Angewandte Philosophie an der Universität Duisburg-Essen.
Participation on Demand
1. Participation on demand
20 Jahre Beteiligung in Bewegung
Beteiligungsprozesse haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten vom
Orchideenfach zu einer vielgestaltigen, bunten breit gefächerten Materie
entwickelt. Trotz einiger Versuche, Ordnung und Überblick in diese
heterogene Beteiligungslandschaft zu bringen, dillettieren selbst im
kleinen Österreich verschiedenste AkteurInnen parallel vor sich hin, mit
je eigenem Bezugssystem, Erfahrungsschatz, Methodenrepertoire.
Formate werden täglich neu erfunden, Ansätze erprobt und wieder
verworfen. Welche nachhaltigen Beteiligungsspuren lassen sich in den
vergangenen 20 Jahren finden? Welche Pfade im Beteiligungsdschungel
führen zu sinn- und wirkungsvollen Ergebnissen? Und wohin geht die
Reise in den nächsten 20 Jahren? Hier der Versuch einer
intersubjektiven Annäherung.
AutorInnen: Wolfgang Gerlich, Hanna Posch, Johannes Posch
Beteiligung ist in den letzten 20 Jahren …
... normaler geworden.
Bei der Planung von Verfahren und Projekten werden häufig die
Möglichkeiten, BürgerInnen zu beteiligen, mitgedacht.
... methodisch vielfältiger geworden.
Wenn sich die Verantwortlichen dafür entscheiden, einen
Partizipationsprozess durchzuführen, stehen sowohl qualifizierte
Fachleute, als auch erprobte Methoden zur Verfügung.
... geregelter und formaler geworden.
Für einige Prozesse wurde klar festgelegt, in welcher Form BürgerInnen
einbezogen werden müssen.
… mit der Standardisierung auch langweiliger geworden.
Nicht mehr jeder Beteiligungsprozess ist ein Abenteuer – für
BeteiligerInnen und Beteiligte ist heute meist klar, worauf sie sich
einlassen.
... immer noch ein unklarer Begriff.
Noch immer wird mit dem Begriff der Beteiligung missverständlich
umgegangen. Ob es sich um Information, Konsultation oder
Mitentscheidung handelt, wenn von Beteiligung gesprochen wird, ist oft
unklar.
... nichts für die ganz heißen Themen.
Beteiligungsverfahren werden oft eingesetzt für Themen oder Projekte,
bei denen es um „wenig geht“. Die wirklich entscheidenden
Weichenstellungen werden letztlich oft ohne die Beteiligung von
BürgerInnen getroffen.
Beteiligung von oben
Die Vorgaben der Europäischen Union haben im Bereich der Beteiligung
einiges verändert: es gibt zahlreiche Richtlinien, die Partizipation in
verschiedenen Bereichen einfordern, wie zum Beispiel die EU-
Wasserrahmenrichtlinie oder die SUP-Richtlinie (Strategische
2. Umweltprüfung).
Ein Erfolgsmodell der letzten Jahre ist die „Stakeholderbeteiligung“,
also die Einbeziehung von InteressensvertrterInnen, MultiplikatorInnen
und FachexpertInnen. Dabei wurden vor allem Aushandlungsräume für
strategische Programme wie Stadtentwicklungspläne,
Mobilitätskonzepte, Umweltprogramme oder regionale
Entwicklungsleitbilder geschaffen. Bewährt haben sich diese
kooperativen Verfahren unter anderem deshalb, weil die Identifikation
der beteiligten Personen mit dem Produkt steigt, und sich damit die
Chancen zur Umsetzung vervielfachen. Aber kann das überhaupt dem
Bereich „Beteiligung“ zugordnet werden? Wir denken ja, weil dabei
stärker als früher auch die Interessen von Personengruppen vertreten
werden, die zunächst nicht viel mit dem Produkt zu tun haben:
Jugendliche werden über Jugendorganisationen vertreten, wenn es um
die Stadtentwicklung geht oder ältere Menschen über
Gebietsbetreuungen, wenn es um Mobilität geht. Zudem sichert diese
Form gerade bei strategischen Planungen, bei denen Laien nur sehr
schwer mitdiskutieren können, das Einbringen der Interessen
verschiedener Gruppen ab.
Die Stadtpsychologin Cornelia Ehmayer meint dazu: „Für manche Gruppen von
Menschen muss man die Verantwortung übernehmen, weil sie sich selber nicht an solchen Prozessen
beteiligen können.“ Fußnote 1
Ein Bereich, in dem in den letzten Jahren eindeutig große Fortschritte
erzielt wurden, ist auf der ersten Stufe der Partizipation, der
„Information“ zu finden. BürgerInnen werden heute zu kleinen und
großen Projekten in einer viel höheren Qualität informiert, als das noch
vor einigen Jahren der Fall war. Wencke Hertzsch vom Institut für
Soziologie der TU Wien bestätigt das: „Ein Commitment der Politik und der
Verwaltung auf der Infoebene besteht. Mitbestimmung und Mitgestaltung sind jedoch eher weniger
gewünscht.“
Beteiligung von unten
Es gibt sie natürlich noch immer – Gruppen von BürgerInnen, die sich
als Bürgerinitiativen zusammentun, um für oder gegen eine Sache in der
Öffentlichkeit aufzutreten. Sie agieren projektbezogen, haben oft
bürgerlichen Hintergrund und sind widerständig – zunehmend auch
gegen die geplanten Beteiligungsangebote der PolitikerInnen. Was sich
hier vor allem verändert hat, ist die Geschwindigkeit, mit der sie agieren
können. Sie nützen die neuen Kommunikationstechnologien für ihre
Zwecke und können so viel rascher als früher in Aktion treten, neue
MitstreiterInnen finden oder notwendige Informationen einholen. Neue
Formen wie flashmobs, also spontane Menschenansammlungen auf
öffentlichen Plätzen, die über E-mail, Handy oder Web 2.0 organisiert
werden und sich meist rasch wieder auflösen, zeigen neue
Möglichkeiten der politischen Einflussnahme von unten auf, auch wenn
sie bisher eher unpolitisch, mit hohem Spaßfaktor eingesetzt werden.
Beteiligung mittendrin
In den letzten 20 Jahren haben sich einige von Politik und Verwaltung
eingesetzte Institutionen entwickelt, deren Aufgabe es ist, Bottom-up-
3. Prozess zu initiieren. Beispiele für solche Institutionen sind die Teams
der Lokalen Agenda 21 oder Grätzlmanagements. Ihnen allen ist
gemeinsam, dass sie präventiv wirksam werden sollen, also offen sind
für die Anliegen der BürgerInnen, bevor größere Schwierigkeiten in
Stadtteilen oder Regionen entstehen. Die eingesetzten „intermediären
Institutionen“ dienen als Bindeglied zwischen BürgerInnen und
Verwaltung sowie zwischen BürgerInnen und repräsentativer
Demokratie.
Die Prozesse dienen weniger dazu, bei geplanten Projekten BürgerInnen
mitreden zu lassen, als BürgerInnen einzuladen für ihre Interessen im
Stadtteil, in der Region aktiv zu werden. Bei der Umsetzung der Ideen
werden sie unterstützt. Hier geht es zumeist nicht um die ganz heißen
Themen oder Infrastrukturentscheidungen , sondern um die Stärkung
lokalen Selbstbewusstseins und aktiver Mitgestaltung des eigenen
Lebensumfeldes. Aneignung, Identitätsbildung und Ortsbindung sind drei
Effekte, die Stadtpsychologin Cornelia Ehmayer als zentral für
funktionierende Nachbarschaften in Stadtteilen und Gemeinden sieht.
Diese Prozesse fördern soziales Lernen und stärken den sozialen
Zusammenhalt zwischen unterschiedlichen Gruppen.
Eine besondere Herausforderung bei der Gestaltung solcher Prozesse
ist es, bestimmte Bevölkerungsgruppen über die momentan
praktizierten Beteiligungsmethoden zu erreichen. Trotz vieler Versuche
und Bemühungen scheint hier der Stein der Weisen noch nicht gefunden
zu sein, auch wenn Experimente mit aufsuchender Arbeit und
anwaltschaftlichen Ansätzen bereits eine mögliche Richtung anzeigen.
Motivationslagen für Beteiligung
Warum räumen Politik und Verwaltung Beteiligungsmöglichkeiten ein?
Hier gibt es eine große Bandbreite an Motivationen: Manche
VertreterInnen von Politik und Verwaltung haben professionelles
Interesse an der Erdung fachlicher Entscheidungen. Sie möchten über
die Beteiligung zu besseren Lösungen kommen. Andere beteiligen aus
strategischen Gründen: Sie gehen davon aus, das eine Beteiligung die
Akzeptanz der späteren Entscheidung erhöht und damit die
Implementierung vereinfacht. Und für wieder andere ist es eine lästige
Pflichtübung, die der Legitimation der bereits zuvor getroffenen
Entscheidung dient.
Warum beteiligen sich BürgerInnen an Partizipationsprozessen? Auch
hier sind die Interessenslagen unterschiedlich: Manche „beteiligte“
BürgerInnen haben ein persönliches Interesse und möchten ihre Sicht
einbringen, um die Entscheidung in eine bestimmte Richtung zu
beeinflussen. Manche haben Interesse am sozialen Erleben, das in
einem solchen Prozess stattfindet. Und andere nehmen an
Partizipationsprozessen teil, weil sie Verantwortung für das Gemeinwohl
übernehmen möchten. Eugen Antalowsky vom Europaforum dazu:
„Man beteiligt sich aus politischem Anliegen oder aus Betroffenheit aufgrund einer
Veränderung oder einer Schlechterstellung.“
Die nächsten 20 Jahre – beteiligungsrelevante gesellschaftliche Trends
• Die Lebensstile von BürgerInnen werden vielfältiger und damit
auch unübersichtlicher.
4. • Es finden Machtverschiebungen auf lokalen, regionalen, nationalen
und supranationalen Ebenen statt.
• Die öffentliche Sphäre wird fragmentierter, Leitmedien existieren
nicht mehr. Im Gegensatz zu früher beziehen junge BürgerInnen
ihre Infos aus vielfältigen Quellen, der früher omnipräsente ORF ist
heute für die viele Jugendlichen unbekanntes Terrain.
• Der gesellschaftliche Diskurs wird bunter, BürgerInnen sind in den
neuen Medien nicht mehr nur LeserInnen und KonsumentInnen,
sondern werden selbst zu AutorInnen und RedakteurInnen
• Auf lokaler Ebene wird die politische Stabilität geringer, absolute
Mehrheiten bilden die Ausnahme, wechselnde Koalitionen die
Regel.
• Die Verwaltung zieht sich zunehmend zurück, viele Funktionen
werden eingespart oder in die Privatwirtschaft ausgelagert.
• Alte politische Basisstrukturen, wie Sektionen oder Bünde,
erodieren langsam und werden durch neue Netzwerke ersetzt.
• Die Europäische Integration schreitet weiter voran.
Was bedeuten diese gesellschaftlichen Trends nun für die Beteiligung,
welche Trends zeichnen sich hier ab?
Blended participation
Zukünftige Beteiligungsangebote werden nicht mehr ohne virtuelle
Angebote auskommen, gleichzeitig werden vermutlich auch rein virtuelle
Angebote nicht das gewünschte Ziel erreichen. Am erfolgreichsten
werden Beteiligungsverfahren sein, die eine ernsthafte und
professionelle Verschränkung von „real life“ und „virtual life“ anbieten,
damit breite Bevölkerungsschichten erreichen und die Bedürfnisse vieler
unterschiedlicher Gruppen befriedigen: Wer Lust und Zeit hat, trifft sich
abends in einer Arbeitsgruppe, wer viel beschäftigt oder mit
Kinderbetreuung an zu Hause gebunden ist, loggt sich zwischendurch
ein, um seine/ihre Meinung kund zu tun. Analog zum bereits erprobten
„blended learning“ entsteht so eine funktionierende „blended
participation“. Die Herausforderung liegt dabei in der Balance zwischen
Prozessoffenheit einerseits, um Redundanz und Flexibilität zu
ermöglichen, und einer klaren Vereinbarung andererseits, die
Orientierung und Sicherheit für alle Beteiligten schafft. Eine intensivere
Anwendung der virtuellen Methoden in der Partizipation ist übrigens
spätestens dann zu erwarten, wenn die sogenannten „digital natives“,
also jene Menschen, die mit Internet und Co aufgewachsen sind, in
relevante Positionen in Verwaltung und Politik kommen.
Desperate participation
Dort wo Wohlfahrtsleistungen und Versorgung durch Staat, Land, Stadt
oder Gemeinden abnehmen, können Initiativen entstehen, die diesen
Rückgang kompensieren. Ehrenamtliches Engagement, Tauschkreise
und nachbarschaftliche Unterstützung könnten ehemals staatlich oder
städtisch organisierten Aufgaben übernehmen und gemeinschaftlich und
selbstbestimmt organisieren. Irene Bittner, Mitglied von kampolerta,
einer Initiative, die sich der ungewöhnlichen Nutzung von öffentlichen
Räumen verschrieben hat, meint dazu: „Mehr Eigenverantwortung und Initiative wird
sich entwickeln, muss aus der Not heraus entwickelt werden, wenn weniger Staat und weniger
5. Regulation vorhanden sind.“ Diese Entwicklungen lassen sich auch in
europäischen Nachbarländern bereits deutlich erkennen. Wenn auch
der Rückgang der daseinsvorsorgenden Funktion der Kommunen
grundsätzlich problematisch ist, so gilt es dennoch durch gezielte
Aktivitäten der lokalen Vernetzung und des gemeinswesenorientierten
Strukturaufbaues aus dem Rückzug des Wohlfahrtsstaates resultierende
Ungleichheiten abzufangen. Das Programm soziale Stadt in Deutschland
hat in den letzten Jahren an diesem Strukturaufbau vor allem in
benachteiligten Stadtquartieren viele Ressourcen aufgebaut. Seit heuer
läuft das Programm aufgrund eines kürzlich beschlossenen
Sparprogrammes der deutschen Bundesregierung nur mehr mit 30%
des Mitteleinsatzes weiter. Offensichtlich wurden die Wirkungen dieses
präventiv so notwendigen Programmes politisch nicht verstanden.
Dieses Phänomen ist ein klarer Auftrag an alle beratenden und
prozessgestaltenden AkteurInnen, Wirkungen präventiv
armutsbekämpfender Stadtteil- bzw. Gemeinwesenarbeit nachzuweisen
und an EntscheiderInnen zu vermitteln.
Participation on demand
BürgerInnen werden wählerischer: Sie werden sich weiterhin nur in
Verfahren einbringen, wenn das Thema für sie eine Priorität hat. Sie
werden dabei aber einen höheren Anspruch an die Qualität der
Verfahren stellen. Viele haben bereits Erfahrung in
Bürgerbeteiligungsverfahren, werden daher nur dort teilnehmen, wo das
Angebot der Beteiligung sehr klar, nicht mit zu großem Aufwand
verbunden und attraktiv ist.
Auch Verwaltung und Politik werden in Zukunft stärker auswählen: Aus
der wachsenden Erfahrung heraus werden Verwaltung und Politik nur
bei jenen Projekten zur Bürgerbeteiligung einladen, in denen der Nutzen
klar ist – Beteiligung also nicht als Prinzip, sondern nur dann, wenn es
sicher etwas bringt.
Interessant wird auch die Entwicklung auf europäischer Ebene sein. Hier
bieten heute schon Websites wie „your voice in Europe“ Möglichkeiten
zur Konsultation an. Kerstin Arbter, ExpertIn für strategische
Umweltprüfungen und Öffentlichkeitsbeteiligung kann sich hier auch ein
zunehmendes Interesse der BürgerInnen an Entscheidungen der EU und
eine Verlagerung der kooperativen Verfahren auf die EU-Ebene
vorstellen.
Egal ob ungefragt oder on demand, absichtsvoll oder desperat,
puristisch oder blended, partizipative Prozesse sind aus einer
seggregierenden Noch-Wohlfahrtsgesellschaft nicht wegzudenken und
schaffen in jedem Fall Sinn. Die Kunst in der Gestaltung solcher
Prozesse liegt neben methodischer Finesse, kommunikativer Strategie
wohl auch darin, uns die Neugier zu bewahren, auch wenn an der
Oberfläche alles schon klar zu sein scheint, sensibel auf sich
verändernde Verhältnisse/Communities einzugehen und das Rad immer
wieder ein Stück weit neu zu erfinden. Die Kunst, diese Prozesse zu
Ermöglichung liegt sicherlich auch in der Überzeugungskraft der
Beteiligungsprofis, Sinn und Wirkungen partizipativer Prozesse auch
deren Finanziers und AuftraggeberInnen zu vermitteln.
6. Fußnote:
1) Alle ExpertInnenzitate stammen aus einer Gesprächsrunde mit dem
Titel „mehr oder weniger beteiligt“, zu der wir im Oktober 2010
eingeladen haben.