Prof. Peter Vermeulen: Neuausrichtung kommunaler Kulturförderung.
Kulturhauptstadt 2010
1. sterpräsident Dr. Jürgen Rüttgers über die Kulturlandschaft NRW
UPLÄTZE RUHR 2010 ∙ Konrad Beikircher über den Vielvölker-
t zwischen Rhein und Weser ∙ Kathedralen der Kunst im Revier
Besten im Westen ∙ eater und Museen in NRW
2. „DIE KULTUR IST DER
2 I N H A LT MOTOR DES WANDELS“ VERLAGSSONDERVERÖFFENTLICHUNG
Fragen an den Ministerpräsidenten
von Nordrhein-Westfalen, Dr. Jürgen Rüttgers
Was versprechen Sie sich von der Kulturhauptstadt 2010 und
warum hat die Landesregierung die Bewerbung des Ruhrge-
biets als Kulturhauptstadt Europas 2010 unterstützt?
Kultur ist Motor des Wandels im Ruhrgebiet. Fast alle Ökonomen sagen, dass Kreativität und Ideen die wichtigste
wirtschaftliche Produktivkraft des 21. Jahrhunderts sind. Schon heute sind zwischen 20 und 30 Prozent aller Erwerbs-
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tätigen in den hochentwickelten Ländern in kreativen Berufen tätig. Wenn wir als Land in Kultur investieren, investie-
Ruhr 2010: Im Programm der Kultur-
ren wir damit auch in den Wirtschaftsstandort. Gerade auch jetzt, in Zeiten einer Wirtschaftskrise, brauchen wir mehr
hauptstadt reiht sich Höhepunkt an
Kunst und Kultur, nicht weniger. Kultur und Kreativität sollen zu einem Markenzeichen unseres Landes werden.
Höhepunkt.
Als Kulturhauptstadt Europas 2010 kann das Ruhrgebiet ein zentraler Dreh- und Angelpunkt dafür werden, das bei-
spiellos dichte und vielfältige kulturelle Potenzial der Region voll auszuschöpfen und national wie international bekannt
zu machen. Ich behaupte, dass es kaum irgendwo auf der Welt eine so dichte und reiche Kulturlandschaft gibt mit so vie-
len Museen, eatern, Konzert- und Opernhäusern und Orchestern wie hier.
Werden aus Anlass der Europäischen Kulturhauptstadt Ruhr 2010 auch die Landesmittel zur Kulturförderung
erhöht? Warum ist das Kulturressort in der Staatskanzlei verankert?
Kulturpolitik ist in Nordrhein-Westfalen Chefsache und hat nach dem Regierungswechsel einen zentralen Stellen-
wert erhalten. Deshalb haben wir die Kulturabteilung in der Staatskanzlei verankert und damit ins Zentrum des Regie-
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rungshandelns geholt. Aus dem gleichen Grund haben wir bereits vor der Kulturhauptstadtentscheidung begonnen, die
Konrad Beikircher: Im Schmelztiegel
Mittel unseres Kulturförderetats im Verlauf einer Legislaturperiode zu verdoppeln. Die Kulturhauptstadt 2010 wird vom
zwischen Rhein und Ruhr leben die
Land mit insgesamt rund 120 Millionen Euro unterstützt.
Menschen in Harmonie zusammen.
Welchen Beitrag leistet die Kultur für den Strukturwandel im Ruhrgebiet?
Nach 150 Jahren industrieller Urbanisierung hat sich die Region schon jetzt zu einer Metropole der Kultur und des
Wissens gewandelt. Dabei hat die Kultur heute mehr denn je eine Avantgardefunktion für die Wirtschaft. Diese Funk-
tion der Kultur lässt sich allein an den Synergieeffekten großer Kulturveranstaltungen ablesen. Auch die Steigerungsra-
ten der Kulturwirtschaft im Ruhrgebiet weisen bereits jetzt beachtliche Zahlen auf. Kultur ist damit ein nicht zu unter-
schätzender Wirtschaftsfaktor.
Was trägt Ruhr 2010 zur Förderung der Breitenkultur bei und wie werden Breitenkultur und „Hochkultur“
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FOTOS: STEFAN ZIESE/BLICKWINKEL (TITELFOTO); MUSEUM FOLKWANG 2008; SVEN SIMON/IMAGO; H. & D. ZIELSKE/LOOK; THOMAS MEYER/OSTKREUZ
im Rahmen von Ruhr 2010 gefördert?
Welterbe: Vier Kulturstätten im
Ohne Kultur für alle gibt es keine Spitzenkultur. Unser Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ ist beides. Indem wir
Westen besitzen das begehrte Siegel
jedem Kind im Ruhrgebiet ermöglichen, ein Instrument zu lernen, leisten wir kulturelle Breitenförderung. Diese kommt
der Unesco.
mit einem Zuwachs an Nachwuchsmusikern aber der sogenannten Hochkultur zugute. Auch für die Besucher wird es im
Kulturhauptstadtjahr beides geben: Projekte, die Besucher in großem Stil ansprechen, und solche, die vielleicht nur für
einige wenige etwas sind. Dabei ist es uns wichtig, dass sich die Kulturhauptstadt unter dem Leitbild „Metropole im Wer-
den“ nicht als reine Festivalveranstaltung versteht. Sie ist vor allem ein Entwicklungsprojekt von europäischer Dimensi-
on, bei dem das Programm einen Beitrag zur Entwicklung der „Metropole Ruhr“ leisten soll. Ideen und Projektvorschlä-
ge sollen sich daher auf die Programmatik „Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel“ einlassen, wie es „Jedem Kind
ein Instrument“ beispielhaft tut.
Welche kulturellen Einrichtungen (beispielsweise Museen, eater, Oper) gehören in der Region zu den
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„Leuchttürmen der Kultur“?
Sammlerin: Julia Stoschek hat in
Für mich ist entscheidend, dass Reichtum und Vielfalt an kommunalen eatern, Opern und Museen insgesamt
ihrem Düsseldorfer Privatmuseum
zum Leuchten kommen: eater oder Opern in Duisburg, Oberhausen, Mülheim, Essen, Bochum, Hagen, Dortmund,
einzigartige Video- und Medienkunst
Castrop-Rauxel, Dinslaken und Gelsenkirchen genauso wie Museen in Duisburg, Bochum, Essen, Dortmund, Bottrop,
zusammengetragen.
Gladbeck, Marl, Unna, Haltern und Hagen.
SEITE 10 Dazu kommt für mich aber auch die Route der Industriekultur mit einzigartigen Orten, etwa dem Gasometer in
Oberhausen, der Bochumer Jahrhunderthalle, der Zeche Zollverein in Essen und dem Landschaftspark Duisburg Nord
Die Besten im Westen.
– die als Kulturorte ihre ganz eigene, unnachahmliche Wirkung entfalten.
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Trotz RuhrTriennale ist NRW noch nicht in der Liga von Bayreuth oder Salzburg angekommen. Will das Land künftig
Das Land der Museen.
in diese Liga aufsteigen?
Die RuhrTriennale ist heute schon das interessanteste Festival Europas. Das sagt ein Expertengutachten. Unser
IMPRESSUM Bundesland wird sein kulturelles Profil noch weiter schärfen und in der Förderung der Spitzenkultur noch zulegen.
„Nordrhein-Westfalen ist kultig“ ist eine Beilage des
Rheinischen Merkur in Zusammenarbeit mit Tourismus NRW e. V.
Gefördert durch:
Was sind Ihre kulturellen Lieblingsplätze in NRW?
Redaktion: Marcel Tilger, Walther Wuttke (ViSdP) Es gibt in allen Teilen des Landes wunderbare Orte. Einer meiner Lieblingsplätze ist die Museumsinsel Hombroich
Schlussredaktion: Bernhard Mogge
Gestaltung: Lutz Jahrmarkt bei Neuss mit ihrer einzigartigen Verbindung von Natur, Kunst und Architektur. Faszinierend ist aber auch die Zeche
Verlag Deutsche Zeitung GmbH, Heinrich-Brüning-Straße 9
53113 Bonn. Geschäftsführer: Bert G. Wegener Zollverein in Essen. Allein ihretwegen lohnt sich die Reise nach Nordrhein-Westfalen.
Die Fragen stellten Astrid Prange und Walther Wuttke.
3. K U LT U R H A U P T S T A D T 2 0 1 0 EDITORIAL 3
KULTUR HAT HIER TRADITION
Als eine der spannendsten
und dichtesten Kulturregionen
Europas bietet NRW ein rei-
ches Veranstaltungsprogramm –
unter anderem in spektakulären
Industriedenkmälern
L
udwig van Beethoven, Heinrich Heine oder Eines der Hauptmotive unserer Gäste ist es, Jahre Varusschlacht. Die sagenumwobene Schlacht
Joseph Beuys: gewichtige Namen, die auf eine Kultur zu erleben. Und für ein Kulturerlebnis der im Teutoburger Wald wird mit einem bundesland-
wichtige Kulturregion hinweisen. Das Kul- besonderen Art bietet Nordrhein-Westfalen Super- übergreifenden Ausstellungsprojekt der Extraklasse
turland Nordrhein-Westfalen hat viele bedeutende lative: Mit dem Kölner Dom, dem Aachener Dom, gewürdigt. „Imperium Konflikt Mythos – 2000 Jah-
Künstler hervorgebracht. Und das schon zu einer der Zeche Zollverein und dem Schloss Augustusburg re Varusschlacht“ beleuchtet die unterschiedlichen
Zeit, als unser Bundesland noch gar nicht existierte. haben wir vier Unesco-Welterbestätten. Der Aachener Facetten des historischen Geschehens. Der römische
Heute ist Nordrhein-Westfalen eine der dichtesten Dom mit seinem Kunstschatz wurde als erste deut- Feldherr Varus und Arminius der Cherusker entfüh-
Kulturregionen Europas und lockt mit seinen zahl- sche Kulturstätte 1978 von der Unesco zum Weltkul- ren die Besucher an historische Stätten, die Geschich-
reichen Museen, öffentlichen und privaten Bühnen, turerbe gekrönt. Allein der Kölner Dom zählt zu den te an Originalschauplätzen wieder lebendig werden
Orchestern und Konzerthallen, Musicals und Veran- beliebtesten Sehenswürdigkeiten in ganz Deutsch- lassen.
staltungen jährlich viele Millionen kulturinteressier- land und hat 2008 rund 6,5 Millionen Besucher aus Das nächste Großprojekt befindet sich in der
te Gäste an. dem In- und Ausland angezogen. heißen Vorbereitungsphase: Europas Kulturhaupt-
Die Kulturlandschaft in unserem Land ist Die Geschichte Nordrhein-Westfalens sichert stadt Ruhr 2010 verleiht der Kulturlandschaft Nord-
abwechslungsreich und spannend. In der Bildenden uns beim ema Industriekultur einen Platz in der rhein-Westfalens zusätzliche Dynamik. Mit einem
Kunst schaffen hier mehr als 30 000 Künstler eine ersten Reihe. Eindrucksvolles Zeugnis dafür legt außergewöhnlichen Programm und nachhaltigen
kreative Vielfalt, wie sie kein anderes deutsches Bun- die Zeche Zollverein in Essen ab. Die Anlage beein- Projekten wie dem Neubau des Folkwang-Museums
desland aufzuweisen hat. druckt durch das Zentrum für Kreativwirtschaft in Essen oder dem Museum Küppersmühle im Duis-
Aber wir in Nordrhein-Westfalen können auch und Einblicke in die Arbeit eines Steinkohleberg- burger Innenhafen wird die Kulturhauptstadt Bilder
feiern. Unsere Kulturveranstaltungen sind legen- werks mit einer kulturellen Bandbrei- erzeugen, die das Ruhrgebiet und ganz
där: Das international renommierte Beethovenfest te, die ihresgleichen sucht. Aber es gibt Nordrhein-Westfalen in den Köpfen
in Bonn feiert den Komponisten Ludwig van Beet- viele weitere Stätten, die die industri- der Menschen weit über das Jahr 2010
hoven und die RuhrTriennale bietet neben hochka- elle Vergangenheit auf faszinieren- hinaus als Kulturland verankern.
rätigem Musikgenuss auch eater, Literatur und de Weise in kulturelle Gegenwart und Und falls Sie jetzt Geschmack an
Kunst an den Schauplätzen herausragender Indus- Zukunft transportieren. Der Gasome- Vergangenem, Gegenwärtigem und
triedenkmäler wie der Jahrhunderthalle in Bochum ter in Oberhausen zum Beispiel gilt Zukünftigem in unserem Land gefun-
oder der Salzfabrik im Zollverein in Essen. Das Kla- mit seinem unvergleichlichen Raum- den haben, lade ich Sie herzlich ein,
vierfestival Ruhr umfasst dieses Jahr rund 80 Kon- erlebnis als „Kathedrale der Indus- Nordrhein-Westfalens Kulturland-
zerte, bei denen nicht nur viele junge Künstler debü- trie“. Die Route der Industriekultur mit schaft heute wie in Zukunft zu entde-
tieren, sondern mit Lang Lang oder Daniel Baren- allein drei Parcours durch das industrie- cken und zu erleben!
FOTOS: EKKEHART REINSCH
boim auch die ganz Großen der Musikwelt zu Gast kulturelle Erbe Nordrhein-Westfalens bietet hier Prof. Dr. Ute Dallmeier
sind. Bei der „Extraschicht“ feiern Hunderttausende Gelegenheit, Industriedenkmäler kompetent und Geschäftsführerin Tourismus NRW e. V.
vor spektakulärer Kulisse in Zechen und Stahlwer- hautnah zu erleben.
ken, auf Halden und an Fördertürmen die Nacht der In diesem Jahr begehen wir dazu ein kulturhisto-
Industriekultur. risches Jubiläum: Nordrhein-Westfalen feiert 2000
4. 4 RUHR 2010 VERLAGSSONDERVERÖFFENTLICHUNG
Unter Tage über Tag:
Hunderte riesiger Ballons
über dem alten
Bergbaurevier erinnern
an frühere
Schachtanlagen.
RUHR MUSEUM SCHACHTZEICHEN ROUTE WOHNKULTUR Wohnwelten ab. Typische Zechensied-
G D W
edächtnis und Schaufenster er Bergbau, der über Jahr- ie wohnen eigentlich die lungen, gelungene und gescheiterte
der neuen Metropole Ruhr ist zehnte das Bild der Region an Menschen der Metropole Experimente, aus der Mode gekom-
das Ruhr Museum in der ehe- der Ruhr prägte, hat seine Spu- Ruhr? Von der Fabrikanten- mene, wiederentdeckte und behut-
maligen Kohlenwäsche der Zeche Zoll- ren hinterlassen, doch greifbar sind sie villa bis zur Gartenlaube, vom Gründer- sam erneuerte Wohnformen werden
verein. Allein schon das spektakuläre heute kaum noch. An die längst ver- zeitviertel zum Gemeinschaftswohn- in einen im wahrsten Wortsinn erfahr-
Domizil macht es zu einem Regio- füllten Schächte erinnert lediglich ein projekt, von der Hochhaussiedlung der baren regionalen Zusammenhang
nalmuseum neuen Typs. Die ehema- Deckel mit dem Namen der ehema- 1970er-Jahre übers Fachwerkhaus im gestellt. Zu Ruhr 2010 werden rund
lige Kohlenwäsche ist eigentlich kein ligen Zeche. Der einstige Lebensmittel- alten Dorfkern bis zum Hausboot auf 50 Wohnungen der Route als „Schau-
Gebäude, sondern vielmehr die Hül- punkt für Hunderttausende Menschen dem Kanal – das Ruhrgebiet schreibt wohnungen“ der Öffentlichkeit in einer
le für eine riesige Maschine, in der die ist wieder unter Tage verschwunden. viele Wohngeschichten, die so vielfäl- „Ausstellung“ zugänglich gemacht und
geförderte Steinkohle aufbereitet wur- Im Kulturhauptstadtjahr 2010 wer- tig, widersprüchlich und eigen sind wie in einem „Reiseführer“ verzeichnet.
de. Dem ursprünglichen Produktions- den nun viele der 900 verzeichneten die Region selbst. Die „Route Wohn- Internet: www.wp.
fluss entsprechend fahren die Besucher Schächte wieder sichtbar gemacht. In kultur“ bildet die Vielfalt alltäglicher routederwohnkultur.de
zunächst auf die 24-Meter-Ebene, um der gesamten Metropole Ruhr ragen
anschließend in die Museumsräume dann gleichzeitig Hunderte riesige Bal-
der unteren Etagen geleitet zu werden. lons bis zu 80 Meter hoch in den Him-
Mit der Eröffnung im Herbst 2009 mel und zeigen den Betrachtern maxi-
wird in einer Dauerausstellung die mal zwei Wochen lang jene Orte auf, an
gesamte Natur- und Kulturgeschichte denen in den vergangenen 100 Jahren
der Metropole Ruhr präsentiert. Die Kumpel unter Tage geschuftet haben.
umfangreichen Sammlungen des neu- „Schachtzeichen“ setzt ein künstle-
en Museums zur Geologie, Archäolo- risches wie auch emotionales Zeichen
gie, Geschichte und Fotografie beruhen im und vor allem für das Ruhrgebiet.
im Wesentlichen auf den Sammlungen Die 53 Städte und Gemeinden werden
des ehemaligen Ruhrlandmuseums der Teil einer Gesamtinszenierung, die auf
Stadt Essen. Zum Ruhr Museum gehört eine gemeinsame Geschichte verweist
außerdem das inzwischen größte und und zugleich die Vision der „Metropo-
bedeutendste Archiv historischer le Ruhr“ verspricht.
und zeitgenössischer Fotografien der Internet: www.ruhr2010.de/
Metropole Ruhr; es ist damit das Bild- schachtzeichen
gedächtnis der gesamten Region.
Internet: www.ruhrmuseum.de
5. K U LT U R H A U P T S T A D T 2 0 1 0 5
Aus dem Verborgenen: Geld ist Macht:
Kunstschätze aus den Sammlungen Die Herren von Moers
großer Unternehmen werden spielten im Land eine
erstmals öffentlich präsentiert. bedeutende Rolle.
SCHAUPLÄTZE
RUHR 2010
TEXT Walther Wuttke
Das Veranstaltungsprogramm der Kulturhaupt-
stadt 2010 ist reich an Höhepunkten
FOTOS: RUHR.2010; BÜRO STADTIDEE; MUSEUM BOCHUM/ERIC JOBS; LWL
UNTERNEHMEN ler Ernst Osthaus seine Kunstwerke der höfe der pulsierenden Metropole als ANNO 1225
SAMMELN Öffentlichkeit. Im Rahmen der Unter- neues Phänomen in der zweiten Hälfte illkommen im 13. Jahr-
H
inter den Fassaden der gro-
ßen Unternehmen der Metro-
pole Ruhr verbergen sich wah-
nehmensgalerie Ruhr stellen Unterneh-
men ihre Sammlungen sowohl in ihren
eigenen Räumen wie auch in einer
des 19. Jahrhunderts.
W hundert! Frisch und ganz
ohne Staub zeigt das West-
fälische Landesmuseum für Archäolo-
re Kunstschätze. Allerdings sind diese zentralen Schau aus und präsentieren FOTOGRAFIE UND ROCK gie in Herne in einer historischen Aus-
über Jahrzehnte gewachsenen Samm- damit auch ihr Engagement im Kultur- ie Rockmusik-Fotografie ist stellung den rücksichtslosen Weg der
lungen der Öffentlichkeit zumeist
nicht zugänglich. Für die Ruhr 2010
öffnen die Unternehmen nun erst-
bereich. Getragen wird das Projekt vom
Verein Pro Ruhrgebiet, vom Museum
Bochum und von vielen Unternehmen
D von Stars auf beiden Seiten
der Kamera geprägt: Die Aus-
stellung der Fotografischen Samm-
Herren von Moers an die Macht. Um
1200 bauten die Edelherren von Moers,
Gefolgsleute der Erzbischöfe von Köln,
mals ihre Tore und knüpfen damit an der Region. lung im Museum Folkwang zeigt vom ihre erste, bescheidene Wohnturmburg.
große Vorbilder an: Bereits Anfang des 2. Juli bis 10. Oktober 2010 Werke Ein Vierteljahrhundert später wird der
vergangenen Jahrhunderts zeigte der BILDER EINER von Ron Galella, Annie Leibovitz, Kölner Erzbischof Engelbert von Berg
Industrielle, Mäzen und Kunstsamm- METROPOLE David Bailey, Richard Avedon, Anton umgebracht, und kurz darauf nennt
aris galt von 1850 an als die Corbijn und anderen Fotografen von sich Dietrich II. von Moers erstmals
Hütten und Paläste:
Wie Menschen
im Ruhrgebiet gelebt
P Hauptstadt der modernen
Welt. In Europas erster Metro-
pole vollzog sich die Revolution der
Weltrang, die an der Mythenbildung
um Stars wie Elvis Presley, Little
Richard, Jimi Hendrix, Janis Joplin,
Graf. Als nächsten Schachzug verhei-
ratet er seinen Sohn Dietrich III. mit
Elisabeth, der Tochter des 1226 für den
bildenden Kunst. Die Impressionisten David Bowie und den Beatles einen Mord am Erzbischof hingerichteten
haben und noch
entwickelten neue künstlerische Ver- entscheidenden Anteil hatten. „A Star Grafen Friedrich III. von Altena-Isen-
heute wohnen, lässt
fahren, um die spezifische Atmosphä- Is Born“ verbindet Selbstdarstellung burg. Nach der verlorenen Schlacht bei
sich auf der
re der industriellen Großstadt darzu- und Darstellung mit 250 Arbeiten, Worringen 1288 nutzen die Herren von
„Route Wohnkultur“
stellen: Schnelligkeit und Wandel, Frei- darunter Plattencover, Fotografien, Moers das entstandene Machtvakuum
besichtigen.
zeit und Zerstreuung, aber auch Ano- Zeitschriften und Autogrammkarten und erreichen als Gefolgsleute der Gra-
nymität und Kommunikation, Ballett aus gut 60 Jahren. Glamour-Porträts, fen von Kleve um 1300 einen ersten
und eater, Distanz und Verführung. journalistische Dokumente von Live- Höhepunkt ihrer Macht, die sie bis
Vom 2. Oktober 2010 bis zum 30. Auftritten sowie PR-Material wie auch zur Mitte des 15. Jahrhunderts weiter
Januar 2011 präsentiert das Muse- Fotografien, die den Kult um Instru- ausbauen. Diese machtpolitischen Ver-
um Folkwang den Blick der Impressi- mente belegen, vervollständigen die werfungen und Ränkespiele erzählt die
onisten auf die Metropole Paris. Bilder erste große Ausstellung zu diesem packende Ausstellung vor dem Hinter-
von Edouard Manet, Claude Monet, ema in Deutschland. Die von Ute grund der vorindustriellen Geschich-
Edgar Degas, Auguste Renoir, Camil- Eskildsen kuratierte Ausstellung ent- te. Begleitet wird die Ausstellung von
le Pissaro oder Paul Signac zeigen die steht als Kooperation des Museums einem Außenprogramm in zahlreichen
Boulevards, Cafés, Plätze und Bahn- Folkwang und der RWE AG. Burgen und Schlössern der Region.
6. 6
VIELVÖLKER
LANDESKUNDE VERLAGSSONDERVERÖFFENTLICHUNG
S
TEXT Konrad Beikircher
N
ordrhein-Westfalen ist – wir wissen es – ein falen – um nur die wichtigsten zu nennen – im Rah- verwandtschaft dieser beiden Regionen in alle Ewig-
schönes Land. Die wunderbaren Skigebiete men einer gigantischen Wohngemeinschaft zu einer keit gefestigt – das eigentliche Wunder ist, dass die
im Rheinland, die herrlichen westfälischen Einheit zusammengeschmiedet, die weltweit einmalig beiden sich in Paderborn zum ersten Mal trafen und
Seenplatten, die riesigen Rinder-Auen und Weide- ist. Diese Gegensätze! Diese Harmonie! dabei nicht nur nicht „laufen jejangen“ sind, sondern
landschaften zwischen Dortmund und Oberhausen, Hätte man Basken, Elsässer, Bretonen und Schot- außer aneinander auch am Westfalen Gefallen fan-
die sauerländische Steppe – alles weltberühmte Fern- ten zusammengepfercht, es wäre nichts gegen das den. Was übrigens für die oft unterschätzte Raffi-
erholungsparadiese, wie jeder weiß, der schon mal im Gemisch, das wir aufzuweisen haben. nesse des Westfalen spricht: Er galt nämlich damals
Stau zwischen Siegen und Hagen stand und von den Das funktioniert, weil der Rheinländer in die- als Sachse, hatte aber die Zeichen der Zeit erkannt
kühn geschwungenen Autobahnvolten weit ins Land sem Gemisch der Katalysator ist. Ohne seine ruhige und war kurz vor dem Besuch der beiden rasch zum
hinein schauen durfte. Fürsorglichkeit, seine wundervolle Zurückhaltung „normalen Glauben“ konvertiert – im Gegensatz zu
Alles schön und gut, aber weiß außer uns hier in allen Bereichen öffentlichen Lebens und seine den übrigen Sachsen, deren Halsstarrigkeit ja 30 000
in NRW überhaupt jemand, worin die wahre Größe unglaubliche Unaufdringlichkeit – Eigenschaften, von ihnen den Hals kostete. Zu Recht, wie uns die
unseres Landes besteht? Nordrhein-Westfalen, Herr- welche die schroffen Gegensätze der anderen eth- Geschichte lehrt, denn wären sie damals ebenfalls
schaften, ist die Wiege Europas, mehr noch: ein Eu- nischen Gruppen mildern, ja geschmeidig einander Rechtgläubige geworden, wären uns sicher das Trio
ropa im Kleinen und damit das Modell dafür, dass nähern – wäre wohl nie was draus geworden. infernale Ulbricht, Pieck und Grotewohl und in der
es geht! Also: In Nordrhein-Westfalen funktioniert es und Folge der Helium-Pavarotti Honecker und damit letzt-
Wo in anderen Bundesländern ethnische Öde zwar ohne in eine Legierung zu verschmelzen, in der lich die teure Wiedervereinigung erspart geblieben.
vorherrscht: In Hessen gibt’s nur Hessen, in Mecklen- jede Eigenart der Einzelelemente aufgehoben wäre Nun denn: Hat nicht sollen sein.
burg-Vorpommern nur Mecklenburg-Vorpommern, zugunsten eines wie auch immer gearteten Neuen. Die Westfalen hatten also ihren Göttern abge-
im Saarland nur Saarländer, in Bremen nur Bremer, Das Wunder Nordrhein-Westfalen begann im schworen (einige von ihnen haben sich allerdings bis
oder, um den Kreis weiter zu ziehen: in Liechten- achten Jahrhundert. Und es begann natürlich mit heute in Ansätzen erhalten: die Herforder Tulpe, das
stein gibt’s nur Liechtensteiner, in Luxemburg nur einer Männerfreundschaft. Genauer: mit der Freund- Hasenfenster, die Liebe zur Posaune und die Vereh-
Luxemburger oder in San Marino nur Matrosen, von schaft zwischen Karl dem Großen und Papst Leo III. rung der Kartoffel als omnium remedium) und sich
den anderen Ländern ganz zu schweigen, so war das Das eigentliche Wunder dabei ist aber nicht, dass der damit als mit dem genetisch katholischen Rhein-
in Nordrhein-Westfalen immer schon anders. Hier Aachener Kaiser (auch Klenkes-Karl genannt) sich länder koalitionsfähig erwiesen. Kaiser und Papst
haben sich Rheinländer, Niederrheiner, Selfkanter, mit dem süditalienischen Römer Leo III. anfreun- sahen darin die Chance, von diesen beiden Enden
Nordeifeler, Sauerländer, Bergische, Siegerländer, dete, ist doch seit Agrippina, der Mutter Neros, die her – Aachen und Paderborn – Nordrhein-Westfalen
Revierkumpels, Lipper, Münsteraner und Ostwest- in Rom Karneval und Kölsch einführte, die Seelen- quasi aufzurollen und Krone und Tiara zuzuführen.
7. 7
R NRW
K U LT U R H A U P T S T A D T 2 0 1 0
Europa im Kleinen:
Im Schmelztiegel im Westen leben ver-
schiedene Ethnien
STAAT
harmonisch zusammen
Konrad Beikircher:
In seinem Bühnen-
programm widmet
sich der Kabarettist
vor allem der Sprache
und dem Wesen
des Rheinländers.
Schon 804, als Karl und Leo in Aachen Weihnachten derlandes sorgten, aber: Wir hätten es auch ohne sie vom Schiefertäfelchen trennen kann, höchste Eig-
feierten (dabei soll Leo so exzessiv den Printen zuge- hingekriegt. nung für Spitzenpositionen in Landschaftsverbän-
sprochen haben, dass er ab da im Rheinland nur noch Und da sind wir bei der Frage: Was bindet bezie- den und Polizeipräsidien.
„dä Printepaaps“ genannt wurde), war Nordrhein- hungsweise unterscheidet die Mitglieder dieser Der Siegerländer hat seine Zunge jegli-
Westfalen als solches schon so gefestigt, dass dies in Wohngemeinschaft Nordrhein-Westfalen an- bezie- chen hochdeutschen Verkrampfungen verwei-
der berühmten Soester (das damals noch Sose hieß) hungsweise voneinander? gert (das rollende „R“ ist mehr ein Erstickungsan-
Eidesformel seinen Ausdruck finden konnte: Sie bindet das aneinander, was sie voneinander fall denn ein Sprachlaut), er ist damit der perfekte
„Ben zi bena, bluot zi bluoda, lid zi geliden, SOSE unterscheidet, Defizite und Fähigkeiten ergänzen sich Fremdsprachenkorrespondent.
gelimida sin“ also: „Bein mit Bein, Blut mit Blut, Glied wie sonst nirgends zum Wunderpuzzle NRW. Der Kumpel vom Revier weiß immer, wat Sache
mit Glied – in Soest miteinander verschweißt.“ Der Niederrheiner weiß nix, kann aber alles erklä- is, über Tag und unter Tage, und ist damit wie keiner
In einem feierlichen Akt in den Domen zu Kalter- ren (so hat es Hanns Dieter Hüsch, der niederrhei- für Tacheles geeignet.
herberg, Köln, Soest und Paderborn unterzeichneten nische Prophet aus Moers, formuliert) und ist damit Der Lipper hat das Sparbuch erfunden, weiß
Printen-Leo und Klenkes-Karl den Eid (übrigens: Um der geborene Pressesprecher. aber nicht mehr, wo er es hingelegt hat; was muss
FOTOS: PHOTOSTOCK/VARIO IMAGES; ISTOCKPHOTO.COM; JÜRGEN EIS/IMAGO
ein Haar hätte Leo den ganzen Vatikan nach Pader- Der Selfkanter, als Nicht-Mehr-Rheinländer und ein Finanzminister mehr aufweisen?
born geholt – was für eine Vorstellung: urbi et orbi in Noch-Nicht-Holländer erst seit 1963 Mitglied der Der Münsteraner war immer gut im Glauben
westfälisch Platt, das wäre denn doch etwas extrem, Familie NRW, hat dem nichts hinzuzufügen, was ihn (wovon die Wiedertäufer ein Lied singen könnten,
oder?), der Rest ist Geschichte. zum Regierungspräsidenten geradezu prädestiniert. hätten die Münsteraner sie nicht aufgeknüpft), ver-
Natürlich sind wir in Nordrhein-Westfalen froh, Der Nordeifeler ist die lebende Brücke in die ger- waltet bis heute die konstantinische Schenkung und
dass nach 1945 Persönlichkeiten wie Pinkus Mül- manische Vergangenheit (wer einmal die Kirmes in ist damit der geborene Nuntius apostolicus.
ler (unter anderem Erfinder der Weitwurf-Frikadel- Dreiborn erlebt hat, weiß, was ich meine) und damit Der Ostwestfale sagt a) immer die Wahrheit,
le), Lübkes Hein (als sauerländischer Partykracher geborener Archivar. aber b) immer im falschen Moment, eignet sich
unvergessen), Adenauer (DER kölsche Experte für Der Sauerländer trifft den Nagel immer auf also hervorragend zum professionellen Zeugen vor
das rechtsrheinische Sibirien) und Willy Weyer (als den Kopf – und zwar von beiden Seiten (o Heinrich Untersuchungsausschüssen.
geistiger Vater Jürgen Möllemanns das missing link Lübke, wie fehlst du uns!), ideale Eigenschaft für Der Rheinländer schließlich ist die Apotheose
zwischen Anspruch und Zumutung, also zwischen Präsidenten. dieses Schmelztiegels, die Kraft, die alles eint, der
Rheinland und Westfalen) den Besatzern die histo- Der Bergische lebt am liebsten in Höhlen (was er kölsch-mediterrane Balsam, der im geschmeidigen
rische Dimension Nordrhein-Westfalens klarmachen vom Neandertaler gelernt hat) und ist so stolz darauf, Klüngel alles zusammenhält, was sonst unweigerlich
konnten und damit für die Kontinuität dieses Wun- schreiben zu können, dass er sich immer noch nicht auseinanderlaufen würde.
8. 8 FESTSPIEL VERLAGSSONDERVERÖFFENTLICHUNG
Die Stars der RuhrTriennale
sind ihre Spielorte
KATHEDRALEN DER
KUNST
TEXT Hans-Christoph Zimmermann
W
ie soll ich Ihnen den Eindruck dieser Schlösser aus flüs-
sigem Metall, dieser glühenden Kathedralen, der wunder-
baren Symphonie der Pfiffe, von wunderbaren Hammer-
schlägen schildern, die uns umhüllt.“ Mit dieser Hymne beschrieb
der Komponist Max Reger im Jahr 1905 seinen Besuch in einem
Eisenhüttenwerk in Duisburg. Inzwischen ist der letzte Akkord
dieser Sinfonie zwar längst verklungen. Doch Regers ästhetische
Assoziation nahm hellsichtig etwas vorweg: Mit dem Sterben der
Montanindustrie des Ruhrgebiets wandelten sich ihre Produktions-
stätten in „Industriekultur“, in denen fortan die Kunst den Takt
vorgab.
Den Höhepunkt dieser Entwicklung markiert die RuhrTrien-
nale. Allen Unkenrufen vom „Montan-Salzburg“ zum Trotz, ihre
Geburt im Jahr 2002 setzte ein deutliches Zeichen für einen Neu-
anfang an den traditionsbeladenen Produktionsorten, die nun zum
Schauplatz eines Festivals mit internationalem Ruf werden sollten.
Wie ernst dieser Anspruch gemeint war, bezeugte schon die Beru-
fung von Gérard Mortier als Gründungsintendant.
Der Belgier kam mit den Lorbeeren der Erneuerung der Salzbur-
ger Festspiele an die Ruhr und schuf die organisatorische, vor allem
aber die ästhetische Struktur des Festivals. Neben Musiktheater,
Schauspiel, Tanz, einer Songwriter-Schiene ist es vor allem die Rei-
Zentrum: Die 1908 erbaute Energie: Die Zeche Zweckel
Jahrhunderthalle in Gladbeck gehört zu den
in Bochum ist der Mittelpunkt Spielorten, in denen industrielle
der RuhrTriennale. Vergangenheit und kulturelle
Gegenwart verschmelzen.
9. K U LT U R H A U P T S T A D T 2 0 1 0 9
he „Kreationen“, die zum Herzstück der RuhrTriennale wurde: Da Spirituellen gewonnen: „Es geht darum, Urmomente von Transzen- Industrie-Kathedrale:
traf der Regisseur Johan Simons auf den Autor Ralf Rothmanns und denz und Religiosität mit künstlerischen Mitteln zu ergründen.“ In der Gebläsehalle in Duisburg
FOTOS: OL AF ZIEGLER/LICHTBLICK; STIFTUNG INDUSTRIEDENKMALPFLEGE UND GESCHICHTSKULTUR; MATTHIAS BAUS
die Musik Giuseppe Verdis; die Komponistin Bernice Johnson Rea- Programmdetails will er noch nicht verraten, doch klar ist, dass sich herrscht heute
gon und der Regisseur Robert Wilson dramatisierten einen Roman die drei Triennale-Ausgaben mit der jüdischen, der islamischen und kulturelles Schaffen.
Gustave Flauberts. Die „Kreationen“ sind Projekte an den Schnitt- schließlich der buddhistischen Religion beschäftigen werden.
stellen verschiedener Kunstsparten, die offen für ästhetische Expe- Einer dieser Räume, die Willy Decker nachhaltig beeindruckt
rimente votierten – auch auf das Risiko des Scheiterns hin. haben, ist die Jahrhunderthalle in Bochum. Sie bildet das Zentrum
Nach dem ersten dreijährigen Triennale-Zyklus wechselte der des Festivals, und wenn je das Wort von der „Industrie-Kathedra-
flämische Maître de plaisir an die Pariser Oper und hinterließ ein le“ seine Berechtigung hatte, dann hier. Die 1903 vom Bochumer
funktionierendes Festival mit internationaler Sogkraft. Sein Nach- Verein für Bergbau und Gussstahlfabrikation errichtete stählerne
folger Jürgen Flimm folgte den angelegten Pfaden, unterlegte sei- Hallenkonstruktion ist in Form einer dreischiffigen Basilika gestal-
ne Amtszeit allerdings mit dem historischen Dreisprung Romantik tet und wurde bis in die späten 1960er-Jahre als Gaskraftzentrale
– Barock – Mittelalter. In eine Krise geriet die RuhrTriennale dann genutzt. Mit ihren gewaltigen Dimensionen von 158 Meter Länge,
durch den unerwarteten Tod der designierten Intendantin Marie 34 Meter Breite und 21 Meter Höhe wurde sie seit 2003 zum wich-
Zimmermann; Flimm als Retter in der Not hängte noch eine Inte- tigsten Spielort der RuhrTriennale. Wo sonst hätte Ilya Kabakovs
rims-Spielzeit dran. gewaltiges Kirchenkuppel-Bühnenbild für Olivier Messiaens Oper
Ob die Jahrhunderthalle in Bochum, die Kraftzentrale in Duis- „Saint François d’Assise“ Platz gefunden? Welches eater hätte es
burg oder die Zeche Zweckel in Gladbeck – es ist die Aura der Orte, dem Regisseur David Poutney ermöglicht, mit zoomartig fahrbaren
die die RuhrTriennale außergewöhnlich macht. Das verspürte auch Zuschauertribünen die Zeit- und Raumkonzeption von Bernd Alois
Willy Decker, als er hier vor zwei Jahren Frank Martins Oper „Le Vin Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ derart kongenial zu überset-
herbé“ inszenierte: „Diese Räume mit ihrer besonderen Ausstrah- zen? Die Spielorte der RuhrTriennale mögen sich weiträumig über
lung von Energie und Kreativität haben meine Arbeit substanziell das gesamte Ruhrgebiet verteilen, letztlich sind sie es, die die Iden-
verändert.“ Der Musiktheater-Regisseur bereitet gerade seine erste tität der RuhrTriennale stiften und jährlich aufs Neue Künstler von
Spielzeit als neuer Intendant der Halden-Hügel vor und hat aus die- internationalem Rang ins Ruhrgebiet locken.
ser Raumerfahrung auch als Grundthema der Triennale von 2009 RuhrTriennale 2009, vom 15. August bis 11. Oktober, Info und Kar-
bis 2011 die tiefe Verwandtschaft zwischen dem Kreativen und dem ten: 0700/20 02 34 56.
10. 10
WEST
GRÖSSEN VERLAGSSONDERVERÖFFENTLICHUNG
DIE BESTEN IM
SÖNKE WORTMANN HERBERT GRÖNEMEYER
Der Regisseur und Produzent hat Keiner hat so wunderbar das alte Ruhr-
den Deutschen ihr Sommermärchen gebiet besungen wie Herbert Gröne-
auf Zelluloid beschert. „Deutschland. meyer. Sein erstes Lebensjahr ver- MANFRED EIGEN HELGE SCHNEIDER
Ein Sommermärchen“ ist die überaus brachte er allerdings im Harz, bevor die Der Ehrenbürger der Ruhr-Universität Manchen erschließt sich sein Sinn für
erfolgreiche Filmdokumentation der Familie nach Bochum zog, wo Herbert Bochum ist so etwas wie ein Superwis- Humor überhaupt nicht. Seine Fans lie-
FOTOS: EMI; BRUNI MEYA/AKG; THÜRINGEN PRESS/ACTION PRESS; HELGE SCHNEIDER ENTERPRISES
Fußballweltmeisterschaft von 2006. sich schon früh Richtung Schauspiel senschaftler. Die Bandbreite seiner For- gen der „singenden Herrentorte“ aber
Für Wortmann verbinden sich darin und Musik orientierte und am eater schungen reicht von den physikalischen zu Füßen. Was ist der 1955 in Mülheim
seine Leidenschaften: Film und Fuß- erste Meriten als Pianist und Darsteller Eigenschaften chemischer Prozesse an der Ruhr geborene Helge Schneider
ball. Mit der Kickerkarriere hatte es erwarb. Als Rockmusiker blieb er lan- über das Alter der Erbsubstanz DNA eigentlich? Er spielt exzellent eine gan-
nicht geklappt, umso besser lief es für ge unbekannt. Aber einmal im Leben bis zu einem physikalisch-chemischen ze Reihe von Instrumenten, er hat Filme
den 1955 in Marl Geborenen beim Film. passt alles zusammen: Für Grönemeyer Modell zur Entstehung des Lebens. gemacht, vor und hinter der Kamera,
Kassenknüller wie sein Erstling „Allein war das 1984 mit seinem Album „4630 Für die Entwicklung einer Methode malt, schreibt Bücher und Hörspiele.
unter Frauen“, „Der bewegte Mann“, Bochum“. Der liebenswert-ironische zur Untersuchung chemischer Reakti- Alles richtig gut, aber die Nation lacht
„Das Superweib“ und der Fußballfilm Song „Männer“ traf den Nerv nicht onen von weniger als einer Millionstel sich schlapp vor allem über seine Non-
„Das Wunder von Bern“ begründeten nur aller Frauen, und der Titelsong Sekunde Dauer erhielt er gemeinsam sens-Lieder, summt „Katzeklo, Katze-
seinen Ruhm, dem auch kommerzi- „Bochum“ wurde sofort zur Hymne mit zwei englischen Wissenschaftlern klo, ja das macht die Katze froh“ oder
elle Flops nichts anhaben konnten. Er des Ruhrgebiets und der Stadt „tief im 1967 den Nobelpreis für Chemie. Der „Es gibt Reis, Baby“. Sein Grinsen bei
drehte mit Hollywood-Größen wie Rod Westen, wo die Sonne verstaubt“. Zwar frühere Leiter des Max-Planck-Insti- den bizarren Liveauftritten ist debil bis
Steiger und Burt Reynolds und natür- hat der auch sozial und politisch enga- tuts für Physikalische Chemie in Göt- diabolisch, aber wer denkt, hier stüm-
lich mit allen, die in Deutschland Rang gierte Sänger und Schauspieler längst tingen lehrt und forscht heute meist in pert sich einer was zurecht, fällt zum
und Namen haben. Ein Sommermär- den blauen Himmel über der Ruhr mit Kalifornien. 1927 in Bochum geboren, Beispiel bei den Jazzimprovisationen
chen ging übrigens auch für viele Kin- dem Londoner Smog vertauscht, aber wollte Manfred Eigen eigentlich Musik vor Staunen fast vom Stuhl. Das würde
der in Erfüllung: Den Erlös aus seinem sein dreifach geknödeltes „Booochum“ studieren. Geblieben ist seine musika- Helge Schneider gefallen.
WM-Film spendete Wortmann den erklingt noch bei jedem Heimspiel des lische Leidenschaft: Er spielt
SOS-Kinderdörfern. lokalen Fußballclubs VfL. Cello und Klavier.
11. K U LT U R H A U P T S T A D T 2 0 1 0 11
TEN
Sie verkörpern
das Lebensgefühl des Landes:
Stars aus dem Ruhrgebiet
TEXT Bernhard Mogge
GÖTZ GEORGE
Geboren ist der vielseitige Schauspie-
PINA BAUSCH ler 1938 in Berlin. Vereinnahmt hat
Wuppertal – das ist nicht nur die einzig- ihn aber die Stadt Duisburg, in deren FRITZ PLEITGEN
OTTO REHHAGEL artige Schwebebahn. Weltweit berühmt schmuddeligen Ecken und Hafenan- Viele öffentlich-rechtliche Fernsehzu-
Der 1938 in Essen geborene Fußballer gemacht hat die Stadt an der Wupper lagen er sich von 1981 bis 1991 als schauer können sich sein Gesicht über-
hat auch Erfahrungen als Spieler – für Pina Bausch. Die 1940 in Solingen „Tatort“-Kommissar Horst Schimanski haupt nicht mehr wegdenken vom Bild-
Rot-Weiß Essen, Hertha BSC und den geborene Tänzerin und Choreografin in die Herzen der Zuschauer spielte. schirm. Lange Jahre hat Fritz Pleitgen
1. FC Kaiserslautern. Seine Erfolgs- ist längst Kult, ihr Tanztheater legen- Meist im knitterigen Trenchcoat, mit das Erste Deutsche Fernsehen und
FOTOS: CHAI V.D. L AAGE/IMAGO; WDR; MICHAEL WALLRATH/ACTION PRESS; HORST OSS/DPA
geschichte begann aber erst als Trainer, där. Ihre Ausbildung absolvierte sie handfegergroßem Schnäuzer und vor allem dessen größten Sender, den
vor allem für Bremen, Bayern Mün- unter anderem an der Folkwangschu- locker sitzenden Fäusten, mimte er den Westdeutschen Rundfunk, mitgeprägt.
chen und Kaiserslautern. Er sammel- le in Essen und der Juilliard School in sensiblen Kumpel mit großem Herzen, Auslandskorrespondent an den Brenn-
te reihenweise Rekorde: die weitaus New York; Engagements in aller Welt der kleinen Gaunern schon mal was punkten der Welt, Fernsehchefredak-
meis-ten Einsätze als Bundesligatrai- folgten. Hacke, Spitze – das war einmal. nachsah, bei schlimmen Fingern und teur und Hörfunkdirektor, schließlich
ner, in Folge (nicht ganz unlogisch) die Pina Bausch, die bereits als Kind klei- üblen Ungerechtigkeiten aber fuchs- WDR-Intendant, dazu langjähriger
meisten Siege, Unentschieden und ne Auftritte hatte, hat den Tanz revo- teufelswild und unnachgiebig reagierte. Leiter des ARD-Presseclubs und Prä-
Niederlagen, darunter auch mit 0:12 lutioniert. Bekannt wurde sie 1976 mit Die Rolle des „Schimmi“, die ihn zum sident der Europäischen Rundfunk-
die höchste, 1978 im Borussia-Duell den „Sieben Todsünden“ nach Bertolt beliebtesten Darsteller der ARD-Serie union – multipel und ubiquitär, zählt
(seine Dortmunder gegen Mönchenglad- Brecht mit der Musik von Kurt Weill. machte, verstellt leicht den Blick auf der 1938 in Duisburg geborene Pleit-
bach). Auch Beinamen sammelte er Seither reißen ihre Inszenierungen die die große Bandbreite dieses Sprosses gen längst zum TV-„Urgestein“, den
reichlich: vom wenig rühmlichen Fans von den Stühlen, tragen ihr Einla- einer Schauspielerfamilie: Klassi- es auch nach der Pensionierung nicht
„Otto Torhagel“ bis zum euphorischen dungen zu den renommiertesten Festi- ker von Shakespeare bis Tschechow, im Sessel hält. Schönes Beispiel dafür
„Rehakles“, mit dem ihn die inzwischen vals sowie sämtliche Ehrungen ein, die schwierigste Rollen wie Josef Mengele sind seine späten Reportagen aus Russ-
von ihm trainierte griechische Natio- man in diesem Metier gewinnen kann, oder „der Totmacher“ Fritz Haarmann land und den USA. Für „Ruhr2010“
nalmannschaft für den Europamei- und machen das „Tanztheater Pina und komödiantische Kabinettstück- ist der Fernsehmann und Fußballfan
stertitel 2004 in den Fußballer-Olymp Bausch“ zum weltweit geschätzten chen machten ihn zu einem der aner- seit bald zwei Jahren Vorsitzender der
erhob. Kulturexportartikel. kanntesten deutschen Schauspieler. Geschäftsführung.
12. K U LT U R H A U P T S T A D T 2 0 1 0 13
prunkliebenden Wittelsbacher Kurfürsten Clemens Schwarzes Gold:
August, der in Bonn residierte und hier die Sommer- Die Schachtanlage des Essener
monate verbrachte. Die höfische Gesellschaft und Zollvereins galt einst
ihre illustren Gäste, darunter Casanova, der 1760 als schönste Zeche der Welt.
ein Galadiner für die Damen der Kölner Schickeria
gab, genossen Luxus pur – die Architektur des west-
fälischen Stararchitekten Schlaun ließ der Bauherr
vom Münchner Hofbaumeister Cuvilliers ausschmü-
cken, der bayerische, französische und italienische
Rokoko-Künstler für die Ausführung des verschwen-
derischen Interieurdesigns zu gewinnen wusste. Sen-
sationell geriet das berühmte Treppenhaus Balthasar
Neumanns, der das Emporschreiten zum Gardensaal
als Aufstieg in höhere Sphären von Adel und Ruhm
inszenierte. Bis 1996 nutzte der Bundespräsident den
Effekt grandioser Erhöhung für festliche Empfänge
Königlicher Sitz:
von Staatsgästen.
Im Aachener Dom wurden im
Der Kreis der NRW-Kulturerbestätten schließt
Lauf von 600 Jahren
sich in Essen – mit einem gewaltigen Paukenschlag.
30 deutsche Könige gekrönt.
An die Stelle von Gold, Silber und Marmor rücken
Kohle und Stahl, die Erinnerung an Puder und Par-
füm vertreibt der Schweiß der Kumpel: 2001 eroberte
sich die 1986 stillgelegte Zeche Zollverein den über-
raschenden und doch verdienten Ehrenplatz unter
den prämierten Kulturdenkmälern. Dass auch die
Schwerindustrie mit Schmutz und Maloche Denkmal-
schutz und -verehrung beanspruchen darf, erfährt
der Besucher auf dem Museumspfad durch das Gelän-
de mit den Gebäuden der ehemaligen Sieberei und
FOTOS: HANS-J. AUBERT/UNESCO; H. & D. ZIELSKE/LOOK
der Kohlenwäsche, vorbei an gigantischen Maschi-
nen und Transportbändern, die von der Gewinnung
und Aufbereitung des schwarzen Goldes erzählen. Die
Schachtanlage unter dem imposanten Förderturm
galt einst als modernste und „schönste Zeche der
Welt“. Das von Sir Norman Foster zu einem Design-
zentrum ausgebaute Kesselhaus und weitere Bauten Attraktionen im
mit vielfältigen kulturellen Nutzungen bilden inzwi- Über uss: Mit 7000 Quadrat-
schen das Herzstück des Projekts Kulturhauptstadt, metern verfügt der Kölner Dom
mit dem sich die Ruhrmetropole Essen unverwechsel- über die weltweit
bar der europäischen Öffentlichkeit präsentiert. größte Kirchenfassade.
13. 14 KUNST VERLAGSSONDERVERÖFFENTLICHUNG
Alexander Gursky und Julia Stoschek
gehen neue Wege: Der Fotograf schafft Monumen-
tales, seine Lebensgefährtin sammelt Mediales
Gursky der Große: Dank revolutionärer TEXT Wolf Schön
Vergrößungstechnik bringen es seine Bilder auf
Kantenlängen von mehreren Metern.
E
DER KÜNSTLER
s ist schwierig, noch nie gesehene Fotos zu
machen, schon wegen der Milliarden Aufnah-
men, die täglich auf Speicherkarten gesammelt
werden. Das Massenmedium überschwemmt auch
die denkbar kleinsten Nischen mit seiner unaufhalt-
samen Bilderflut. Der Fotokünstler Andreas Gursky
hat das Kunststück geschafft, unverwechselbar zu Künstler ficht solches Bedenken nicht an: „Wirklich- Noch unter dem Einfluss der Lehrer stehen
fotografieren und dem Betrachter ebenso spektaku- keit ist überhaupt nur darzustellen, indem man sie Gurskys Bildnisse von Pförtnern in den Zentralen
läre wie neuartige Ansichten der Welt vor Augen zu konstruiert.“ nordrhein-westfälischer Konzerne. Auf dem Weg zu
führen. Den Weltruhm begründete das Fotobild „99 eigener Weltsicht nahm die Distanz zu den gewähl-
Sein Erfolgsrezept funktioniert nach einem Cent“, Porträt eines amerikanischen Ramsch-Dis- ten Sujets kontinuierlich zu. Die Landschaften und
bewährten Muster, das vom mythischen Riesen Goli- counters mit seinen Endlosregalen, die mit Süßig- urbanen Räume, die der Globetrotter in allen Welt-
ath bis zum Höhenrausch der Wolkenkratzer ver- keiten und buntem Plastikkitsch zum Einheitspreis gegenden erkundete, wurden größer, die Menschen
schleißresistent ist – durch schiere Größe, überwälti- gefüllt sind. Der unnachahmlich cool organisisierte immer kleiner. Es gab keine Gesichter, keine Einzel-
gende Dimensionen. Gurskys suggestive Fotoarbeiten Alptraum vom Konsumparadies, gegen den sich die schicksale mit zentralen Aktionen mehr: Gurskys e-
bringen es dank revolutionärer Vergrößerungstech- Reklameikonen der US-Popmaler wie heimelige Idyl- ma wurde der globalisierte Massenmensch, geformt
niken auf Kantenlängen von mehreren Metern und len ausnehmen, entzückte die Auktionsschickeria der- zu Ornamenten, anvisiert wie durch ein umgekehrtes
können in Museen und Privatkollektionen endlich maßen, dass für das Opus bei Sotheby‘s im Mai 2006 Fernrohr. Um den Überblick zu gewinnen, ließ er sich
mit Gemälden im XXL-Format konkurrieren. der Weltrekordpreis von 2,25 Millionen Dollar bewil- mit seiner Kamera von einem Kran in den Himmel
Vier Meter lang und fast zwei Meter hoch ist ligt wurde. Gursky wurde zum Superstar der globalen hieven, gern benutzt er den Helikopter: „Manchmal
das berühmte Bild „Montparnasse“, der Blick auf Le Fotokunst, Sammler und Museumskuratoren began- habe ich das Gefühl, mit dem Blick eines außerplane-
Corbusiers gigantische Wohnmaschine in Paris. Die nen, dem „German über-photographer“, wie ihn ein tarischen Wesens durch den Sucher zu schauen.“
Architektur erstreckt sich über die gesamte Bildflä- englisches Kunstmagazin nannte, die teuren Großfor- So glaubt auch das Publikum wie im freien Raum
che und erweckt mit ihrer monotonen Rasterstruktur mate aus den Händen zu reißen. Kluge Produktions- vor seinen Motiven zu schweben. Staunend wird es
den Eindruck einer beinahe abstrakten Kompositi- strategie sorgt dafür, dass die Objekte der Begierde Zeuge, zu welchen Schauspielen das Menschenge-
on. Inhaltlich scheint die Aussage auf die Eintönigkeit Raritäten bleiben: Der gierige Markt muss sich mit wimmel fähig ist. Auf dem Panorama-Tableau „Love
und Uniformität heutiger Großstadtexistenzen zu wenigen Arbeiten pro Jahr bescheiden, die Abzüge der Parade“ tummeln sich Tausende tanzender Jugend-
zielen. Wenn man sich jedoch dem vermenschlichten Motive sind auf sechs Exemplare begrenzt. licher. Kollektive Hysterie beobachtet der Kamera-
Bienenstock nähert, füllen sich die aneinandergereih- Herkunft, Ausbildung und Karriere weisen den mann in Börsensälen, greifbar wird dagegen die Stil-
ten Waben mit Leben. Vorhänge sind zurückgezogen, Erfolgskünstler mit Ausstellungen im New Yorker le der Lernenden in der Stockholmer Bibliothek. Eine
in den Wohnzellen agieren Personen, führen Männer, Museum of Modern Art, im Pariser Centre Georges Fabrik mit menschlichen Arbeitsameisen in Vietnam,
Frauen und Kinder die nach dem Zufallsprinzip insze- Pompidou oder in der Londoner Tate Modern als wilde Popkonzerte und Fußballstadien, der Industrie-
nierten Komödien des Alltags auf. Profi aus. Gurskys Weg begann 1955 in Leipzig, wo hafen von Salerno, die Kolossalgemälde aus Unterta-
Die Doppelschau von Totale und Detail gelingt sein Vater Werbefotograf war. Nach der Flucht in den nenmaterial für den nordkoreanischen Diktator Kim
FOTOS: STEFAN M. PRAGER/IMAGO
durch die Schärfe der Megafotografie, die durch einen Westen ließ sich die Familie im Ruhrgebiet nieder, wo Jong Il – alles Choreografien und Dekorationen, in
einzigen Druck auf den Auslöser gar nicht zustan- der Fotografiestudent ab 1978 überragende Lehrer denen die Menschheit einem Heer von Statisten Platz
de kommen könnte. Das monumentale Werk ist fand: an der Folkwangschule in Essen Otto Steinert, macht. Die Botschaft des Fotografen ist schmerzlich
durch die Kombination mehrerer Einzelaufnahmen den Begründer der „Subjektiven Fotografie“, danach und faszinierend zugleich. Als Andreas Gursky in Gos-
am Computer entstanden. Verträgt sich der objek- an der Düsseldorfer Akademie Hilla und Bernd Becher, lar den Kaiserring empfing, war der Begründung der
tive Dokumentarstil mit manipulatorischen Eingrif- die auf ihren asketischen Lichtbildern Industriekon- Jury zu entnehmen, seine Bilder „sprengen die ver-
fen, denen das gesamte Werk unterworfen ist? Den struktionen in bizarre Skulpturen verwandelten. engte Perspektive des individuellen Betrachters“.
14. K U LT U R H A U P T S T A D T 2 0 1 0 15
UND DIE SAMMLERIN
eue-Medien-Kunst? Selbst aufgeschlossene mit unwiderstehlicher Macht die ererbten musischen ßen Reiz auf mich ausübt.“ Das ist wörtlich gemeint.
N Kunstliebhaber mit forschem Blick nach vorn
wandten sich da mit Grauen ab. Die freiwil-
lige Dunkelhaft hartgesottener Medienfreaks, die
Gene gemeldet hatten. Eine Großmutter war Schau-
spielerin gewesen, ein Urgroßvater hatte es bis zum
Generalmusikdirektor gebracht.
Die Hausherrin wohnt in ihrem Medienpalast, wo die
Berliner Architekten Kuehn und Malvezzi das Dach-
geschoss zu einem weiträumigen Wohnsalon mit rie-
vor flimmernden Monitoren rudelweise auf Schaum- Da fasste Julia Stoschek den Entschluss, ein eige- sigen Atelierfenstern ausgebaut haben. Auf der Dach-
stoffmatten lagerten, war nun wirklich nicht jeder- nes Kunstimperium aufzubauen, und zwar auf schwie- terrasse des 500 Quadratmeter großen Lofts steht
manns Sache. Auch nicht die knackend rotierenden rigem Gelände, wo Artefakte nicht im Vorbeischlen- ein eleganter Glaspavillon des amerikanischen Docu-
Diakarussells, mit denen sich progressive Fotokünst- dern konsumiert werden können. Die Künstler, die sie menta-Künstlers Dan Graham, der in einem Fest aus
ler zu profilieren suchten. zu elektrisieren begannen, fordern von ihrem Publi- Licht das unendliche Firmament reflektiert.
Spätestens seit es Julia Stoschek gibt, hat sich die kum Zeit und Konzentration. Bisweilen wird aus der In den darunter liegenden Hauptgeschossen mit
düstere Unterwelt der schönen Künste in ein strah- Teilhabe an der anderen Art des Sehens eine Gedulds- angeschlossenem Kinosaal präsentiert die Sammle-
lendes Paradies verwandelt. Vier Jahre war das neue probe – wie bei der Videoarbeit des Amerikaners Paul rin in wechselnden Inszenierungen ihre Kollektion
Jahrtausend alt, als die schöne junge Fee aus dem Pfeiffer, der in Echtzeit Wespen beim Bau und der aus Videoarbeiten, Fotografien, Filmen und Instal-
oberfränkischen Coburg in der Düsseldorfer Altstadt Pflege ihres Nestes zeigt. Volle drei Monate dauert es, lationen, wobei ihr Ansatz ist, persönliche Vorlieben
mit ihrem Zauberstab ein historisches Fabrikgebäu- bis das Band den Projektor durchlaufen hat. mit einem repräsentativen Überblick über das medi-
de berührte. 2007 war das Wunderwerk perfekt, war Nur weist der Werktitel „Empire“ in eine ganz ale Genre zu verschmelzen. Die Pionierin inmitten
aus dem denkmalgeschützten Gemäuer ein hyper- andere Richtung. Denn immerhin wird hier von der einer quicklebendigen Avantgarde vergewissert sich
modernes Gehäuse für die technikgesteuerte Kunst bienenfleißigen Natur ein Reich in einer Zeitspan- der Klassiker des Mediums, zu denen Gordon Matta-
von morgen geworden. Wenn in den kunstvoll ver- ne errichtet, die rekordverdächtig erscheint. Ein Clark, Chris Burden oder Marina Abramovic zählen.
schachtelten Räumen mit faszinierenden Ausblicken vergleichbares Tempo legte jedenfalls die rasante Hauptthema der zweiten Schau aus den eigenen
durch großzügig geöffnete Etagen Hightech-Beamer Porsche-Fahrerin vor, die mit 33 Jahren zur promi- Sammlungsbeständen ist der Aspekt der Körperlich-
flimmerfreie Filmbilder im XXL-Format produzie- nentesten deutschen Nachwuchssammlerin aufge- keit, mit der vor allem Künstler der Body-Art und der
ren oder Mehrkanalprojektionen für hochkomplexe stiegen ist und als neuer Fixstern am Himmel des Performance-Kunst experimentieren. Unter der Über-
Schauspielcollagen sorgen, glaubt sich der Besucher in Kunstbetriebs strahlt. Mehr als 400 Arbeiten hat sie schrift „Number Two: Fragile“ geht es um Selbstinsze-
futuristisches Neuland versetzt, das die Erinnerung inzwischen zusammengetragen. Seit 2006 sitzt der nierungen, Schmerz, Zerbrechlichkeit und Transfor-
an traditionelle Gemäldegalerien wie auf Knopfdruck Shooting Star in der Ankaufskommission der Medien- mationen der Gestalt. Prominentester Akteur ist der
verblassen lässt. abteilung des New Yorker Museum of Modern Art, Szene-Star Bruce Nauman, der in seinem Video „Art-
FOTOS: MICHAEL DANNENMANN/PHOTOSELECTION
Dennoch gleicht die Entstehungsgeschichte des unterstützt mit Stipendien junge Medienkünstler und Make-Up“ in einem minutiösen Prozess seinen Kör-
einzigartigen Privatmuseums für Video- und Medi- finanziert Ausstellungen sowie Produktionskosten. In per weiß, pink, grün und schwarz einfärbt, um ihn vor
enkunst einer Erzählung aus dem Märchenbuch, die Münster bekam die versierte Ausstellungsmacherin der frontal ausgerichteten Kamera durch den Akt der
auf wunderbare Weise wahr geworden ist. Mit einem eine Professur für kuratorische Praxis. „Ich möchte Verfremdung in eine Skulptur zu verwandeln.
goldenen Löffel wurde das Glückskind Julia geboren, die Kunst meiner Generation dokumentieren“, sagt Samstags von 11 bis 16 Uhr sind die eigenwil-
Tochter einer Großindustriellen aus einer Unter- Julia Stoschek. Es ist die Fernseh-, Video- und Inter- ligen Spektakel um die menschliche Existenz nach
nehmerdynastie, die ein Vermögen mit der Herstel- net-Generation, mit der sie sich identifizieren kann. Voranmeldung (0221/175 21 66) öffentlich in der
lung von Autoelementen gemacht hat. Im Alter von Und auf die Frage „Warum sammeln Sie?“ ant- Julia Stoschek Collection an der Schanzenstraße zu
27 Jahren verließ die studierte Jungmanagerin den wortete sie in einem Interview: „Entdeckergeist, und besichtigen. Der Eintritt ist frei.
weltweit vernetzten Familienbetrieb, wohl weil sich weil die Möglichkeit, mit Kunst zu leben, einen gro- Internet: www.julia-stoschek-collection.net
Modernes Märchen: Julia Stoschek hat
in ihrem Privatmuseum einzigartige Video- und
Medienkunst zusammengetragen.