2. 1
2
3 Inhalt
04 XI
06 Drachen steigen lassen
08 Freitod
14 Herbsttag
16 Grabbeigaben
20 Friedhof
22 Ein ko mischer Heiliger
24 Im Beinhaus
30 Novemberlied
32 Leben im Nebel
38 November-Musik
40 Exemplarische Herbstnacht
42 Gedenktage
48 Schlachtmond
HERAUSGEBER Jürgen Bohl, Roonstraße 96, 50674 Köln, 01 73 / 270 57 57, juergen@bohldesign.de
Christa Becker, Brabanter Straße 7, 50674 Köln, 02 21 / 517 871, becker.christa@t-online.de
REDAKTION Jürgen Bohl und Christa Becker REDAKTIONELLE FRAGEN 01 73 / 270 57 57,
info@magazinXY.de STAND 23. September 2006 November INFOS Ausführliche Informationen
zum magazinXY, Impressum etc. unter www.magazinXY.de
DESIGN Jürgen Bohl TEXT Christa Becker (wenn mit cb gekennzeichnet), Brigitte Maser FOTO Claus
Dieter Geissler, Schiffner, Roki, Kunstfisch, Ernie, Cydonna, Tablediver, Ralphboy, Fabsn, Gerti G.,
CountZero, Hanna und Ingo, Bubi Barmann, Robert Salzmer COVER Ernie ILLUSTRATION Henry Gray
BILDER Magdalena Bergheim, René Böll LEKTORAT Claudia Bergfried ÖFFENTLICHKEITSARBEIT
Corinna König-Wildförster, Özgü Ülger FOTO-QUELLEN www.photocase.com (Seite 1, 6 - 15, 22 -
23, 30 - 31, 37 - 41, 48 - 50)
Foto Claus Dieter Geissler
2
3. XI
Für das Christentum überschreitet XI als erste Zahl den Dekalog,
also die Zehn Gebote. Somit verweist sie auf die Sünde und auf
Menschen, die vom rechten Pfad abgekommen sind.
Als Symbol der Normüberschreitung hatte sie sich bei den Jecken
bereits etabliert, als man im Nachhall der französischen Revolution
eine andere Deutung fand: 1 neben 1 steht für die Gleichheit aller
Menschen unter der Narrenkappe.
Am 11.11. treffen Karneval und Kirche zusammen, denn der Beginn
der „5. Jahreszeit“ ist zugleich der Martinstag mit seinen zahlreichen
Umzügen.
IM RHEINLAND Ihren geheimnisvollen, dämonischen Charakter hat die XI behalten in dem
Verweis auf die „elfte Stunde“. Die kündigt ein nahendes Unglück an und
IST SIE – mahnt, dass es „kurz vor 12“ ist – also Zeit für eine Umkehr.
BEDINGT DURCH
DEN KARNEVAL – Traurigen Ursprungs sind die elf Tränen im Kölner Wappen. Sie stehen für
die Heilige Ursula und ihre 11 bis 11.000 Jungfrauen, die vor den Toren
EINE HOCH GELOBTE, der Stadt von den Hunnen getötet wurden.
FAST HEILIGE ZAHL:
DIE ELF. UND DAS Dass der November – trotz seines Namens (novem = lat.
neun) – heute der elfte Monat des Jahres ist, verdankt er
TROTZ IHRER der Kalenderumstellung von 153 v. Chr. Der Elfmeter hat
seinen Ursprung in der englischen Berechnung in Yards.
TEILS DOCH Und dass am Fußballmatch pro Mannschaft 11 Spieler
beteiligt sind, wurde 1870 weltweit verbindlich festgelegt.
SEHR UNHEILIGEN
SYMBOLIK. Was ist sonst noch zu sagen? Die 11 ist die kleinste zweistellige
Primzahl und zugleich die kleinste Schnapszahl, im Perioden-
system steht sie für Natrium, und „Elfer raus“ ist nicht nur bei
4 Kindern ein beliebtes Kartenspiel. Von Sünde und Dämonen
Foto Hanna und Ingo also keine Spur …
4. und lass Deinen D
est
rac ef
V
he si
lt
n
Ha
s
ertical section of bladder,
tei
iese eine!
gen. Geh zu ihr, denn Du leb
g
chen stei
penis, and urethra.
en
ra s t ja
nen D nich
.
ss Dei t vo
mM
d la oos
Aus
un
ur d
all
ihr e
zug aus „Geh zu
in .
zu
un
Au tD
gen
zu, dann siehs
h
Ge
ihr
“v
on
nP
de
uh
dy
s1
974
Ambivalenz, Anorgasmie, Lubrikation,
Begehren, Dyspareunie,
Potenzstörungen, Ejaculatio praecox,
Erektile Dysfunktion, Erektionsstörung,
Impotenz, Libidoverlust,
Potenz, Potenzpillen, Potenzstörung,
Vaginismus, Viagra
Foto Bubi Barmann, Drachen
Illustration Henry Gray, Anatomy of the Human Body
Drachen steigen lassen...
„Männer bewegen sich heute in einem schwierigen Spannungsfeld unterschiedlicher
gesellschaftlicher und privater Erwartungen, die sie zu großen Teilen selbst internalisiert
haben. Unbewusste und widersprüchliche kollektive (political correctnes) und individu-
elle Forderungen (z.B. der Partnerin) an den Mann lauten, sei potent – sei impotent, sei
ein Mann - aber sei kein Mann. Diese Doppelbotschaften (double bind), wenn sie nicht
bewusst verstanden und reflektiert werden, können bei Männern zu Persönlichkeitsspal-
tungen führen, die sich auch in Form sogenannter Potenzstörungen zeigen können.“
(Quelle: www.maennerberatung.de/potenz.htm, Peter Thiel – Systemischer Berater und Therapeut)
7
5. FREITOD
„Da hab ich ein Leben lang Angst vor dem Sterben
– und jetzt das.“*
Wir alle haben Angst vor dem Sterben. Was aber ist, wenn
die Angst vor dem Leben plötzlich überwiegt? Wenn der Tod
als die bessere Alternative erscheint? Will man dann wirklich
sterben – oder nur so wie bisher nicht weiterleben? Und ist ein
Ziel wie „Ruhe und Frieden finden“ nicht eigentlich ein höchst
lebendiges Ziel?
Die Liste derer, die sich aus freien Stücken für den Tod entschie-
den, ist schier endlos. Zu den Berühmtheiten zählen der römische
Despot Nero, der seine Aberkennung als Kaiser und Anerkennung
als Staatsfeind nicht verwand und der sich mit einem Dolch in
die Kehle stach. Die ägyptische Königin Kleopatra, die den
Biss einer Kobra als Todesart wählte, als ihre Verführungs-
künste versagten. Heinrich von Kleist, der sich
schriftstellerisch und wirt- schaftlich
am Ende fühlte und der
zuerst seine an Krebs er-
krankte Geliebte erschoss und
dann sich selbst. Vincent van Gogh
erlöste sich mit einem Pistolenschuss
von einer tiefen, lange andauernden
Depression. Kurt Tucholsky und Stefan Zweig
nannten als Gründe die Verzweiflung über die
politische Situation Deutschlands unter den Nazis,
als sie eine Überdosis Tabletten zu sich nahmen.
* Der diesen Ausspruch prägte, nämlich Karl Valentin, hat keinen
Selbstmord begangen. Unterernährt starb er 1948 an einer
Lungenentzündung.
9
6. Aufgrund ihrer Angst, geisteskrank zu werden, ertränkte sich die
englische Schriftstellerin Virginia Woolf in einem Fluss. Spektakulär
war der Abgang des F.D.P .-Politikers Jürgen W. Möllemann, der
seinen Absturz nach einem politischen Höhenflug wortwörtlich in
die Tat umsetzte.
„Alle 47 Minuten ein Selbstmord“ verkündete vor wenigen Wo-
chen die Initiativgruppe Nationales Suizid Präventionsprogramm.
2004 wurden in Deutschland 10.733 Suizide gemeldet: 7.939
Männer und 2.794 Frauen wählten den Freitod. Bei den Todes-
arten gab es klare Präferenzen. So entschieden sich – nach
Angaben des Statistischen Bundesamtes – im Jahr zuvor von
11.150 Personen für...
Erhängen, Strangulierung oder Ersticken 5.538
Sturz in die Tiefe 1.100
Selbstvergiftung 1.293
Feuerwaffe/Schusswaffen 835
Sich vor ein bewegtes Objekt werfen oder legen 556
Ertrinken und Untergehen 356
Scharfen Gegenstand 342
Ersticken durch Gase und Dämpfe 216
(Die restlichen 914 wählten diverse weitere Todesarten,
die nicht im Einzelnen aufgelistet wurden.)
Männer bilden nicht nur die weitaus größere Gruppe unter den
Suizidenten, sie sind auch erfolgreicher. Bei den Frauen, beson-
ders bei den jüngeren, überwiegen die Versuche. Wobei offizi-
elle Stellen davon ausgehen, dass – quer durch alle Altersgrup-
pen und bezogen auf beide Geschlechter – circa jeder zehnte
Suizidversuch „erfolgreich“ und somit tödlich endet. cb
Fotos: FABSN
10
10
7. Für den eiligen Selbstmörder: Liebe/r ! (bei personalisiertem Schreiben Namen einsetzen, sonst:)
Liebe Eltern/Kinder/Enkel/Verwandte/Freunde/Lehrer/Kollegen!
Keine Zeit mehr für den Abschiedsbrief, weil ... Wenn Du/Ihr dieses Schreiben findest/findet, bin ich schon tot. Die genaue Todesur-
sache erfährst Du/erfahrt Ihr vom Pathologen/Leichenbestatter.
der Zug heute keine Verspätung hat
Sicherlich wirst Du Dich/werdet Ihr Euch fragen, warum ich mich umgebracht habe.
die Garage schon ziemlich vernebelt aussieht Das will ich Dir/Euch gerne erklären: Ich bin aus dem Leben geschieden, weil ...
die ersten 100 Tabletten müde machen
der Hocker wackelt und der Strick sich langsam zuzieht Du Dich/Ihr Euch zu viel/zu wenig um mich gekümmert hast/habt
die offene Pulsader mehr spritzt als vermutet Du mich verlassen/nicht verlassen hast
das Benzin nur noch für eine Kurve ausreicht die 6 in Mathe/Bio/Englisch/Reli/Kunst
die Tinte im Wasser total verschmiert eine echte Gemeinheit war
die Fallschirmleine beim Schreiben im Weg ist mir das Mobbing am Arbeitsplatz echt zu viel wurde
die Schrift durch die Kälte total verwackelt Pamela Andersen/Hugh Grant/Jan Ullrich geheiratet hat – aber nicht mich
ich als Erntehelfer/Spargelstecher/1-Euro-Jobber keinerlei Aufstiegschancen
mehr hatte
(Platz für weitere Gründe) meine Drogen mir gefehlt haben/mir zu viel wurden
Das magazinXY schafft Abhilfe. Einfach das vorliegende Formblatt aus- mein Börsenmakler/Therapeut/Dr. Sommer mir dazu geraten hat
drucken, Zutreffendes ankreuzen oder Unzutreffendes streichen und an ich keine Karten mehr für Tokio Hotel/Florian Silbereisen/Rolling Stones
auffindbarer Stelle für die Nachkommen hinterlegen.
bekommen habe
Bayern/Kaiserslautern/Köln/St. Pauli
schon wieder verloren hat
ganz andere Begründung, nämlich
Keinesfalls/Zu 100 Prozent liegt die Schuld an meinem Tod bei Dir/Euch. Deshalb
solltest Du/solltet Ihr in den nächsten Tagen/Wochen/Monaten/Jahren
manchmal/oft/ständig an mich denken und um mich trauern
mich möglichst rasch vergessen
Ich wünsche Dir/Euch weiterhin ein schönes/langweiliges/schreckliches Leben.
(Unterschrift keinesfalls vergessen)
12 13
8. W er jetzt kein Haus hat, baut sich
keines mehr. Diese berühmte Zeile
verfasste Rainer Maria Rilke am 21.09.1902
in Paris. Das umgebende Gedicht trägt
den Titel „Herbsttag“ und endet mit den
Worten: „Wer jetzt allein ist, wird es lange
bleiben, / wird wachen, lesen, lange Briefe
schreiben / und wird in den Alleen hin
und her / unruhig wandern, wenn die Blätter
treiben.“
Wer jetzt kein Haus hat … könnte auch
an dem Ort verweilen, den der Fotograf
CountZero im März 2006 im stillgelegten 15
tZero Seite
Dampfkesselbau von Heidenau vorfand. Foto Coun
Er fragte sich, wozu die Handwerker dort
(in der Wartungsnische der Ladebrücke)
eine Wanne mit Beleuchtung installierten“.
Vielleicht zum wachen, lesen, lange Briefe
schreiben … cb
9. Im Mai 2006 verkündete Kardinal
Meissner im Kölner Sender center.tv,
er wolle seinen Taufschein* mit ins
GRAB-
Grab nehmen. Das Dokument solle
ihm als Nachweis dienen, dass er
BEIGABEN
getauft sei und somit „berechtigt,
ins Himmelreich aufgenommen zu
werden“. Ungewöhnlich daran ist,
dass ausgerechnet ein hoher katho-
lischer Würdenträger sich einer Tra-
dition anschließt, die vor ca. 1.300
Jahren durch die Christianisierung
verschwand: der Ausstattung eines
Sarges mit Grabbeigaben.
Ein weiter Blick zurück: In der Steinzeit
hat man den männlichen Toten Waf-
fen und Werkzeuge mit ins Grab ge-
legt, in der Bronzezeit waren es eher
persönliche Habseligkeiten, im Früh-
mittelalter erhielten die Frauen speziell
gefertigte Kleidung und Schmuck.
Durch das Christentum änderten
sich die Rituale, und ab 700 n. Chr.
beschränkte man sich auf Totenklei-
dung und religiöse Utensilien.
* Dass Kardinal Meissner seine letzte Reise
mit Taufschein antreten will, wirft eine Frage
auf: Zweifelt er an der Allwissenheit Gottes?
16
10. In ihrer Funktion und Symbolik verbanden Grabbeigaben die
beiden sonst sehr unterschiedlichen Völker der Kelten und
Ägypter. Beide sahen den Tod nicht als das Ende aller Dinge an,
sondern als eine Fortführung des diesseitigen Lebens mit an-
deren Mitteln. Alltägliche Gegenstände und Einrichtungen waren
also für beide Völker auch im Jenseits von großer Bedeutung. Bilder René Böll
Damit der Verstorbene in der anderen Welt auf ein angenehmes Da-
sein hoffen konnte, wurden ihm nützliche
und wertvolle Gegen-
stände sowie – speziell
in Ägypten – Dienerfi-
guren und Sargtexte mit
„auf den Weg“ gegeben.
Der Kölner Maler René
Böll knüpft mit seinem
„Totenbuch“ an die Grab-
beigaben der ägyptischen
Tradition an. Seine in Leder
gebundenen 12 Radierun-
gen, die in einer Auflage
von 20 Exemplaren er-
scheinen (zzgl. zweier
Vorzugsausgaben), über-
nehmen die traditionelle
Funktion eines Jenseits-
führers: Sie begleiten den
Verstorbenen, wenden Scha-
den von ihm ab und sorgen
für seine Erbauung. Ein
Weggefährte vom Dies- ins
Jenseits. cb
19
11. Die Friedhöfe (...) sind so
eingerichtet, daß sie den
Lebenden Freude gewähren.
Es lebt viel auf ihnen, Pflanzen
und Vögel, und der Besucher, als
einziger Mensch unter so viel
Toten, fühlt sich davon
aufgemuntert und gestärkt.
Elias Canetti: Die Stimmen von Marrakesch,
„Welch tiefe Ruhe ist über
alle Friedhöfe gebreitet!
Wenn man dort mit über der Brust
gekreuzten Armen liegt, gehüllt in das
Leichentuch, dann gleiten die
Jahrhunderte vorüber und stören
so wenig wie der Wind,
der durch das Gras fächelt.“
Gustave Flaubert, November
Ich bin der Meinung, dass alle ab und zu
auf den Friedhof gehen sollten. Dann ist
Foto Claus Dieter Geissler
der Übergang nicht so abrupt.
Lars Saabye Christensen, Der Alleinunterhalter
21
12. Ein ko mischer Heiliger cb
Dass er einer der bekanntesten Heiligen ist,
verdankt Sankt Martin sicherlich der Legende
von der Mantelteilung sowie den Umzügen
um den 11. November. Dass er darüber hinaus ein
sehr vielfältiger und viel beschäftigter Heiliger ist, wissen jedoch nur
wenige. Eine österreichische Internetseite (www.martinus.at) listet seine
Aufgaben als „Fürsprecher in vielen Anliegen und Nöten“ auf. 24 Mal wird er
dort als Patron genannt, davon 16 Mal mit Erklärung. Ein Auszug daraus:
Er ist Patron...
Blickt man in seinen
der Hufschmiede, weil er sein
Lebenslauf, so bieten
Pferd sorgfältig pflegte sich weitere, nahe
der Hirten, weil er ein guter
liegende Patronate
Hirte der ihm Anvertrauten war für ihn an:
der Weber, weil er seinen Mantel
zerschnitt Er könnte Fürsprecher
werden...
der Schneider, obwohl er seinen
der Wehrdienstverweigerer,
Mantel zerschnitt
weil er mit 18 bereits das Militär
der Fassbinder, weil an seinem verlassen wollte
Namensfest der neue Wein
der Aussteiger, weil er längere
probiert wird
Zeit auf einer einsamen Insel weilte
der Abstinenzler, weil er am
der gesetzlich Versicherten, weil
Wein, den ihm der Kaiser reichte,
er Kranke heilte – ohne Praxisgebühr
nur nippte
der Altenpfleger, weil er im hohen
der Hoteliers, weil er Reisenden
Alter von 81 Jahren starb (bei einer
Obdach gab
damaligen Lebenserwartung von
der Reisenden, weil er selbst oft 40 Jahren)
auf Missionsreisen war
der Bestattungsunternehmer,
der Gänse, weil sie ihn der Legen- weil der Tag seiner Beisetzung
de nach „zum Bischof machten“
* zum Feiertag erkoren wurde
* Ob die Martinsgänse, die alljährlich auf den Tischen landen, ihm für seine Fürsprache dankbar sind,
darf bezweifelt werden.
22 Foto Ralphboy
14. 27
„Im ernsten Beinhaus war’s, wo ich beschaute,
Wie Schädel Schädeln angeordnet passten;
Die alte Zeit gedacht ich, die ergraute.
Sie stehn in Reih’ geklemmt, die sonst sich haßten,
Und derbe Knochen, die sich tödlich schlugen,
Sie liegen kreuzweis’ zahm allhier zu rasten.
Entrenkte Schulterblätter! Was sie trugen,
Fragt niemand mehr; und zierlich tät’ge Glieder,
Die Hand, der Fuß, zerstreut aus Lebensfugen.
Ihr Müden also lagt vergebens nieder,
Nicht Ruh im Grabe ließ man euch, vertrieben
Seid ihr herauf zum lichten Tage wieder,
Und niemand kann die dürre Schale lieben,
Welch herrlich edlen Kern sie auch bewahrte.“
Johann Wolfgang von Goethe –
bei der Betrachtung von Schillers Schädel
26
15. Unter der französischen Hauptstadt ist
ein circa 330 km langes Gängesystem zu
finden. Es entstammt der Zeit, als unter-
irdisch Sandstein abgebaut wurde, um
überirdisch Häuser zu bauen. Heute
liegen dort Kabel und Leitungen, die
29
Nationalbank hat einen Lagerplatz für ihr
Gold – und die Katakomben sind zugleich
das größte Beinhaus der Welt.
Es begann 1785: Bedingt durch den
Bevölkerungszuwachs, Seuchen und
Hungersnöte waren die Friedhöfe in
Paris überbelegt. Die Ruhefristen wurden
verkürzt und halbverweste Leichen wieder
ausgebuddelt. Dadurch entwickelten sich
giftige Dämpfe, an denen Anwohner
eines Friedhofs erstickt sein sollen. Die
Administration schuf Abhilfe, indem sie die
Gebeine in die unterirdischen Stein-
brüche „umbettete“: Sie wurden durch
einen Schacht in die Tiefe geschüttet.
Anfangs lagen die Überreste der nahezu
6 Millionen Toten dort ungeordnet, doch
im Laufe der Zeit wurden Knochen und
Schädel dekorativ aufgeschichtet und
mit Gedenktafeln versehen, die auf die
ursprünglichen Bestattungsorte hinweisen.
Heute ist ein Teil der Katakomben für Tou-
risten zugänglich. Andere Bereiche werden
für verbotene, bizarre Partys genutzt …
wobei der Einstieg durch die Gullys erfolgt.
16. Frag nicht nach morgen,
denn er bleibt dir verborgen.
Frag nicht was gestern war ...
Wir zieh‘n unsre Kreise
auf unserer Reise.
Wo eben noch Sonne war ...
Wir ertrinken zu zweit
in unseren Worten.
Wir ertrinken zu zweit
in Einsamkeit.
Irgendwann im November ...
Zu lang, zu weit, zu viel passiert ...
Irgendwann im November ...
...
Irgendwann im November ...
werd ich geh‘n.
Band: Juli
Album: Es ist Juli
Label: Island (Universal)
„November“
Foto Tablediver – Seite 30
17. Leben im Nebel
Text Brigitte Maser Bilder Magdalena Bergheim
„Es ist kalt und trübe. Dichter Nebel behindert
die Sicht. Fahren Sie also vorsichtig!“, warnt ab
November regelmäßig der Wetterfrosch mor-
gens seine Zuhörer im Radio. Meteorologisch
betrachtet, ist Nebel eine Trübung der Luft
durch Ausscheiden von Wasserdampf in Form
von kleinen Tröpfchen, die die Sicht auf wenige
Meter beschränkt und alles ringsum im Nichts
verschwinden lässt.
Der Nebel: ein Naturereignis, das ganz unter-
schiedliche Gefühle hervorrufen kann. Ärger,
wenn auf der Autobahn das Blickfeld eingeengt
wird. Angst, wenn man im Wald die Orientie-
rung verliert und das Unheimliche überwiegt.
Oder Faszination, schließlich hat der Nebel man-
chen Regisseur zu spannenden Filmsequenzen
und Literaten zu nachdenklichen Gedichten
und Erzählungen über das Leben inspiriert.
32 – Leben im Nebel
18. Der Nebel steht aber auch als
Synonym für den schleichen-
den Prozess, das eigene Leben
zu vergessen. Demenz heißt die
medizinische Diagnose und meint,
kurz gefasst, die altersbedingt Ein-
schränkung der Hirnleistungen sowie
den fortschreitenden Gedächtnis- und Per-
sönlichkeitsverlust. Selbstverständliche All-
tagsaktivitäten werden nicht mehr beherrscht,
und die Orientierung geht verloren. Man irrt
umher, weiß nicht mehr, wo man wohnt, wie
man heißt, wer man ist. Die Identität schwin-
det, und die Erinnerungen an die frühe Ver-
gangenheit werden realer als das Jetzt.
Gefeit ist niemand davor. Denn eine Therapie
gibt es bislang noch nicht. Etwa 8 - 13 Prozent
aller Menschen über 65 Jahren leiden an De-
menz. Als einer der Hauptrisikofaktoren gilt das
Alter. Und das lässt sich, unter normalen Um-
ständen, schwerlich vermeiden.
Ende
34 – Leben im Nebel
19. Linien, wenn sie, wie hier, in feuchte Acrylfarbe
gekratzt sind, müssen schnell und unvermit-
telt entstehen, quasi im Telegrammstil. Diese
Zeichnungen entstammen einem Sommera-
bend: eine Reihe von elf Blättern, die ich später
mit Kreide und Bleistift weiter schrieb.
Es sind Winterbilder daraus geworden.
Was da in den Köpfen wächst – Eisblumen, Glück,
Phantasien, Musik, böse Geheimnisse oder eben
Nebel und Vergessen – und in welche Richtung
es weiter rankt … ich weiß es nicht.
Die Gedanken sind frei.
Magdalena Bergheim
36 – Leben im Nebel
20. Slaughterho
in the use
Fury –G
Jo h n Denver – Storm rey
sO nov
BAP – Novembe fN ember day
Guns ‘n Ro rm ov Juli – N
or em ov
N en a – s e j be
N
em
5 Da r
e
s–
y
be
Britt
ov
No
s A ersten & Be
em
r
ve
Enya ovember
K
– Sweet N
hea
ber
m
er
b
Ra Bro
d–M
li e d
in ‘Sis – A Day in Novemb
Klau er
s Ho
y Co
ffm mbermorgen
ann – Nove
rt Hen
ld
ve ember
No
st Nov
m Paula Cole – La ai
drix
be mM
r b er i
em
– We
Puhdys – Nov
r im
No
ve
m
rn
be
ic
ht
lieb
e n ka
nn
nove ydon
foto
c
mb na
er
-m
us
ik
21. Exemplarische
Herbstnacht von Erich Kästner
Nachts sind die Straßen so leer.
Nur ganz mitunter
markiert ein Auto Verkehr.
Ein Rudel bunter
raschelnder Blätter jagt hinterher.
Die Blätter haschen und hetzen.
Und doch weht kein Wind.
Sie rascheln wie Fetzen und hetzen
und folgen geheimen Gesetzen,
obwohl sie gestorben sind.
Nachts sind die Straßen so leer.
Die Lampen brennen nicht mehr.
Man geht und möchte nicht stören.
Man könnte das Gras wachsen hören,
wenn Gras auf den Straßen wär.
Der Himmel ist kalt und weit.
Auf der Milchstraße hat‘s geschneit.
Man hört seine Schritte wandern,
als wären es Schritte von andern,
und geht mit sich selber zu zweit.
Nachts sind die Straßen so leer.
Die Menschen legen sich nieder.
Nun schlafen sie, treu und bieder.
Und morgen fallen sie wieder
übereinander her.
Fotos Schiffner, Roki, Kunstfisch, Ernie
N 41
22. Gedenk tage
Der 9. November zeigt es: An jedem Tag kann man mit höchst unter-
schiedlichen Gefühlen großer Ereignisse gedenken. Wir haben den
gesamten Monat einmal historisch durchforstet und eine recht per-
sönliche Positiv- und Negativ-Liste aufgestellt. cb
Positiv (+) Negativ (-)
1. November 1512 1. November 1952
In der Sixtinischen Kapelle in Rom werden die Auf dem südpazifischen Eniwetok-Atoll testen
Deckenfresken Michelangelos enthüllt. die USA ihre erste Wasserstoffbombe.
2. November 1992 2. November 2004
Papst Johannes Paul II. rehabilitiert den italieni- George W. Bush gewinnt die Wahl gegen
schen Mathematiker, Physiker und Astronomen seinen Herausforderer John F. Kerry und bleibt
Galileo Galilei (1564-1642). US-Präsident.
3. November 1937 3. November 1914
Geburt des deutschen Karikaturisten und Der österreichische Lyriker Georg Trakl stirbt mit
Schriftstellers Friedrich Karl Waechter. 27 Jahren an einer Überdosis Kokain.
4. November 1946 4. November 1995
Gründung der UNESCO mit dem Ziel, den „Frie- Der israelische Politiker Yitzhak Rabin wird in Tel
den im Geist der Menschen zu verankern“. Aviv ermordet.
5. November 1936 5. November 1977
Geburt des Hamburger Fußballers und lang- Tod des französischen Comic-Autors René
jährigen Nationalspielers Uwe Seeler. Goscinny (Asterix und Obelix, Lucky Luke).
6. November 1860 6. November 1932
Abraham Lincoln wird zum Präsidenten der Die NSDAP geht als Sieger aus den
Vereinigten Staaten von Amerika gewählt. vorgezogenen Reichstagswahlen hervor.
7. November 1844 7. November 2002
In München erscheint erstmals die satirische Tod des Spiegel-Gründers und -Herausgebers
Zeitschrift „Fliegende Blätter“. Rudolf Augstein.
42
23. Positiv (+) Negativ (-)
8. November 1960 8. November 1966
John F. Kennedy gewinnt die US-Präsident- Ronald Reagan wird zum Gouverneur von
schaftswahlen gegen Richard M. Nixon. Kalifornien gewählt.
9. November 1989 9. November 1938
Die DDR-Führung beschließt, die Grenze In der Reichskristallnacht greifen in weiten
zwischen der DDR und der Bundesrepublik in Teilen Deutschlands Schlägertrupps der SA
West-Berlin zu öffnen. Synagogen und jüdische Läden an.
10. November 1969 10. November 1821
Premiere der Sesamstrasse in den USA und Tod des russischen Dichters Fjodor M. Dosto-
damit erster Auftritt von Kermit, Ernie und Bert. jewski (Schuld und Sühne, Der Idiot).
11. November 1918 11. November 1997
Offizielles Ende des 1. Weltkrieges durch die Nach dem Elchtest stoppt die Daimler-Benz
Kapitulation Deutschlands. AG die Auslieferung der neuen Mercedes-
Benz A-Klasse.
12. November 1936
In San Francisco wird die 2,7 Kilometer lange 12. November 1955
Golden-Gate-Brücke eingeweiht. Die ersten 101 Soldaten der Bundeswehr
erhalten ihre Ernennungsurkunde.
13. November 1955
Beim „6 aus 49“-Lotto gibt es den ersten Sech- 13. November 2002
ser: Drei Spieler erhalten jeweils 59.492,00 DM. Der Öltanker Prestige gerät in Seenot und
verunreinigt mit seiner Ladung die Küsten
von Nordspanien und Südfrankreich.
14. November 1974
Geburt des Grafik-Designers Jürgen Bohl, Initia-
tor und Gestalter vom magazinXY. 14. November 1519
Der Aztekenkönig Montezuma wird von den
Spaniern festgenommen.
15. November 1923
Die Einführung der Rentenmark beendet die
Inflation: Eine Rentenmark entspricht einer 15. November 1994
Billion Papiermark. Helmut Kohl wird zum fünften Mal zum
Kanzler gewählt.
16. November 1802
Der deutsche Dramatiker, Dichter und Historiker 16. November 1960
Friedrich Schiller erhält sein Adelsdiplom. Tod des US-Schauspielers Clark Gable (Vom
Winde verweht, Meuterei auf der Bounty).
17. November 1869
Der Suezkanal wird für die Schifffahrt freige- 17. November 1997
geben und verkürzt den Seeweg von Europa 58 Touristen sterben bei einem Attentat isla-
nach Asien um 8.300 Kilometer. mistischer Terroristen im ägyptischen Luxor.
45
24. Positiv (+) Negativ (-) 27. November 1896 27. November 1983
Uraufführung der Tondichtung von Richard In München wird die Partei der Republikaner
18. November 1928 18. November 1978 Strauss in Frankfurt/M. (auch bekannt aus gegründet.
In New York wird der erste Zeichentrickfilm mit Im Urwald von Guayana kommt es zu einer „Odysee im Weltall“).
Ton uraufgeführt: Walt Disneys „Steamboat Massenselbsttötung von mehr als 900 Mitglie-
28. November 1968
Willie“ ist zugleich der erste Tonfilm mit Mickey dern der Volkstempler-Sekte.
28. November 1918 Tod der britischen Schriftstellerin Enid Blyton
Mouse.
Der deutsche Kaiser Wilhelm II. unterzeichnet (Fünf Freunde, Hanni und Nanni).
19. November 1962 seinen Verzicht auf den Thron.
19. November 1819 Fünf Bundesminister der FDP treten wegen der
29. November 1802
Eröffnung des Museo del Prado in Madrid als Spiegel-Affäre zurück.
29. November 1970 Das Hochstift Bamberg wird von bayerischen
Museum für Malerei und Bildhauerkunst.
Die ARD strahlt die erste Folge der Krimiserie Truppen besetzt und in das Kurfürstentum
20. November 1917 Tatort aus. Titel der ersten Folge: Taxi nach Bayern eingegliedert.
20. November 1975 Im französischen Cambrai kommt es zur ersten Leipzig.
Der Tod des spanischen Diktators Franco öffnet Panzerschlacht der Militärgeschichte.
30. November 1939
den Weg zur Demokratie. 30. November 1835 Der Winterkrieg zwischen der Sowjetunion und
21. November 1803 Geburt des amerikanischen Schriftstellers Mark Finnland beginnt durch einen sowjetischen
21. November 1620 Hinrichtung des Schinderhannes, Räuber- Twain (Tom Sawyer und Huckleberry Finn). Luftangriff auf Helsinki.
Mit der Mayflower treffen die ersten „Pilgrim- hauptmann im Hunsrück, sowie 19 weiterer
Fathers“ (britische Puritaner) an der Küste von Mitglieder seiner Bande.
Massachussets ein.
22. November 1962
22. November 1990 Der amerikanische Präsident John F. Kennedy
Die „eiserne Lady“ Margaret Thatcher tritt nach wird in Dallas ermordet.
über elfjähriger Amtszeit als britische Premier-
ministerin zurück. 23. November 1991
Bei dem von Neo-Nazis verursachten Brandan-
23. November 1936 schlag von Mölln werden zwei türkische Frauen
Das US-amerikanische LIFE-Magazin erscheint und ein 10-jähriges Mädchen getötet.
zum ersten Mal. Seine Besonderheit: neuartige,
großformatige Fotoreportagen. 24. November 1991
Freddie Mercury, der Sänger der Rockgruppe
24. November 1859 Queen, stirbt an den Folgen seiner AIDS-
Charles Darwin veröffentlicht sein Werk zur Erkrankung.
Evolutionstheorie und revolutioniert damit das
Wissen über die Entstehung der Lebewesen. 25. November 2001
Die US-Biotechnologie-Firma ACT gibt das
25. November 1912 erfolgreiche Klonen menschlicher Embryonen
Geburt des britischen Kriminalschriftstellers bekannt.
Francis Henry Durbridge (Paul Temple, Das
Halstuch, Melissa, Das Messer). 26. November 2005
Als Folge des Wintereinbruchs in Deutschland
26. November 1832 knicken Strommasten um: In Nordrhein-West-
In New York City wird die erste Straßenbahn der falen sind 250.000 Menschen tagelang ohne
Welt in Betrieb genommen. Strom und Heizung.
47
25. Schlachtmond: Alte deutsche Namen für den November waren Windmond und Nebelung. In den Niederlanden
wurde er auch Schlachtmond oder Schlachtemonat genannt, da zu dieser Jahreszeit das Einschlachten
B lutwurst. Erste Sorte. Das Blut wird
warm, sowie es vom Schweine kommt, mit
einem kleinen Besen geschlagen, bis es ganz
kalt geworden, und durch ein Sieb gerührt, wo-
durch es flüssig bleibt. Dann gibt man zu einem
Teil des Blutes reichlich vom besten gekochten
und feingehackten Schweinefleisch, mager und
fett, nebst den weichgekochten und feingehackten
Schwarten, ferner: gekochten Speck, welcher in
kleine Würfel geschnitten ist, Salz, Pfeffer, Nel-
ken und Nelkenpfeffer. Dies alles wird wohl ge-
mischt, wie Leberwurst in dicke, möglichst glatte
Därme nicht fest gefüllt, damit die Masse sich
ausdehnen kann, und eine halbe Stunde gekocht.
Blutwurst muß vollkommen gar gekocht wer-
der Schweine vorgenommen wurde. Foto: Gerti G.
den, um sich lange zu halten; deshalb nimmt
man eine Wurst aus dem kochenden Wasser mit
dem großen Schaumlöffel und sticht mit einer
langen Stopfnadel hinein. Zeigt sich noch Blut,
so ist die Wurst noch nicht gar, dringt aber
klares Fett aus der kleinen Öffnung, so ist sie
haltbar. Etwas geräuchert, wird die Wurst zum
Butterbrot gegeben.
Manche scheuen die Speckwürfel; in solchen Fäl-
len kann der Speck fein gehackt werden; läßt
man ihn fehlen, so wird die Wurst trocken.
–
Henriette Davidis-Kolle
Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feine Kücke.
Bielefeld und Leipzig.
Verlag von Velhagen & Klafing.
1903
49