2. Webinar Deutsche Sprachgeschichte – D. Nübling, Mainz
Damaris Nübling
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
22. Oktober 2013
Webinar zu
"Deutsche Sprache im Wandel"
3. Webinar Deutsche Sprachgeschichte – D. Nübling, Mainz
Zwei für das Deutsche zentrale Themen:
1. Die Entwicklung der Substantivgroßschreibung
2. Die Entwicklung des Siezens
4. Webinar Deutsche Sprachgeschichte – D. Nübling, Mainz
Sprachwissenschaft
Historische
Sprachwissenschaft
Synchrone/Deskriptive
Sprachwissenschaft
Fragen zur (seit 800 n.Chr.
beobachtbaren) Entwicklung
des Deutschen, z.B.
Fragen zu Aufbau und Funktionsweise des heutigen
Deutschen, z.B.
Wie, wann und warum hat sich
die Großschreibung der
Substantive herausgebildet?
Welche Wörter schreibt man groß
und warum? Welches System
steht dahinter?
Welche Anreden gab es früher
(diachron) und wie, wann und
warum hat sich das heutige
Du/Sie entwickelt?
Wann siezt und wann duzt man
sich und worin besteht der
Unterschied?
5. Webinar Deutsche Sprachgeschichte – D. Nübling, Mainz
1. Die Entwicklung der Substantivgroßschreibung
Im Deutschen gilt die Regel:
Substantive und Substantivierungen
werden auch im Satz großgeschrieben.
6. Webinar Deutsche Sprachgeschichte – D. Nübling, Mainz
• Diese Schreibregel (graphematische Regel) hat
nichts mit der Aussprache zu tun
(<Tag> - *<tag>)
• Das deutsche Schriftsystem ist keine einfache
graphische Abbildung des Gesprochenen - es
gilt also nicht "schreib wie du sprichst"
Aussprache
[ta:k]
Schreibung
<Tag>
7. Webinar Deutsche Sprachgeschichte – D. Nübling, Mainz
Leserfreundliches System
• Die Substantivgroßschreibung (und viele andere Regeln)
erleichtern und beschleunigen den Leseprozess
Schreiber
mit möglichst wenig Aufwand
einen Text verfassen
(produzieren)
• ohne Großbuchstaben
• nach der Lautung:
*<am waltak>
Leser
mit möglichst wenig Aufwand
einen Text verstehen
(rezipieren)
• mit Großbuchstaben
• generell: jede graphische
Unterstützung ist gut
<am Wahltag>
8. Webinar Deutsche Sprachgeschichte – D. Nübling, Mainz
Wir lesen viel mehr, als wir schreiben!
D.h.: Es ist wichtiger, (flüssig) zu lesen als zu
schreiben.
Ab ca. 1500 gehen wir vom Laut- zum Leiselesen über: D.h.: Wir entnehmen dem Text
direkt die Informationen und müssen ihn nicht
mehr mit den Lippen artikulieren bzw. vor uns
hinmurmeln (das machen nur noch Kinder).
Ab ca. 1500 entfernt sich die deutsche
Schreibung rapide weg von der reinen
Lautabbildung. Ein Beispiel dafür ist die
Großschreibung aller Substantive.
9. Webinar Deutsche Sprachgeschichte – D. Nübling, Mainz
Experimente: Niederländische Testpersonen
lesen Texte mit (für sie fremden!) großgeschriebenen Substantiven schneller als solche mit (der
ihnen vertrauten) Kleinschreibung.
Die Substantivgroßschreibung dient einzig dem
beschleunigten Lesen! (Nur Schreiber beschweren sich …)
Sie betont die wichtigsten (inhaltsreichsten)
Wörter im Satz ("Leuchtturmfunktion") und steuert
die Augenbewegung: Die Augen springen von
Großbuchstabe zu Großbuchstabe.
10. Webinar Deutsche Sprachgeschichte – D. Nübling, Mainz
15. Jahrhundert: Erfindung des Buchdrucks
• Johannes Gutenbergs Vor- und
Beinamen wurden zu seiner
Zeit manchmal klein-, manchmal großgeschrieben
(1. H. des 15. Jhs.):
Henne Ginsfleiss
Johan gotenberg
hengin Gudenberg
• Der Großbuchstabe (die
Majuskel) wird noch nicht
regelmäßig verwendet.
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Die Entwicklung der Substantivgroßschreibung:
dauert von ca. 1500-1700 und folgt sog. Belebtheit!
Zeitachse
Eigennamen
Nomina
Personen- Konkreta Abstrakta
Sacra
bezeich- <Frucht, <Anfang,
Zeit- <Johannes
raum Gensfleisch> <Gott, Herr> nungen
Kraut> Finsternis>
<Mensch>
1500
59%
0%
11%
4%
2%
1530
74%
68%
34%
8%
6%
1560
97%
90%
72%
40%
18%
1590
96%
98%
91%
84%
50%
1620
98%
99%
96%
91%
66%
1650
99%
100%
93%
93%
72%
1680
99%
100%
96%
99%
87%
1710
99%
100%
98%
Seite 11
94%
89%
11
15. Die Großschreibung der Substantive geht nicht auf
zeitgenössische Grammatiker zurück (die waren
eher dagegen), sondern war ein "demokratischer"
Prozess: Bücher mit Großschreibung waren besser
lesbar und haben sich besser verkauft.
Eine
Kneipe
heute …
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2. Die Entwicklung des Siezens
Im Folgenden geht es um die höfliche Anrede
einer einzelnen Person mit Sie: "Sie sind
willkommen, treten Sie ein!"
Merkwürdig: Man tut so, als handle es sich
a) um mehrere Personen (Plural statt Singular)
und
b) um eine dritte, abwesende Person, über die
man spricht (3. Person statt 2. Person). Man
spricht aber mit ihr!
17. Webinar Deutsche Sprachgeschichte – D. Nübling, Mainz
Nur wenige Sprachen praktizieren ein SieVerfahren, und diese wenigen befinden sich in
Nachbarschaft zum Deutschen: Dänisch,
Norwegisch, Tschechisch, Slowenisch.
Die meisten Sprachen benutzen ein 'Ihr', d.h. sie
setzen ihr Gegenüber in die Mehrzahl (frz. vous,
span. vosotros etc.).
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Simon (1997: 268):
"Im Rahmen der neueren Höflichkeitsforschung ist
deutlich geworden, dass wahrscheinlich in allen
Sprachen und Kulturen Mittel existieren, mit deren
Hilfe der Sprecher ausdrücken kann, dass er den
Angesprochenen wertschätzt."
Faktoren, die Höflichkeit auslösen:
Alter, Sozialstatus/Stand, Prestige
(Beruf, Amt, Würden), Geschlecht, Herkunft ...
der ange-sprochenen Person
19. Webinar Deutsche Sprachgeschichte – D. Nübling, Mainz
Unterscheidung zwischen sog. positivem und
negativem Gesicht (nicht wertend gemeint!)
→ Höflichkeit (nach Brown/Levinson 1987):
a) "positive face": Bestätigung, Lob, Erhöhung
des Adressaten (Allergnädigster Fürst! Ihro
Gnaden!), Vervielfachung (Plural!) des
Gegenübers (es ist so mächtig und wertvoll wie
mehrere Personen), Gemeinsamkeiten betonen
etc. Oft auch Selbsterniedrigung des Sprechers
("ich Nichtsnutz", "meine Wenigkeit") oder sein
Verschwinden ("ich"-Tilgung in Briefen),
um Distanz zu erhöhen.
20. Webinar Deutsche Sprachgeschichte – D. Nübling, Mainz
b)"negative face": Der Adressat möchte seine
Freiheit behalten, nicht beeinträchtigt und zu
nichts genötigt werden → "give options!"
Strategien: Indirektheit, besonders bei Aufforderungen (Hier zieht's statt Bitte mach das Fenster zu),
Konjunktivgebrauch (Ich hätte gern ein Brot statt Gib
mir ein Brot), Abschwächungen, Entschuldigungen, unpersönliche Konstruktionen (Der
Betrag möge überwiesen werden statt Überweisen Sie den
Betrag) etc.
21. Webinar Deutsche Sprachgeschichte – D. Nübling, Mainz
→ Das Deutsche ist eine Sprache und Kultur, die
eindeutig das "negative face" bedient!
Das führt zu vielen Missverständnissen von Menschen
aus positiven Höflichkeitskulturen!
Alltagsbeispiel: Wenn man in Deutschland im Bus/auf der
Straße nicht miteinander spricht, dann deshalb, um das
Gegenüber nicht zu stören, es in Ruhe zu lassen
(Menschen aus positiver Höflichkeitskultur missverstehen
das als Desinteresse und Kälte). Umgekehrt sind
Deutsche in Kulturen mit positiver Höflichkeit oft genervt,
sie fühlen sich gestört und empfinden positive
Aufmerksamkeit als falsch und zudringlich
(auch ein Missverständnis).
22. Webinar Deutsche Sprachgeschichte – D. Nübling, Mainz
Stufenmodell der Höflichkeitssteigerung in der
deutschen Sprachgeschichte nach Simon
23. Webinar Deutsche Sprachgeschichte – D. Nübling, Mainz
Stufe 2:
Zum du tritt i(h)r hinzu: Statt Singular Plural, d.h.
damals (um 1000 n.Chr.) galt noch eine positive
Höflichkeitsstrategie.
Frühestes Bsp.: Otfrid von Weißenburg um 865:
thaz
ir mih
lertut harto
'dass
ihr mich
lehrtet sehr/streng'
24. Webinar Deutsche Sprachgeschichte – D. Nübling, Mainz
Stufe 3:
Als noch höflichere Anrede kommt ab dem 17. Jh.
er/sie hinzu (die ihr-Anrede war inflationiert;
Ständegesellschaft):
Statt der 2. Ps.Plural die 3. Ps. Singular: Negative
Höflichkeit, denn es wird so getan, als sei die
angesprochene Person gar nicht anwesend (sog.
"Verabwesendung")
Bsp.: Er zu ihr: "Sei Sie nur ruhig, Frau Marth! Es wird sich alles
entscheiden". Sie zu ihm: "Meint Er, dass die Justiz ein Töpfer
ist?"
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Stufen 4 und 5 werden zusammengefasst:
Es kommt im 18./19. Jh. eine (noch höflichere)
Anrede dazu: Sie als 3.Ps. Plural:
Kombination zweier Höflichkeitsstrategien:
a) das Gegenüber ist unsichtbar (3. Ps.)
b) das Gegenüber ist mächtig (Pl.)
Entstanden: Euer Gnaden (Sg.=Pl.) sie (Pl.)
Bis heute muss man Sie aus Höflichkeit
großschreiben (sog. pragmatische Großschreibung)
26. Webinar Deutsche Sprachgeschichte – D. Nübling, Mainz
Nicht behandeln können wir hier
a) die Entstehung einer 5. Höflichkeitsstufe,
dieselben, und
b) das Absinken von er/sie unter die ihr-Anrede
(man spricht ab dem 19. Jh. vom sog.
Dienstboten-er/sie: Geh er mir aus dem Weg! )
Nachzulesen in: Nübling, D. et al. (2013): Historische
Sprachwissenschaft des Deutschen, Kap. 7.4.
27. Webinar Deutsche Sprachgeschichte – D. Nübling, Mainz
Stufe 6:
Mit Verschwinden der Ständegesellschaft und
Demokratisierung der deutschen Gesellschaft
bricht dieses 5-stufige Anredesystem im 19./20.
Jh. auf zwei Stufen zusammen: du vs. Sie.
Heute immer mehr Duz-Kontexte (z.B. unter
Studierenden: Diese haben sich in den 1960erJahren noch gesiezt).
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Wilhelm Busch:
Da lob ich mir die Höflichkeit
Das zierliche Betrügen,
Ich weiß Bescheid, du weißt Bescheid
Und allen macht's Vergnügen.
29. Webinar Deutsche Sprachgeschichte – D. Nübling, Mainz
Vielen Dank für Ihr Interesse!
Zitierte Literatur:
Brown, P./Levinson, S.C. (1987): Politeness. Some universals in language usage. Cambridge.
Simon, H. (1997): Die Diachronie der deutschen Anredepronomina aus Sicht der Universalienforschung. In: STUF 50, 3, 267–281.
Simon, H. (2003a): Für eine grammatische Kategorie 'Respekt' im Deutschen. Tübingen.
Zum Weiterlesen:
Nübling, Damaris et al. (2013): Historische Sprachwissenschaft des Deutschen. Eine Einführung
in die Prinzipien des Sprachwandels. Tübingen.