stimme und Stimmklänge, Cut-ups und Elektro-
nics begeisterte mich so sehr, dass ich Kontakt zu dem
klassisch ausgebildeten Opernsänger und Performer Lars
Feistkorn aufnahm. Er sollte bald für die Rolle des Chefs
zusagen.
   Die Suche nach einem Sprecher für Junior erfolgte
auf der Grundlage eines Castings. Auf Lars Feistkorns
Empfehlung hin, lud ich den Schauspieler Christian
Rodenberg ein.

Für die Nebenrollen Ärztin/ Stimme in der Bar/ Sekretä-
rin und Pennerin entschied ich mich für Maren Krüger.
Ich hatte das Glück, Annemarie Thiede einladen zu
können, um den Fernsehbericht einzusprechen.

Das Hörspiel wurde im Juni und Juli 2006 im Broadcast-
studio der T.U. Berlin (Radio 100000) aufgenommen.



                                                            22   Der kleine Mann im Ohr, Die Ärztin, Szene 1.
                                                            23   http://www.tesla-berlin.de
26   Die Sprecher                                               Maren Krüger [die Ärztin/ die Pennerin/ die Sekretärin/ 
     Christian Rodenberg [junior]                               Stimme in der Bar]
     Christian Rodenberg, geboren 1, ist Schauspieler, Mu-   Studium der Anglistik und Romanistik und Soziologie an
     siker und Synchronsprecher. Er studiert an der Transform   der Universität Rostock und Mediengestaltung an der
     Schauspielschule in Berlin.                                Bauhaus Universität Weimar.
     Theater (Auswahl):                                         _Berichtete für TV Rostock 1 – 1
     _Felix in „Methusalem oder Der ewige Bürger“ von Ivan      _NDR Radiosprecherin 1
     Goll mit Ensemble Vorgang / StudioBühne Mitte, Berlin.     _Zahlreiche Videovertonungen und Radiobeiträge im
     _Clov in „Endspiel“ von Samuel Beckett im Theaterdock      Rahmen ihres Studiums an der Bauhaus-Universität.
     in der Kulturfabrik, Berlin.                               _Musikerin und Sängerin in der Band „die Ramonas“
     _“Go with the flow (Die Wahrheit über „Vom Winde
     verweht“)“ mit MARS_productions Ltd. im Theaterdock,       Annemarie Thiede [die Fernsehstimme]
     Berlin.                                                    _zwischen 1 und 1 bei verschiedenen Radiosen-
     _Benjamin in „Die Weiße Ehe“ von Tadeusz Rozewicz im       dern (Radio 10.1 in Bremen, Radio TON in Heilbronn),
     Teatr Studio am Salzufer, Berlin.                          wo sie Reportagen, Werbung, Nachrichten und weitere
                                                                Beiträge realisierte und einsprach.
     Aktuelle Bands/Musikprojekte:                              _Diplom in Mediengestaltung an der Bauhaus-Universi-
     _Rupert‘s Kitchen Orchestra                                tät- Weimar, 2005.
     _Equilibrium Slim                                          _Mitglied der Band „die Ramonas“ und Sängerin für
     _Engelstiere                                               „sta:ry 6“.
     _Aj Chrazy                                                 _Zahlreiche Beiträge für das „Studio B11“ das experi-
     _Gourmets du Groove (Gast)                                 mentelle Radio der Bauhaus-Universität-Weimar und
                                                                für Radio Funkwerk in Erfurt und Weimar (Station ID,
     Lars Feistkorn [der Chef]                                  Jingles, Trailer…).
     Lars Feistkorn ist Sänger und Performer. Nach einigen
     Theater-Produktionen in seiner Heimatstadt Essen, stu-
     dierte er Operngesang in Berlin. Teilnahme an diversen
     Opernproduktionen als Solist (Bass). Aktives Interesse
     auch an Experimentellem Musiktheater, Improvisation,
     Schauspiel, Lesung, Performance, eigener Lyrik und
     Prosa immer in begleitung von diversen Körperarbeits-
     techniken und Tanz. Seit 2005 intensivere Arbeit in
     experimenteller improvisierter, insbesondere elektro-
     akustischer Musik.
die nachbearbeitung                                        Tätigkeiten und Bewegungen wurden mit Geräuschen           2
                                                           vertont, die man leicht einordnen kann (Tür auf und zu,
Im Studio sind zwischen 3 und 10 Takes für jede Szene      Schritte, Sesselgeräusche…).
aufgenommen worden. Der nächste Schritt war es die            Damit die Zuhörer sich in den verschiedenen Or-
Aufnahmen auszusortieren. Die Auswahl fiel nicht im-       ten zurechtfinden können, haben ich unterschiedliche
mer leicht: feine Betonungsvariationen, unterschiedliche   akustische Räume gestaltet, einem einfachen Muster fol-
Atemzüge und Pausesetzungen, jede Aufnahme klingt          gend. Es handelt sich bis auf den Bahnhof um geschlos-
anders, bedeutet anders als ein andere. Der gesamte        sene Räume (Büro, Arztpraxis, Küche, Wohnzimmer,
Rhythmus und die Melodie einer Replik waren meis-          Bar), die bestimmten bekannten Geräuschen zuzuordnen
tens das entscheidende Kriterium um eine Auswahl zu        sind. Junior als Hauptdarsteller wurde auf die Seite der
treffen.                                                   Zuhörer gesetzt, mittig. Die anderen Rollen wurden ihm
                                                           gegenübergestellt, leicht auf der linken oder rechten
Die variable Lautstärke unter den Sprecher (Selbstver-     Seite.
trauter Chef und schüchterner Junior) wurde angegli-          Am Bahnhof läuft die Pennerin auf dem Gleis herum,
chen. Da die Stimmen auch Klangmaterial für die Kom-       nähert und entfernt sich wieder.
position sind, habe ich sie in ihrem Ganzen behalten
mit ihren Nebengeräuschen (Ein-/ Ausatmen, Räuspern,       Während des Schnittes an den Repliken habe ich eine
Versprecher, Lachen…).                                     Dynamik eingefügt. Die „reale Welt“ startet meistens
                                                           mit einem ruhigen Tempo, das durch die Unterhaltung
Das Hörspiel basiert auf den Gegensätzen der zwei          zwischen dem Chef und Junior beschleunigt wird, bis
Welten. Einerseits die vertrauten Situationen (das         der junge Mann den Bezug zur Realität verliert und in
Vorstellungsgespräch, bei der Ärztin, am Bahnhof, in       seine verträumte Welt gerät.
der Bar…) und andererseits Juniors verträumte Welt.           Die Zuhörer sollen mit Junior in seine Welt der ver-
Sie wurden entsprechend unterschiedlich bearbeitet. In     zerrten Wahrnehmung eingeführt werden, daher habe
diesem Kapitel stelle ich Ihnen erst einmal vor, wie die   ich die „anderen Atmos“ langsam eingeblendet, so dass
Dialoge und Gespräche des Hörspiels produziert wurden      man nur durch intensives und aufmerksames Zuhören,
und dann werde ich Ihnen eine detaillierte Beschreibung    die Trennung zwischen die zwei Welten erkennen kann.
der „anderen Atmos“ präsentieren.
                                                           Die Komposition
Die Dialoge und Gespräche.                                 Wenn Junior sich von der realen Welt trennt, agiert der
Die Dialoge und Gespräche wurden in einer möglichst        Tinnitus oder der „kleine Mann“ als Filter in seinem
klassischen Art produziert. Unter dem Begriff „klas-       Ohr. Das gilt durchgehend im ganzen Hörspiel. Nur
sisch“ verstehe ich eine simple Vertonung, die nach        die Verfahren, nach denen dieser Filter funktioniert,
gewöhnlichen Konventionen die Realität wiederzugeben       variiert je nach Situation. Ich habe die Komposition der
versucht. Die Charaktere wurden realistisch in den Raum    unterschiedlichen „anderen Atmos“ an den Inhalt der
gesetzt, ohne übermäßige, unecht wirkende Effekte. Ihre    vorhergehenden Dialoge bzw. Monologe angeknüpft:
2   was Junior wahrnimmt, besteht ausschließlich aus den            Bearbeitung: die Klänge bewegen sich im Raum von
     Stimmen, die gerade vorgekommen sind.                         außen nach Innen, und von Innen nach Außen.

     Auch die Räumlichkeit Juniors verfremdeter Wahrneh-           Szene 4: Im Zug.
     mung wurde erarbeitet. Nur folgt sie keiner bestimmten        Junior ist im fahrenden Zug. Er selbst bewegt sich nicht.
     Regel: die Klänge können extrem wandern, sich verdop-         Die Situation soll Juniors Verwirrung in der Kommuni-
     peln und sich mischen und wieder von einandertrennen.         kation darstellen. Er steht mitten in einem kommunika-
     Die Stereoeffekte dienen nicht mehr der Lokalisierung         tiven Element (dem Zug), mitten in einem Netz, zwi-
     der Klänge.                                                   schen Bahnhöfen, aber er selbst bleibt statisch.
        In diesem Kapitel möchten ich Ihnen meine Arbeits-            Bearbeitung: Kommunikation als Weg und Zug-
     verfahren für die jeweiligen Szenen vorstellen.               durchsage als Lokalisierung („nächste Station“), die
                                                                   er nicht versteht. Nicht nur die Stimmen werden hier
     Die „andere Atmos“                                            verarbeitet, sondern auch die Zuggeräusche als Me-
     Szene 1: Die Leitung                                          tapher der Verwechslung zwischen Information und
     Für die erste Szene habe ich mich für ein klares und          Informationsträger.
     deutliches Verfremdungsverfahren entschieden: es ist
     die Einleitung im Hörspiel, daher soll an dieser Stelle der   Szene 5: Vorstellungsgespräch.
     Prozess der Sprach- und Stimmverzerrung einen leichten        Bei der ersten Begegnung mit dem Chef wird Juniors
     Einstieg in mein Gestaltungskonzept anbieten. Nachdem         Tinnitus kräftiger. Er greift ihn als Strahlen und Krach an
     Junior den Namen und den möglichen Ursprung seiner            bis Junior richtig destabilisiert ist.
     Krankheit erfährt, führt er einen Monolog, in dem er
     sich an das Telefonat mit der Sekretärin erinnert. Die        Szene 6: Junior verträumt bei dem Vorstellungsgespräch.
     Stimme Juniors entwickelt sich langsam zu dem geschei-        Junior stellt fest, dass er sich eigentlich nicht mehr mit
     terten Kommunikationsversuch. Seine Stimme verwan-            allem beschäftigen sollte und Ruhe erst in der Isolati-
     delt sich selbst zu Zeichen des gescheiterten Telefonats.     on finden könnte. Nur wird er von fremden Stimmen
        Bearbeitung: kurze Schleife.                               überholt.
                                                                      Hier nutze ich unterschiedliche Aufnahme der Szene
     Szene 2: Strahlen Empfangen.                                  um einen Kanon aufzubauen. Die fremden Stimmen sind
     Aller Anfang des Vorstellungsgesprächs… Hier erfährt          Juniors verfremdete innere Stimme.
     man, dass Junior ein grundsätzliches Problem mit dem
     Empfang und dem Aufnehmen von Informationen                   Szene 7: Vorstellungsgespräch.
     hat: sie werden zu Kakophonie und als Sprache nicht           Junior kann nur wiedergeben, er kann die Infos empfan-
     mehr erkannt. Er kann die unterschiedlichen Arten von         gen und sie weiterleiten. Der Tinnitus herrscht über sei-
     Strahlen nicht mehr von einander unterscheiden. Er            ne Fähigkeit zu senden. Die Stimmen drängeln in seinem
     verwechselt das Senden mit dem Wiedergeben, versucht          Ohr. Die Atmosphäre ist hier gespannt, so dass Junior
     allerdings noch auszusortieren.                               sich zum ersten Mal gegen seinen Tinnitus wehrt.
Bearbeitung: die Stimme von Junior im Monolog                                          2
musst gegen den Fluss der Geräusche kämpfen.

Szene 11: das Ende des Vorstellungsgesprächs.
Junior wehrt sich nicht mehr gegen seinen Tinnitus, er
versucht ihn zu verstehen. Die Stimmung ist ruhig und
gelassen.

Ableton live.
Für die gesamte Arbeit habe ich die Software „Live“ der
Berliner Firma Ableton24 verwendet. Das Projekt wird
durch elektronische Live-Performer, Musiker und Pro-
grammierer geleitet und ist innerhalb von fünf Jahren zu
einem sehr beliebten und geschätzten Tool für Bühnen-
auftritte geworden. Die innovative Seite der Software,
die 2001 auf den Markt gebracht wurde, besteht in der
Option, während der Aufnahme oder der Wiedergabe
eines Songs die Audio-Dateien „live“ ohne Qualitätsver-
lust zu bearbeiten.

Die Software ist ein Audiosequenzer, der für Echtzeit-
Verfremdung optimiert wurde. Das heißt: es ist möglich
einen Song abzuspielen, dabei einzelne Audiodateien
(Clips) durch Effekte zu manipulieren und das Ganze
(mit den Drehen an Effektparametern) aufzuzeichnen
für eine spätere Bearbeitung. Außerdem kann „Ableton
Live“ auch wie ein klassisches Musikstudioprogramm mit
Mischpult, Effekten, Send/ Aux benutzt werden.

Jede Audiodatei ist ein eigenständiger Clip und kann
beliebig, unabhängig vom Songablauf, durch Mausklick,
externe Controller oder durch Computertaste getriggert
werden. Ich kann einer Taste [a] meiner Tastatur einen
bestimmten Klang zuweisen und [b] einen Effektpara-
meter usw. die Bedienung der Software ähnelt sich die
einem Musikinstrument.                                     24   http://www.ableton.com
30   Beispiel
     Ich starte das Programm und schließe mein Mikrofon
     an der ersten Spur an und nehme den Satz „der kleine
     Mann im Ohr“ auf. Die Audio-Datei [der kleine Mann im
     Ohr] wurde aufgezeichnet – und ich kann sie (zum Bei-
     spiel als Schleife) bereits wiedergeben. Also wiederholt
     sich der Satz. Während der Wiedergabe trenne ich den
     Satz in fünf Wörter und weise jedem Wort eine Taste
     meiner Tastatur zu ([d] für „der“; [k] für „klein“, usw…).
     Jetzt kann ich mit meiner Tastatur beliebig spielen: [d]
     [k] [m] [i] [o] [k] [m] [d] [i] [o] [k] [m] [d] [o] [i] [i] [i]
     – Wir hören: „der kleine Mann im Ohr kleine Mann
     der im Ohr kleine Mann der Ohr im im im“. Es ist nun
     möglich, jedem einzelnen Wort durch Kürzen, Dehnen,
     Beschleunigen u.a. zu verfremden: von „der“ behalte ich
     nur das „d“ Ansatz, vom „kleine“ das Ausatmen, vom
     „Mann“ die Vokale „a“… also hören wir durch die selbe
     Tastenfolge wie vorhin „d/hum/aaaaa/iiiiiiiii/r/hum/d/i/
     r/hum/aaaaaaaa…“: ich habe ein Instrument program-
     miert, dessen Klang aus Wörtern, Silben, Morphemen
     und Phonemen besteht und dessen Farbe durch Modu-
     lation von Effekten nuanciert werden kann.

     Ableton Live ist also einerseits ein klassisches Musikstudio
     Programm, mit linearer Bedienung und Zeitablauf, ande-
     rerseits ein Sampler (jeder Zeit ist jede Datei abrufbar und
     als Schleife abspielbar). Das ermöglicht eine Arbeit auf
     zwei Ebenen mit einer Grundspur, auf der eine Improvisa-
     tion aus den selben Audiodateien gesetzt wird.
        Die spielerische und intuitive Bedienung der Software
     bietet viel Freiheit bei der Komposition, das ständige
     Aufzeichnen ermöglicht späteren Zugriff für weitere
     Bearbeitung. Durch diese Eigenschaften eignet sich Ab-
     leton Live perfekt, um mit ihm mein Gestaltungskonzept
     umzusetzen: nicht linear arbeiten, die Klänge beliebig
     schneiden, modulieren und neu zuordnen.
schlusswort                                                 31


Der kleine Mann im Ohr ist ein Spiel mit dem Hören,
mit der Sprache, mit der Stimme, mit der inneren
Stimme. Der kleine Mann im Ohr ist der Tinnitus, eine
psychosomatische Störung der Hörfunktion, die Klänge
fängt, verfremdet und sie als neu codiertes Signal in
endloser Schleife an den Verstand sendet. Er kann den
Empfang von Informationen so beschädigen, dass die
Kommunikation mit dem Anderen durcheinanderge-
bracht wird. Oder vielleicht anders herum. Die Verwei-
gerung Informationen aufzunehmen, die Unfähigkeit
sich in seiner Umwelt zu integrieren, sich mit der Welt
auseinanderzusetzen fördern die Entwicklung eines Tin-
nitus, eines Filters, der vor der Realität schützen soll.
   Der kleine Mann im Ohr im Hörspiel zerlegt die
Stimmen bis in ihre kleinste Einheit. Sie werden als In-
formationsträger empfangen, die getragenen Informati-
onen selbst aber nicht mehr. Die Verknüpfung zwischen
gesprochenem Laut und Vorstellung, die Linearität der
Sprache, beide wesentliche Konventionen der sprach-
lichen Kommunikation, werden durch die Verzerrung
gebrochen.
   Die verfremdeten Stimmen können ihre Funktion als
Zeuge der Anwesenheit, als Schnittstelle zwischen dem
Körper und der Sprache, als Verbindung zu dem Ande-
ren, nicht mehr erfüllen: sie trennen von der Welt ab.
Der Bezug zur Realität geht verloren.
   Was empfangen wird, ist was von den Stimmen übrig
bleibt: alles was der Sinnvermittlung nicht dient. Dieser
Überschuss, in neuer Form und in neuer Zusammen-
setzung, bildet eine andere Ebene der Wahrnehmung,
neue Zeichen in einem fremden System. Wie diese zu
interpretieren sind, wird den Zuhörern überlassen, sie
werden zum Zeichendeuter.
33




der kleine mann im ohr (manuskript)
1. Szene                                                   Junior: Was soll denn das heißen?                            35


Ärztin: durch den Lautsprecher Der nächste, bitte!         Ärztin: Das soll heißen, daß sie und ihr Ohrensausen eins
                                                           sind. Es gehört zu ihnen. Es ist ein Teil von ihnen wie
Kleine Pause.                                              ihre Hand. Sie möchten doch auch nicht, daß ich ihnen
                                                           die Hand abschneide.
Ärztin: Sie haben sich also ein Ohrensausen ins Haus
geholt. Das nennen die Mediziner Tinnitus, damit es        Junior: Fangen sie jetzt auch so an.
niemand sonst versteht. Die meisten Ärzte würden ih-
nen dagegen Infusionen verschreiben. Die sollen ihr Blut   Ärztin: Versuchen sie doch erst einmal, aus dem Ohren-
verdünnen.                                                 sausen etwas herauszuhören. Es ist ihr Ohrensausen,
                                                           ihr ganz eigenes. Es hat ihnen mehr zu sagen als jeder
                                                           Mensch.
Junior: Ist es denn zu dick?

Ärztin: Zu dick, um gut zu fließen. Bei ihnen stockt der   Junior: Was soll ich denn da heraushören? Es spricht kein
Fluß. Das bedeutet: So geht´s nicht weiter.                Deutsch! Es ist einfach nur ein eintöniges Summen!

Junior: Ich habe aber Angst vor Infusionen. Das heißt      Ärztin: Ja schon, aber warum ist es da?
ich habe Angst vor der Nadel. Bei Blutabnahmen bin ich
schon zweimal ohnmächtig geworden. Es ist ja gar nicht     Junior: Was weiß ich! Dafür bin ich ja hier - damit sie´s
der Schmerz, so zimperlich bin ich nicht. Nur kann ich     mir sagen.
es einfach nicht ertragen, wenn Fremdkörper in mich
eindringen.                                                Ärztin: Ich vermute, genau das ist ihr Problem. Sie
                                                           erwarten stets, daß andere es ihnen sagen. Obwohl sie
Ärztin: Sie sagen es. Sie haben etwas gegen Fremdkör-      die Antwort mit sich herumtragen. - Seit wann haben sie
per. Bei Nadeln verlieren sie das Bewußtsein. Und wenn     das Geräusch denn?
Menschen ihnen zu nahe kommen, verlieren sie das
Gehör.
                                                           Junior: Hhhhm … schon seit längerer Zeit. Aber vor
                                                           ein paar Tagen ist es plötzlich lauter geworden. Richtig
Junior: Gibt es dagegen denn keine Tabletten oder so-      aufdringlich.
was? Bloß keine Infusionen!
                                                           Ärztin: Ist ihnen in der letzten Zeit irgendetwas zugesto-
Ärztin: Es ist die Frage, ob ich ihnen überhaupt etwas     ßen? Hat sich etwas Besonderes ereignet?
gegen das Ohrensausen geben sollte. Denn damit würde
ich ihnen etwas geben, das gegen sie wirkt.                Junior: Hm? Was meinen sie denn? Einen Unfall hatte
                                                           ich keinen.
36   Ärztin: Na, so weit sind sie noch nicht! Lassen sie mich       Nummer der Firma getippt, als wären es Lottozahlen …
     mal anders fragen: Haben sie in der letzten Zeit unter         ab hier abgleiten in den Monolog mit anderer Atmo
     besonderen Belastungen gelitten, hatten sie Ärger oder         … und dann hatte ich eine Leitung, eine freie Leitung,
     großen Streß …                                                 ein freies Zeichen … Ja … ja … Hallo, hallo. Hallooooo
                                                                    … aber es meldet sich niemand … es ist eine freie Lei-
     Junior: Streß hab ich immer.                                   tung, aber leider auch eine lange Leitung, und ich muß
                                                                    lange aushalten - durchhalten, besser gesagt, denn es
     Ärztin: Was geht denn so in ihrem Kopf vor. Was be-            knistert in der Leitung, es knuspert, es tutet in der Lei-
     schäftigt sie.                                                 tung, tut - tut macht es, tut - tut, tut - weh … es knackt,
                                                                    als würde etwas brechen … und ich horche … und ich
     Junior: lacht auf Was mich beschäftigt? - Daß mich nie-        ho … und ich … oh … meine Oh … meine Ohren … es
     mand beschäftigt! Das ich arbeitslos bin! Und obendrein        schneidet in meine Ohren … was ist das … was sticht
     verarscht werde!                                               da in meine Ohren … das frage ich … es ist ja nur eine
                                                                    Frage, die tut doch nicht weh …
     Ärztin: Wer verarscht sie?

     Junior: Na zum Beispiel der Chef von dieser Firma da,
     wo ich letzte Woche war, zum Vorstellungsgespräch …            2. Szene
     Der hat mich nur zu sich bestellt, um mich zu quälen …
                                                                    Telefonat. Die Sekretärin spricht durch den Hörer.
     Einblendung: Junior erinnert sich an den Chef; er hört die
     Stimme des Chefs im Kopf, sie klingt traumhaft ver-            Junior: Bitte verstehen sie die Frage nicht falsch, ich bin
     schwommen                                                      mir einfach nicht ganz sicher …

     Chef: Sie suchen Arbeit? Sie sie sicher, daß sie nicht etwas   Sekretärin: Das überlassen sie mal am besten mir, was
     anderes suchen? Etwas viel Schöneres und Wertvolleres?         ich wie verstehe.
                                                                    - Wenn sie ganz sicher gehen möchten, tragen sie am
     Junior: Ich hab mir soviel Mühe gegeben. Also ich mei-         besten einen dunkelblauen Anzug. Dunkelblau ist seine
     ne, ich hätte mir Mühe gegeben, hätte ich die Chance           Lieblingsfarbe. Außerdem wirkt es seriös und paßt damit
     gehabt. Ich hab mich so gut auf das Vorstellungsge-            ideal zu einem Vorstellungsgespräch. Ach ja, was noch
     spräch vorbereitet, hab sogar mein letztes Geld für            wichtig ist: Es muß ein Einreiher sein. Bloß keinen Zwei-
     einen Anzug ausgegeben. Weil ich einen guten Ein-              reiher! Zweireiher kann er nicht ausstehen.
     druck machen wollte. Aber der hat mich kaum zu Wort
     kommen lassen, und mein Anzug war ihm auch egal! Ich           Junior: Aha … und die Krawatte? Sollte die Krawatte
     hab extra die Sekretärin gefragt, was für Sachen er am         auch eine bestimmte Farbe haben?
     liebsten hat … ich hab sie extra angerufen … ich hab die       Sekretärin: Nun … da gönnen sie sich ruhig ein wenig
Freiheit. Vielleicht überlegen sie sich, ob sie nicht besser   bin auf Empfang, ja bin ich denn ein Radio, ja muß ich       3
eine Fliege tragen. Er trägt nur Fliegen. Andererseits …       denn wiedergeben, was andere ausstrahlen, und es gibt
wenn sie mit einer Fliege ankommen, könnte er meinen,          ja so viele Sorten von Strahlen. Alle treffen sie sich in
sie wollten sich bei ihm beliebt machen.                       meinen Ohren zu einem Schwatz. Das nennt man Kako-
                                                               phonie, glaube ich, oder Scheißophonie. Ja bin ich denn
Junior: Eigentlich ist das ja auch mein Ziel.                  ein Ort der Begegnung. Immerzu dieses Singen aus den
                                                               Sendern, und dann noch dieses Rauschen aus den Atom-
Sekretärin: Das muß man ja nicht so plump anstellen!           kraftwerken, Strahlen, Strahlen, ich werde noch ganz
Wenn sie meine Meinung wissen wollen: Lassen sie               blöd. Es gibt keine Stille, nie. Weil: Ich bin empfänglich
das ganze Gebinde weg und kommen sie mit offenem               für Strahlen. Für Strahlen aller Art. Ich bin ein Medi-
Hemdkragen, das sieht sportlich aus und frisch.                um. Ich mache Strahlen hörbar. Allerdings nur für mich
                                                               selbst. Ich bin mein eigenes Radio. Ich bin mein eige-
Junior: Auch gut. Wie finde ich denn am besten zu              ner Geigerzähler. Hallo? Hallo? Wie bitte? Ist das deine
ihnen?                                                         Stimme oder ist es ein anderer Sender? Woher kommen
                                                               sie? Verstehe. Jedenfalls ist es nicht meine eigene Stim-
Sekretärin: Kommen sie mit dem Auto?                           me. Hab ich mir schon gedacht. Inzwischen hab ich den
                                                               Dreh raus. Ich erkenne sie schon an der Strahlung. Ich
Junior: Nein, ich habe kein Auto.                              erkenne sie schon, ich habe sie schon gehört, jetzt hab
                                                               ich sie, jetzt hab ich ihre Frequenz, einen Moment noch,
Sekretärin: Na, dann nehmen sie die S-Bahn, die hält           gleich bin ich auf sie eingestellt …
hier fast vor der Haustür …

Junior: Dann sagen sie mir doch bitte noch den Namen
der Haltestelle.                                               3. Szene

Sekretärin: Rödelheim müssen sie raus.                         Das Rauschen eines verstellten Radios.

Junior: … Aha … vielen Dank … Rödelheim … so also              Vater: Du hast meinen Sender verstellt! Meinen Sender
heißt die Station … muß mir den Namen einprägen …              an meinem Radio!
muß an dieser Station raus …
ab hier abgleiten in den Monolog mit anderer Atmo              Das Radio wird eingestellt, aus dem Rauschen wird
… ach, schon wieder muß ich einen Namen aufnehmen,             Schlagergesang: „Es fährt ein Zug nach nirgendwo“ von
schon wieder muß ich etwas in mich reinlassen, muß ich         Christian Anders.
hinhören, was die Stimme aus dem Lautsprecher sagt:            Aufdringlich-vordergründiges Gurgeln einer Kaffeemaschi-
Nächste Station: … - die Stimme ist ein Sender mit einer       ne kommt hinzu.
Sendung, und ich, ich bin auf die Station eingestellt, ich
3   Vater: vehement, fordernd Wirst du wohl dein Brötchen      4. Szene
     aufschneiden!
     Ich will es knuspern hören!                                Atmo unterirdische S-Bahn-Station Hauptwache in Frank-
     Ich will die Krümel spritzen sehen!                        furt am Main. Menschenmassen, Rolltreppen, ein- und
                                                                ausfahrende Züge, Durchsagen.
     Junior: verzweifelt Welches Messer soll ich denn neh-      Während der ganzen Szene brabbelt die Pennerin wirres
     men?                                                       Zeug vor sich her. Schrille Stimmlage, hysterisch, belustigt.
                                                                Juniors Stimme überlagert ihre, doch ist sie im Hinter-
     Vater: Das da! - Schau mal auf die Uhr! Schau gefälligst   grund weiterhin - ununterbrochen! - deutlich zu hören.
     mal auf die Uhr! Willst du etwa zu spät kommen? Dann       Die Szene beginnt mit der Durchsage!
     kannst du es gleich vergessen!
                                                                Durchsage: Auf Gleis 3 fährt ein: S 5 nach Friedrichsdorf.
     Laut: Ein Messer schneidet ein knuspriges Brötchen
                                                                Pennerin: Ich hab mich sterilisieren lassen. Wegen der
     Vater: Hier, Butter! Los, schmieren! Einfetten!            Mäuse. Ach herrje, die haben an mir geknabbert mit
                                                                ihren spitzen kleinen Zähnchen. Es hat immer so gejuckt.
     Junior: winselt                                            Ach Zähnchen haben die! Das zwickt. Aber das kann
                                                                man ja wegmachen.
     Vater: Ich hasse Menschen, die das Haus ohne Frühstück
     verlassen.                                                 Junior: höhnisch, im Vorübergehen
     Es hat so etwas von Verweigerung.                          Hört euch mal die bekloppte Alte an!

     Junior: grunzt                                             Pennerin: Dafür habe ich die Kneipe geerbt, Endstation
                                                                heißt die, am Bahnhof von Bad Vilbel. Da braucht man
     Vater: Los, reinbeißen! Mach schon! Hoppla! Hopp!          ja ne Ausschankgenehmigung. Sie lachen! Sie lachen!
                                                                Und dann gab´s Ärger. Hottehü! Hottehü! Da hat´s mich
                                                                gesattelt. So schnell geht das. Hoppla hopp.
     Junior: mit vollem Mund So etwa? Ist das richtig so?
                                                                Durchsage: Am Gleis 3 bitte zurücktreten.
     Vater: Kauen jetzt! Und jetzt sag, daß es dir schmeckt!
     - Hallo! Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?        Junior: besorgt Bestimmt wird er mich löchern. Er wird
                                                                mich anbohren mit seinen Fragen.
     Junior: erzeugt unverständliche Worte mit vollem Mund      verstellt seine Stimme
                                                                Wie lange waren sie für ihren letzten Arbeitsgeber tätig?
                                                                Elf Monate? Aus welchen Gründen ist der Arbeitsvertrag
                                                                aufgelöst worden?
Pennerin: Du dumme Sau! Mach das du verschwindest!        Konzession. Rattatamm, rattatamm, wo ist denn bitte             3
Da war´s dann aus. Da hat´s mich in die Beete gepfef-     schön der nächste Luftschutzkeller. Gleich kommt eine
fert. Kraut und Rüben. Nu ja, was soll´s. Hoppel hopp     V2 auf uns nieder, da werden sie schon sehen, hoppla
da kamen die Hasen ohne zu fragen. Ja, Süße, deine        hopp. Weg da! Geh beiseite, du Aas, ich will das sehen!
Bügelfalten stechen mir in die Augen, geh weg!            Nein, ich sitze, wo ich bin! Ich könnte dich anfassen!

Junior: wieder mit seiner eigenen Stimme                  Durchsage: Am Gleis 3 bitte zurücktreten!
Was soll ich denn darauf antworten? Ich kann doch
nicht lügen, das merkt man mir sofort an.                 Junior: ab hier abgleiten in den Monolog mit anderer
                                                          Atmo Was hat die Stimme gesagt? Was sagt sie? Sie sagt
Durchsage: Auf Gleis 2 fährt ein: S 2 nach Südbahnhof.    es ja noch … die Stimme ist ja noch in meinem Ohr …
                                                          hallo? Hallo? Ja … aber ja doch … ich höre sie sehr gut
Pennerin: Als sie ihm die Haare abgeschnitten hatten,     … ich brauche doch nicht zurücktreten, ich bin doch
wußte ich gar nicht mehr, was ich sagen sollte. Außer-    schon eingetreten, ich bin doch schon drin, im Zug, der
dem taten mir die Zähne weh, ja ich hab auch Zähne,       bringt mich hin, rattatam, rattatam, jetzt bin ich auf dem
Hasenzähne, ach die Schmerzen, wegen der schlechten       richtigen Weg, jetzt brauch ich nur noch hinhören, bis
Füllungen. Da waren schon Risse drin, in denen haben      die Stimme die Station ansagt, aber nicht die Endstation,
sich Würmer eingenistet. Hoppsassa, haben sie die raus-   ich fahre ja nicht nach Bad Vilbel … ich fahre ja nach ….
gezogen, dass es nur so flutschte. Nun da bin ich heute   wie heißt sie noch, die Station …
angekommen, oder da drüben. Also Haarspray konnte
ich noch nie riechen. Am vorigen Tage hatte ich noch      Durchsage im S-Bahn-Zug, fließend einfügen: Nächster
was in Aussicht, aber das geht vorüber. Meine Güte,       Halt Galluswarte.
müssen die denn die Sitze aus so nem Draht zusammen-
biegen, da holt man sich ja ein Karomuster am Arsch.      Junior: Muß ich jetzt aussteigen?… war es diese Station?
Ich hab nämlich keinen Schlüpfer an, den mußte ich        War es diese Station … muß ich hier raus? …
wegwerfen, der war schon verbraucht.

Durchsage: Auf Gleis 3 fährt ein: S  nach Wiesbaden
über Frankfurt Flughafen.                                 5. Szene

Junior: In einer halben Stunde muß ich da sein. In zwei   Im Zimmer des Chefs.
Stunden hab ich es hinter mir. So ungefähr. Vielleicht
dauert es auch gar nicht so lange.                        Sekretärin: spricht durch die Wechselsprechanlage
                                                          Soll ich ihn hereinlassen?
Pennerin: Und wie sie weitergegangen sind, dachte ich
mir so: Ohne mich! Ohne mich! Ich krieg ja doch keine     Chef: eifrig, voller Vorfreude Ja! Ja! Lassen sie ihn herein!
40
     Es klopft an der Tür.                                          Chef: Wie? Haben sie etwas gesagt? - Ich seh ihnen doch
                                                                    an, daß sie sich nach etwas sehnen!
     Chef: räuspert sich mehrmals, laut und übertrieben, ohne       Stille.Sie möchten bestimmt ein paar Kekse knabbern,
     Einlaß zu gewähren                                             stimmt´s?
                                                                    spricht in die Wechselsprechanlage Bitte bringen sie noch
     Nach einer Pause klopft es wieder.                             Kekse mit!

     Chef: flötend, übertrieben freundlich                          Sekretärin: Jawohl.
     Herein! Ja bitte! Treten sie ein!
                                                                    Chef: Sie gestatten, daß ich mich endlich setze?
     Junior: spielt den freundlichen, gelassenen Bewerber, ist in   Penetrant knarzendes Leder; es begleitet seine Äußerungen
     Wirklichkeit eingeschüchtert                                   Sie bleiben bitte stehen. Ich möchte die Perspektive
     Guten Tag! Da bin ich!                                         genießen. Ich möchte zu ihnen aufschauen. Ich möchte
                                                                    zu allen meinen Mitarbeitern aufschauen können. Wie
     Chef: herzlich Kommen sie näher! Setzen sie einen              heißt doch gleich diese Perspektive …
     Schritt vor den anderen! Verringern sie den Abstand!
                                                                    Junior: Froschperspektive?
     Die Wechselsprechanlage piept.
                                                                    Chef: Ach was! Da müßte ich ja platt auf dem Boden
     Chef: flötet in die Wechselsprechanlage                        liegen! Möchten sie das? Stellen sie sich das insgeheim
     Nur keine Scheu! Nur keine falsche Bescheidenheit!             vor: Wie ich platt auf dem Boden liege?

     Sekretärin: Möchten sie Kaffee oder Tee?                       Junior: Nein, nein, auf keinen Fall!

     Chef: Kaffee oder Tee? Kaffee oder Tee? Meine Lie-             Chef: Sie möchten mich auf dem Boden sehen. Sie
     be, die Frage stellt sich ganz anders. Das eine soll das       möchten mich mit ihrem Fuß zerquetschen wie einen
     andere niemals ausschließen. In unserem Hause gilt das         kleinen, ekligen, glitschigen Frosch.
     Prinzip Sowohl-Als Auch, nicht das Prinzip Entweder-
     Oder. Wann werden sie das endlich lernen?                      Junior: Aber nein!

     Sekretärin: gelangweilt Mit Milch und Zucker?                  Chef: Warum geben sie nach? Stehen sie zu ihren Fan-
                                                                    tasien! Ich habe volles Verständnis für solche Vorstel-
     Chef: Mit braunem Kandiszucker! Und mit Zitrone!               lungen. Sie kommen hier herein als Wurm. Kein Wun-
     an Junior Haben sie einen besonderen Wunsch?                   der, daß sie sich nach Macht und Größe sehnen. Aber
                                                                    bedenken sie: Der Frosch frißt den Wurm, haha! Na
     Junior: Nun … Also …                                           nun beruhigen sie sich, ich habe ja nur ihr eigenes Bild
weitergemalt! Ich bin kein Frosch, sie sind kein Wurm.      Sekretärin: kommt hustend herein                            41
Abgemacht?                                                  Hier sind ihre Schokokekse. Passen sie auf, daß ihnen die
                                                            Schokolade nicht zwischen den Finger zerläuft. Wenn sie
Die Tür geht. Sekretärin tritt ein.                         die Soße wieder auf den Sessel schmieren, können sie
                                                            ihn diesmal selbst saubermachen.
Sekretärin: Hier kommt das Sowohl-Als Auch.
                                                            Chef: Was sind sie heute wieder biestig!
Chef: Ah, wie der Kaffee duftet! - Aber was ist das? Wie-
der diese trockenen Krümeldinger! Wo sind denn meine        Sekretärin: Was haben sie nur mit dem Jungen gemacht.
saftigen Schokokekse? Die mag ich doch so gern!             Der guckt ja so belämmert.

Sekretärin: Mal schaun.                                     Chef: Noch habe ich gar nichts mit ihm gemacht, haha.
                                                            Das kommt erst noch!
Sekretärin geht.
                                                            Sekretärin: Na, na, na! Setzen sie ihm bloß keine Flausen
Chef: Stört es sie, wenn ich rauche?                        in den Kopf!

Junior: Nein, bestimmt nicht.                               Chef: Flausen? In den Kopf? Ich werde ihm einen kleinen
                                                            Mann setzen! Und zwar ins Ohr!
Chef: Sie wissen, daß Rauchen ungesund ist?
                                                            Tür geht zu.
Junior: Ja, das schon, die EU Gesundheitsminister war-
nen davor …                                                 Chef: Bleiben wir bei ihnen. Was stört sie am Rauchen?

Chef: pafft genüßlich Die Zigaretten selbst sind völlig     Junior: Nichts! Gar nichts! Rauchen sie nur. Früher hat
harmlos. Ungesund ist das, was mich zum Rauchen             man Zimmer aus hygienischen Gründen ausgeräuchert!
antreibt.                                                   Es wird also sein Gutes haben.

Junior: Ach so!                                             Chef: Erzählen sie doch keinen Quatsch! Ich weiß genau,
                                                            daß sie Zigaretten ekelhaft finden! Ich weiß auch, daß
Chef: Da staunen sie, was? Das ist ihnen neu! Nun, hier     sie vom Rauch nach kurzer Zeit Augenreizungen, ver-
                                                            änderte Geschmacks-empfindungen sowie neurotische
werden sie noch einiges erfahren, das ihnen ganz neu
                                                            Atembeschwerden bekommen!
vorkommen wird.

Tür geht.                                                   Junior: Es stimmt, Rauch brennt in meinen Augen, aber
                                                            das ist auch alles.
42   Chef: Wenn ihnen die Augen weh tun, warum weinen              Junior: ab hier abgleiten in den Monolog mit anderer
     sie dann nicht? Das spült die Schadstoffe aus!               Atmo Harthörig … harthörig … hart … hartherzig finde
                                                                  ich das, mich zu stören, diese Stimme, seine Stimme,
     Junior: Ich kann nicht so einfach auf Befehl weinen.         noch eine, als hätte ich nicht genug in mir, finde ich
                                                                  denn nie mehr zur Ruhe, nicht bei Tag, nicht bei Nacht,
     Chef: Das ist mir klar. Sie haben eine Verhaltung, da        in keiner Nacht, auch nicht in der letzten, wir hatten
     kommt halt nichts bei raus. Sie können weder weinen          Neumond letzte Nacht, wir alle hatten Neumond,
     noch scheißen. Ist ihnen die Ähnlichkeit dieser Symp-        aber ich, wieder nur ich hatte sein Tönen im Ohr, bei
     tome aufgefallen?                                            Neumond sind es Photonen und Neutronen, die da so
                                                                  aufdringlich klingen, kann aber auch sein eine Radon-
     Junior: Heute morgen hatte ich wirklich eine Verstopfung     quelle, ganz in der Nähe, das Gas Radon, es strömt aus,
                                                                  zischend, rauschend, aus einer Gasflasche, aus einer
     Chef: Eben! Weil sie mir was scheißen wollten, aber sich     Lunge, aus einem Mund, was weiß ich, jedenfalls ist
     nicht trauten! Ha! Zu feige zum Scheißen!                    es da, machen sie nicht so einen Krach, ich möchte
                                                                  schlafen, es ist Neumond, es ist Radon, es ist radioaktiv,
     Junior: Warum reden sie so mit mir? Wollen sie mich          es ist Biblis. Biblis ist nicht weit, nur ein paar Stationen
     verletzen?                                                   mit der Regionalbahn, nächste Station Biblis, Biblis hat
                                                                  ein Wahrzeichen, es hat zwei Kuppeln. Der Petersdom
     Chef: Mein Junge! Sie denken falsch von mir! Es ist mein     hat nur eine Kuppel. Sie sind eines der größten Atom-
     Ziel, ihre Wahrnehmung zu schärfen - genauer gesagt:         kraftwerke der Welt, in jeder ihrer Kuppeln glühen
     Ihre Selbst-wahrnehmung. Dafür gibt es ein Organ, das        einhundertdreiundneunzig Brennelemente, sie erzeugen
     heißt nicht Auge, auch nicht Ohr, sondern Bewußtsein,        sechzehn Milliarden Kilowattstunden Strom im Jahr,
     und sein Ziel ist Bewußtheit! Ich begleite sie nur auf dem   das ist eine Leistung, da staunt man mit offenem Mund,
     Weg dahin. Der Weg kann hart sein. Aber bitte schieben       da verschlägt es einem die Sprache, mir verschlägt es
     sie mir nicht die Härte des Weges in die Schuhe! Der Weg     die Sprache, aber sie, sie reden und reden, nun las-
     kann auch lang sein. Sie haben bereits eine lange Strecke    sen sie mich endlich in Ruhe! Weg! Hauen sie ab! Ich
     zurückgelegt. Eine Durststrecke, haha! Da können sie         beschwere mich! Hallo? Hallo? Ist dort die Personen-
     noch so viel Kaffee bei Vorstellungsgesprächen trinken:      dosismeßstelle? Bitte nehmen sie zur Kenntnis, daß ich
     Wenn sie sich nicht ändern, geht die Durststrecke weiter.    eine strahlenexponierte Person bin. Ich verlange eine
     Kann nicht einmal zugeben, dass ihm die Augen brennen!       dosimetrische Überwachung, darauf habe ich Anspruch.
     Das gleiche Theater spielt er mit den Ohren: Gibt nicht      Näheres zur Personendosis regeln die Paragraphen
     einmal zu, dass sie ihm klingen! Noch nicht, noch nicht.     zweiundsechzig folgende der Strahlenschutzverordnung.
     Das kommt erst, wenn er den Vertrag in der Tasche hat!       Weiteres lesen sie unter Paragraph fünfunddreißig der
     Aber nicht mit mir! Hallo! Hören sie mir überhaupt zu?       Röntgenverordnung … der Schlafschutzverordnung …
     Hallo, junger Mann, sind sie schwerhörig? Oder wie sagte
     man früher, ha-ha … harthörig …
6. Szene                                                    Hätte ich mir bloß die Decke über den Kopf gezogen.       43
                                                            Hätte ich doch einen verständnisvollen Vater.
Junior: Wäre ich bloß im Bett geblieben                     Ach, mein schönes Bett.
                                                            Ach, meine schöne Bettdecke.
Chef: Haben sie etwas gesagt?
                                                            Hier versuchen sich die beiden Fremdstimmen wieder
Junior: flötet Nei - hein, ich höre ihnen zu - hu!          einzumischen:

Junior gleitet ab in Gedanken. Evtl. leichter Hall. Seine   1. und 2. Fremdstimme im Chor: Wäre ich bloß im Bett
Gedanken denkt er melodiös, wie einen Sprechgesang.         geblieben …
Da mischen sich fremde Stimmen ein, die versuchen, ihm
einen Kanon aufzuzwingen.                                   Junior: Ruhe!

Junior: Wäre ich bloß im Bett geblieben.                    Es herrscht Stille. Junior beginnt wieder von vorn.
Hätte ich mir bloß die Decke über den Kopf gezogen.
Hätte ich doch einen verständnisvollen Vater.               Junior: Wäre ich bloß im Bett geblieben.
Ach, mein schönes Bett.                                     Hätte ich mir bloß die Decke über den Kopf gezogen.
Ach, meine schöne Bettdecke.                                Hätte ich doch einen verständnisvollen Vater.
                                                            Ach, mein schönes Bett.
Hier setzt der Kanon ein:                                   Ach, meine schöne Bettdecke.

1.Fremdstimme: Wäre ich bloß im Bett geblieben …            Ab hier begleiten ihn die beiden Fremdstimmen, sprechen
                                                            synchron mit ihm. Er unternimmt nichts mehr gegen sie.
Nach der 2. Strophe setzt die 2. Fremdstimme ein:
                                                            Junior: So viele Kassetten.
2. Fremdstimme: Wäre ich bloß im Bett geblieben.            Ich könnte Deckenkassetten zählen.
Hätte ich mir bloß die Decke über den Kopf gezogen.         Ich könnte Daunenfedern zählen.
                                                            Ich könnte Staubmilben zählen.
Die 2. Fremdstimme schafft noch die 2. Strophe, dann        Alles wärmer als das hier.
wird sie von Junior unterbrochen:                           Alles besser als das hier.

Junior: Aufhören!

Er beginnt von vorn.

Junior: Wäre ich bloß im Bett geblieben.
Der kleine Mann im Ohr
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Der kleine Mann im Ohr

  • 2.
  • 3. Dokumentation zur Diplomarbeit Fakultät Medien/Mediengestaltung Bauhaus Universität Weimar Sommersemester 2006 betreut von: Prof. Wolfgang Kissel Prof. Robin Minard
  • 4.
  • 5. inhaltsverzeichnis ___________________________________________________ ___________________________________________________  einleitung  7 organisation  25 ___________________________________________________ der weg zum diplom  9 Die Sprecher 25 ___________________________________________________ Das Studium 9 die nachbearbeitung  27 Das erste Exposé 6 die Dialoge und Gespräche 27 Die Recherche 10 die Komposition 27 ___________________________________________________ Die „andere Atmos“  28 martin hagemeier und das manuskript  11 Ableton live 29 Martin Hagemeier 11 Beispiel  30 ___________________________________________________ Das Manuskript 13 schlusswort  31 Inhalt  14  Exposé  14  Die Geschichte  14 ___________________________________________________ Themen  14  Das Hören  14  Der Tinnitus  14 der kleine mann im ohr (manuskript)  33 ___________________________________________________ Inhalt & Form im Manuskript 16 credits  53 Die Sprache  17 ___________________________________________________ Die Sprachverfremdungen  18 bibliografie  54 Die Stimmverfremdung  18 ___________________________________________________ ___________________________________________________ ehrenwörtliche erklärung  57 mein gestaltungskonzept  21 ___________________________________________________ ein Hörspiel im Hörspiel 21 Die Stimme 22 Mein Konzept 24 ___________________________________________________
  • 6.
  • 7. einleitung Als Diplomarbeit stelle ich die akustische Umsetzung des Hörspielmanuskripts „der kleine Mann im Ohr“ von Martin Hagemeier vor. Meine Arbeit besteht aus der Produktion des Hör- spiels (Organisation, Aufnahme, Bearbeitung, Vertonung und die Klangkompositionen) und dieser beiliegenden Dokumentation. Dieser versteht sich als Einleitung zum Hörspiel: ich werde Ihnen erstens beschreiben, wie ich zu meinem Diplomthema kam, dann werde ich Ihnen den Autor Martin Hagemeier vorstellen und das Manuskript analysieren. Im Anschluss daran werde ich meine Interpretation des Manuskripts und mein Ge- staltungskonzept erläutern, gefolgt von einem Einblick in die Organisation und die Technik und endlich die technische Bearbeitung des Hörspieles. In dem Stück „der kleine Mann im Ohr“ geht es um akustische Kommunikation und Wahrnehmungsstörung: Ein junger Mann wird von der alltäglichen Informations- flut überwältigt. Er schafft es nicht mehr Informationen von außen aufzunehmen. Um sich vor der realen Welt zu schützen, bildet er einen Filter - einen kleinen Mann - in seinem Ohr, der die eingehenden Informationen von der Außenwelt dekonstruiert und neu zusammensetzt. Die Hörspielproduktion geht über eine simple Verto- nung des Manuskripts hinaus. Sie stellt auch Fragen zur Grundlage der Kommunikation und der Sprache, des Hörens und Verstehens, der Subjektivität und der Ob- jektivität. Sie ist eine akustische Auseinandersetzung mit der Stimme in ihrer Funktionalität als Informationsträger der Sprache (Sinnvermittelnd) und in ihrer Materialität (als Klangerzeuger).
  • 8.  der weg zum diplom Das Studium Einige Projekt- und Fachkursarbeiten an der Universität Bevor ich Ihnen „der kleine Mann im Ohr“ vorstelle, können durch die verwendeten Techniken und Konzepte möchte ich an dieser Stelle einen kurzen Einblick in meine als Grundlagen meiner Diplomarbeit gelten. Ich möchte bisherigen Arbeiten anbieten. Die Suche nach einem Di- sie Ihnen kurz beschreiben. plomthema ist auch ein großer Teil der Arbeit gewesen und Mit verfremdeter Sprache habe ich bereits im Rahmen eine Entscheidung zu treffen fiel nicht so leicht: die Arbeit des Projektes „Erfahrungsaustausch: die D.D.R. in der sollte möglichst viele Facetten meiner Fähigkeiten und aktuellen Kunst“ bei Katharina Tietze experimentiert. Kenntnisse wiedergeben können. Wie sollte ich am besten Ich realisierte den Remix eines französischen Sprach- in einer Abschlussarbeit darstellen, was ich während kurses aus der D.D.R. Die Stimmen der Lehrer aus der meines Studiums an der Bauhaus-Universität erlernt habe? Tonbandaufnahme wurden digitalisiert, in Wörter und Silben zerlegt und neu zusammengesetzt. Der Text hatte Das Studium der Mediengestaltung an der Bauhaus-Uni- einen gewöhnlichen Arbeitstag in einer Fabrik zum Ge- versität-Weimar umfasst ein breites Lehrangebot. Es wird genstand, daher komponierte ich einen Techno-artigen dem Studierenden viel Freiheit in Hinsicht der Wahl seiner Song mit repetitivem Rhythmus und entsprechender Werkzeuge und Themen gelassen. Daher fand ich es wich- Dynamik.1 tig, mit gut ausgearbeiteten Konzepten an die praktischen Entscheidend war auch die Abschlussarbeit „as Bill Arbeiten heranzugehen. Es geht für mich nicht um tech- walks through the cities of OS“2, entstanden im Projekt nische Performance oder reine theoretische Forschung, „Open Cultures“ bei Cornelia Sollfrank, ein Hörspiel über sondern um eine gute Balance zwischen der künstleri- künstlerisches Eigentum und Urheberrechte. Ich bear- schen/technischen Praxis und einer medientheoritischen beitete die Stimmen der Hörspielsprecher live (während Fragestellung. Das Studium hat es mir ermöglicht vieles der Sendung im Radio). Ergebnis war eine atmosphä- auszuprobieren, Konzepte zu entwickeln und umzusetzen. rische Klangcollage, die wiederum die Stimmen der Sprecher begleitete. Es sind Themen und Techniken, die mich schon lange vor meinem Studium interessiert haben. Die Suche nach An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass ich mich auch Formen der Kommunikation zum Beispiel: wie kann man außerhalb der Universität mit Vertonung von Filmen3 und am besten eine Idee mitteilen? Welche Prozesse finden Musik beschäftige. Mein Musikprojekt „sta:ry 6“4 mit bei der sprachlichen Kommunikation statt und welche Tobias Blumtritt, der für „der kleine Mann im Ohr“ einige Möglichkeiten der Darstellung bieten sich an? Wie Geräusche und die Hintergrundmusik der Fernsehsen- werden Informationen vermittelt? In meinem Studium dung zur Verfügung gestellt hat, entwickelte sich zu einer habe ich erst in Seminaren, Vorlesungen, praktischen spielerische Plattform für unterschiedliche musikalische Übungen und Projekten nach Antworten gesucht. Bei Zusammenarbeit. Einerseits komponiere und produziere dieser Suche nach Antworten eröffneten sich immer ich Songs im Popformat, andererseits remixe (Neuabmi- weitere neue Fragen, denen nachzugehen mir wesent- schung und Neustrukturierung) ich Titel anderer Künstler: lich interessanter erschien. ich arbeite dann ausschließlich mit den originalen Ton-
  • 9. spuren, die ich durch Cut Paste und Effektfilter neu gestalte und anders zusammensetze, um eine andere Komposition zu erhalten. Oft wird dabei das Eingangs- material ganz anders verwendet als beim Original-Titel (die Stimme wird zum rhythmischen Part, die Rhythmen werden zu Gesang, usw…). Des Weiterem startete ich im Sommer 2005 eine Zusammenarbeit mit Martin Hagemei- er, der Texte für neue Musikstücke schreibt. Neben den praktischen Übungen habe ich mich in Seminaren und Vorlesungen mit Semiotik, Linguistik und Akustik beschäftigt. In der Medientheorie sehe ich die Möglichkeit, die praktische Arbeit förmlich und inhaltlich zu verfestigen und zu vertiefen. Gleichzeitig kann sie auch Anregungen für neue praktische Arbeiten liefern. Die Veranstaltungen von Prof. Dr. Lorenz Engell über Semiotik, Dr. Sonja Neef über Theorie und Ge- schichte der Schrift so wie von Dr. Ute Holl „Inszenie- rung der Stimme“ um nur einige zu nennen, haben eine medientheoretische Grundlage für meine Diplomarbeit geschaffen. Auf diese Theorie werde ich später im Lau- fe der Dokumentation genauer zu sprechen kommen. Dank der Fachkurse von David Moufang (experimen- telles radio: „sounds, politics and poetry“ und „Bauhaus Jingles“) von Dieter Kemter „Computerklänge“ und von Joachim Müller „Tonstudiotechnik“ wurde ich mit Auf- nahme- und Klangbearbeitungstechniken sicherer. Das erste Exposé. All diese Erfahrungen bilden die Grundlage für meine Diplomarbeit. Diese Arbeit sollte meine Fähigkeiten im technischen Bereich verbinden mit den im Studium 1 http://www.uni-weimar.de/~lechevin/monsieurbrunet behandelten medientheoristischen Fragestellungen. (remix2004).mp3 Ich wollte ein Diplomthema finden, bei dem ich mit 2 http://www.uni-weimar.de/~lechevin/as-bill-walks.mp3 Klängen, Stimmen und Sprache (und dem Prozess der 3 http://gonzo.uni-weimar.de/~lechevin/musik_film.htm Kommunikation) arbeiten konnte. 4 http://www.stary6.com
  • 10. 10 Meine ersten Gedanken gingen in Richtung eines um, Klanggestaltung und Klanginstallation, Poesie, Mu- menschlichen Interfaces: Ein Mensch als Schnittstelle sik und Hörspiele. Nicht alle meine Recherchen haben zwischen Körper, Sprache und Stimme. Ich wollte ein mir direkt für meine Arbeit geholfen, meistens waren sie Projekt finden, in welchem der Mensch nicht nur als aber interessante Anregungen für weitere Forschung und Sender und Empfänger von Informationen verstanden die Entwicklung neuer Ideen. werden konnte, sondern darüber hinausgehend als Kommunikation selbst. Ein Subjekt, das gleichzeitig Objekt seiner Kommunikation sein kann. Womit ich arbeiten und was ich damit erreichen wollte, war mir schon ziemlich klar, aber das konkrete Umsetzungskonzept musste ich noch entwickeln. Sollte es eine Klanginstallation werden? Eine Komposition? Mein erstes Exposé, das ich zur Diplomanmeldung vor- legte, lautete: […] Was ich vor habe? Ich möchte an einer Audiokomp- osition arbeiten. Als Soundquelle werde ich Stimmen (In- terviewausschnitte von Prominenten…?, Politikerreden…? -- jedenfalls Aussagen zum Thema Echtheit/ Realität/ Wahrheit) verarbeiten, die durch eine Art „Klanglabora- torium“ und durch verschiedene Verfahren verfremdet werden. Untersucht wird dabei die Beziehung von Inhalt (Sprache/Rede) und Form (Stimme), sowie die Interaktion zwischen Information und Informationsträger (inwiefern der Informationsträger die Information beeinflusst) […] Was passiert denn, wenn die durch das Medium übertra- genen Informationen gedehnt und verfremdet werden, bis sie ihre grundsätzliche Substanz verloren haben und nur noch Form sind? Ob meine Arbeit statisch (Vorführung) oder dynamisch (interaktive Installation) sein wird, steht noch nicht fest. […]5 Die Recherche. Ich sammelte zunächst Literatur und Dokumentationen zu diesen Themen: Akustik und Phonetik, Linguistik und Semiotik, Sprache und Psychoanalyse, Stimme als Medi-
  • 11. martin hagemeier und das manuskript 11 Auf der Suche nach Inspiration und Material traf ich mich mit meinem Freund, dem Schriftsteller Martin Hagemeier und berichtete ihm von meinen Vorstel- lungen. Er schlug mir vor sein Hörspielmanuskript „der kleine Mann im Ohr“ zu lesen, das viele Themen, die ich bearbeiten wollte, beinhaltet. Ich las den Text und war so begeistert, dass ich mich nach kurzer Zeit entschied, für meine Diplomarbeit das Manuskript als Hörspiel umzusetzen. Bei der ersten Lektüre flossen die Ideen für eine akustische Interpretation. Ich fand es erstaunlich, wie die im Hörspiel aufgegrif- fenen Themen mit jenen Ideen meines ersten Diplomex- posés übereinstimmten und sah in der akustischen Um- setzung des Textes eine sehr interessante Möglichkeit, das Spiel zwischen Inhalt und Form zu betonen und zu erweitern. In diesem Abschnitt möchte ich Ihnen Martin Hagemeier und sein Manuskript vorstellen. Martin Hagemeier Martin Hagemeier, geboren 16, ist Schriftsteller und arbeitet als Werbetexter. Bereits vor seinem Studium der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation mit Hauptfach verbale Gestaltung an der Universität der Künste in Berlin und der Semiotik an der Technische Universität veröffentlichte er Kurzgeschichten in Litera- turzeitschriften6. 13 erhielt er das Alfred-Döblin-Sti- pendium der Preußischen Akademie der Künste Berlin und 14 die Berliner Künstlerförderung. Martin Hagemeier versteht Literatur nicht als eine Verschriftlichung der Welt, ein politisches Werkzeug oder belehrendes Objekt, sondern er sieht in ihr eine Kunstform: das Schreiben ist eine Suche nach und eine Entwicklung von Formen und Strukturen und soll sich 5 In einer privaten E-mail vom 24. März 2006 an Prof. Minard mit seiner Zeit auseinandersetzen. und Prof. Kissel.
  • 12. 12 Er setzt seine Arbeiten deutlich als Gegenpol zur aktu- der Sprache und die Strukturen des Romans vermittelt ellen vorherrschenden Literatur, die sonst gerne Stories wird. Vor allem bekommt der Leser eine besondere Po- und Plots mit Sensation und Spektakel aufbaut, die neue sition: ihm bleibt die Auffindung von Sinn überlassen. Stories entwickelt, aber in altbekannten Denkmustern, Alain Robbe-Grillet definiert die Funktion der Kunst in welche die Leser in ihren Wahrnehmung rückversichern. „Argumente für einen neuen Roman“: Statt dessen stellt Martin Hagemeier lieber Fragen, möchte die Wahrnehmungsgewohnheiten der Leser „… Denn die Funktion der Kunst ist niemals, eine Wahr- aufbrechen und die Form und Struktur des Textes auch heit zu illustrieren - oder auch eine Frage-, die man schon zur Vermittlung von Information nutzen. kennt, sondern Fragen aufzuwerfen (und vielleicht auch Diese Auseinandersetzung mit der Form und der zur rechten Zeit Antworten zu geben), die sich selbst noch Sprache geht weit über ein einfaches Spiel mit dem Text nicht kennen. …“ und den Wörtern hinaus, sie stellt eine Auseinanderset- zung mit der Wirklichkeit dar. Es wird bei Martin Ha- Neben dem Nouveau Roman zählt die Beatliteratur, mit gemeier die Skepsis an der eigenen Wahrnehmung und ihrer Spontaneität, ihrem Rhythmus, ihrer Musikalität Haltung gegenüber (oder Zweifel an) der Wirklichkeit und dem Wegwerfen von Prinzipien und traditionellen entwickelt, so dass sich die persönlichen Grenzen des Strukturen zu den Vorbildern von Martin Hagemeier. Lesers erweitern können und er sich in Konfrontation Auch die Konkrete Poesie spielt für ihn eine wichtige mit dem Text selbst bilden kann. Rolle: die Sprache dient nicht mehr nur einer Be- schreibung, sondern wird auch selbst zum Zweck des Die neuen Literaturformen der Nachkriegszeit, wie der Gedichtes. Die phonetischen, visuellen und akustischen Nouveau Roman haben seine Arbeiten am stärksten Komponenten der Sprache werden zum literarischen beeinflusst. Das Experimentieren mit der Form steht Mittel. Die Poesie besteht aus der Konstruktion des im Vordergrund der neue Literaturbewegung aus dem Gedichtes, aus seiner Zusammensetzung von Sprach- Frankreich der 50er Jahre. Die Nouveau Roman-Schrift- elementen und nicht nur aus dem sinnvermittelnden steller wenden sich gegen die überlieferten Erzähl- Inhalt. formen des traditionellen Romans. Sie möchten nicht Dem Klang der Wörter, auch wenn sie zunächst nur durch narrative Texte eine Wahrheit vorstellen, eine niedergeschrieben werden, kommt eine große Bedeu- Ideologie vertreten oder ihre Weltansicht durchsetzen. tung zu. Wie eng das Schreiben und Lesen bei Martin Sie sehen keine moralische oder politische Kraft in Hagemeier an das Akustische gebunden ist, wird in der Literatur, zumindest wollen sie diese nicht durch einem kritischen Text über die heute vorherrschende Erzählungen vermitteln. Das gilt auch für die Arbeiten Literatur und ihre „sensationellen Stories“ auf dem Buch- von Martin Hagemeier: die Themen, die dargestell- markt deutlich: ten Situationen, die Charaktere und die Struktur des Schreibens selbst sprechen aktuelle soziale Themen an, „Das ist eine Beleidigung des Lesers: Wird diesem doch werden aber meist ironisch und satirisch aufgegriffen. unterstellt, dass er taub für die feinen Töne ist und daher Weit wichtiger ist die Aussage, die durch die Form viel Radau gemacht werden muss, damit er überhaupt
  • 13. noch etwas mitbekommt. Als litte jener Leser, an denen 13 jene Schriftsteller so viel denken, unter einer Art geistigen Gehörschaden. Auf diese Weise ist die vorherrschende gegenwärtige Literatur zu einem Jahrmarkt voller Schreihälse verkom- men, die mit lautem Gekreische und Getöse versuchen, das Publikum für ihre persönliche Schaubude zu gewinnen. […]“ Wir können seine Ansichten folgendermaßen zusam- menfassen: Die Literatur soll die Konstruktion der Wahr- nehmung fördern. Sie soll es dem Leser ermöglichen, sich selbst ein Bild zu machen, statt ihm vorgefertigte Antworten zu geben. Außerdem sind seine Texte in realistischen Situationen verankert. Keine unglaublichen Charakteren oder außergewöhnlichen Ereignisse. Es geht um eine Auseinandersetzung mit unserer Wirklichkeit und Welt, ohne sich hermetisch und selbstrückbezüglich abzuschotten. Das Manuskript Inhalt | Exposé9 Junior leidet an einem Tinnitus, einem dauerhaften Oh- rensausen. Eine Auseinandersetzung mit der Gesellschaft fällt ihm schwer. Er möchte gerne einen Job finden, er ist bemüht, sich gut zu präsentieren, möchte dazu gehören. Nur fehlt ihm an Selbstbewusstsein, an Selbstvertrauen. Er traut sich nicht die Dinge zu hinterfragen, sich mit Problemen zu konfrontieren. Wenn er in Konfliktsituati- onen kommt, wenn zu viele oder unangenehme Infor- mationen auf ihn einströmen, verzerrt und verfremdet er durch seinen kleinen Mann im Ohr die Welt und verän- 6 Siehe Bibliografie. dert auf dieser Weise seine Wahrnehmung der Welt. Er Robbe-grillet, 165 fühlt sich wie Sender und Empfänger gleichzeitig. Martin Hagemeier, einige Anmerkungen zur Literarischen Mono- kultur von Heute, 2004, unveröffentlicht. Vollständiges Manuskript, siehe Kapitel VIII.
  • 14. 14 Inhalt | Die Geschichte und wissenschaftlicher Sicht erläutere, möchte ich kurz über das Ohr, das Hören und das Hörsystem berichten. Die Rahmenhandlung des Hörspiels ist das Vorstellungs- gespräch von Junior bei einem Arbeitgeber. Der Chef Themen | Das Hören stellt die Motivationen und das Selbstbewusstsein des Hören ist die Fähigkeit vieler Lebewesen Schall wahr- jungen Mannes in einer unerhörten Art auf die Probe. Er nehmen zu können: Luftdruckveränderungen stimulieren mit ihm spielt. Aus seiner Machtposition heraus drängt ein Sinnesorgan - das Ohr - und werden in elektrische er Junior zu Stellungnahmen, will ihm aber auch helfen. Impulse über das Nervensystem an das Gehirn weiter- Junior, der von Natur aus nicht selbstsicher ist, weiß sich geleitet. Das Ohr besteht aus drei Hauptelementen: Das nicht zu helfen und flüchtet immer wieder in seine eige- Außenohr, das die Luftschwingungen einfängt und ihre nen Gedanken. Eine Welt der verzerrten Wahrnehmung. Einfallsrichtung kodiert, das Mittelohr, das die Signale Er weigert sich Informationen aufzunehmen, schützt des Außenohres mechanisch an das Innenohr überträgt sich vor der Realität, indem er sich seine eigene kreiert, und das Innenohr, das den Schall in Nervenimpulse durch seinen Tinnitus. In diese Haupthandlung sind an- umwandelt und an das Gehirn sendet. Die Verarbeitung dere Szenen eingebettet: ein Besuch bei der Ärztin, ein im Gehirn erfolgt in drei Takten: erstens kommt die Telefonat mit der Sekretärin der Firma, Junior am Bahn- Information an, dass etwas zu hören ist: der Schall wird hof und im Zug auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch, wahrgenommen. Zweitens wird das Hörereignis identifi- Erinnerungen an ein Frühstück mit seinem Vater, ein ziert (im Fall der Sprache heißt es z. B. das Wort „Hallo“ Abend in einer Bar, eine Fernsehsendung… Nicht nur wird phonetisch gehört, nämlich die Laute [ha’lo ]) und wegen des Chefs bekommt Junior den Tinnitus, sondern endlich werden die Laute [ha'lo ] als Zeichen der Begrü- auch wegen seiner Lebenseinstellung: wo immer er ist, ßung erkannt und verstanden. wird er von der Menge der Kommunikation überwältigt. Themen | Der Tinnitus Themen Unter dem Begriff „Tinnitus“ (auf deutsch „das Klin- „Der kleine Mann im Ohr“ steht, wie die Redensarten- geln“) versteht man eine akustische Wahrnehmung, der Index-Seite im Internet berichtet, für spinnen, verrückt keine äußere für andere Personen wahrnehmbare Quelle sein, wird aber auch als Bezeichnung für einen Tinnitus entspricht. Der Tinnitus ist eine Störung der Hörfunk- verwendet. Dieser umgangssprachliche Ausdruck leitet tion, jedoch ist er keine Krankheit an sich, sondern das sich aus folgender Vorstellung ab: Wenn jemand etwas Symptom einer oder mehrerer anderer Krankheiten, Unsinniges oder Verrücktes sagt, wird es damit erklärt, also das Zeichen einer Krankheit: er kann nur durch den dass ein Männchen in seinem Ohr sitzt, das ihm dies Betroffenen wahrgenommen werden. Lärmtrauma und eingeflüstert hat. Auch der Fall von jemandem, der an zahlreiche Krankheiten wie z. B. eine Entzündung des Ohrgeräuschen leidet, geht auf die Vorstellung eines von Ohres können einen Tinnitus verursachen, allerdings einem kleinen Mann Besessenen zurück.10 wird häufig von den Betroffenen der Stress als Auslöser Der Tinnitus spielt eine zentrale Rolle im Hörspiel. erkannt. In solchen Fällen ist ein psychosomatischer Bevor ich den Tinnitus als Krankheit aus medizinischer Einfluss nicht auszuschließen.
  • 15. Die Klangeigenschaften des Tinnitus sind sehr varia- 15 bel: er wird mit Brumm- oder Pfeiftönen, Zischen und Rauschen verglichen, deren Frequenzen zwischen 0 und 1000 Hz bzw. bei 000 Hz liegen und mit gleichmäßiger Intensität oder rhythmisch-pulsierendem Charakter. Jedoch ist auch anzumerken, dass der Tinnitus nicht immer einem realen Geräusch entspricht. Als Folgen eines Tinnitus können Schlafstörungen, Angstzustände, Depressionen und Arbeitsunfähigkeit auftreten.11 Da der Tinnitus eine subjektive Wahrnehmung ist, haben Wissenschaftler keine Möglichkeit ihn zu messen. Über seine Lokalisierung im Hörsystem gibt es auch nur Hypothesen. Ich möchte jetzt nicht über die mecha- nischen Hypothesen berichten (physische Beschädigung der Hörnerven oder der Hörzellen im Innenohr), lieber konzentriere ich mich auf die psychischen Störungen der Prozesse des Hörsystems entlang oder während der Verarbeitung im Gehirn, die für meine Arbeit entschei- dend sind. Die Luftschwingungen, die das Ohr betreten, können im Innenohr falsch verarbeitet werden. Das Innenohr ist von Haarzellen bedeckt, die durch den aus dem Außen- und Mittelohr mechanisch weitergeleiteten Schall ge- kippt werden können. Dabei werden Poren geöffnet, in denen elektrisch geladene Teilchen die Schallinformati- onen als Impulse an den Hörnerv übergeben. Ob dieser Mechanismus gestört ist oder erst die Interpretation der Impulse im Gehirn, ist nicht bekannt. Jedoch wurde fest- gestellt, dass Leute mit geschädigtem Hörnervensystem auch unter Tinnitus leiden können. Eine akustische Fehlinformation allein ist aber noch kein Tinnitus. Im Gehirn gerät sie in einen Regelkreis hinein und selbst wenn die Ursache im Ohr aufhört, 10 http://www.redensarten-index.de/ läuft sie als Wahrnehmungsschleife im Zentralnervensys- 11 http://de.wikipedia.org/wiki/Tinnitus tem weiter: man redet nun vom zentralisierten Tinnitus.12 12 Zenner, 1.
  • 16. 16 Das Hörsystem ist auch eng mit dem emotionalen zu verstehen, was der Tinnitus bedeutet, was er zu sagen Bereich des Gehirns verbunden, daher sind die Tinnitus- hat, was der kleine Mann im Ohr zu sagen hat. Junior Betroffenen schnell emotional belastet und umgekehrt setzt seine Unfähigkeit sich sozial zu integrieren kör- kann eine emotionale Belastung wie Stress den Tinnitus perlich um, in Form eines Tinnitus, die Materialisierung unterstützen. seiner inneren Stimme. Es sind für den zentralen Tinnitus keine seriösen wissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse bekannt, Dass Junior fähig ist oder sich zumindest für befähigt die die Wirksamkeit einer Behandlung belegen. Manche hält, Nachrichten und Signale zu senden und zu empfan- Wissenschaftler und Mediziner empfehlen eine Retrai- gen, stellt die Frage der Grenze zwischen dem eigenen ning Therapy des Hörens: bei chronischem Tinnitus muss Körper und der Außenwelt, zwischen dem Subjekt und der Betroffene lernen, mit seinem Ohrgeräusch umzuge- dem Objekt, der Verkörperlichung des Mediums. Junior hen. Wenn man hörgesund ist, werden alle Schallwellen ist empfindlich und sensibel, besonders in sozialen der Umgebung aufgenommen und unbewusst gefiltert. Kontexten, und reagiert körperlich darauf. Er schafft es Also entscheidet man sich, was man hören möchte oder nicht, sich in seine soziale Umgebung zu integrieren. Er braucht. Wenn man sich auf ein Geräusch konzentriert, ist Sender und Empfänger von Botschaften und zugleich wird es im Gehirn verstärkt. Wer unter chronischem die Botschaft selbst. Medium und Information treffen Tinnitus leidet, sollte wieder lernen sich auf andere sich in seinem Ohr. Er kann die Außenwelt nicht mehr Geräusche zu konzentrieren, die Klänge der realen Welt von seiner Innenwelt unterscheiden. Sein Körper ist erneut hören lernen. Es geht darum sich für etwas zu nicht mehr Akteur im Kommunikationsprozess, sondern entscheiden und nicht gegen etwas: Hören wählen statt Materie der Kommunikation. Junior findet seinen Platz weghören.13 in der Realität nicht mehr. Wenn wir diesen Prozess andersherum betrachten, Inhalt Form im Manuskript. könnte man den Tinnitus als Schutz gegen die Außen- Die Ideen, die auf der inhaltlichen Ebene vermittelt welt verstehen, als Filter, um die echten Geräusche der werden, spiegeln sich auch in der Form des Manusk- Realität nicht wahrnehmen zu müssen. Der Tinnitus ripts wieder. Das Spiel mit der Struktur findet man in kann also als eine Art innerer Störsender oder Informati- der Struktur der Sprache des Textes und im Rhythmus onswandler begriffen werden. zwischen den Repliken wieder. Der Aufbau der Szenen Und genau das ist das Problem von Junior im Hör- missachtet die Chronologie: das Vorstellungsgespräch spiel. Er weigert sich Informationen aufzunehmen, wird durch Erinnerungen oder Ereignisse unterbrochen. etwas in sich eindringen zu lassen, stellt sich gegen den Der Rhythmus zwischen den Repliken innerhalb einer Chef, schirmt sich von der Welt ab, statt sich mit der Szene ist abwechslungsreich: die Dialoge zwischen Chef Wirklichkeit auseinanderzusetzen: er entwickelt einen und Junior bestehen aus kurzen Repliken nach dem Tinnitus, um seinen Mangel an Kraft die Welt wie sie ist Muster Frage/Antwort, die immer wieder von Mono- zu akzeptieren, zu kompensieren. Also geht es in dem loge begleitet oder durch den Auftritt der Sekretärin Hörspiel um das Hören, um das Besserhören, um somit unterbrochen werden. Junior fasst sich während des
  • 17. Gesprächs eher kurz, der Chef verfällt gerne in längere, 1 belehrende Monologe. Allein, verträumt in seine Welt zurückgezogen, entwickeln sich Juniors Monologe zu Aufzählungen, Wiederholungen und Gedankenassoziati- onen. Sie scheinen nicht mit der Zeit verbunden zu sein. Seine Gedanken laufen quer durch seinen Kopf, ohne Linearität. „der Kleine Mann im Ohr“ wurde für das Radio geschrie- ben. Der Autor hat bereits mit dem Wort als Klangträ- ger gearbeitet. Die Sprache und die Stimmen, die die verschiedenen Rollen verkörpern, haben im Text ihre bestimmten Eigenschaften. Schon die Regieanweisungen im Manuskript stellen eine (durch verschiedene Verfah- ren bewirkte) Verfremdung dar. Einerseits wird die Spra- che selbst verfremdet – durch die Art und Weise, wie sich ein Charakter im Hörspiel ausdrückt; andererseits wird die Stimme durch Technik (Telefon, Sprechanlage, Durchsagen…) moduliert. Die Sprache Die Sprache stellt ein Zeichensystem dar. Nach Ferdin- and de Saussure wird die Sprache als Verbindung von Lautbild und Vorstellung gefasst. In der „Cours de lingu- istique générale“14 hat er die Prozesse des Sprechens un- tersucht. Er unterscheidet die langue, ein Regelsystem, einen Zeichenvorrat, von der langage, der allgemeinen Sprachfähigkeit der Menschen, und von der parole, den Sprechakt selbst. Er erforscht die Konventionalität und die Arbitrarität des Zeichens: die Laute, die wir beim Sprechen mitteilen, verweisen auf die Vorstellung eines Objekts und nicht auf das Objekt selbst. Die Sprache ist das Bild eines Objekts, ein Designationprozess: das Nennen. Das Zeichen hat zwei Seiten: einerseits den Na- men, das signifiant (Bezeichnende), das image acoustique 13 http://www.tinnitus.org (Lautbild) und andererseits die Vorstellung eines Ob- 14 Saussure, 16, S. 2
  • 18. 1 jekts, das signifié (Bezeichnete). Die Beziehung zwischen zung der Wörter schafft eine neue Ebene der Bedeu- dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten ist beliebig, tung. Junior hat wenig Selbstbewusstsein und ihm arbiträr. Innerhalb einer langue (Sprachsystem) werden fehlen die Eigenlaute. diese sprachlichen Zeichen konventionell benutzt, man kann sich untereinander verstehen, weil ein Lautbild auf Die Stimmverfremdung dieselbe oder eine ähnliche Vorstellung verweist. Die Stimme, Vehikel der Sprache, wird in den Manus- Das Bezeichnende ist von der Zeit bestimmt. Saussure riptanweisungen durch Technik und Mediengeräte ver- redet von der Linie der Zeit, in der man sich akustisch zerrt. Diese Stimmen werden durch Telefon, Sprechanla- ausdrücken kann. ge, Radio, Fernseher wiedergegeben, sie finden jedoch „Das Bezeichnende, als etwas Hörbares, verläuft aus- in der Realität statt, im Gegensatz zu den Stimmen, die schließlich in der Zeit und hat zwei Eigenschaften, die Junior in seinen Verwirrungen hören kann. von der Zeit bestimmt sind: a) es stellt eine Ausdehnung dar, und b) diese Ausdehnung ist meßbar in einer einzigen Szene 1: bei der Ärztin. Dimension: es ist eine Linie.“15 Dialog: Während eines Besuchs bei einer Ärztin erfährt Junior, dass sein Ohrensausen, unter dem er leidet, ein Die Sprachverfremdungen Tinnitus ist: eine psychosomatische Krankheit, die meis- Bei Junior wird der Prozess des Entzifferns der Sprache tens durch Stress verursacht wird. Nur er allein kann sich gestört. Er verbindet das Lautbild nicht mehr mit dem von der Krankheit befreien. Der Tinnitus ist ein Teil von Bezeichneten. Die Linearität der Sprache wird durch ihm, mit dem er sich auseinandersetzen soll. die Schleife des Tinnitus unterbrochen. Die surrealis- tischen Aufzählungen, Gedankenassoziationen und Monolog: Junior ruft die Sekretärin der Firma, bei der er Träumereien ähneln der Redeweise der Pennerin am sich vorstellen soll, an – und verliert sich in der Telefon- Bahnhof. Auch der Chef, Auslöser vieler Versenkungen leitung. (Telefon) von Junior, spielt mit der Sprache: Er benutzt gern Metaphern („Ich habe ja nur ihr eigenes Bild weiterge- Szene 2: mit der Sekretärin, am Telefon. malt! Ich bin kein Frosch, sie sind kein Wurm“, Szene 5.) Dialog: Junior erkundigt sich telefonisch bei der Sekretä- und Wortspiele („Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein rin der Firma, wie er zum Vorstellungsgespräch antreten Franzos, jeder Tritt ein Britt“, „Sie haben eine Vorstel- soll. (Telefon) lung, ich habe eine, und wir haben ein Vorstellungsge- spräch.“, Szene ). Die deutlichste Verfremdung der Monolog: Weil Junior neue Informationen aufnehmen Sprache findet man in der Szene 10: Junior, angetrun- muss, versinkt er wieder in Gedanken: er ist ein Sender, ken in einer Bar, redet ohne Vokale (auch Selbst-laute ein Empfänger, ein Medium. genannt). Dieser Effekt erinnert an den Lettrismus, eine französische Literaturbewegung der Nachkriegszeit. Die Szene 3: der Vater und das Radio. Wörter werden atomisiert, das heißt, in Stückchen, in Junior sitzt am Frühstückstisch mit seinem Vater, der ihm Buchstaben oder Laute geteilt. Die Neuzusammenset- ständig grundlos Vorwürfe macht: Er habe sein Radio
  • 19. verstellt, esse zu langsam. Junior, während er isst, kann 1 nur unverständliche Wörter erzeugen. (Radio) Szene 4: Junior am S-Bahnhof mit einer Pennerin. Am S-Bahnhof und im Zug, auf dem Weg zu der Firma macht sich Junior Gedanken über das Vorstellungsge- spräch. Im Hintergrund brabbelt eine Pennerin wirres Zeug vor sich hin. Junior ist von den Zugdurchsagen verwirrt. (Zugdurchsage) Szene 5: das Vorstellungsgespräch I. Junior erst voller Enthusiasmus wird von dem Arbeitge- ber gedemütigt. Dieser testet auf sadistisch-spielerische Weise die Selbstwahrnehmung des Kandidaten. Junior flüchtet in seine Welt. (Sprechanlage) Szene 6: Junior verträumt. Junior in Gedanken während des Vorstellungsgesprächs. (Gesang/Kanon) Szene 7: das Vorstellungsgespräch II. Der Chef hat Juniors Wahrnehmungsprobleme erkannt und versucht, sie ihm zu erläutern. Nur redet er in Rätseln: Junior ist verloren und zieht sich wieder in seine eigene Welt zurück. Szene 8: vor dem Fernseher. Junior kommentiert eine Fernsehsendung über Sinne und Wahrnehmung. (Fernseher) Szene 9: das Vorstellungsgespräch III. Der Chef verliert seine Geduld angesichts Juniors Unfä- higkeit, die Aussagen des Chefs zu empfangen. Szene 10: in der Bar. Junior angetrunken in einer Bar – ihm fehlen die Selbstlaute. 15 Ebd.
  • 20. 20 Szene 11: das Vorstellungsgespräch IV. Dass Junior nichts von der Rede des Chefs begriffen hat, macht den Chef wütend. Er regt sich auf, stolpert und stürzt. Junior hat wieder keine Stelle bekommen. (Wechselsprechanlage) Szene 12: Schluss. Ein Konzert von Weck- und Morgengeräuschen weckt Junior auf. Er entscheidet sich diesmal aber, im Bett zu bleiben. Da das Hörspiel sich mit unterschiedlichen Formen der Sprache und der Stimme auseinandersetzt, ist es inhalt- lich direkt mit dem Medium Radio verbunden. Es ist für ein akustisches Medium geschrieben worden. An „der kleine Mann im Ohr“ gefällt mir, dass der Text all diese Verfremdung nicht direkt vorstellt, sondern dass Sprach- und Formspiele in einen klassischen Rahmen eingebettet sind und immer mit einer konkreten Situa- tion verbunden werden. Es wird dem Zuhörer nicht auf plakative Weise eine Kunst vorgestellt, mit der er sich allein auseinandersetzen soll. Die künstlerische Arbeit wird ausgehend von realistischen, bekannten Situati- onen entwickelt, vorbereitet und langsam eingeleitet. Die im Hörspiel behandelte Frage nach der Form und der Substanz der Kommunikation spiegelt sich im Inhalt und in der Form des Textes wieder und bietet daher eine sehr interessante Vorlage für eine akustische Inszenie- rung.
  • 21. mein gestaltungskonzept 21 Ein Hörspiel im Hörspiel. Es wurden viele Definitionen von Hörspiel seit seiner Geburt in den 20er Jahren geliefert. Christian Hörburger schlägt folgende Definition vor: „Hörspiel umreißt im Kontext des öffentlich-rechtlichen und des privaten Rundfunks und im Sortiment der Verlage ein fiktionales oder non-fiktionales akustisches Ereig- nis, das mittels elektromagnetischer Wellen von einem Sender (Rundfunkanstalt) zu einem Empfänger (Hörer) abgestrahlt werden kann. […] Technische Voraussetzung des Hörspiels ist die Umwandlung von Schallenergie in elektrische Energie.“16 Das Hörspiel kann sich auch als „Zusammentreffen signifikanter akustischer Signale (oder Pausen)“1 ver- stehen: Menschliche Sprachsignale (mit der Stimme als Instrument der Verlautbarung des Wortes), Musik und Geräusche, die durch das Medium Radio gesendet und empfangen werden. Das gesprochene Wort ist im Hör- spiel mehr als nur Informationsträger. Die Form, der Klang des Wortes durch die Stimme des Sprechers, die Insze- nierung und die technische Verarbeitung sind auch Sinn vermittelnd – und genau das wird in „der kleine Mann im Ohr“ thematisiert: Junior nimmt akustische Signale auf, wandelt sie in elektrische Signale um. Er fühlt sich wie eine Maschine, wie ein Radio, das sendet und empfängt. „Mit dem Eingang ins Mikrofon wird das Schallereig- nis herausgenommen, herausgelöst aus seiner natürlichen Umgebung, in elektrische Spannungen umgewandelt und damit in verschiedener Weise verfügbar und modellierbar gemacht. Es wird ein neuer Aggregatzustand erreicht, der, 16 Hörburger, 1. ästhetisch-dramaturgisch gesehen, eine völlig neue Dar- 1 Ebd. stellungsebene eröffnet.“1 1 Klippert, 1. S. 15
  • 22. 22 Im Manuskript sind Juniors Monologe mit „ab hier Klangkomposition aus Stimmen. Die dargestellte reale abgleiten in den Monolog mit anderer Atmo“ gekenn- Welt, Basis der Handlung, wird zugleich Audio-Rohma- zeichnet. Diese „andere Atmos“ bedeutet für das Hör- terial für die „anderen Atmos“: es ist keine Neuschöpfung spiel, was die oben zitierte neue Darstellungsebene für – es ist eine Neuverwendung oder eine Andersverwen- Hörspiele meint: Modellierte, verfremdete Stimmen in dung. Die Gesetzte der Sprache entgehen Junior. Die neuem Aggregatzustand. Und diese neue Darstellungs- Stimmen sind da, er kann sie empfangen. Aber ihre ebene möchte ich für diese „anderen Atmos“ akustisch Zusammenstellung, das System, das ermöglicht, sie zu umsetzen in eine elektro-akustische Komposition für kombinieren, zu dekodieren und zu verstehen, fehlt ihm. Stimme. Aus den Wortspielen des Textes zum Hörspiel. Ich nutze den Spannungsbogen der Haupthandlung, der „Wird Musik als Hörspiel deklariert, dann ist man grund- klassischen, vertrauten, narrativ erzählten Geschichte, sätzlich vom Zwang befreit, alles Sprechbare singen zu um in Juniors Welt hineinzugleiten. Ich lade die Zuhörer lassen, oder die Worte so zu artikulieren, daß Verzerrungen ein, nachdem ich ihnen nach bekanntem Muster eine unvermeidbar sind. Das Komponieren von Hörspielen soll Story vorgestellt habe, in Juniors verfremdete Wahrneh- kein Ersatz für alle anderen Möglichkeiten der Verwen- mung mitzukommen. Hinter dem kleinen Mann, hinter dung von Sprache in der Musik sein, sondern eine legitime dem Filter: die Zuhörer müssen selbst den Filter deko- Form mehr, welche allerdings eine semantische Entschär- dieren. Die Stimmen, verzerrt, verfremdet, verweisen fung des Wortes vermeidet. Das musikalische Material nicht mehr auf erkennbare, vertraute Worte. Das System kann im Kontakt mit dem Hörspiel bereichert werden und der Sprache ist gestört, unbekannt: dem Hörer ist die vice versa.“1 Interpretation der Kompositionen überlassen. Ich habe mich dazu entschlossen, nahe an den Grund- Die Stimme. ideen und dem Schreibstil von dem Autor zu bleiben. Das Benutzen einer Sprache enthält zwei Aspekte: die Seine Art zu schreiben, sein Umgang mit Sprache und Produktion und das Verstehen. Wenn wir sprechen, den- Wörtern werden zu meiner Art mit Stimmen zu arbeiten: ken und formulieren wir einen Satz, den wir durch eine da es auf der Beziehung zwischen Inhalt und Form oder Lautfolge wiedergeben. Das Verstehen erfolgt in der an- besser gesagt, auf der Gleichstellung von Inhalt und deren Richtung: Klänge werden aufgenommen, an einen Form als Informationsvermittelnde beruht, möchte ich Sinn angeknüpft und verstanden. Wir unterscheiden bei diese Charakteristik in mein Gestaltungskonzept aufneh- diesem Kommunikationsprozess drei Ebenen: die Syntax men: die Stimmen sollen die Hauptrolle übernehmen. (die Sätze, das System in dem Wörter miteinander Die Dualität im Text, zwischen den „realen“ line- kombiniert werden können), die Wörter und Morpheme aren Dialoge einerseits und den „Atmos“ von Juniors (bedeutende Lautzusammensetzung) und die Phoneme Monologe andererseits, soll im Akustischen erhalten (gesprochene Laute). bleiben. Das Hörspiel folgt zwei Arbeitsverfahren: die Die gesprochene Sprache wird durch die Stimme „klassische“ Inszenierung realer Situationen (die Dialoge übertragen. Die Stimme erlaubt die Materialisierung der mit Geräuschvertonung) und Juniors verträumte Welt als Sprache durch Kombination von Zeichen. Das durch die
  • 23. Stimme erzeugte akustische Phänomen (Lautfolge) wird 23 erst Sprache, semantisches Phänomen durch die Wahr- nehmung anderer. Wie andere analoge Medien, stellt die Stimme kein neutrales Werkzeug der Sinnübertra- gung dar. In dem Text „Sechs Lektionen über Stimme und Bedeutung“ beschreibt Mladen Dollar, was die Stimme über den Sinn hinaus vermittelt. Auf einer Seite hat man die Ebene der Bedeutung: die Laute werden kombiniert und ergeben Sinn. Auf der anderen Seite, gibt es die Materialität der Stimme, ihre Musik, eine Lautkunst, die nichts mit der Bedeutungsebene zu tun hat. Ein schönes Beispiel dafür ist die Übersetzung des Titels einer Vorle- sung von Roman Jakobson ins Französische „Six leçons sur le son et le sens“20. Die S-Alliteration trägt nichts zu der Bedeutung der Wörter bei, sie ist Material für poetische Wirkung. Dieser Überschuss kann außerhalb des linguistischen Codes inszeniert werden, auf einer anderen Bedeutungsebene, wie es beim Gesang der Fall ist. Sehr interessant sind auch die Bemerkungen von Mladen Dollar über die Beziehungen zwischen Stimme und Körper. Die Stimme braucht einen Körper um zu senden und zu empfangen. Sie gehört jedoch eigentlich nicht dem Körper, sondern sie ist Schnittstelle zwischen Körper und Sprache. Sie signalisiert die Anwesenheit des Sprechers. Dadurch, dass man seine Stimme erklingen lässt, dass man seine Sprache vermittelt, wird man zu einer Person ¯ ¯ ¯ (von lateinisch persona von per = durch und sonare = tönen)21. Wenn aber eine Stimme nicht geortet werden kann, wenn ihr Ursprung nicht lokalisierbar ist, scheint sie von überall her zu kommen, sie gewinnt dann an Kraft, sie scheint omnipotent. Die innere Stimme (so der kleine Mann im Hörspiel) ist an der Schnittstelle zwi- schen dem Subjekt und dem Anderen, spielt die Rolle 1 Zitiert in Hörburger, 16. S. 11 des innerlichen Anderen. 20 Six lectures on sound and sense. Ebd. 21 Krämer, 2003. S.2
  • 24. 24 Mein Konzept Stimmen handelt. Meine Verfremdung der Stimmen befindet sich nicht an der Quelle des Klangs, bei den „Versuchen sie doch erst einmal, aus dem Ohrensausen Sendern, sondern bei den Empfänger. etwas herauszuhören. Es ist ihr Ohrensausen, ihr ganz eigenes. Es hat ihnen mehr zu sagen als jeder Mensch.“22 Ein der wichtigsten Bestandteile meiner Arbeit, jenseits der Inszenierung der Stimmen im Raum und den Re- gieanweisungen an die Sprechern, ist die Komposition des Tinnitus, eine technische Verarbeitung der Stimme selbst. Die „bedeutenden“ Stimmen, die Stimmen, die Sprache übertragen, sind im Hörspiel zugleich Rohma- terial für den Aufbau der im Manuskript markierten „Atmos“ („ab hier mit anderer Atmo“). Sie werden in ihrer Substanz auseinandergenommen (von Sätzen zu Wörtern zu Morphemen zu Phonemen und sogar noch weiter) und neu zusammengesetzt. Die Stimmen, die Junior empfängt, verlieren durch ihre Dekomposition ihre Rolle als Sprachvermittler, nur der Überschuss, die Materialität der Stimme bleibt erhalten. Die Stimmen weisen nicht mehr auf Sprache hin. Sie brechen die Verbindung zwischen Objekt, Wörtern und Ideen ab. Sie werden in ein neues unbekanntes semiotisches System eingebettet, das die Welt neu ordnet. Die Dekomposition/Komposition ist ein klassischer Prozess des Verstehens, z. B. in der Lösung von Rätseln oder mathematischen Problemen. Ich setze sozusagen den kleinen Mann im Ohr ein, den Filter, den Parasiten, das Element im Junior, das seine Wahrnehmung der Welt verzerrt. Wie ich konkret mit den Stimmen der jeweiligen Szenen umgegangen bin, werden Sie in Kapitel die nachbearbeitung näher erfahren. Ich möchte noch betonen, dass diese Verarbeitung der Stimmen nicht aus einer Arbeit mit den Sprechern resultiert, sondern, dass es sich um Nacharbeitung der
  • 25. organisation 25 Parallel zur Literaturrecherche und Analyse des Manusk- ripts startete ich die Suche nach Sprechern und Aufnah- memöglichkeiten. Ich meldete mich bei unterschied- lichen Online-Plattformen und bei Hörspielforen an, um Sprecher und Schauspieler zu finden, und erhielt einige Rückmeldungen. Bei Tesla23 in Berlin, Labor für mediale Performance, Mu- sik, Klang- und Medienkunst, wo ich 2005 ein Praktikum absolvierte, besuchte ich eine Radioveranstaltung von Lars Feistkorn mit Séamus O‘Donnell und Jürgen Eckloff zum Thema „Sprache/sprechen“ über Samuel Beckett: „Samuels Hintergrund Strahlen“. Diese Live-Performance für Stimme und Stimmklänge, Cut-ups und Elektro- nics begeisterte mich so sehr, dass ich Kontakt zu dem klassisch ausgebildeten Opernsänger und Performer Lars Feistkorn aufnahm. Er sollte bald für die Rolle des Chefs zusagen. Die Suche nach einem Sprecher für Junior erfolgte auf der Grundlage eines Castings. Auf Lars Feistkorns Empfehlung hin, lud ich den Schauspieler Christian Rodenberg ein. Für die Nebenrollen Ärztin/ Stimme in der Bar/ Sekretä- rin und Pennerin entschied ich mich für Maren Krüger. Ich hatte das Glück, Annemarie Thiede einladen zu können, um den Fernsehbericht einzusprechen. Das Hörspiel wurde im Juni und Juli 2006 im Broadcast- studio der T.U. Berlin (Radio 100000) aufgenommen. 22 Der kleine Mann im Ohr, Die Ärztin, Szene 1. 23 http://www.tesla-berlin.de
  • 26. 26 Die Sprecher Maren Krüger [die Ärztin/ die Pennerin/ die Sekretärin/  Christian Rodenberg [junior] Stimme in der Bar] Christian Rodenberg, geboren 1, ist Schauspieler, Mu- Studium der Anglistik und Romanistik und Soziologie an siker und Synchronsprecher. Er studiert an der Transform der Universität Rostock und Mediengestaltung an der Schauspielschule in Berlin. Bauhaus Universität Weimar. Theater (Auswahl): _Berichtete für TV Rostock 1 – 1 _Felix in „Methusalem oder Der ewige Bürger“ von Ivan _NDR Radiosprecherin 1 Goll mit Ensemble Vorgang / StudioBühne Mitte, Berlin. _Zahlreiche Videovertonungen und Radiobeiträge im _Clov in „Endspiel“ von Samuel Beckett im Theaterdock Rahmen ihres Studiums an der Bauhaus-Universität. in der Kulturfabrik, Berlin. _Musikerin und Sängerin in der Band „die Ramonas“ _“Go with the flow (Die Wahrheit über „Vom Winde verweht“)“ mit MARS_productions Ltd. im Theaterdock, Annemarie Thiede [die Fernsehstimme] Berlin. _zwischen 1 und 1 bei verschiedenen Radiosen- _Benjamin in „Die Weiße Ehe“ von Tadeusz Rozewicz im dern (Radio 10.1 in Bremen, Radio TON in Heilbronn), Teatr Studio am Salzufer, Berlin. wo sie Reportagen, Werbung, Nachrichten und weitere Beiträge realisierte und einsprach. Aktuelle Bands/Musikprojekte: _Diplom in Mediengestaltung an der Bauhaus-Universi- _Rupert‘s Kitchen Orchestra tät- Weimar, 2005. _Equilibrium Slim _Mitglied der Band „die Ramonas“ und Sängerin für _Engelstiere „sta:ry 6“. _Aj Chrazy _Zahlreiche Beiträge für das „Studio B11“ das experi- _Gourmets du Groove (Gast) mentelle Radio der Bauhaus-Universität-Weimar und für Radio Funkwerk in Erfurt und Weimar (Station ID, Lars Feistkorn [der Chef] Jingles, Trailer…). Lars Feistkorn ist Sänger und Performer. Nach einigen Theater-Produktionen in seiner Heimatstadt Essen, stu- dierte er Operngesang in Berlin. Teilnahme an diversen Opernproduktionen als Solist (Bass). Aktives Interesse auch an Experimentellem Musiktheater, Improvisation, Schauspiel, Lesung, Performance, eigener Lyrik und Prosa immer in begleitung von diversen Körperarbeits- techniken und Tanz. Seit 2005 intensivere Arbeit in experimenteller improvisierter, insbesondere elektro- akustischer Musik.
  • 27. die nachbearbeitung Tätigkeiten und Bewegungen wurden mit Geräuschen 2 vertont, die man leicht einordnen kann (Tür auf und zu, Im Studio sind zwischen 3 und 10 Takes für jede Szene Schritte, Sesselgeräusche…). aufgenommen worden. Der nächste Schritt war es die Damit die Zuhörer sich in den verschiedenen Or- Aufnahmen auszusortieren. Die Auswahl fiel nicht im- ten zurechtfinden können, haben ich unterschiedliche mer leicht: feine Betonungsvariationen, unterschiedliche akustische Räume gestaltet, einem einfachen Muster fol- Atemzüge und Pausesetzungen, jede Aufnahme klingt gend. Es handelt sich bis auf den Bahnhof um geschlos- anders, bedeutet anders als ein andere. Der gesamte sene Räume (Büro, Arztpraxis, Küche, Wohnzimmer, Rhythmus und die Melodie einer Replik waren meis- Bar), die bestimmten bekannten Geräuschen zuzuordnen tens das entscheidende Kriterium um eine Auswahl zu sind. Junior als Hauptdarsteller wurde auf die Seite der treffen. Zuhörer gesetzt, mittig. Die anderen Rollen wurden ihm gegenübergestellt, leicht auf der linken oder rechten Die variable Lautstärke unter den Sprecher (Selbstver- Seite. trauter Chef und schüchterner Junior) wurde angegli- Am Bahnhof läuft die Pennerin auf dem Gleis herum, chen. Da die Stimmen auch Klangmaterial für die Kom- nähert und entfernt sich wieder. position sind, habe ich sie in ihrem Ganzen behalten mit ihren Nebengeräuschen (Ein-/ Ausatmen, Räuspern, Während des Schnittes an den Repliken habe ich eine Versprecher, Lachen…). Dynamik eingefügt. Die „reale Welt“ startet meistens mit einem ruhigen Tempo, das durch die Unterhaltung Das Hörspiel basiert auf den Gegensätzen der zwei zwischen dem Chef und Junior beschleunigt wird, bis Welten. Einerseits die vertrauten Situationen (das der junge Mann den Bezug zur Realität verliert und in Vorstellungsgespräch, bei der Ärztin, am Bahnhof, in seine verträumte Welt gerät. der Bar…) und andererseits Juniors verträumte Welt. Die Zuhörer sollen mit Junior in seine Welt der ver- Sie wurden entsprechend unterschiedlich bearbeitet. In zerrten Wahrnehmung eingeführt werden, daher habe diesem Kapitel stelle ich Ihnen erst einmal vor, wie die ich die „anderen Atmos“ langsam eingeblendet, so dass Dialoge und Gespräche des Hörspiels produziert wurden man nur durch intensives und aufmerksames Zuhören, und dann werde ich Ihnen eine detaillierte Beschreibung die Trennung zwischen die zwei Welten erkennen kann. der „anderen Atmos“ präsentieren. Die Komposition Die Dialoge und Gespräche. Wenn Junior sich von der realen Welt trennt, agiert der Die Dialoge und Gespräche wurden in einer möglichst Tinnitus oder der „kleine Mann“ als Filter in seinem klassischen Art produziert. Unter dem Begriff „klas- Ohr. Das gilt durchgehend im ganzen Hörspiel. Nur sisch“ verstehe ich eine simple Vertonung, die nach die Verfahren, nach denen dieser Filter funktioniert, gewöhnlichen Konventionen die Realität wiederzugeben variiert je nach Situation. Ich habe die Komposition der versucht. Die Charaktere wurden realistisch in den Raum unterschiedlichen „anderen Atmos“ an den Inhalt der gesetzt, ohne übermäßige, unecht wirkende Effekte. Ihre vorhergehenden Dialoge bzw. Monologe angeknüpft:
  • 28. 2 was Junior wahrnimmt, besteht ausschließlich aus den Bearbeitung: die Klänge bewegen sich im Raum von Stimmen, die gerade vorgekommen sind. außen nach Innen, und von Innen nach Außen. Auch die Räumlichkeit Juniors verfremdeter Wahrneh- Szene 4: Im Zug. mung wurde erarbeitet. Nur folgt sie keiner bestimmten Junior ist im fahrenden Zug. Er selbst bewegt sich nicht. Regel: die Klänge können extrem wandern, sich verdop- Die Situation soll Juniors Verwirrung in der Kommuni- peln und sich mischen und wieder von einandertrennen. kation darstellen. Er steht mitten in einem kommunika- Die Stereoeffekte dienen nicht mehr der Lokalisierung tiven Element (dem Zug), mitten in einem Netz, zwi- der Klänge. schen Bahnhöfen, aber er selbst bleibt statisch. In diesem Kapitel möchten ich Ihnen meine Arbeits- Bearbeitung: Kommunikation als Weg und Zug- verfahren für die jeweiligen Szenen vorstellen. durchsage als Lokalisierung („nächste Station“), die er nicht versteht. Nicht nur die Stimmen werden hier Die „andere Atmos“ verarbeitet, sondern auch die Zuggeräusche als Me- Szene 1: Die Leitung tapher der Verwechslung zwischen Information und Für die erste Szene habe ich mich für ein klares und Informationsträger. deutliches Verfremdungsverfahren entschieden: es ist die Einleitung im Hörspiel, daher soll an dieser Stelle der Szene 5: Vorstellungsgespräch. Prozess der Sprach- und Stimmverzerrung einen leichten Bei der ersten Begegnung mit dem Chef wird Juniors Einstieg in mein Gestaltungskonzept anbieten. Nachdem Tinnitus kräftiger. Er greift ihn als Strahlen und Krach an Junior den Namen und den möglichen Ursprung seiner bis Junior richtig destabilisiert ist. Krankheit erfährt, führt er einen Monolog, in dem er sich an das Telefonat mit der Sekretärin erinnert. Die Szene 6: Junior verträumt bei dem Vorstellungsgespräch. Stimme Juniors entwickelt sich langsam zu dem geschei- Junior stellt fest, dass er sich eigentlich nicht mehr mit terten Kommunikationsversuch. Seine Stimme verwan- allem beschäftigen sollte und Ruhe erst in der Isolati- delt sich selbst zu Zeichen des gescheiterten Telefonats. on finden könnte. Nur wird er von fremden Stimmen Bearbeitung: kurze Schleife. überholt. Hier nutze ich unterschiedliche Aufnahme der Szene Szene 2: Strahlen Empfangen. um einen Kanon aufzubauen. Die fremden Stimmen sind Aller Anfang des Vorstellungsgesprächs… Hier erfährt Juniors verfremdete innere Stimme. man, dass Junior ein grundsätzliches Problem mit dem Empfang und dem Aufnehmen von Informationen Szene 7: Vorstellungsgespräch. hat: sie werden zu Kakophonie und als Sprache nicht Junior kann nur wiedergeben, er kann die Infos empfan- mehr erkannt. Er kann die unterschiedlichen Arten von gen und sie weiterleiten. Der Tinnitus herrscht über sei- Strahlen nicht mehr von einander unterscheiden. Er ne Fähigkeit zu senden. Die Stimmen drängeln in seinem verwechselt das Senden mit dem Wiedergeben, versucht Ohr. Die Atmosphäre ist hier gespannt, so dass Junior allerdings noch auszusortieren. sich zum ersten Mal gegen seinen Tinnitus wehrt.
  • 29. Bearbeitung: die Stimme von Junior im Monolog 2 musst gegen den Fluss der Geräusche kämpfen. Szene 11: das Ende des Vorstellungsgesprächs. Junior wehrt sich nicht mehr gegen seinen Tinnitus, er versucht ihn zu verstehen. Die Stimmung ist ruhig und gelassen. Ableton live. Für die gesamte Arbeit habe ich die Software „Live“ der Berliner Firma Ableton24 verwendet. Das Projekt wird durch elektronische Live-Performer, Musiker und Pro- grammierer geleitet und ist innerhalb von fünf Jahren zu einem sehr beliebten und geschätzten Tool für Bühnen- auftritte geworden. Die innovative Seite der Software, die 2001 auf den Markt gebracht wurde, besteht in der Option, während der Aufnahme oder der Wiedergabe eines Songs die Audio-Dateien „live“ ohne Qualitätsver- lust zu bearbeiten. Die Software ist ein Audiosequenzer, der für Echtzeit- Verfremdung optimiert wurde. Das heißt: es ist möglich einen Song abzuspielen, dabei einzelne Audiodateien (Clips) durch Effekte zu manipulieren und das Ganze (mit den Drehen an Effektparametern) aufzuzeichnen für eine spätere Bearbeitung. Außerdem kann „Ableton Live“ auch wie ein klassisches Musikstudioprogramm mit Mischpult, Effekten, Send/ Aux benutzt werden. Jede Audiodatei ist ein eigenständiger Clip und kann beliebig, unabhängig vom Songablauf, durch Mausklick, externe Controller oder durch Computertaste getriggert werden. Ich kann einer Taste [a] meiner Tastatur einen bestimmten Klang zuweisen und [b] einen Effektpara- meter usw. die Bedienung der Software ähnelt sich die einem Musikinstrument. 24 http://www.ableton.com
  • 30. 30 Beispiel Ich starte das Programm und schließe mein Mikrofon an der ersten Spur an und nehme den Satz „der kleine Mann im Ohr“ auf. Die Audio-Datei [der kleine Mann im Ohr] wurde aufgezeichnet – und ich kann sie (zum Bei- spiel als Schleife) bereits wiedergeben. Also wiederholt sich der Satz. Während der Wiedergabe trenne ich den Satz in fünf Wörter und weise jedem Wort eine Taste meiner Tastatur zu ([d] für „der“; [k] für „klein“, usw…). Jetzt kann ich mit meiner Tastatur beliebig spielen: [d] [k] [m] [i] [o] [k] [m] [d] [i] [o] [k] [m] [d] [o] [i] [i] [i] – Wir hören: „der kleine Mann im Ohr kleine Mann der im Ohr kleine Mann der Ohr im im im“. Es ist nun möglich, jedem einzelnen Wort durch Kürzen, Dehnen, Beschleunigen u.a. zu verfremden: von „der“ behalte ich nur das „d“ Ansatz, vom „kleine“ das Ausatmen, vom „Mann“ die Vokale „a“… also hören wir durch die selbe Tastenfolge wie vorhin „d/hum/aaaaa/iiiiiiiii/r/hum/d/i/ r/hum/aaaaaaaa…“: ich habe ein Instrument program- miert, dessen Klang aus Wörtern, Silben, Morphemen und Phonemen besteht und dessen Farbe durch Modu- lation von Effekten nuanciert werden kann. Ableton Live ist also einerseits ein klassisches Musikstudio Programm, mit linearer Bedienung und Zeitablauf, ande- rerseits ein Sampler (jeder Zeit ist jede Datei abrufbar und als Schleife abspielbar). Das ermöglicht eine Arbeit auf zwei Ebenen mit einer Grundspur, auf der eine Improvisa- tion aus den selben Audiodateien gesetzt wird. Die spielerische und intuitive Bedienung der Software bietet viel Freiheit bei der Komposition, das ständige Aufzeichnen ermöglicht späteren Zugriff für weitere Bearbeitung. Durch diese Eigenschaften eignet sich Ab- leton Live perfekt, um mit ihm mein Gestaltungskonzept umzusetzen: nicht linear arbeiten, die Klänge beliebig schneiden, modulieren und neu zuordnen.
  • 31. schlusswort 31 Der kleine Mann im Ohr ist ein Spiel mit dem Hören, mit der Sprache, mit der Stimme, mit der inneren Stimme. Der kleine Mann im Ohr ist der Tinnitus, eine psychosomatische Störung der Hörfunktion, die Klänge fängt, verfremdet und sie als neu codiertes Signal in endloser Schleife an den Verstand sendet. Er kann den Empfang von Informationen so beschädigen, dass die Kommunikation mit dem Anderen durcheinanderge- bracht wird. Oder vielleicht anders herum. Die Verwei- gerung Informationen aufzunehmen, die Unfähigkeit sich in seiner Umwelt zu integrieren, sich mit der Welt auseinanderzusetzen fördern die Entwicklung eines Tin- nitus, eines Filters, der vor der Realität schützen soll. Der kleine Mann im Ohr im Hörspiel zerlegt die Stimmen bis in ihre kleinste Einheit. Sie werden als In- formationsträger empfangen, die getragenen Informati- onen selbst aber nicht mehr. Die Verknüpfung zwischen gesprochenem Laut und Vorstellung, die Linearität der Sprache, beide wesentliche Konventionen der sprach- lichen Kommunikation, werden durch die Verzerrung gebrochen. Die verfremdeten Stimmen können ihre Funktion als Zeuge der Anwesenheit, als Schnittstelle zwischen dem Körper und der Sprache, als Verbindung zu dem Ande- ren, nicht mehr erfüllen: sie trennen von der Welt ab. Der Bezug zur Realität geht verloren. Was empfangen wird, ist was von den Stimmen übrig bleibt: alles was der Sinnvermittlung nicht dient. Dieser Überschuss, in neuer Form und in neuer Zusammen- setzung, bildet eine andere Ebene der Wahrnehmung, neue Zeichen in einem fremden System. Wie diese zu interpretieren sind, wird den Zuhörern überlassen, sie werden zum Zeichendeuter.
  • 32.
  • 34.
  • 35. 1. Szene Junior: Was soll denn das heißen? 35 Ärztin: durch den Lautsprecher Der nächste, bitte! Ärztin: Das soll heißen, daß sie und ihr Ohrensausen eins sind. Es gehört zu ihnen. Es ist ein Teil von ihnen wie Kleine Pause. ihre Hand. Sie möchten doch auch nicht, daß ich ihnen die Hand abschneide. Ärztin: Sie haben sich also ein Ohrensausen ins Haus geholt. Das nennen die Mediziner Tinnitus, damit es Junior: Fangen sie jetzt auch so an. niemand sonst versteht. Die meisten Ärzte würden ih- nen dagegen Infusionen verschreiben. Die sollen ihr Blut Ärztin: Versuchen sie doch erst einmal, aus dem Ohren- verdünnen. sausen etwas herauszuhören. Es ist ihr Ohrensausen, ihr ganz eigenes. Es hat ihnen mehr zu sagen als jeder Mensch. Junior: Ist es denn zu dick? Ärztin: Zu dick, um gut zu fließen. Bei ihnen stockt der Junior: Was soll ich denn da heraushören? Es spricht kein Fluß. Das bedeutet: So geht´s nicht weiter. Deutsch! Es ist einfach nur ein eintöniges Summen! Junior: Ich habe aber Angst vor Infusionen. Das heißt Ärztin: Ja schon, aber warum ist es da? ich habe Angst vor der Nadel. Bei Blutabnahmen bin ich schon zweimal ohnmächtig geworden. Es ist ja gar nicht Junior: Was weiß ich! Dafür bin ich ja hier - damit sie´s der Schmerz, so zimperlich bin ich nicht. Nur kann ich mir sagen. es einfach nicht ertragen, wenn Fremdkörper in mich eindringen. Ärztin: Ich vermute, genau das ist ihr Problem. Sie erwarten stets, daß andere es ihnen sagen. Obwohl sie Ärztin: Sie sagen es. Sie haben etwas gegen Fremdkör- die Antwort mit sich herumtragen. - Seit wann haben sie per. Bei Nadeln verlieren sie das Bewußtsein. Und wenn das Geräusch denn? Menschen ihnen zu nahe kommen, verlieren sie das Gehör. Junior: Hhhhm … schon seit längerer Zeit. Aber vor ein paar Tagen ist es plötzlich lauter geworden. Richtig Junior: Gibt es dagegen denn keine Tabletten oder so- aufdringlich. was? Bloß keine Infusionen! Ärztin: Ist ihnen in der letzten Zeit irgendetwas zugesto- Ärztin: Es ist die Frage, ob ich ihnen überhaupt etwas ßen? Hat sich etwas Besonderes ereignet? gegen das Ohrensausen geben sollte. Denn damit würde ich ihnen etwas geben, das gegen sie wirkt. Junior: Hm? Was meinen sie denn? Einen Unfall hatte ich keinen.
  • 36. 36 Ärztin: Na, so weit sind sie noch nicht! Lassen sie mich Nummer der Firma getippt, als wären es Lottozahlen … mal anders fragen: Haben sie in der letzten Zeit unter ab hier abgleiten in den Monolog mit anderer Atmo besonderen Belastungen gelitten, hatten sie Ärger oder … und dann hatte ich eine Leitung, eine freie Leitung, großen Streß … ein freies Zeichen … Ja … ja … Hallo, hallo. Hallooooo … aber es meldet sich niemand … es ist eine freie Lei- Junior: Streß hab ich immer. tung, aber leider auch eine lange Leitung, und ich muß lange aushalten - durchhalten, besser gesagt, denn es Ärztin: Was geht denn so in ihrem Kopf vor. Was be- knistert in der Leitung, es knuspert, es tutet in der Lei- schäftigt sie. tung, tut - tut macht es, tut - tut, tut - weh … es knackt, als würde etwas brechen … und ich horche … und ich Junior: lacht auf Was mich beschäftigt? - Daß mich nie- ho … und ich … oh … meine Oh … meine Ohren … es mand beschäftigt! Das ich arbeitslos bin! Und obendrein schneidet in meine Ohren … was ist das … was sticht verarscht werde! da in meine Ohren … das frage ich … es ist ja nur eine Frage, die tut doch nicht weh … Ärztin: Wer verarscht sie? Junior: Na zum Beispiel der Chef von dieser Firma da, wo ich letzte Woche war, zum Vorstellungsgespräch … 2. Szene Der hat mich nur zu sich bestellt, um mich zu quälen … Telefonat. Die Sekretärin spricht durch den Hörer. Einblendung: Junior erinnert sich an den Chef; er hört die Stimme des Chefs im Kopf, sie klingt traumhaft ver- Junior: Bitte verstehen sie die Frage nicht falsch, ich bin schwommen mir einfach nicht ganz sicher … Chef: Sie suchen Arbeit? Sie sie sicher, daß sie nicht etwas Sekretärin: Das überlassen sie mal am besten mir, was anderes suchen? Etwas viel Schöneres und Wertvolleres? ich wie verstehe. - Wenn sie ganz sicher gehen möchten, tragen sie am Junior: Ich hab mir soviel Mühe gegeben. Also ich mei- besten einen dunkelblauen Anzug. Dunkelblau ist seine ne, ich hätte mir Mühe gegeben, hätte ich die Chance Lieblingsfarbe. Außerdem wirkt es seriös und paßt damit gehabt. Ich hab mich so gut auf das Vorstellungsge- ideal zu einem Vorstellungsgespräch. Ach ja, was noch spräch vorbereitet, hab sogar mein letztes Geld für wichtig ist: Es muß ein Einreiher sein. Bloß keinen Zwei- einen Anzug ausgegeben. Weil ich einen guten Ein- reiher! Zweireiher kann er nicht ausstehen. druck machen wollte. Aber der hat mich kaum zu Wort kommen lassen, und mein Anzug war ihm auch egal! Ich Junior: Aha … und die Krawatte? Sollte die Krawatte hab extra die Sekretärin gefragt, was für Sachen er am auch eine bestimmte Farbe haben? liebsten hat … ich hab sie extra angerufen … ich hab die Sekretärin: Nun … da gönnen sie sich ruhig ein wenig
  • 37. Freiheit. Vielleicht überlegen sie sich, ob sie nicht besser bin auf Empfang, ja bin ich denn ein Radio, ja muß ich 3 eine Fliege tragen. Er trägt nur Fliegen. Andererseits … denn wiedergeben, was andere ausstrahlen, und es gibt wenn sie mit einer Fliege ankommen, könnte er meinen, ja so viele Sorten von Strahlen. Alle treffen sie sich in sie wollten sich bei ihm beliebt machen. meinen Ohren zu einem Schwatz. Das nennt man Kako- phonie, glaube ich, oder Scheißophonie. Ja bin ich denn Junior: Eigentlich ist das ja auch mein Ziel. ein Ort der Begegnung. Immerzu dieses Singen aus den Sendern, und dann noch dieses Rauschen aus den Atom- Sekretärin: Das muß man ja nicht so plump anstellen! kraftwerken, Strahlen, Strahlen, ich werde noch ganz Wenn sie meine Meinung wissen wollen: Lassen sie blöd. Es gibt keine Stille, nie. Weil: Ich bin empfänglich das ganze Gebinde weg und kommen sie mit offenem für Strahlen. Für Strahlen aller Art. Ich bin ein Medi- Hemdkragen, das sieht sportlich aus und frisch. um. Ich mache Strahlen hörbar. Allerdings nur für mich selbst. Ich bin mein eigenes Radio. Ich bin mein eige- Junior: Auch gut. Wie finde ich denn am besten zu ner Geigerzähler. Hallo? Hallo? Wie bitte? Ist das deine ihnen? Stimme oder ist es ein anderer Sender? Woher kommen sie? Verstehe. Jedenfalls ist es nicht meine eigene Stim- Sekretärin: Kommen sie mit dem Auto? me. Hab ich mir schon gedacht. Inzwischen hab ich den Dreh raus. Ich erkenne sie schon an der Strahlung. Ich Junior: Nein, ich habe kein Auto. erkenne sie schon, ich habe sie schon gehört, jetzt hab ich sie, jetzt hab ich ihre Frequenz, einen Moment noch, Sekretärin: Na, dann nehmen sie die S-Bahn, die hält gleich bin ich auf sie eingestellt … hier fast vor der Haustür … Junior: Dann sagen sie mir doch bitte noch den Namen der Haltestelle. 3. Szene Sekretärin: Rödelheim müssen sie raus. Das Rauschen eines verstellten Radios. Junior: … Aha … vielen Dank … Rödelheim … so also Vater: Du hast meinen Sender verstellt! Meinen Sender heißt die Station … muß mir den Namen einprägen … an meinem Radio! muß an dieser Station raus … ab hier abgleiten in den Monolog mit anderer Atmo Das Radio wird eingestellt, aus dem Rauschen wird … ach, schon wieder muß ich einen Namen aufnehmen, Schlagergesang: „Es fährt ein Zug nach nirgendwo“ von schon wieder muß ich etwas in mich reinlassen, muß ich Christian Anders. hinhören, was die Stimme aus dem Lautsprecher sagt: Aufdringlich-vordergründiges Gurgeln einer Kaffeemaschi- Nächste Station: … - die Stimme ist ein Sender mit einer ne kommt hinzu. Sendung, und ich, ich bin auf die Station eingestellt, ich
  • 38. 3 Vater: vehement, fordernd Wirst du wohl dein Brötchen 4. Szene aufschneiden! Ich will es knuspern hören! Atmo unterirdische S-Bahn-Station Hauptwache in Frank- Ich will die Krümel spritzen sehen! furt am Main. Menschenmassen, Rolltreppen, ein- und ausfahrende Züge, Durchsagen. Junior: verzweifelt Welches Messer soll ich denn neh- Während der ganzen Szene brabbelt die Pennerin wirres men? Zeug vor sich her. Schrille Stimmlage, hysterisch, belustigt. Juniors Stimme überlagert ihre, doch ist sie im Hinter- Vater: Das da! - Schau mal auf die Uhr! Schau gefälligst grund weiterhin - ununterbrochen! - deutlich zu hören. mal auf die Uhr! Willst du etwa zu spät kommen? Dann Die Szene beginnt mit der Durchsage! kannst du es gleich vergessen! Durchsage: Auf Gleis 3 fährt ein: S 5 nach Friedrichsdorf. Laut: Ein Messer schneidet ein knuspriges Brötchen Pennerin: Ich hab mich sterilisieren lassen. Wegen der Vater: Hier, Butter! Los, schmieren! Einfetten! Mäuse. Ach herrje, die haben an mir geknabbert mit ihren spitzen kleinen Zähnchen. Es hat immer so gejuckt. Junior: winselt Ach Zähnchen haben die! Das zwickt. Aber das kann man ja wegmachen. Vater: Ich hasse Menschen, die das Haus ohne Frühstück verlassen. Junior: höhnisch, im Vorübergehen Es hat so etwas von Verweigerung. Hört euch mal die bekloppte Alte an! Junior: grunzt Pennerin: Dafür habe ich die Kneipe geerbt, Endstation heißt die, am Bahnhof von Bad Vilbel. Da braucht man Vater: Los, reinbeißen! Mach schon! Hoppla! Hopp! ja ne Ausschankgenehmigung. Sie lachen! Sie lachen! Und dann gab´s Ärger. Hottehü! Hottehü! Da hat´s mich gesattelt. So schnell geht das. Hoppla hopp. Junior: mit vollem Mund So etwa? Ist das richtig so? Durchsage: Am Gleis 3 bitte zurücktreten. Vater: Kauen jetzt! Und jetzt sag, daß es dir schmeckt! - Hallo! Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Junior: besorgt Bestimmt wird er mich löchern. Er wird mich anbohren mit seinen Fragen. Junior: erzeugt unverständliche Worte mit vollem Mund verstellt seine Stimme Wie lange waren sie für ihren letzten Arbeitsgeber tätig? Elf Monate? Aus welchen Gründen ist der Arbeitsvertrag aufgelöst worden?
  • 39. Pennerin: Du dumme Sau! Mach das du verschwindest! Konzession. Rattatamm, rattatamm, wo ist denn bitte 3 Da war´s dann aus. Da hat´s mich in die Beete gepfef- schön der nächste Luftschutzkeller. Gleich kommt eine fert. Kraut und Rüben. Nu ja, was soll´s. Hoppel hopp V2 auf uns nieder, da werden sie schon sehen, hoppla da kamen die Hasen ohne zu fragen. Ja, Süße, deine hopp. Weg da! Geh beiseite, du Aas, ich will das sehen! Bügelfalten stechen mir in die Augen, geh weg! Nein, ich sitze, wo ich bin! Ich könnte dich anfassen! Junior: wieder mit seiner eigenen Stimme Durchsage: Am Gleis 3 bitte zurücktreten! Was soll ich denn darauf antworten? Ich kann doch nicht lügen, das merkt man mir sofort an. Junior: ab hier abgleiten in den Monolog mit anderer Atmo Was hat die Stimme gesagt? Was sagt sie? Sie sagt Durchsage: Auf Gleis 2 fährt ein: S 2 nach Südbahnhof. es ja noch … die Stimme ist ja noch in meinem Ohr … hallo? Hallo? Ja … aber ja doch … ich höre sie sehr gut Pennerin: Als sie ihm die Haare abgeschnitten hatten, … ich brauche doch nicht zurücktreten, ich bin doch wußte ich gar nicht mehr, was ich sagen sollte. Außer- schon eingetreten, ich bin doch schon drin, im Zug, der dem taten mir die Zähne weh, ja ich hab auch Zähne, bringt mich hin, rattatam, rattatam, jetzt bin ich auf dem Hasenzähne, ach die Schmerzen, wegen der schlechten richtigen Weg, jetzt brauch ich nur noch hinhören, bis Füllungen. Da waren schon Risse drin, in denen haben die Stimme die Station ansagt, aber nicht die Endstation, sich Würmer eingenistet. Hoppsassa, haben sie die raus- ich fahre ja nicht nach Bad Vilbel … ich fahre ja nach …. gezogen, dass es nur so flutschte. Nun da bin ich heute wie heißt sie noch, die Station … angekommen, oder da drüben. Also Haarspray konnte ich noch nie riechen. Am vorigen Tage hatte ich noch Durchsage im S-Bahn-Zug, fließend einfügen: Nächster was in Aussicht, aber das geht vorüber. Meine Güte, Halt Galluswarte. müssen die denn die Sitze aus so nem Draht zusammen- biegen, da holt man sich ja ein Karomuster am Arsch. Junior: Muß ich jetzt aussteigen?… war es diese Station? Ich hab nämlich keinen Schlüpfer an, den mußte ich War es diese Station … muß ich hier raus? … wegwerfen, der war schon verbraucht. Durchsage: Auf Gleis 3 fährt ein: S nach Wiesbaden über Frankfurt Flughafen. 5. Szene Junior: In einer halben Stunde muß ich da sein. In zwei Im Zimmer des Chefs. Stunden hab ich es hinter mir. So ungefähr. Vielleicht dauert es auch gar nicht so lange. Sekretärin: spricht durch die Wechselsprechanlage Soll ich ihn hereinlassen? Pennerin: Und wie sie weitergegangen sind, dachte ich mir so: Ohne mich! Ohne mich! Ich krieg ja doch keine Chef: eifrig, voller Vorfreude Ja! Ja! Lassen sie ihn herein!
  • 40. 40 Es klopft an der Tür. Chef: Wie? Haben sie etwas gesagt? - Ich seh ihnen doch an, daß sie sich nach etwas sehnen! Chef: räuspert sich mehrmals, laut und übertrieben, ohne Stille.Sie möchten bestimmt ein paar Kekse knabbern, Einlaß zu gewähren stimmt´s? spricht in die Wechselsprechanlage Bitte bringen sie noch Nach einer Pause klopft es wieder. Kekse mit! Chef: flötend, übertrieben freundlich Sekretärin: Jawohl. Herein! Ja bitte! Treten sie ein! Chef: Sie gestatten, daß ich mich endlich setze? Junior: spielt den freundlichen, gelassenen Bewerber, ist in Penetrant knarzendes Leder; es begleitet seine Äußerungen Wirklichkeit eingeschüchtert Sie bleiben bitte stehen. Ich möchte die Perspektive Guten Tag! Da bin ich! genießen. Ich möchte zu ihnen aufschauen. Ich möchte zu allen meinen Mitarbeitern aufschauen können. Wie Chef: herzlich Kommen sie näher! Setzen sie einen heißt doch gleich diese Perspektive … Schritt vor den anderen! Verringern sie den Abstand! Junior: Froschperspektive? Die Wechselsprechanlage piept. Chef: Ach was! Da müßte ich ja platt auf dem Boden Chef: flötet in die Wechselsprechanlage liegen! Möchten sie das? Stellen sie sich das insgeheim Nur keine Scheu! Nur keine falsche Bescheidenheit! vor: Wie ich platt auf dem Boden liege? Sekretärin: Möchten sie Kaffee oder Tee? Junior: Nein, nein, auf keinen Fall! Chef: Kaffee oder Tee? Kaffee oder Tee? Meine Lie- Chef: Sie möchten mich auf dem Boden sehen. Sie be, die Frage stellt sich ganz anders. Das eine soll das möchten mich mit ihrem Fuß zerquetschen wie einen andere niemals ausschließen. In unserem Hause gilt das kleinen, ekligen, glitschigen Frosch. Prinzip Sowohl-Als Auch, nicht das Prinzip Entweder- Oder. Wann werden sie das endlich lernen? Junior: Aber nein! Sekretärin: gelangweilt Mit Milch und Zucker? Chef: Warum geben sie nach? Stehen sie zu ihren Fan- tasien! Ich habe volles Verständnis für solche Vorstel- Chef: Mit braunem Kandiszucker! Und mit Zitrone! lungen. Sie kommen hier herein als Wurm. Kein Wun- an Junior Haben sie einen besonderen Wunsch? der, daß sie sich nach Macht und Größe sehnen. Aber bedenken sie: Der Frosch frißt den Wurm, haha! Na Junior: Nun … Also … nun beruhigen sie sich, ich habe ja nur ihr eigenes Bild
  • 41. weitergemalt! Ich bin kein Frosch, sie sind kein Wurm. Sekretärin: kommt hustend herein 41 Abgemacht? Hier sind ihre Schokokekse. Passen sie auf, daß ihnen die Schokolade nicht zwischen den Finger zerläuft. Wenn sie Die Tür geht. Sekretärin tritt ein. die Soße wieder auf den Sessel schmieren, können sie ihn diesmal selbst saubermachen. Sekretärin: Hier kommt das Sowohl-Als Auch. Chef: Was sind sie heute wieder biestig! Chef: Ah, wie der Kaffee duftet! - Aber was ist das? Wie- der diese trockenen Krümeldinger! Wo sind denn meine Sekretärin: Was haben sie nur mit dem Jungen gemacht. saftigen Schokokekse? Die mag ich doch so gern! Der guckt ja so belämmert. Sekretärin: Mal schaun. Chef: Noch habe ich gar nichts mit ihm gemacht, haha. Das kommt erst noch! Sekretärin geht. Sekretärin: Na, na, na! Setzen sie ihm bloß keine Flausen Chef: Stört es sie, wenn ich rauche? in den Kopf! Junior: Nein, bestimmt nicht. Chef: Flausen? In den Kopf? Ich werde ihm einen kleinen Mann setzen! Und zwar ins Ohr! Chef: Sie wissen, daß Rauchen ungesund ist? Tür geht zu. Junior: Ja, das schon, die EU Gesundheitsminister war- nen davor … Chef: Bleiben wir bei ihnen. Was stört sie am Rauchen? Chef: pafft genüßlich Die Zigaretten selbst sind völlig Junior: Nichts! Gar nichts! Rauchen sie nur. Früher hat harmlos. Ungesund ist das, was mich zum Rauchen man Zimmer aus hygienischen Gründen ausgeräuchert! antreibt. Es wird also sein Gutes haben. Junior: Ach so! Chef: Erzählen sie doch keinen Quatsch! Ich weiß genau, daß sie Zigaretten ekelhaft finden! Ich weiß auch, daß Chef: Da staunen sie, was? Das ist ihnen neu! Nun, hier sie vom Rauch nach kurzer Zeit Augenreizungen, ver- änderte Geschmacks-empfindungen sowie neurotische werden sie noch einiges erfahren, das ihnen ganz neu Atembeschwerden bekommen! vorkommen wird. Tür geht. Junior: Es stimmt, Rauch brennt in meinen Augen, aber das ist auch alles.
  • 42. 42 Chef: Wenn ihnen die Augen weh tun, warum weinen Junior: ab hier abgleiten in den Monolog mit anderer sie dann nicht? Das spült die Schadstoffe aus! Atmo Harthörig … harthörig … hart … hartherzig finde ich das, mich zu stören, diese Stimme, seine Stimme, Junior: Ich kann nicht so einfach auf Befehl weinen. noch eine, als hätte ich nicht genug in mir, finde ich denn nie mehr zur Ruhe, nicht bei Tag, nicht bei Nacht, Chef: Das ist mir klar. Sie haben eine Verhaltung, da in keiner Nacht, auch nicht in der letzten, wir hatten kommt halt nichts bei raus. Sie können weder weinen Neumond letzte Nacht, wir alle hatten Neumond, noch scheißen. Ist ihnen die Ähnlichkeit dieser Symp- aber ich, wieder nur ich hatte sein Tönen im Ohr, bei tome aufgefallen? Neumond sind es Photonen und Neutronen, die da so aufdringlich klingen, kann aber auch sein eine Radon- Junior: Heute morgen hatte ich wirklich eine Verstopfung quelle, ganz in der Nähe, das Gas Radon, es strömt aus, zischend, rauschend, aus einer Gasflasche, aus einer Chef: Eben! Weil sie mir was scheißen wollten, aber sich Lunge, aus einem Mund, was weiß ich, jedenfalls ist nicht trauten! Ha! Zu feige zum Scheißen! es da, machen sie nicht so einen Krach, ich möchte schlafen, es ist Neumond, es ist Radon, es ist radioaktiv, Junior: Warum reden sie so mit mir? Wollen sie mich es ist Biblis. Biblis ist nicht weit, nur ein paar Stationen verletzen? mit der Regionalbahn, nächste Station Biblis, Biblis hat ein Wahrzeichen, es hat zwei Kuppeln. Der Petersdom Chef: Mein Junge! Sie denken falsch von mir! Es ist mein hat nur eine Kuppel. Sie sind eines der größten Atom- Ziel, ihre Wahrnehmung zu schärfen - genauer gesagt: kraftwerke der Welt, in jeder ihrer Kuppeln glühen Ihre Selbst-wahrnehmung. Dafür gibt es ein Organ, das einhundertdreiundneunzig Brennelemente, sie erzeugen heißt nicht Auge, auch nicht Ohr, sondern Bewußtsein, sechzehn Milliarden Kilowattstunden Strom im Jahr, und sein Ziel ist Bewußtheit! Ich begleite sie nur auf dem das ist eine Leistung, da staunt man mit offenem Mund, Weg dahin. Der Weg kann hart sein. Aber bitte schieben da verschlägt es einem die Sprache, mir verschlägt es sie mir nicht die Härte des Weges in die Schuhe! Der Weg die Sprache, aber sie, sie reden und reden, nun las- kann auch lang sein. Sie haben bereits eine lange Strecke sen sie mich endlich in Ruhe! Weg! Hauen sie ab! Ich zurückgelegt. Eine Durststrecke, haha! Da können sie beschwere mich! Hallo? Hallo? Ist dort die Personen- noch so viel Kaffee bei Vorstellungsgesprächen trinken: dosismeßstelle? Bitte nehmen sie zur Kenntnis, daß ich Wenn sie sich nicht ändern, geht die Durststrecke weiter. eine strahlenexponierte Person bin. Ich verlange eine Kann nicht einmal zugeben, dass ihm die Augen brennen! dosimetrische Überwachung, darauf habe ich Anspruch. Das gleiche Theater spielt er mit den Ohren: Gibt nicht Näheres zur Personendosis regeln die Paragraphen einmal zu, dass sie ihm klingen! Noch nicht, noch nicht. zweiundsechzig folgende der Strahlenschutzverordnung. Das kommt erst, wenn er den Vertrag in der Tasche hat! Weiteres lesen sie unter Paragraph fünfunddreißig der Aber nicht mit mir! Hallo! Hören sie mir überhaupt zu? Röntgenverordnung … der Schlafschutzverordnung … Hallo, junger Mann, sind sie schwerhörig? Oder wie sagte man früher, ha-ha … harthörig …
  • 43. 6. Szene Hätte ich mir bloß die Decke über den Kopf gezogen. 43 Hätte ich doch einen verständnisvollen Vater. Junior: Wäre ich bloß im Bett geblieben Ach, mein schönes Bett. Ach, meine schöne Bettdecke. Chef: Haben sie etwas gesagt? Hier versuchen sich die beiden Fremdstimmen wieder Junior: flötet Nei - hein, ich höre ihnen zu - hu! einzumischen: Junior gleitet ab in Gedanken. Evtl. leichter Hall. Seine 1. und 2. Fremdstimme im Chor: Wäre ich bloß im Bett Gedanken denkt er melodiös, wie einen Sprechgesang. geblieben … Da mischen sich fremde Stimmen ein, die versuchen, ihm einen Kanon aufzuzwingen. Junior: Ruhe! Junior: Wäre ich bloß im Bett geblieben. Es herrscht Stille. Junior beginnt wieder von vorn. Hätte ich mir bloß die Decke über den Kopf gezogen. Hätte ich doch einen verständnisvollen Vater. Junior: Wäre ich bloß im Bett geblieben. Ach, mein schönes Bett. Hätte ich mir bloß die Decke über den Kopf gezogen. Ach, meine schöne Bettdecke. Hätte ich doch einen verständnisvollen Vater. Ach, mein schönes Bett. Hier setzt der Kanon ein: Ach, meine schöne Bettdecke. 1.Fremdstimme: Wäre ich bloß im Bett geblieben … Ab hier begleiten ihn die beiden Fremdstimmen, sprechen synchron mit ihm. Er unternimmt nichts mehr gegen sie. Nach der 2. Strophe setzt die 2. Fremdstimme ein: Junior: So viele Kassetten. 2. Fremdstimme: Wäre ich bloß im Bett geblieben. Ich könnte Deckenkassetten zählen. Hätte ich mir bloß die Decke über den Kopf gezogen. Ich könnte Daunenfedern zählen. Ich könnte Staubmilben zählen. Die 2. Fremdstimme schafft noch die 2. Strophe, dann Alles wärmer als das hier. wird sie von Junior unterbrochen: Alles besser als das hier. Junior: Aufhören! Er beginnt von vorn. Junior: Wäre ich bloß im Bett geblieben.