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Hurrelmann gesellschaft gesundheit pädagogik
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Machen moderne Gesellschaften krank?
Herausforderungen für Pädagogik, Prävention und Therapie
Klaus Hurrelmann
Der sozialisationstheoretische Ansatz
Nach der Sozialisationstheorie ergibt sich die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen
aus einem Wechselspiel von Anlage und Umwelt. Es kann davon ausgegangen werden, dass
etwa die Hälfte der Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltenseigenschaften eines Kindes auf
seine genetische Ausstattung, die andere Hälfte auf Umweltbedingungen zurückzuführen ist.
Die Umwelt wirkt schon in frühen Stadien der Entwicklung auf die weitere Ausformung des
genetischen Potentials ein. Umgekehrt entscheidet das genetische Potential darüber, in
welcher Weise die Umwelt aufgenommen und angeeignet wird. Die soziale und physische
Umwelt ist auch für das Anregungspotential verantwortlich, das die jeweilige Entfaltung und
die weitere Richtung der genetischen Disposition bestimmt.
„Sozialisation“ kann als Persönlichkeitsentwicklung im Sinne eines lebenslang anhaltenden
dynamischen Prozesses der Verarbeitung der inneren Realität von körperlichen und
psychischen Impulsen und der äußeren Realität von sozialen und physischen
(Umwelt-)Impulsen verstanden werden. Der Prozess der Auseinandersetzung mit der inneren
und äußeren Realität wird als „produktiv“ im Sinne von „prozesshaft“ konzipiert, um zum
Ausdruck zu bringen, dass es sich hierbei nicht um eine passive Informationsverarbeitung,
sondern um eine dynamische und aktive Tätigkeit handelt, auch wenn sie nicht immer im
Bewusstsein präsent ist.
Sozialisation ist also die ständige „Arbeit“ an der eigenen Persönlichkeit. Die
„Selbstorganisation der Persönlichkeit“ ist in den heutigen offenen und dynamischen
Gesellschaften die Voraussetzung dafür, körperlich, psychisch und sozial immer auf der
Höhe der jeweiligen Anforderungen zu sein. Persönlichkeitsentwicklung ist kein Prozess, der
nach vorgefertigten Gesetzmäßigkeiten abläuft, sondern er hängt vielmehr von einem gut
strukturierten Wechselspiel zwischen inneren und äußeren Ressourcen der Entwicklung ab.
Dazu gehört auch die aktiv hergestellte körperliche und psychische Fitness und
Widerstandsfähigkeit gegen Risiken und Beeinträchtigungen, ebenso natürlich wie als
Grundvoraussetzung die „gesunde“ soziale und physische Umwelt.
Störungen der Gesundheit sind in diesem sozialisationstheoretischen Ansatz bei Kindern und
Jugendlichen ebenso wie älteren Menschen im Kern Überbeanspruchungs-Erscheinungen.
Umgangssprachlich können wir von "Stress-Symptomen" sprechen, die eintreten, wenn die
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Bewältigung der inneren und äußeren Anforderungen nicht gelingt. Zu Gesundheitsstörungen
und sich daraus ergebenden Krankheiten kommt es, wenn der Versuch von Kindern und
Jugendlichen, sich körperlich und seelisch mit belastenden Situationen in Familie, Schule,
Freizeit und öffentlichem Leben auseinanderzusetzen, nicht zu einem befriedigenden
Ergebnis führt. Gelingt die Bewältigung der Herausforderungen nicht, werden ihre
physiologischen und psychischen Regelkreise überstrapaziert und es kommt zu unprodukti-
ven Verläufen des weiteren Gesundheits- und Persönlichkeitsprozesses kommen.
Das sozialisationstheoretische Konzept von Gesundheit
In den letzten drei Jahrzehnten zeichnet sich über die verschiedenen wissenschaftlichen
Disziplinen und die Praxis der medizinischen, psychologischen und pädagogischen Berufe
ein Konsens über die Begriffe Gesundheit und Krankheit ab, der durch dieses
interdisziplinäre Denken geprägt ist. Sie werden auf einem Kontinuum angesiedelt, sind also
keine sich ausschließenden Zustände. Jeder Mensch bewegt sich während seines ganzen
Lebens auf diesem Kontinuum und ist ständig bemüht, eine möglichst gute Bilanz zu
erzielen. Gesundheitspolitisches, pädagogisches und therapeutisches Ziel ist es, Menschen
aller Altersgruppen und aller Lebenslagen sowohl im körperlichen als auch im psychischen
und sozialen Bereich so weit am Pol der Gesundheit zu halten wie möglich und zu
vermeiden, dass sie in einem oder in allen dieser drei Bereiche zum Pol "Krankheit"
abrutschen.
Gesundheit wird in dieser Vorstellung, die aus den modernen „salutogenetisch“ orientierten
Gesundheitswissenschaften stammt, als ein Balancezustand verstanden. Gesundheit ist dann
gegeben ist, wenn eine Person die fundamentalen Regelkreise von Körper, Psyche, sozialer
Umwelt und ökologischer Lebenswelt in Übereinstimmung miteinander bringen kann. Dann
befinden sich die physischen und psychischen Ressourcen in Einklang mit den äußeren
Lebensbedingungen. Die Gesundheit ist eingeschränkt oder beeinträchtigt, wenn sich in
einem oder in mehreren dieser Bereiche Anforderungen ergeben, die von der Person nicht
erfüllt und nicht bewältigt werden können. Die Beeinträchtigung kann sich in Symptomen der
sozialen, psychischen und somatischen Auffälligkeit äußern, also zum Beispiel in
Kriminalität, Depression oder Rückenschmerzen.
Bewältigung von alterstypischen Entwicklungsaufgaben
Gesundheit ist ein Balancezustand, den jeder Mensch zu jedem lebensgeschichtlichen
Zeitpunkt immer wieder erneut herzustellen gewillt ist. Die sozialen, wirtschaftlichen,
ökologischen und kulturellen Lebensbedingungen bilden dabei den Rahmen für die
Entwicklungsmöglichkeiten von Gesundheit. Sie definieren zusammen mit den körperlichen
und psychischen Anforderungen der „inneren Realität“ für jeden Lebensabschnitt die
„Entwicklungsaufgaben, die es zu bewältigen gilt.
Die Sozialisationstheorie lenkt die Aufmerksamkeit also sowohl auf die Frage, wie die
inneren körperlichen und psychischen Ressourcen als auch die äußeren sozialen und
physischen Umweltbedingungen beschaffen sein müssen, um die kindlichen Wahrnehmungs-
und Entwicklungsprozesse so reichhaltig wie möglich zu gestalten. Die Selbstorganisation
der Persönlichkeit kann nur gelingen, wenn das Kind aus der Umwelt diejenigen Anregungen
und Herausforderungen aufnehmen kann, die den inneren Anforderungen entsprechen.
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Selbstorganisation setzt die Kompetenz voraus, das Verarbeitungsprogramm für die
Wahrnehmung und Aneignung der inneren und äußeren Realität eigentätig zu entwickeln und
an die gegebenen Voraussetzungen anzupassen.
Die Umstrukturierung der Lebenslauf-„Architektur“
Typisch für moderne Gesellschaften sind die Veränderungen im Lebenslauf. Die Struktur des
menschlichen Lebenslaufs hat sich im vergangenen Jahrhundert durch wirtschaftliche,
kulturelle und soziale Faktoren stark verändert. Auffällig ist die Verlängerung der
Lebensspanne in allen hoch entwickelten Gesellschaften, die zwischen 1800 und 2000 zu
einer veritablen Verdoppelung der durchschnittlichen Lebenszeit auf heute fast schon 80
Jahre geführt hat. Durch die Verbesserung der Lebens- und Ernährungsbedingungen und der
Leistungen vor allem der Bildungs-, Gesundheits-, Wohlfahrts- und Versicherungssysteme ist
es einem großen Teil der Bevölkerung möglich geworden, bei relativ guter Lebensqualität ein
Alter zu erreichen, das vor vier oder fünf Generationen nur einer kleinen Minderheit
vorbehalten war (Backes und Clemens 2003). Durch die hiermit einhergehende
Umstrukturierung des Lebenslaufs ist es aber gleichzeitig zu neuen Formen von
Gesundheitsstörungen gekommen, die Auslöser von chronischen Krankheiten sind.
Besonders sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen, deren Anteil ansteigt, sind
hiervon betroffen.
Die Verlängerung des Lebens hat zugleich zu einer gegenüber früheren Generationen
stärkeren Untergliederung in einzelne Lebensphasen geführt. In der Lebens- und
Biographieforschung wird dieses Phänomen als „Entstrukturierung“ oder „Umstrukturierung“
des Lebenslaufes bezeichnet (Kohli 1991). Die„Architektur“ des Lebenslaufes ist
offensichtlich im historischen Verlauf vielfältiger und fragiler geworden, wodurch sich an die
individuelle Gestaltung der einzelnen Phasen der Lebensspanne und damit an die
Selbstorganisation des Lebenslaufes erheblich höhere Anforderungen stellen als in früheren
Generationen (Hurrelmann 2002).
Der Lebenslauf ist heute anders strukturiert als noch vor zwei oder drei Generationen. Die
symbolischen Markierungssteine werden unklar, die einem Menschen jeweils anzeigen, in
welchem Abschnitt seines Lebenslaufes er sich gerade befindet. Hierdurch wird ein hohes
Ausmaß von Unsicherheit produziert, das durch eigene Setzungen bewältigt werden muss
(Bonß und Zinn 2005). Die neue Strukturierung der Lebenslauf-Architektur erscheint vielen
Menschen, vor allem denen in ökonomisch und sozial benachteiligten Lebenslagen, als eine
Entstrukturierung und Deinstitutionalisierung, die sie ohne Hilfe und Unterstützung durch
traditionelle und vertraute gesellschaftliche Vorgaben lässt. Die Umstrukturierung ist
potenziell eine Möglichkeit für die selbstbestimmte Gestaltung von Lebensbedingungen und
Verhaltensweisen einschließlich des Gesundheitsverhaltens.
Die überlieferten Sinngebungs- und Deutungsmuster für die Gestaltung des Lebenslaufes sind
zu einem großen Teil nicht mehr tragfähig. Damit sind zugleich kreative Neuaufbrüche
möglich. Mit dieser Situation kommen diejenigen Menschen am besten zurecht, die über
ausreichende finanzielle, soziale und kulturelle Ressourcen, also materielles und
immaterielles „Kapital“, vor allem auch Bildungskapital verfügen, um ihr Leben
selbstständig zu gestalten. Diese Menschen verfügen zugleich auch über die besten
gesundheitlichen Voraussetzungen. Je ungünstiger aber die materiellen Ressourcen, der
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Bildungsgrad und die soziale Integration sind, desto stärker häufen sich die Risikofaktoren
für die Gesundheit, und zwar in allen Lebensabschnitten.
Die veränderten Lebensanforderungen prägen das Profil von Gesundheitsstörungen
Jeder Übergang im Lebenslauf stellt eine sensible Phase der Umorganisation der
Lebensgestaltung dar, in der alle zur Verfügung stehenden Bewältigungskompetenzen
aktiviert werden müssen. Jeder Übergang ist in dieser Hinsicht ein Risiko, dass die zur
Verfügung stehenden Kapazitäten für die Auseinandersetzung mit den Entwicklungsaufgaben
nicht ausreichen, um den tatsächlichen Anforderungen gerecht zu werden. Solche
Risikokonstellationen sind besonders dann gegeben, wenn die körperliche und psychische
Konstitution beeinträchtigt ist, wenn keine ausreichenden sozialen und materiellen
Ressourcen für die Unterstützung der individuellen Bewältigungsarbeit zur Verfügung
gestellt werden und wenn der individuelle Grad der Bildung niedrig ist. Weil die Übergänge
von einer Lebensphase zur anderen heute offen und unstrukturiert sind, also nur wenige
festgefügte Vorgaben und erwartbare Abläufe typisch sind, besteht die Gefahr, dass die
zeitliche und soziale „Taktung“ des Lebenslaufs nicht im Einklang mit den individuell
realisierbaren Möglichkeiten für die Gestaltung des Lebenslaufs steht und in der Folge die
Gesundheits-Krankheits-Balance Einbrüche erleidet.
Die zentrale These dieses Beitrages ist, dass sich durch die Umstrukturierung des Lebenslaufs
neue Profile und Ausprägungen von gesundheitlichen Belastungen ergeben. Im Unterschied
zur Zeit vor drei oder vier Generationen ist Gesundheit heute kein vorgezeichnetes Schicksal
mehr, sondern stark vom selbstgesteuerten Gesundheitsverhalten eines Individuums abhängig
– insbesondere von der Art und Weise, wie mit den Lebensherausforderungen, also den
Entwicklungsaufgaben, psychisch und sozial umgegangen wird. Die Lebensverhältnisse
bilden als „Gesundheitsverhältnisse“ dabei den Rahmen für das Gesundheitsverhalten
(Hurrelmann 2006). Die große Mehrheit der Bevölkerung kann dieser Entwicklung Vorteile
abgewinnen und sie in eine Verbesserung der Gesundheitsbilanz verwandeln. Eine
wachsende Minderheit aber ist durch diese Ausgangkonstellation überfordert und erlebt
neuartige gesundheitliche Beeinträchtigungen.
Der veränderte Aufbau und die flexible „Architektur“ des Lebenslaufs bringen zwangsläufig
Unsicherheiten und Ungewissheiten der Lebensgestaltung mit sich. Diese Ausgangslage führt
dazu, dass vermehrt nicht nur innerorganismische Ursachen für Störungen von
Körperfunktionen vorherrschen, sondern immer mehr solche mit einer psychischen, einer
sozialen und einer ökologischen Komponente. Gesundheitsstörungen entstehen jeweils durch
die Disharmonie zwischen dem Ausgleich der Anforderungen zwischen einem der vier
beteiligten „Systeme“ Körper, Psyche, soziale Umwelt und dingliche Umwelt. Ist der
Ausgleich zwischen dem körperlichen (somatischen) und dem psychischen System nicht
gelungen, dann können wir von „psychosomatischen“ Störungen sprechen. Bei Disharmonien
zwischen dem Körpersystem und dem sozialen und ökologischen System können
entsprechend „soziosomatische“ und „ökosomatische“ Störungen auftreten (Hurrelmann
2006, S. 129). Die Breite und Vielfalt solcher Störungen hat in den letzten Jahrzehnten
zugenommen. Sie können Vorläufer und Auslöser für chronische Erkrankungen sein.
Gesundheitliche Auswirkungen im Kindheits- und Jugendalter
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Schon im Kindesalter zeigt sich, dass ein großer Anteil der gesundheitlichen
Beeinträchtigungen neben den körperimmanenten Fehlfunktionen von physiologischen
Abläufen aus Schwierigkeiten der Koordination von psychischen, sozialen und ökologischen
Ressourcen mit somatischen Abläufen entsteht. Bei Kindern hat sich die gesundheitliche
Bilanz bei den überwiegend körperlich basierten Krankheiten in den zurückliegenden
Generationen deutlich verbessert. Infektionskrankheiten sind heute weitgehend
zurückgedrängt, chronische körperliche Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Krankheiten,
Krebskrankheiten und Atemwegserkrankungen sind nur wenig verbreitet. Auffällig ist aber
eine starke Ausprägung von Gesundheitsstörungen, die auf eine unzureichende Balance
zwischen den körperlichen, psychischen, sozialen und physischen Umweltbedingungen
zurückzuführen sind.
Die erste neuralgische Zone besteht in der Überforderung durch psychische und soziale
Spannungen und Konflikte. Bei Jugendlichen sind psychosomatische Störungen weit
verbreitet, die auf eine unzureichende Bewältigung der zentralen Entwicklungsaufgaben
„Annahme des eigenen Körpers“ und „Festigung der Grundstrukturen der Persönlichkeit“
zurückzuführen sind. Das Ergebnis ist ein hoher Entwicklungsdruck, weil alters- und
entwicklungsangemessene Bewältigungsschritte ausbleiben. Der Entwicklungsdruck führt zu
unproduktiven Auswegen bei der Auseinandersetzung mit den Entwicklungsaufgaben. Diese
Auswege können in Aggression und Gewalt, regressiven Verhaltensweisen bis hin zu
Depressionen oder evasiv-ausweichenden Verhaltensweisen vom Typ des Konsums von
psychoaktiven Substanzen und anderen Suchtmustern bestehen. Alle diese Formen von
Gesundheitsstörungen haben bei Jugendlichen in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Ein
Zusammenhang mit den Belastungen, die aus dem unstrukturierten Übergang zwischen der
Kindheits- und der Jugendphase und der Ungewissheit der Anforderungen der
Lebensbedingungen innerhalb der Jugendphase entstehen, ist wahrscheinlich.
Eine zweite neuralgische Zone ist die Beeinträchtigung des Immunsystems. Diese hängen mit
gravierenden Defiziten der Widerstandsfähigkeit des Körpers gegenüber der natürlichen und
kulturell gestalteten dinglichen Umwelt zusammen. Vieles deutet darauf hin, dass durch eine
übertriebene Abschirmung von Reizen aus der Umwelt das Immunsystem nicht ausreichend
trainiert wird und sich teilweise selbst attackiert. Insgesamt haben die Störungen des
allergischen Formenkreises in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen, bis hin zu den
schweren und lebensbedrohlichen Krankheitsbildern Asthma Bronchiale und der
Hautkrankheit Neurodermitis.
Eine dritte Problematik sind unzureichende Ernährungs- und Bewegungsmuster. Die
Zunahme von Übergewicht ist eine auffällige Folgesymptomatik. Ihr liegt eine Störung der
Körperregulationsfähigkeit zugrunde. Hier ist ein Übermaß von Energie bei der
Ernährungsaufnahme bei einem Defizit an Energieverbrauch durch Aktivität und Bewegung
zu konstatieren. Der eklatante Bewegungsmangel scheint eine Schlüsselbedeutung zu haben,
der sowohl die Einschränkung von Sinnesanregungen als auch die mangelhafte
Herausforderung des Immunsystems und das gestörte Ernährungsverhalten erklärt und
möglicherweise auch für das unzureichende Bewältigungsverhalten mit den destruktiven
Ausprägungen von aggressiven, regressiven und evasiven Störungen mitverantwortlich ist
(Richter, Hurrelmann, Klocke, Melzer und Ravens-Sieberer 2008).
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Weiterhin fallen unzureichende Anregungen aller Sinne, Teilleistungsstörungen und
Aufmerksamkeitsdefizite auf. Alle erwähnten Gesundheitsstörungen erweisen sich als
Einfallstore für die Entstehung chronischer Krankheiten. Die psycho-, sozio- und
ökosomatischen Störungen sind Vorläufer für diese Erkrankungen. Diese nehmen ganz
offensichtlich in vielen Fällen ihren Ausgangspunkt schon im Kindesalter und beim
Übergang in die Jugendphase und beim weiteren Verlauf dieses Lebensabschnittes. Die
psycho-, sozio- und ökosomatischen Störungen können bei anhaltender
gesundheitsabträglicher Lebensweise zu gefährlichen und überdauernden chronischen
Krankheiten wie Adipositas, Diabetes, Angst- und Wahrnehmungsstörungen,
Konzentrationsmangel und Hyperaktivität führen. Die pathologischen Dynamiken sind nicht
unilinear, aber die Gefahr einer kontinuierlichen Verschlechterung, eines Aufschaukelns der
Häufung von Risikofaktoren, erweist sich als groß, besonders bei lang anhaltender sozialer
Benachteiligung (Kuh und Ben-Shlomo 1997).
Die ungleiche Verteilung nach sozialer Herkunft
Gesundheit und Krankheit sind in allen Gesellschaften ungleich verteilt. Menschen mit einer
niedrigen Bildung, beruflichen Stellung oder einem niedrigen Einkommen sterben in der
Regel früher und leiden in ihrem ohnehin schon kürzeren Leben auch häufiger an
gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Alfred Grotjahn, einer der Mitbegründer und
wichtigster deutscher Vertreter der Sozialhygiene, fasste bereits 1923 folgende Punkte zu
einer sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweise von Gesundheit und Krankheit zusammen:
Die sozialen Verhältnisse schaffen oder begünstigen die Krankheitsanlage; sie sind die
Träger der Krankheitsbedingungen; die sozialen Verhältnisse vermitteln die
Krankheitsursachen; die sozialen Verhältnisse beeinflussen den Krankheitsverlauf.
Mit jeder Stufe, die in der sozialen Hierarchie hinab gegangen wird, steigt auch das Risiko
frühzeitiger Sterblichkeit und der Häufigkeit von Krankheit und Behinderung stufenweise an.
Dieses Phänomen verweist damit auf Prozesse relativer sozialer Benachteiligung zwischen
den einzelnen sozialen Statusgruppen, auf Faktoren also, die den gesellschaftlichen
Differenzierungsprozess insgesamt - und nicht lediglich eine Teilgruppe - betreffen. Die
meisten Krankheiten weisen eine lange Entstehungsgeschichte auf. Eine beeinträchtigte
Gesundheit im Erwachsenalter ist häufig auf die gesundheitliche Lage im Kindesalter
zurückzuführen und damit auf Determinanten, die in früheren Lebensphasen auftraten.
Gesundheitliche Ungleichheiten können demnach auf eine Akkumulation von
benachteiligenden Lebensbedingungen über den Lebenslauf zurückgeführt werden.
Anforderungen an die Pädagogik: Entwicklungsaufgaben bewältigen helfen
Sind die Grundkompetenzen für die Selbstorganisation der Persönlichkeit im Kindesalter
gelegt, kann im Jugendalter hierauf aufgebaut werden. Die wichtigste Maxime der
pädagogischen Arbeit ist es, einen Jugendlichen bei der Bewältigung der
Entwicklungsaufgaben zu unterstützen. Für die Jugendphase werden in jeder Gesellschaft
spezifische Verhaltensmuster erwartet und bestimmte soziale Teilnahmechancen eingeräumt.
Die zentrale gesellschaftliche Funktion der Jugendphase liegt im allmähliche Erlangen der
Selbständigkeit und der Erwerb der Werte, Normen, Fähigkeiten und
Verhaltensmöglichkeiten, die für den kompetenten Eintritt in die beruflichen, rechtlichen,
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politischen, kulturellen, religiösen, familiären, partnerschaftlichen und sexuellen
Rollensegmente des Erwachsenenstatus notwendig sind.
Für Jugendliche mit einer unzureichenden Fähigkeit der Selbstorganisation der Persönlichkeit
und eingeschränkter Kapazität der Verarbeitung der inneren und äußeren
Realitätsanforderungen sind diese “Entwicklungsaufgaben” erheblich schwieriger zu
bewältigen als für andere. Deshalb liegt hier die Herausforderung der pädagogischen Arbeit.
Das gilt für alle zentralen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters: Die Bewältigung der
körperlichen Entwicklung, weil mit Beginn des Jugendalters in schnellen Schritten eine
Veränderung des Aussehens, des Körperbaus, der Bedürfnisstruktur und des
Hormonhaushaltes erfolgt. Jugendliche müssen lernen, mit diesen starken inneren
Veränderungen umzugehen und eine Beziehung zu ihrem sich wandelnden Körper
herzustellen. Sie müssen zugleich mit der nun ganz offensichtlich gewordenen eigenen
Geschlechtsrolle als Mädchen oder als Junge ins Reine kommen.
Die Ablösung von den Eltern und der Aufbau eigenständiger Beziehungen gehören dazu.
Schon im Alter zwischen 11 und 13 Jahren kommt es heute zu spürbaren psychischen
Ablösungen von den Eltern, denn die Pubertät hat sich im Lebensverlauf immer weiter nach
vorne verlagert. Durch die Vorverlagerung der Geschlechtsreife im Lebenslauf beginnt der
Eintritt in die Lebensphase Jugend so früh wie noch nie in der menschlichen
Lebensgeschichte. Alle Turbulenzen der körperlichen, psychischen und sozialen Entwicklung
werden von jungen Frauen und jungen Männern in einem so frühen Alter durchlebt, wie es
die Eltern und Großeltern kaum nachempfinden können. Die älteren Generationen müssen
das zwangsläufig als „Frühreife“ verstehen. Die Ursachen für die Vorverlagerung der
Pubertät im Lebenslauf dürften in einem Zusammenspiel von veränderten
Ernährungsgewohnheiten, chemischer Zusammensetzung der Nahrung, Impuls- und
Rhythmusbeschleunigungen des sozialen Lebens, intensiven Medieneinflüssen und
verstärktem Anregungsgehalt der alltäglichen Lebenseinflüsse liegen.
Zwar bleiben die Eltern in der jugendlichen Ablösungsphase wichtige Bezugspersonen für
die zukünftigen Wertorientierungen und Lebensplanungen, besonders im schulischen und
beruflichen Bereich. Aber sie verlieren ihre zentrale Rolle als Orientierungspersonen im
Alltag, für die Ausrichtung von Lebensstil und Freizeitaktivitäten. Die Gleichaltrigengruppe
wird im Jugendalter der zweite entscheidende Orientierungspunkt für die Ausrichtung der
eigenen Aktivitäten. Das Gelingen oder Nichtgelingen von Freundschaftsbeziehungen
gewinnt jetzt eine erhebliche Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung. Der eigentliche
Anspruch dieser Entwicklungsaufgabe liegt darin, Beziehungen und Bindungen aufzubauen,
die potentiell zur Gründung einer eigenen Familie führen.
Die schulische und berufliche Qualifikation sind zu nennen. Angesichts der angespannten
Arbeitsmarktlage werden heute hohe intellektuelle und soziale Engagements verlangt. Der
Druck der Eltern auf die Jugendlichen, hochwertige Schulausbildungen mit qualifizierenden
Abschlüssen zu absolvieren, ist heute sehr groß. Jugendliche mit Gesundheitsstörungen und
chronischen Krankheiten können in diesem Bereich Probleme bekommen, weil die intensive
Beschäftigung mit ihrer Krankheit Zeit und Kraft für die Bewältigung dieser
Entwicklungsaufgabe kostet.
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Schließlich spielen auch die Förderung des Umgangs mit der Freizeit- und Konsumwelt, der
Geldwirtschaft und den Medien und der eigenständigen Partizipation im sozialen Raum und
schrittweise auch an der politischen Gestaltung des Gemeinwesens eine wichtige Rolle. Alle
diese Entwicklungsaufgaben müssen aufeinander abgestimmt sein, und sie setzen ein festes
Bild vom Selbst und eine eindeutige personale und soziale Identität voraus. Kommt es hier zu
Defiziten, bilden sie die Einfallstore für Entwicklungs- und Gesundheitsstörungen.
Strategien für die Prävention
Für Strategien der Prävention ist es wichtig, nach dem gemeinsamen Nenner für die
erwähnten biologisch, psychologisch, ökologisch und soziologisch identifizierbaren
Störungsbilder der Gesundheit zu suchen und sich nicht in krankheits- und
symptombezogenen Einzelstrategien zu verzetteln. Dieser gemeinsame Nenner liegt im
Defizit der produktiven Realitätsverarbeitung, die sich im Einzelnen in der Nichtbewältigung
der alterstypischen Entwicklungsaufgaben im körperlichen, psychischen und sozialen Bereich
und den damit einhergehenden Schwächen der Selbstorganisation der Persönlichkeit
niederschlagen.
Zielen wir auf die oben genannten Fehlsteuerungen ab, können wir auch sagen: Die
Strategien sollten Bewegungs-, Ernährungs-, Entspannungs- und Sinnesförderung
miteinander verbinden. Der Bewegungsmangel dabei spielt nach den vorliegenden
Erkenntnissen aus Theorie und Praxis eine Schlüsselrolle. Denn Bewegung reguliert
einerseits die Nahrungszufuhr und den Kalorienverbrauch, sie trägt andererseits aber auch
zum Stressabbau und zur Abfuhr innerer Spannungen und Aggressionen bei. Angemessene
Bewegung ist so gesehen das wichtigste Medium der körperlichen und psychischen
Entwicklung, es ermöglicht die Erkundung und Aneignung der sozialen und physikalischen
Umwelt, sorgt für die Koordination aller Sinneserfahrungen und ist der Motor für die gesamte
körperliche, psychische und soziale Entwicklung eines Kindes.
Ein Beispiel ist die Gestaltung des Schullebens. Es gilt für alle Bereiche des Unterrichts
ebenso wie für das gesamte Schulleben, das Ernährungsangebot, die Einführung regelmäßiger
gemeinsamer Mahlzeiten in der Schule, die Durchführung von gesundheitsbezogenen
Projekttagen und -wochen, die Umstellung des Warenangebotes von Schulkiosken und das
Essensangebot von Mensen. Auch ein gesundheitsorientiertes Bewegungsangebot für die
Pausen ist als extracurriculare Maßnahme in allen Schulformen denkbar. Der Rhythmisierung
des Unterrichts kommt eine große Bedeutung zu. In vielen Schulen wird inzwischen der
Stundenplan mehrheitlich in Doppelstunden eingeteilt, da dies den Lernbedürfnissen der
Kinder erheblich entgegenkommt. Auch schulökologisch gibt es eine Reihe von Aspekten,
die Berücksichtigung finden sollten. Hierzu gehören bauliche Maßnahmen wie Anlage des
gesamten Gebäudekomplexes, Schallschutzisolierung und Anzahl sowie Größe der
Klassenräume ebenso wie die Gestaltung der Innen- und Außenräume (Schulhof,
Schulgarten, Versammlungsräume usw.). Die Kooperation von Schule, Jugendhilfe und
Elternhaus spielt eine immer wichtigere Rolle.
Strategien der Therapie
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Auch für medizinisch, psychologisch und physiologisch ausgerichtete Therapeuten sollten
diese pädagogisch-präventiven Ansätze Orientierung sein. Aus der hier vorgestellten
Bestandsaufnahme ergibt sich, dass eine interdisziplinäre Einbettung der therapeutischen
Ansätze wichtig ist. In vielen Fällen ist die psychiatrische, pädiatrische oder sonst wie
ausgerichtete medizinische Strategie nicht wie bisher die dominante, sondern sie sollte zu
mindestens gleichen Anteilen durch die psycho- und physiotherapeutische,
sozialpädagogische sowie sozialarbeiterische Ausrichtung ergänzt werden. Die
gleichberechtigte Kooperation der Professionen sollte gestärkt werden.
Therapeuten sollten gezielt auf Angebote für Kinder und Jugendliche setzen und damit zum
Ausdruck bringen, wie wichtig für sie die Abstimmung der körperlichen, psychischen,
sozialen und ökologischen Regelkreise der Gesundheitsbalance ist, die eingangs erwähnt
wurde. Der Dreh- und Angelpunkt auch der therapeutischen Aktivitäten sollte -- wie sich aus
den hier vorgestellten Überlegungen ergibt – in der Stärkung der Selbststeuerungsfähigkeit
der jungen Patientinnen und Patienten liegen. Alle Versuche einer Fremdsteuerung durch
Anordnung und Überlistung sind zum Misserfolg verurteilt. Das krankheitsbezogene
“Bewältigungsverhalten” von Kindern und Jugendlichen lässt sich nicht gegen ihre
Bedürfnisse und Wünsche beeinflussen. Vielmehr müssen Schritte zur Unterstützung des
Bewältigungsverhaltens an den genannten Entwicklungsaufgaben ansetzen und das ureigene
Bedürfnis nach erfolgreicher Bewältigung dieser Aufgaben aufnehmen.
Die Kinder und Jugendlichen sollten so weit wie möglich selbst an der
Krankheitsbewältigung beteiligt werden. Die betreuenden Therapeuten sollten die Rolle von
Expertinnen und Experten einnehmen, die Beratung und Informationsangebote vermitteln.
Gemeinsam mit dem Kind oder Jugendlichen sollte über die geeignete Therapie und das
realisierbare krankheitsspezifische Bewältigungsverhalten gesprochen werden. Im Ergebnis
sollte es sich um eine “Vereinbarung” zwischen Therapeut und Patient handeln. Kinder und
Jugendliche müssen als Sachverständige für ihre eigene Krankheit respektiert und in den
Betreuungs- und Behandlungsprozess einbezogen werden. Sie selbst sind es, die mit ihrer
Krankheit umgehen lernen müssen. Sie kennen ihren Körper und ihre Psyche am besten, sie
wissen über ihre Lebenssituation als einzige “von innen heraus” genau Bescheid. Der
Therapeut kann versuchen, sich in die Rolle des jungen Klienten hinein zu vertiefen, um
mitzudenken und einfühlsam den Beratungsprozess zu gestalten. Aber die eigentliche
Entscheidung darüber, welche Verhaltensweise der Krankheitsbewältigung realistisch ist oder
nicht, kann nur vom Klienten selbst getroffen werden, vom Kind und vom Jugendlichen.
Schließlich sollte die Therapie den Ausgangspunkt der Störungen und Krankheiten im Auge
behalten: Krank wird in modernen Gesellschaften derjenige, der nur eine geringe
Widerstandkraft und Bewältigungskompetenz aufweist, die komplex gewordenen
Entwicklungsaufgaben nicht selbstständig und souverän aufnehmen, interpretieren und aktiv
umsetzend bewältigen kann und deshalb die Regelkreise Körper, Psyche, Sozialwelt und
Ökowelt nicht in Harmonie bringen kann. Eine erfolgreiche Therapie unternimmt den
Versuch, diese Kapazitäten wiederherzustellen.