7. Inhalt
Vorwort und Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . ix
Prolog – Die Bolschewiki
und die Oktoberrevolution in Petrograd . . . . . . . . 1
Teil I: Die Niederlage der Gemäßigten
1. Die Regierungsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . 21
2. Von der Rebellion zur Staatsmacht . . . . . . . . . . 73
3. Das Kräftemessen wird vorbereitet . . . . . . . . . . 109
4. Das Schicksal der Konstituierenden Versammlung. . . 143
Teil II: Krieg oder Frieden?
5. Die Front gegen Lenin . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
6. »Das sozialistische Vaterland ist in Gefahr« . . . . . . 209
7. Der Schandfrieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
Teil III: Die Sowjetmacht am Rand des Abgrunds
8. Ein stürmischer Frühling . . . . . . . . . . . . . . . 285
9. Kein Ende der Krisen . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
10. Die Nordkommune und das Bündnis zwischen
Bolschewiki und Linken Sozialrevolutionären . . . . . 349
11. Der Selbstmord der Linken Sozialrevolutionäre . . . . 379
Teil IV: Revolutionsfeiern im Zeichen des Terrors
12. Wie es zum »Roten Terror« kam. . . . . . . . . . . . 419
13. Der Rote Terror in Petrograd . . . . . . . . . . . . . 443
14. Die Feiern zum »größten Ereignis der Weltgeschichte« 481
15. Der Preis des Überlebens . . . . . . . . . . . . . . . 525
Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553
Auswahl-Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615
Sach- und Personen-Register . . . . . . . . . . . . . . 637
9. Vorwort und
Danksagung
Im Oktober 1917 ergriffen die Bolschewiki in Russland die Macht.
Das Regime, das sie errichteten und das sich den weltweiten Sieg
des Kommunismus auf die Fahnen geschrieben hatte, drückte
der russischen Politik und Gesellschaft mehr als 75 Jahre seinen
Stempel auf. Mit gutem Grund lässt sich behaupten, dass dies
die Weltgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts nachhaltiger
geprägt hat als irgendein anderes Ereignis.
Meine Aufmerksamkeit als Forscher und Publizist galt bislang
vor allem der Oktoberrevolution von 1917 und deren unmittel-
baren Folgen in Petrograd, der Stadt, die heute St. Petersburg
heißt und damals die Hauptstadt erst des zaristischen und dann
des revolutionären Russland war. In meinem ersten Buch, Pre
lude to Revolution: The Petrograd Bolsheviks and the July Uprising
(Indiana University Press, 1968), ging ich den Ursachen, der Ent-
wicklung und den Ergebnissen des gescheiterten Juli-Aufstands
in Petrograd auf den Grund. Zum einen wollte ich so die tiefe-
ren Ursachen der allgemeinen Unzufriedenheit mit der liberal-
gemäßigten sozialistischen Provisorischen Regierung aufdecken.
Zum anderen ging es mir darum, das Programm, die Struktur,
den Modus Operandi sowie die Stärken und Schwächen der bol-
schewistischen Partei (im Vergleich zu anderen politischen Par-
teien dieser Zeit) deutlich herauszuarbeiten. In meinem nächsten
Buch, The Bolsheviks come to Power (1976) stützte ich mich auf die
Erkenntnisse aus Prelude to Revolution, um ein tieferes Verständ-
nis dafür zu entwickeln, was den Charakter der Oktoberrevolu-
tion von 1917 ausmachte, weshalb keine Demokratie nach westli-
chem Vorbild zustandekam und aus welchen Gründen Lenin und
10. x | Vorwort und Danksagung
die Bolschewiki den Sieg davontrugen. Bei beiden Büchern ging
es mir vor allem darum, die Ereignisse in Petrograd eingehender
zu beleuchten, um wichtige, bis dahin wenig untersuchte Fragen
zu den Bolschewiki und zum Verlauf der Oktoberrevolution zu
erörtern.
The Bolsheviks come to Power und Prelude to Revolution wider-
sprachen gängigen Vorstellungen von der Oktoberrevolution, sah
man doch im Westen die Oktoberrevolution gemeinhin als eine
Art Militärputsch, den eine kleine, verschworene Bande revoluti-
onärer Fanatiker unter der genialen Führung Lenins angezettelt
hatte. Demgegenüber ergaben meine Nachforschungen, dass die
bolschewistische Partei in Petrograd 1917 zu einer Massenpartei
herangewachsen war und keineswegs eine monolithische Bewe-
gung darstellte, die sich im Gleichschritt hinter Lenin eingereiht
hätte. Ihre Führung bestand vielmehr aus einem linken, einem
zentristischen und einem gemäßigten Flügel, die alle dazu bei-
trugen, eine revolutionäre Strategie und Taktik zu entwickeln.
Weiter zeigte sich, dass der Erfolg, der der Partei nach dem Sturz
des Zaren im Februar 1917 im Kampf um die Macht beschieden
war, folgenden ausschlaggebenden Faktoren zuzuschreiben war:
der organisatorischen Flexibilität der Partei, ihrer Offenheit und
Aufgeschlossenheit für die Anliegen der Bevölkerung sowie ihren
engen und sorgsam gepflegten Verbindungen zu Fabrikarbeitern,
Soldaten der Petrograder Garnison und den Matrosen der Balti-
schen Flotte. Ich kam zu dem Ergebnis, dass die Oktoberrevolu-
tion in Petrograd weniger eine militärische Operation war, son-
dern eher ein allmählicher Prozess auf dem Boden einer in der
Bevölkerung tief verwurzelten politischen Kultur sowie einer weit
verbreiteten Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der Februarre-
volution, kombiniert mit der unwiderstehlichen Anziehungskraft
der Versprechen der Bolschewiki – sofortiger Friede, Brot, Land
für die Bauern und Basisdemokratie durch Mehrparteiensowjets.
Diese Interpretation warf allerdings ebenso viele Fragen auf,
wie sie beantwortete. Wenn der Erfolg der bolschewistischen
Partei 1917, soviel schien klar, wenigstens zum Teil ihrem offe-
nen, relativ demokratischen und dezentralisierten Charakter und
Handeln zu verdanken war, wie war dann zu erklären, dass sich
diese Partei so schnell in eine der am stärksten zentralisierten
11. Vorwort und Danksagung | xi
und autoritärsten politischen Organisationen der Neuzeit ver-
wandelte? Und weiter, wenn die Sowjets 1917 zutiefst demo-
kratische Organisationen waren, Organe der Volksherrschaft in
embryonaler Form, wie es die Ergebnisse meiner Untersuchungen
nahelegen, welche Faktoren führten dann dazu, dass ihre Unab-
hängigkeit wie auch die anderer Massenorganisationen in so
kurzer Zeit zerstört wurde? Die vielleicht entscheidendste Frage
lautete: Wenn ein großer Teil der unzufriedenen Unterschicht
Petrograds, die den Sturz der Provisorischen Regierung anführte
und den Bolschewiki die Machtergreifung leicht machte, eine
egalitäre Gesellschaft und ein demokratisch-sozialistisches politi-
sches System anstrebte, das Platz für viele Parteien bieten sollte,
und wenn – auch das belegen meine Studien – viele bekannte
Bolschewiki dieses Ziel ebenfalls verfolgten, wie lässt sich dann
erklären, dass diese Ideale in so kurzer Zeit ausgehöhlt wurden
und die autoritäre bolschewistische Herrschaft sich derart verfes-
tigen konnte?
Um diese Kernfragen geht es im vorliegenden Buch. Die-
sen Band fertigzustellen kostete sehr viel Zeit, ironischerweise
gerade durch die Liberalisierung, die Gorbatschow auf kulturel-
lem Gebiet eingeleitet hatte. Anfang der 1980er Jahre hatte ich
umfassende Recherchen vor Ort in Leningrader und Moskauer
Bibliotheken abgeschlossen. Lange vor Gorbatschows Amtsantritt
und dem Ende der Sowjetunion 1991 hatte ich damit begonnen,
die wichtigsten Kapitel in einer Rohfassung niederzuschreiben.
Allerdings ließen die Ergebnisse in meinen Augen zu wünschen
übrig; dies galt insbesondere für die Phase, in deren Gefolge im
ersten Halbjahr 1918 ein großer Teil der nicht-bolschewistischen
Presse eingestellt wurde, womit ich eine der wichtigsten Quellen
meiner Forschungstätigkeit verlor. Selbst die nur bedingt auf-
schlussreichen veröffentlichten Dokumente zu Ereignissen, Insti-
tutionen, gesellschaftlichen Gruppen und politischen Persönlich-
keiten und Parteien, insbesondere zur bolschewistischen Partei
in Petrograd, die für meine Untersuchungen zum Jahr 1917 von
größter Wichtigkeit waren, fehlten für 1918 völlig. Um dieses
Buch zu vollenden, brauchte ich daher Zugang zu den Archiven
der sowjetischen Regierung und der Kommunistischen Partei, die
zur damaligen Zeit noch strengster Geheimhaltung unterlagen.
12. xii | Vorwort und Danksagung
Ein erster bedeutsamer Hinweis auf die einschneidende Ver-
änderung, die die Liberalisierung unter Gorbatschow für meine
Arbeit als westlicher Historiker der russischen Revolution und der
Anfänge der Sowjetherrschaft bedeuten würde, war die Publika-
tion meines Buches The Bolsheviks come to Power im Jahr 1989.
Damit wurde erstmals eine westliche Studie der Revolution in der
Sowjetunion veröffentlicht. Ich erinnere mich an die Buchvorstel-
lung im Verlagshaus Progress Publishing in Moskau; es war einer
der Höhepunkte meines Lebens. Doch selbst nach der Veröffentli-
chung des Buches in der Sowjetunion schien die Möglichkeit, dass
ein »bürgerlicher Fälscher« wie ich schon bald sowjetische histo-
rische Archive würde auswerten können, noch in weiter Ferne
zu liegen.
Dies änderte sich schlagartig, als ich im Juni 1991 Russland
besuchte, um in Moskauer und Leningrader Bibliotheken weitere
Nachforschungen anzustellen. Mit der Unterstützung sowjetischer
Kollegen ersuchte ich um Zugang zu staatlichen Archiven und zu
Archiven der Kommunistischen Partei in Moskau und Leningrad –
und zu meiner großen Überraschung wurde mir dieser Zugang
gewährt. Natürlich war klar, dass manches, was für mich von
größtem Interesse war, weiterhin der Geheimhaltung unterlie-
gen würde; doch mir stand nun Quellenmaterial zur Verfügung,
das um ein Vielfaches umfangreicher war als zuvor. Als ich dann
1993 zum ersten Mal in den Archiven des ehemaligen KGB arbei-
ten durfte, kam noch viel Material hinzu, und in den verbleiben-
den Jahren bis 2000, als immer mehr Dokumente freigegeben
wurden, standen mir schließlich weitaus reichhaltigere Quellen
zur Verfügung als zuvor. Soviel zur positiven Seite der Medaille.
Die negative war, dass ich mit meinen Recherchen praktisch von
vorne anfangen musste.
Ein Verzeichnis der Quellen, auf die sich diese Arbeit stützt,
findet sich in der Bibliografie am Ende dieses Buches. Zu den
wichtigen, unveröffentlichten Quellen über das erste Jahr der
Sowjetmacht in Petrograd, zu denen ich Zugang hatte, zählen
Sitzungsprotokolle des bolschewistischen Petersburger Komitees
aus dem Jahr 1918 und Protokolle anderer Petrograder Partei-
foren, Sitzungsprotokolle von Bezirkskomitees der Bolschewiki,
Sitzungsprotokolle des Rats der Volkskommissare (Sownarkom),
13. Vorwort und Danksagung | xiii
stenografische Aufzeichnungen wichtiger Sitzungen des Petro-
grader Sowjets und seiner Führungsgremien, Sitzungsprotokolle
von Petrograder Bezirkssowjets, interne Vermerke, Korrespon-
denz, unveröffentlichte Memoiren, ausführliche Aufzeichnungen
für andere Parteien und Regierungs-, Verwaltungs- und städti-
sche Gremien sowie die Personalakten von wichtigen bolsche-
wistischen Führern dieser Periode. Außerdem konnte ich einige
(natürlich bei Weitem nicht alle) aussagekräftige Fallakten der
Allrussischen Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolu-
tion, Spekulation und Sabotage (Tscheka) sowie Fallakten dama-
liger lokaler Ermittlungsbehörden auswerten. Ähnlich wertvoll
für mich waren umfangreiche, mit ausführlichen Anmerkungen
versehene Sammlungen ehedem als geheim eingestufter Akten
über die Geschichte anderer politischer Organisationen als der
bolschewistischen Partei während der revolutionären und der
unmittelbar nachrevolutionären Phase, die in Russland in den
letzten anderthalb Jahrzehnten für die Öffentlichkeit freigegeben
wurden.
Dieses erstmals zugängliche Quellenmaterial in seiner Gesamt-
heit hat es zum ersten Mal ermöglicht, die Debatten und die
Entscheidungsfindung innerhalb der bolschewistischen Partei
von der Parteispitze bis hinunter zur Parteibasis in Petrograd zu
untersuchen und die Entwicklung der Partei- und Regierungsin-
stitutionen und ihr Verhältnis zueinander auf allen Ebenen ebenso
zu erforschen wie die Herausbildung der politischen Anschau-
ungen der breiten Bevölkerung während des ersten Jahres der
Sowjetmacht. Anhand dieser Analyse habe ich dann versucht, die
Dynamik in der Anfangsphase der Entwicklung des repressiven,
ultraautoritären sowjetischen politischen Systems zu rekonstruie-
ren – vor dem Hintergrund der gravierenden politischen, ökono-
mischen, sozialen und militärischen Krise, mit der sich Petrograd
nach der Oktoberrevolution konfrontiert sah. Ich hoffe, dass diese
Rekonstruktion, die gewiss noch unvollständig ist, neue Einsich-
ten zu einer der wichtigsten geschichtswissenschaftlichen Frage-
stellungen in Bezug auf die frühe sowjetische Geschichte liefern
wird: Wie entscheidend war der Einfluss der aktuellen Ereignisse
und Entwicklungen sowie der Reaktionen darauf für die Heraus-
bildung des hoch zentralisierten, autoritären politischen Systems
14. xiv | Vorwort und Danksagung
Russlands im Verhältnis zum Einfluss der vorgefassten revoluti-
onären Ideologie beziehungsweise der strikten und diktatorisch
geprägten Verhaltensmuster der Bolschewiki?
Die Sowjetmacht. Das erste Jahr gliedert sich in vier Teile. Teil 1
behandelt die Phase von der Oktoberrevolution bis zur Auflösung
der Konstituierenden Versammlung im Januar 1918. In diesem
Zeitraum festigten die Bolschewiki ihre Herrschaft in Petrograd,
und Lenin gelang es, gemäßigte Bolschewiki im Schach zu hal-
ten, die die Aussicht auf baldige sozialistische Revolutionen im
Ausland skeptisch beurteilten und ihre Hoffnungen stattdessen in
eine den Sozialisten wohlgesinnte Konstituierende Versammlung
setzten, welche die Revolution in Russland vorantreiben sollte.
Im Brennpunkt des zweiten Teils stehen Verlauf und Folgen der
erbitterten Auseinandersetzungen um den Brester Friedensver-
trag. Die Kontroverse um diesen Separatfrieden mit Deutschland
entzündete sich im Januar 1918 zwischen einer Mehrheit führen-
der Petrograder Bolschewiki und Lenin. Sie endete im März, als die
deutschen Truppen bis Petrograd vorstießen, mit der panischen
Flucht der Sowjetregierung nach Moskau und der Ratifizierung
des Vertrags. Im dritten Teil widme ich mich den verheerenden
innenpolitischen und militärischen Krisen Petrograds im Frühjahr
und Frühsommer 1918 sowie den Reaktionen der Arbeiter darauf.
Außerdem gehe ich der Frage nach, wie diese Krisen die Haltung
der Bolschewiki zum Regieren in der mittlerweile »zweitwich-
tigsten Stadt« Russlands prägten. Abschließend beleuchte ich das
Scheitern des Bündnisses zwischen Bolschewiki und Linken Sozi-
alrevolutionären in der Nördlichen Oblast und die Wende zur
Einparteienherrschaft Anfang Juli. Teil 4 schließlich befasst sich
hauptsächlich mit den Petrograder Bolschewiki und den politi-
schen Entwicklungen im Juli und August 1918, die im Herbst in
die Ausrufung des »Roten Terrors« mündeten, außerdem behan-
delt es die Dynamik und die Folgen des Terrors in Petrograd.
Das dritte Kapitel des vierten Teils beschreibt die Organisation
und Durchführung der Mammutfeiern zum ersten Jahrestag der
Oktoberrevolution in Petrograd. Mein Ziel ist es, anhand der Fest-
lichkeiten den Zustand, die revolutionären Hoffnungen und das
Selbstbild der Petrograder Bolschewiki zu beurteilen, und auch
die veränderte Struktur der Petrograder Regierung nach zwölf
15. Vorwort und Danksagung | xv
Monaten verzweifelten Kampfes, bis zum Ausbruch der sehnsüch-
tig erwarteten, entscheidenden sozialistischen Revolutionen im
Westen an der Macht zu bleiben. Im gesamten Buch nehme ich
bestimmte Ereignisse und Situationen ins Visier, die besonders
wertvolle Einsichten zur Beantwortung zentraler Fragen liefern,
die heute noch Rätsel aufgeben, beispielsweise die Frage, wie sich
der Charakter der bolschewistischen Partei und der Sowjets im
Anschluss an die Oktoberrevolution veränderte, und die Frage,
wie die Kluft zwischen den ursprünglichen Zielen der Revolution
und ihren frühen Ergebnissen zu erklären ist.
* * *
Die russischen Namen sind in der deutschen Übersetzung im Inte-
resse der Lesefreundlichkeit nach der aussprachenahen Transkrip-
tion des Duden wiedergegeben. Eine Ausnahme bilden Namen,
deren Schreibweise im Deutschen durch Gewohnheit bereits
derart verankert ist, dass eine andere Wiedergabe den Leser nur
irritieren würde. Für die Bibliografie und die Quellennachweise
in den Anmerkungen wurde die wissenschaftliche Transliteration
gewählt. Der herausgebende Verlag hält diesen formalen Bruch
insofern für angemessen und vertretbar, als der akademisch inte-
ressierte Leser auf diese Weise die Quellen besser auffinden kann,
ohne dass die Lektüre ansonsten unnötig erschwert wird. Diese
Lösung versucht sowohl dem einschlägig vorgebildeten Fachpub-
likum als auch interessierten Laien gerecht zu werden.
* * *
Am 1. Februar 1918 wechselte Russland vom Julianischen zum
westlichen Gregorianischen Kalender, der dem Julianischen um
13 Tage vordatiert war. Soweit nicht anders angegeben, stimmen
alle Datumsangaben im Text mit dem zu diesem Datum geltenden
Kalender überein.
Bei der langjährigen Arbeit an diesem Buch hat mich eine
immense Zahl von Personen und Institutionen unterstützt, sodass
16. xvi | Vorwort und Danksagung
es beim besten Willen nicht möglich ist, ihnen allen namentlich
meinen Dank auszusprechen. Ohne die großzügige Unterstützung
der im Folgenden aufgeführten Einrichtungen und Institutionen
wäre dieses Buch nie vollendet worden: John Simon Guggen-
heim Memorial Foundation; John D. and Catherine T. MacArthur
Foundation; International Research and Exchanges Board; Nati-
onal Council for Eurasian and East European Research; Ameri-
can Council of Learned Societies; Harriman Institute (Columbia
University); Hoover Institution (Stanford University); Office of
International Programs; Russian and East European Institute und
Office of the Vice President for Research (Indiana University).
Mein tief empfundener Dank gilt auch den Mitarbeitern fol-
gender Einrichtungen und Institutionen: Hoover Institution; New
York Public Library; Library of Congress; Indiana University Lib-
rary; National Library, London; Bibliothèque de documentation
internationale contemporaine (BDIC), Nanterre; Russische Staats-
bibliothek Moskau und Russische Nationalbibliothek St. Peters-
burg; Staatliche Öffentliche Historische Bibliothek Russlands
in Moskau; Informationsinstitut für Gesellschaftswissenschaf-
ten an der Russischen Akademie der Wissenschaften in Mos-
kau, Bibliothek der Russischen Akademie der Wissenschaften,
St. Petersburg; Staatliches Museum für die politische Geschichte
Russlands, St. Petersburg; National Archives of the United King-
dom (TNA), Public Records Office (PRO); Staatliches Archiv der
Russischen Föderation, Moskau (GARF); Russisches Staatsarchiv
für sozio-politische Geschichte (RGASPI); Zentrales Staatsarchiv
von St. Petersburg (TsGA SPb); Zentrales Staatsarchiv für his-
torisch-politische Dokumente, St. Petersburg (TsGAIPD); Archiv
der Oblast Leningrad in Wyborg (LOGAV); Zentrales Staatsar-
chiv der Marine, St. Petersburg (TsGAVMF); Archivverwaltung
des Inlandsgeheimdienstes der Russischen Föderation, Moskau
(AU FSB RF); Archivverwaltung des Inlandsgeheimdienstes für
St. Petersburg und die Leningrader Oblast (AU FSB SPb i LO).
Seit Beginn der 1980er Jahre haben meine Untersuchungen
und Veröffentlichungen besonders vom Austausch mit Histori-
kern in Moskau und St. Petersburg profitiert, insbesondere mit
Genrich Joffe, Michail Iroschnikow, Viktor Miller, Albert Nen-
anorkow, Genadi Sobolew, Vitali Starzew, Pawel Wolobuew
17. Vorwort und Danksagung | xvii
und Oleg Snamenski. Seit der Auflösung der Sowjetunion haben
sich die Beziehungen zwischen westlichen und russischen Wis-
senschaftlern normalisiert; diese begrüßenswerte Entwicklung
kam mir und vielen anderen zugute. Seit dem ersten Tag mei-
ner Forschungsarbeiten im Leningrader Archiv der [Kommunis-
tischen] Partei (heute TSGAIPD) hat Irina Ilmarowna Sasonowa,
Forschungsgruppenleiterin und Archivarin, mir geholfen, wo sie
nur konnte; sie ließ mich an ihrem enormen Wissen teilhaben und
unterstützte meine Forschungsarbeit in vielerlei Weise. Ebenso
die Historikerin und leitende Archivexpertin Taisija Pawlowna,
deren wissenschaftliche Hauptinteressen sich mit den meinen
decken. Sie ist heute noch so hilfsbereit wie am ersten Tag.
Die St. Petersburger Abteilung des Instituts für Geschichte der
Russischen Akademie der Wissenschaften kann sich glücklich
schätzen, eine Gruppe von herausragenden Wissenschaftlern zu
haben, deren Interessensgebiete sich ebenfalls mit dem meini-
gen überschneiden. Von den Mitarbeitern des Instituts danke ich
im Besonderen Boris Ananitsch, Tamara Abrosimowa, Wladimir
Tschernjajew, Rafael Ganelin, Boris Kolonizki, Sergei Potolow
und Nikolai Smirnow. Sie haben mir Mut zugesprochen und
mich mit ihrem Fachwissen ebenso unterstützt wie durch ihre
Freundschaft. Für ihren Rat und ihre Unterstützung danke ich
außerdem besonders Barbara Allen, Stanislaw Bernew, Richard
Bidlack, Nadeschda Tscherepinina, Sergej Tschernow, Barbara
Evans Clements, Pete Glatter, Leopold Haimson, Wladlen Ismo-
sik, Alexander Kalmykow, Swetlana Korenewa, Anatoli Krajusch-
kin, Carol Leadenham, Sergei Leonow, Jaroslaw Leontjew, Moshe
Lewin, Alexei Litwin, Nikita Lomagin, Wladlen Loginow, And-
rea Lynn, Michael Melancon, Larissa Malaschenko, Wladimir
Naumow, Oleg Naumow, Michaela Pohl, Toivo Raun, Anatoli
Rasgon, Larissa Rogowaja, Jonathan Sanders, Richard Spence,
Michail Schkarowski, Stanislaw Tjutjukin, Phil Tomaseli und Rex
Wade. Meine Studenten am Seminar für Geschichte der Indiana
University waren mir in den vielen Jahren immer eine Quelle
der Inspiration. Auch ihnen bin ich zu großem Dank verpflichtet.
Nicht vergessen möchte ich, dass mir Mary McAuleys bahnbre-
chende Studie, Bread and Justice: State and Society in Petrograd,
1917–1922, zu einem besseren Verständnis der größeren Zusam-
18. menhänge verholfen hat, in die meine Arbeit eingebettet ist. Das-
selbe gilt auch für die Bücher von Donald J. Raleigh, Experiencing
Russia’s Civil War: Politics, Society, and Revolutionary Culture in
Saratow, 1917–1922; Peter Holquists Making War, Forging Revolu
tion: Russia’s Continuum of Crisis, 1914–1921 und Richard Sakwas
Soviet Communists in Power: A Study of Moscow during the Civil
War, 1918–1921. Eine umfassende Sammlung von Essays aus
der Zeit nach der Sowjetunion, herausgegeben von V. A. Šiškin,
Petrograd na perelome epoch: gorod i ego žiteli v godu revoljucii i
graždanskoj vojny, lieferten mir anregende Erkenntnisse heutiger
Petersburger Historiker, die von besonders großem Interesse für
mich sind.
Mein Dank gebührt den Mitarbeitern des Verlags Indiana Uni-
versity Press für ihre Sorgfalt und ihr Engagement bei der Redak-
tion und Herstellung meines Buches. Und last not least wäre die-
ses Buch nie erschienen ohne die kontinuierliche Unterstützung,
Ermutigung und die stets klugen Ratschläge meiner Frau Janet.
Sie las das gesamte Manuskript und machte Verbesserungsvor-
schläge für mehrere Entwürfe der jeweiligen Kapitel, die mir bei
der Überarbeitung unschätzbare Dienste geleistet haben. Für ver-
bleibende Mängel trage selbstverständlich ich allein die Verant-
wortung.
20. 1
Ne
wk 2
a
Sampso
nijewsk
B e z i r k
i-Prosp
P e t r o g r a d 3
4
ekt
5
6
7
Kle
ine
9 Finnischer 11
Bahnhof
Ne
13 wa Liteini-
Dreifaltigkeits- Brücke
brücke
14 Bezirk
Liteini
Börsenbrücke
21
Liteini-Prospekt
19 20
17 Schloss- 18
brücke
B e z i r k 23
W a s i l i - I n s e l 22
25 26
24 44
Nikolajewski-
Brücke 31 33
30 34 35
29 36 Newsk
Admiralitätsbezirk al i-Pros
32 an
jka-K
Mo
Bezirk 40
28 Kasan Bezirk Erster
Spasski
Stadtbezirk
39
Bezirk Zweiter
Kolomenski
38 Stadtbezirk
Bahnhof
e
Kronstadt traß Zarskoselski
a-S ka
waj tan 43
Sad
o Fon
wa
42
41
Ne
47
49
48
51
Obwodny-Kanal
Baltischer Warschauer
Bahnhof Bahnhof
50
Bezirk
Narwa
Bezirk
Peterhof
52 53
21. Petrograd 1918
1 Russki-Reno-Werke
2 Neue Lessner-Fabrik
3 Grenadier-Brücke
4 Erickson-Werke
B e z i r k 5 Bezirkskomitee (Bolschewistische Partei)
des Bezirks Wyborg
W y b o r g 6 Bezirkskomitee (Bolschewistische Partei)
des Bezirks Petrograd
7 Nobel-Werke
8 Metalist-Werke
9 Sampsonijewski-Brücke
10 Arsenal-Fabrik
11 Militärakademie Michailowski
12 Kresty-Gefängnis
8 13 Patronenfabrik
14 Peter-Pauls-Festung
15 Taurisches Palais
10 16 Smolny
11 17 Börse
18 Winterpalast
12 19 Britische Botschaft
ni- 20 Marsfeld
cke
21 Bezirkskomitee (Bolschewistische Partei)
Schpalernaja-Straße des Bezirks Liteini
15 16 22 Bezirkskomitee (Bolschewistische Partei)
des Bezirks Wasili-Insel
Bezirk
k t
pe
Roschdestwenski 23 Universität Petersburg
s
ro
27 24 Admiralität
i-P
sk
25 Palastplatz
ow
Ochtinski-
or
Brücke 26 Hauptsitz des Generalstabs
w
Su
und des Petrograder Militärbezirks
27 Preobraschenski-Regiment
28 Zweite Abteilung der Baltischen Flotte
29 Palast der Arbeit
ki-Pro 46 30 Hotel Astoria
spekt 37
31 Hauptquartier der PTscheka
Bahnhof in der Gorochowaja-Straße 2
Nikolajewski
B e z i r k 32 Zentrales Telegrafenamt
zirk O c h t i n s k i 33 Kasaner Kathedrale
34 Stadtduma
35 Gostiny Dwor
N
45
ew
36 Öffentliche Bibliothek
a
37 Snamenski-Platz
38 Baltiski-Werke
39 Mariinski-Theater
40 Pagenschule
41 Bezirkskomitee (Bolschewistische Partei)
des Zweiten Stadtbezirks
51 42 Regiment Petrogradski
Bezirk Newski 43 Regiment Semjonowski
44 Petersburger Komitee
(Bolschewistische Partei)
Die Nordkommune 45 San-Gali-Fabrik
46 Bezirkskomitee (Bolschewistische Partei)
Weißes des Bezirks Roschdestwenski
Meer
47 Staatsdruckerei
Murmansk
48 Regiment Ismailowski
49 Freie Ökonomische Gesellschaft/
Archangelsk Bund zur Verteidigung der
Konstituierenden Versammlung
50 Bezirkskomitee (Bolschewistische Partei)
Archangelsk des Bezirks Narwa
51 Bezirkskomitee (Bolschewistische Partei)
54 des Ersten Stadtbezirks
Ladoga-
See Olonez Wologda
52 Putilow-Werke
Petrograd
Wologda 55 53 Waggonfabrik Retschkina
Petrograd Nowgorod
54 Newski-Werft
Nowgorod
55 Bezirkskomitee (Bolschewistische Partei)
Pskow des Bezirks Newski
Pskow 56 56 Obuchow-Werke
23. Prolog
Die Bolschewiki
und die Oktoberrevolution
in Petrograd
Die Ursachen für die Entwicklung der Bolschewistischen Partei
während des ersten Jahrs der Sowjetmacht in Petrograd und die
Faktoren für die Herausbildung eines autoritären Einparteiensys-
tems sind einerseits in den Umständen zu suchen, die durch die
Februarrevolution und den Sturz von Zar Nikolaus II. geschaffen
worden waren, liegen andererseits aber auch im Charakter und
in der Zusammensetzung der Bolschewistischen Partei von 1917
und in der Dynamik der Oktoberrevolution, die sie an die Macht
getragen hatte.
Aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hatte die russische
Gesellschaft politische und wirtschaftliche Instabilität, technolo-
gische Rückständigkeit und eine tiefe soziale Spaltung geerbt. Vor
diesem Hintergrund wirkten eine verheerende Kriegsführung,
eine Kette militärischer Niederlagen, volkswirtschaftliche Ver-
werfungen und die allgemeine Empörung über die Ausschweifun-
gen der Monarchie als Auslöser der Februarrevolution, die zwei
Anwärter auf die Staatsmacht hervorbrachte: Da war zum einen
die offizielle Provisorische Regierung, in der zunächst bekannte
Liberale den Ton angaben und die später, von April an, aus einer
brüchigen Koalition zwischen Liberalen (vorwiegend Konstituti-
onellen Demokraten bzw. Kadetten) und gemäßigten Sozialisten
bestand. (Letztere gehörten vorwiegend den gemäßigten Sozi-
aldemokraten bzw. Menschewiki und den Sozialrevolutionären
als Vertretern der Bauernschaft an.) Der zweite Anwärter auf die
Macht war der Sowjet – zunächst der Petrograder Sowjet, der
während der Februarrevolution entstanden war, und von Mitte
des Sommers an auch die nationalen Exekutivkomitees weiterer
24. 2 | Prolog
Sowjets: das Gesamtrussische Zentrale Exekutivkomitee der Sow-
jets der Arbeiter- und Soldatendeputierten und das Gesamtrussi-
sche Exekutivkomitee der Sowjets der Bauerndeputierten. Diese
nationalen Ausschüsse wurden auf Kongressen gewählt, zu denen
Vertreter der Stadt- und Bauernsowjets aus dem ganzen Land
entsandt wurden, und verfügten daher aufgrund ihrer weitaus
größeren und überdies ständig zunehmenden Unterstützung von
Arbeitern, Bauern, Soldaten und Matrosen über mehr politisches
Gewicht als die Provisorische Regierung.
Solange die Exekutivorgane der Sowjets von den gemäßigten
Sozialisten dominiert wurden, erkannten sie die Provisorische
Regierung an und unterstützten im Interesse einer fortgesetzten
Partnerschaft mit den Liberalen deren Politik, durchgreifende
politische, wirtschaftliche und soziale Reformen sowie die Ein-
berufung einer Konstituierenden Versammlung hinauszuzögern.
In ihren Augen war die Regierungsbeteiligung der Liberalen eine
unabdingbare Voraussetzung für die militärische Sicherheit und
nationale Wiedergeburt Russlands. Doch je mehr vom Frühjahr
und Sommer 1917 an in der Bevölkerung Enttäuschung über die
Ergebnisse der Februarrevolution um sich griff, desto stärker setz-
ten die aufständischen Massen Petrograds die – von den gemäßig-
ten Sozialisten beherrschten – nationalen Sowjetgremien unter
Druck, die Macht in die eigenen Hände zu nehmen. Wie die wei-
teren Ereignisse zeigten, konnten die elementaren gesellschaft-
lichen Kräfte, die in der Februarrevolution freigesetzt worden
waren, nicht wieder zurückgedrängt oder in vollem Lauf aufge-
halten werden. Die Sowjets galten der Bevölkerung als Vorboten
und Werkzeuge des gesellschaftlichen Fortschritts.
Wladimir Iljitsch Lenin, Gründer und Kopf der Bolschewisti-
schen Partei, war praktisch der einzige führende Politiker Russ-
lands, der diese Zusammenhänge instinktiv erfasste. Schon bei
Kriegsausbruch war er davon überzeugt, dass der Weltkrieg
unweigerlich in allen beteiligten Ländern zu sozialistischen
Revolutionen führen werde. Als das alte Regime gestürzt wurde,
befand sich Lenin in der Schweiz. Bei seiner Rückkehr nach Pet-
rograd Anfang April 1917 rief er zu einer sofortigen zweiten,
»sozialistischen« Revolution in Russland auf. Nachdem er sich mit
den Umständen genauer vertraut gemacht hatte (wobei er unter
25. Die Bolschewiki und die Oktoberrevolution in Petrograd | 3
anderem feststellte, dass viele seiner engsten Mitarbeiter wenig
Verständnis für eine schroffe, radikale revolutionäre Aktion auf-
brachten), ließ er diesen Plan zwar als unmittelbares Ziel fallen,
bereitete jedoch die Bolschewistische Partei darauf vor, die Pro-
visorische Regierung bei nächster Gelegenheit durch eine linke
»Sowjetregierung« zu ersetzen. Eben darin lag seine brillante his-
torische Leistung zu jener Zeit.
Allerdings darf bei der Beurteilung der Rolle Lenins nicht
außer Acht gelassen werden, dass er sich von Februar bis Okto-
ber 1917 vorwiegend im Ausland oder in Verstecken aufhielt und
sich daher nicht regelmäßig mit seinen Mitstreitern in Russland
austauschen konnte. Die bolschewistische Führungsspitze zerfiel
damals in drei Gruppen. Zur Gruppe der Linken zählten unter
anderem Lenin und Leo Trotzki. Für sie war die Errichtung einer
revolutionären Sowjetregierung in Russland kein eigenständiges
Ziel, sondern der Auftakt zur unmittelbar bevorstehenden sozia-
listischen Weltrevolution. Die Mitte setzte sich aus einer Gruppe
oftmals recht eigenwilliger Köpfe zusammen, deren Ansichten
über die Zukunft der russischen Revolution mit ihrer Auslegung
der aktuellen Lage wechselten. Die Rechte schließlich bestand aus
der sehr einflussreichen Gruppe nationaler Parteiführer um Lew
Kamenew, die eine weitaus gemäßigtere Einstellung vertrat. Zu
ihr zählten Grigori Sinowjew, Wladimir Miljutin, Alexei Rykow
und Viktor Nogin (Mitglieder des bolschewistischen Zentralko-
mitees) sowie Anatoli Lunatscharski. Der Beitritt einflussreicher
linker Menschewiki, unter ihnen Juri Larin, Solomon Losowski
und der selbstständige Denker, Gewerkschaftsführer, Marxist und
Humanist David Rjasanow, auf dem Sechsten Gesamtrussischen
Parteitag der Bolschewistischen Partei Ende Juli bescherte den
Rechten einen deutlichen Zuwachs an Anhängern und Einfluss.
Diese Gruppe bezweifelte, dass im Westen in Kürze größere sozi-
alistische Revolutionen zu erwarten waren. In ihren Augen sollte
die Übergabe der Macht an die Sowjets in der zweiten Hälfte des
Jahres 1917 die linken sozialistischen Parteien und Fraktionen zu
einem festen Bündnis zusammenschmieden. Dieses sollte für eine
Übergangszeit eine rein sozialistische Koalitionsregierung bilden,
Friedensverhandlungen einleiten und durch die Einberufung der
Konstituierenden Versammlung eine grundlegende Reform der
26. 4 | Prolog
Gesellschaft vorbereiten. In Lenins Abwesenheit war die Orien-
tierung dieser Gruppe maßgeblich für das politische Programm,
das die Bolschewiki in der Öffentlichkeit vertraten.
Zudem nahmen die Ereignisse oftmals einen so raschen Ver-
lauf, dass das Zentralkomitee der Bolschewiki gar nicht dazu kam,
seine Politik mit Lenin abzustimmen. Darüber hinaus mussten
untergeordnete Parteigremien unter den damaligen Umständen
häufig ohne Anweisungen von oben oder sogar im Widerspruch
dazu auf neue Gegebenheiten reagieren. Hinzu kommt, dass die
Bolschewiki infolge deutlich gelockerter Mitgliedschaftsbedin-
gungen 1917 zu einer Massenpartei anwuchsen. Auch waren ihr
Programm und ihre Politik 1917 von dem starken, direkten Ein-
fluss der einfachen Mitglieder geprägt und spiegelten daher die
Bestrebungen der Bevölkerung unmittelbar wider.
Gleichzeitig entwickelte die Revolution unter Fabrikarbeitern,
Soldaten und Bauern eine so starke Eigendynamik, dass die Bol-
schewiki bisweilen ihrer Basis folgen mussten, statt umgekehrt.
Am 1. Juli beispielsweise wies das Zentralkomitee unter dem
Einfluss seines gemäßigten Flügels die Regionalkomitees an,
mit aller Kraft auf einen möglichst baldigen Kongress der lin-
ken Sozialisten hinzuarbeiten, der alle demokratischen Kräfte
zusammenführen sollte, einschließlich der Gewerkschaftsführer
und der Vertreter der internationalistischen Flügel jener Parteien,
die noch nicht mit den Vaterlandsverteidigern gebrochen hatten
(beispielsweise die Linken Sozialrevolutionäre und die Mensche-
wiki-Internationalisten).1 Gleichzeitig wurden die Regionalkomi-
tees aufgefordert, Wahlen für die Konstituierende Versammlung
vorzubereiten.2 Doch auf Druck ihrer überaus militanten Basis
beteiligten sich radikale Mitglieder des Petersburger Komitees
und der Militärischen Organisation nur zwei Tage später gegen
den Willen der Gemäßigten und Lenins sowie seiner engsten Mit-
arbeiter maßgeblich an dem erfolglosen Juli-Aufstand.
* * *
Oberflächlich betrachtet endete der Juli-Aufstand für die Bol-
schewiki mit einer verheerenden Niederlage. Selbst die meisten
27. Die Bolschewiki und die Oktoberrevolution in Petrograd | 5
gemäßigten Sozialisten wandten sich gegen sie. Lenin musste sich
verstecken, viele bolschewistische Führer wurden inhaftiert, das
Wachstum der Partei kam vorübergehend zum Stillstand, und
die Vorbereitungen auf einen Kongress der sozialistischen Linken
wurden eingestellt. Doch die wütende Verfolgung der Bolsche-
wiki hatte auch andere, unbeabsichtigte Folgen: Sie bewirkte eine
weitere Radikalisierung und Stärkung linker Gruppen innerhalb
des gemäßigten sozialistischen Lagers, beispielsweise der Men-
schewiki-Internationalisten und der Linken Sozialrevolutionäre.
Dies wiederum veranlasste die Mehrheit des bolschewistischen
Zentralkomitees (wenn auch nicht Lenin) dazu, das Projekt eines
linken sozialistischen Blocks neu zu beleben. Mitte Juli erging
eine Einladung an die »Internationalisten« der anderen Parteien,
mit beratender Stimme am bevorstehenden nationalen Parteitag
der Bolschewiki teilzunehmen. Auf lokaler Ebene arbeiteten Bol-
schewiki, Menschewiki-Internationalisten und Linke Sozialrevo-
lutionäre in Basisorganisationen wie den Bezirkssowjets ohnehin
bereits erfolgreich zusammen. Der bemerkenswerteste Aspekt des
Juli-Aufstands, betrachtet man ihn im Lichte der erfolgreichen
Taktik der Bolschewiki in der Oktoberrevolution, dürfte allerdings
darin bestehen, dass er die große Anziehungskraft ihres revoluti-
onären Programms auf die Bevölkerung zum Ausdruck brachte.
Worin bestand dieses Programm? Im Gegensatz zu weit ver-
breiteten Vorstellungen traten die Bolschewiki 1917 nicht für
die Diktatur einer einzelnen Partei ein. Vielmehr forderten sie
eine demokratische »Volksmacht«, die vorbehaltlich der baldi-
gen Einberufung der Konstituierenden Versammlung von einer
Mehrparteienregierung ausgeübt werden und ausschließlich aus
Sozialisten und Vertretern der Sowjets bestehen sollte. Außerdem
forderten sie mehr Land für Einzelbauern, mehr Mitspracherecht
der Arbeiter bei der Leitung der Betriebe (»Arbeiterkontrolle«),
eine sofortige Verbesserung der Lebensmittelversorgung und, vor
allem, ein rasches Ende des Kriegs. Alle diese Ziele wurden in
prägnante Parolen gefasst: »Brot, Land, Frieden!«, »Alle Macht
den Sowjets!« und »Sofortige Einberufung der Konstituierenden
Versammlung!«
Die kombinierte Wirkung und das politische Gewicht dieser
beiden Schlüsselfaktoren – der Anziehungskraft des politischen
28. 6 | Prolog
Programms der Bolschewiki und ihrer sorgsam gepflegten Ver-
bindungen zu revolutionären Arbeitern, Soldaten und Matro-
sen – zeigten sich im Herbst 1917, als die Linke einen Putsch des
Oberbefehlshabers der russischen Armee, General Lawr Kornilow,
binnen Kurzem niederschlug. Der Marsch der Kornilow-Truppen
auf Petrograd wurde von allen in den Sowjets zusammengeschlos-
senen sozialistischen Gruppen gemeinsam zurückgeschlagen. Die
Bolschewiki spielten dabei allerdings eine besonders entschei-
dende Rolle, weil sie in der Lage waren, kurzfristig Fabrikarbei-
ter, kasernierte Soldaten und Matrosen der Baltischen Flotte zur
Verteidigung der Revolution zu mobilisieren. Die rasche Nieder-
lage Kornilows steigerte daher das Ansehen der Bolschewiki in
der Bevölkerung und wurde zugleich als eindeutige Bestätigung
ihres gemäßigten Flügels aufgefasst, der den Zusammenschluss
aller sozialistischen Gruppen im Interesse der revolutionären
Ziele des bolschewistischen Parteiprogramms anstrebte.
Am 1. September verabschiedete der Petrograder Sowjet eine
von Kamenew eingebrachte Resolution, die den Ausschluss der
Bourgeoisie von der Staatsmacht und die Bildung einer neuen,
ausschließlich sozialistischen Regierung forderte. Diese Resolu-
tion wurde von vielen als Aufruf zur Übertragung der politischen
Macht an die Sowjets interpretiert, obwohl Kamenew selbst nicht
auf dieser Auslegung bestand. Die gemäßigten Bolschewiki, die
seinen Standpunkt teilten, hätten sich zunächst auch mit einer
sozialistischen Koalitionsregierung zufriedengegeben, in der
sämtliche sozialistischen Parteien und, neben den Sowjets, auch
»demokratische« Einrichtungen wie Gewerkschaften, Semstwos,
Stadtdumas und Genossenschaften vertreten gewesen wären.
Die Verabschiedung der Resolution Kamenews verschaffte den
Bolschewiki de facto die Kontrolle über den Petrograder Sowjet,
was ihnen die Machteroberung im Oktober wesentlich erleich-
terte. Von den nationalen Exekutivkomitees der Sowjets wurde
sie jedoch zunächst verworfen.
Auch die »Demokratische Beratung«, auf der »demokratische«
Organisationen aus ganz Russland vom 14. bis 22. September in
Petrograd die Regierungsfrage erörterten, sprach sich gegen die
Schaffung einer rein sozialistischen, auf die Sowjets gestützten
Regierung aus. Dennoch zeigte die Beratung, dass die linken Men-
29. Die Bolschewiki und die Oktoberrevolution in Petrograd | 7
schewiki und Sozialrevolutionäre mit ihrer weitgehenden Unter-
stützung für das bolschewistische Programm, wie es in der Reso-
lution des Petrograder Sowjets vom 1. September verkörpert war,
innerhalb des gemäßigten sozialistischen Lagers stark an Einfluss
hinzugewonnen hatten. Als die Demokratische Beratung dem
allgemeinen Wunsch nach einem sofortigen Regierungswech-
sel nicht nachkam, richteten sich die Erwartungen der Bevölke-
rung folglich wieder auf die Sowjets: Sie sollten über die Politik
Russlands entscheiden. Dieser Umschwung kam Ende September
darin zum Ausdruck, dass die Linken Sozialrevolutionäre, deren
unmittelbare politische Ziele mittlerweile mit denjenigen der
Bolschewiki übereinstimmten, auf der Siebten Konferenz ihres
Petrograder Verbands eine überwältigende Mehrheit erhielten.
Am 21. September forderten die Bolschewiki und die Linken Sozi-
alrevolutionäre gemeinsam die vorgezogene Einberufung eines
zweiten gesamtrussischen Kongresses der Sowjets der Arbeiter-
und Bauerndeputierten, der auf Drängen der Sowjetdelegierten
in der Demokratischen Beratung für den 20. Oktober anberaumt
(und später auf den 25. Oktober verschoben) wurde. Das in die-
sem Beschluss enthaltene grundlegende Ziel, dass dieser zweite
gesamtrussische Sowjetkongress eine homogene sozialistische
Regierung einsetzen sollte, bestimmte die politische Arbeit der
Bolschewiki sowie der Linken Sozialrevolutionäre und Mensche-
wiki-Internationalisten in der zweiten Septemberhälfte und ers-
ten Oktoberwoche.
* * *
Lenin bemühte sich im August und September nach Kräften,
von seinem Versteck in Finnland aus Einfluss auf die Politik der
Bolschewiki zu nehmen. Nach dem kläglich gescheiterten Juli-
Aufstand, der den Bolschewiki reichlich Kritik von der gemäßigt-
sozialistischen Sowjetführung eingetragen hatte, ließen sich seine
Parteikollegen nur schwer davon überzeugen, statt der Über-
tragung der Macht an die Sowjets einen unabhängigen bewaff-
neten Aufstand vorzubereiten. Später war selbst Lenin derart
beeindruckt von der Leichtigkeit, mit der die Bolschewiki, Men-
30. 8 | Prolog
schewiki und Sozialrevolutionäre gemeinsam Kornilow besiegt
hatten, dass er in einem Essay von Anfang September, Ȇber
Kompromisse«, die Möglichkeit einräumte, dass die Revolution
doch noch einen friedlichen Verlauf nehmen könnte, wenn die
nationale Sowjetführung ohne weitere Verzögerung die Macht
übernehmen würde.
Doch seine versöhnliche Stimmung war nicht von Dauer.
Schon Mitte September bestand Lenin erneut auf der unabdingba-
ren Notwendigkeit eines bewaffneten Aufstands im Interesse der
Revolution. Die starke Stellung der extremen Linken in Finnland,
die neu gewonnene bolschewistische Mehrheit in den Sowjets von
Petrograd und Moskau, der enorme soziale Aufruhr unter den
landhungrigen Bauern, die zunehmende Auflösung der Armee an
der Front und die immer eindringlicheren Forderungen der Sol-
daten nach Frieden, die Anzeichen revolutionärer Stimmungen
in der deutschen Flotte und weitere Faktoren dieser Art bestärk-
ten Lenin in der Hoffnung, die Machteroberung der Bolschewiki
werde in den Städten auf so große Unterstützung stoßen, dass aus
der Provinz und von der Front kein Widerstand mehr zu erwarten
sei. Vor allem hoffte er, ein gewaltsamer Volksaufstand und die
Errichtung einer wahrhaft revolutionären Regierung in Russland
werde als unmittelbarer Auslöser siegreicher Massenaufstände in
anderen europäischen Ländern wirken. Aus diesen und ähnlichen
Gründen forderte Lenin am 12. und 14. September, gerade als
die Demokratische Beratung zusammentrat, das Zentralkomitee
in zwei flammenden Briefen auf, die Beratung zu verlassen und
»ohne eine Minute zu verlieren« die Organisation eines bewaffne-
ten Aufstands in Angriff zu nehmen.3
Die Parteiführer in Petrograd waren wie vom Donner gerührt.
Am 15. September, wenige Stunden nach Eingang der Briefe,
trat das Zentralkomitee der Bolschewiki zu einer außerordent-
lichen Sitzung zusammen. An dieser Sitzung nahmen nicht nur
die üblichen Vertreter der Parteiführung aus Petrograd teil, son-
dern auch mehrere andere Mitglieder des Zentralkomitees, die
sich aus Anlass der Demokratischen Beratung vorübergehend in
der Hauptstadt aufhielten. Sie alle reagierten recht zurückhal-
tend auf Lenins Appelle. Am meisten beschäftigte sie offenbar die
Frage, wie ihr Inhalt geheim gehalten werden konnte. Unbeirrt
31. Die Bolschewiki und die Oktoberrevolution in Petrograd | 9
von Lenins Briefen hielt die bolschewistische Führung gemeinsam
mit den Linken Sozialrevolutionären und anderen linken Gruppen
an ihrem Kurs fest, auf dem bevorstehenden nationalen Sowjet-
kongress eine rein sozialistische Regierung zu bilden. Gleichzeitig
beschloss die Parteiführung mit mehrheitlicher Zustimmung der
bolschewistischen Delegierten der Demokratischen Beratung, für
den 17. Oktober, kurz vor dem Sowjetkongress, einen außeror-
dentlichen Parteitag einzuberufen.4 Dort sollte über die Taktik
der Bolschewiki gegenüber dem Sowjetkongress und über die
direkt damit verbundene Frage, welcher Art und Zusammenset-
zung die neue Regierung sein solle, entschieden werden.
Lenin war über diese Abfuhr hell empört. Zunächst von Finn-
land, und ab Ende September von seinem Versteck am nördli-
chen Stadtrand Petrograds aus kanzelte er seine Parteikollegen
in beißendem Ton ab und forderte in immer schärferen Worten
den sofortigen Sturz der Provisorischen Regierung. Auf einer
historischen Sitzung des Zentralkomitees am 10. Oktober war
Lenin persönlich anwesend, um seinen Standpunkt zu vertreten.
Streitpunkt war die Abkehr von der Strategie der friedlichen
Machtübergabe an die Mehrparteiensowjets, der die Partei ihren
außerordentlichen Zugewinn an Einfluss und Ansehen bei den
revolutionären Massen in erster Linie verdankte. Darüber hin-
aus galt es die Parteiführung irgendwie davon zu überzeugen,
dass diese Entscheidung aufgrund der äußerst prekären Lage
nicht auf den nur eine Woche entfernten Parteitag verschoben
werden konnte, da sich dieser, wie aus diesbezüglichen Debatten
zwischen den Parteien der Demokratischen Beratung hervorging,
einer Machtübernahme vor dem Zweiten Gesamtrussischen Sow-
jetkongress energisch widersetzt hätte. Da nur zwölf von 21 Mit-
gliedern an der Sitzung des Zentralkomitees teilnahmen, waren
die Leninisten in der Diskussion im Vorteil. Am Ende beugten sich
zehn der zwölf Teilnehmer (alle bis auf Kamenew und Sinowjew)
dem Standpunkt Lenins und erklärten sich damit einverstanden,
die Machteroberung »auf die Tagesordnung« zu setzen und somit
dem geplanten Parteikongress – der niemals stattfand – zuvorzu-
kommen.
32. 10 | Prolog
* * *
Obwohl nun grünes Licht für einen bewaffneten Aufstand erteilt
worden war, wurden kaum praktische Vorbereitungen getroffen,
um dieses Ziel in rund drei Wochen zu erreichen. Zum einen
hielten die gemäßigten Parteiführer unter dem unermüdlichen
Kamenew ihren heftigen Widerstand gegen Lenins Kurs aufrecht.
Die große Achtung, die den Gemäßigten (Kamenew, Sinowjew,
Rykow, Nogin, Rjasanow und anderen) 1917 als Sprechern der
Bolschewiki entgegengebracht wurde, rührte zum Teil daher,
dass ihre Ansichten mit denjenigen anderer linker sozialistischer
Gruppen (mit denen sie in ständigem Kontakt standen) und mit
den Hoffnungen der unteren Klassen übereinstimmten. Ein weite-
rer Faktor, welcher der Organisation eines sofortigen eigenmäch-
tigen Aufstands entgegenwirkte, war die Opposition Trotzkis und
anderer Zentralkomiteemitglieder sowie radikal gesinnter Partei-
führer aus Petrograd, die zwar eine vorgezogene sozialistische
Revolution in Russland befürworteten, aber Zweifel hegten, ob
die Arbeiter und Soldaten dem von Lenin verlangten »sofortigen
Bajonettangriff« folgen würden. Ungeachtet dieser Vorbehalte
begannen Mitglieder der Bolschewiki in Petrograd auf die Ent-
scheidung des Zentralkomitees vom 10. Oktober hin, die Mög-
lichkeiten eines sofortigen bewaffneten Aufstands ernsthaft zu
erkunden. Nach einigen Tagen sahen sich viele zu der Schlussfol-
gerung genötigt, dass die Partei organisatorisch nicht auf einen
Aufstand vorbereitet war und die meisten Arbeiter, Soldaten und
Matrosen einem entsprechenden Aufruf vor dem Sowjetkongress
ohnehin nicht folgen dürften. Darüber hinaus, so mussten sie sich
eingestehen, setzten sie durch einen Vorgriff auf die Entschei-
dungen des Sowjetkongresses die zukünftige Zusammenarbeit
mit wichtigen Verbündeten wie den Linken Sozialrevolutionären
und den Menschewiki-Internationalisten aufs Spiel. Auch in den
Gewerkschaften, den Fabrikkomitees, im Petrograder Sowjet und
in anderen Massenorganisationen drohte ihnen ein Verlust an
Unterstützung. Das größte Risiko bestand allerdings darin, dass
Truppen von der nahe gelegenen Nordfront Widerstand leisten
würden.
33. Die Bolschewiki und die Oktoberrevolution in Petrograd | 11
Nach einigem Schwanken, das hauptsächlich durch Lenins
Drängen auf kühnere direkte Aktionen bedingt war, verfolgte
die bolschewistische Führung in Petrograd – Lenins und Kame-
news Anhänger gemeinsam – eine Strategie, die von folgenden
Prämissen ausging: Nicht Parteiorgane, sondern die Sowjets (die
bei den Massen großes Ansehen genossen) sollten den Sturz der
Provisorischen Regierung bewerkstelligen; jeder Angriff auf die
Regierung sollte im Interesse einer möglichst breiten Unterstüt-
zung mit der Verteidigung der Sowjets begründbar sein; daher
musste ein passender Vorwand für den Angriff abgewartet wer-
den. Um jeglichem Widerstand zuvorzukommen und die Erfolgs-
aussichten zu steigern, sollte jede Möglichkeit genutzt werden,
die Autorität der Provisorischen Regierung auf friedlichem Wege
zu untergraben. Die offizielle Absetzung der Regierung sollte auf
die Beschlüsse des Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongresses
abgestimmt und von diesem legitimiert werden. Lenin hingegen
hielt es für »vollendete Idiotie«, den Kongress abzuwarten.5 Vor
dem Hintergrund der bisherigen Entwicklung der Revolution und
der Mehrheitsmeinung der führenden Bolschewiki im ganzen
Land erscheint die gewählte Strategie jedoch als angemessene,
realistische Antwort auf das bestehende Kräfteverhältnis und die
allgemeine Stimmung in der Bevölkerung.
Vom 21. bis zum 24. Oktober widersetzten sich die bolsche-
wistischen Führer hartnäckig der von Lenin verlangten soforti-
gen revolutionären Offensive und bereiteten stattdessen einen
Entscheidungskampf gegen die Provisorische Regierung auf dem
bevorstehenden Sowjetkongress vor. In der Parteipresse und auf
riesigen öffentlichen Versammlungen griffen sie die Politik der
Provisorischen Regierung an und festigten die Unterstützung der
Bevölkerung für deren Absetzung durch den Sowjetkongress.
Unter Berufung auf die öffentlich erklärte Absicht der Proviso-
rischen Regierung, den größten Teil der Petrograder Garnison
an die Front zu verlegen, rechtfertigte die bolschewistische Füh-
rung ihr Vorgehen überdies als Verteidigungsmaßnahme gegen
die Konterrevolution. Mit Hilfe des bolschewistisch dominierten
Militärischen Revolutionskomitees des Petrograder Sowjets, das
am 9. Oktober gegründet worden war, um die von der Regierung
angeordneten Truppenbewegungen zu überwachen, brachte sie
34. 12 | Prolog
die meisten Militäreinheiten in Petrograd unter ihr Kommando.
Die Bolschewiki versorgten ihre Anhänger mit Waffen und Muni-
tion aus den wichtigsten Arsenalen der Stadt. Obwohl das Militä-
rische Revolutionskomitee strikt im Rahmen von Verteidigungs-
maßnahmen blieb und alles unterließ, was als Vorgriff auf die
Entscheidungen des Kongresses ausgelegt werden konnte, wurde
die Provisorische Regierung de facto entmachtet, ohne dass ein
einziger Schuss gefallen wäre.
Am Morgen des 24. Oktober, einen Tag vor der geplanten Eröff-
nung des Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongresses, der sich
mit Sicherheit mehrheitlich für die Bildung einer rein sozialisti-
schen Sowjetregierung aussprechen würde, unternahm Kerenski
daraufhin einen Versuch, die Linke in die Schranken zu weisen.
Erneut ergingen Haftbefehle gegen die führenden Bolschewiki,
die bereits nach dem Juli-Aufstand ins Gefängnis geworfen und
zur Zeit des Kornilow-Zwischenfalls wieder freigelassen worden
waren. Regierungstreue Kadetten aus der Militärschule und Stoß-
trupps aus den Vorstädten wurden am Winterpalais, dem Sitz der
Regierung, zusammengezogen. Das Zentralorgan der Bolschewiki
wurde verboten. Es dauerte allerdings nicht lange, bis revolu-
tionäre Truppen die Druckerei befreiten. Ebenso vereitelten sie
das Vorhaben regierungstreuer Kadetten, die strategisch wichti-
gen Brücken über den Fluss Newa zu kontrollieren, und besetzten
die wichtigsten Einrichtungen des Post-, Telegrafen- und Eisen-
bahnwesens. All dies geschah im Namen der Verteidigung. Erst
auf direkte und persönliche Intervention Lenins im Smolny, dem
Hauptquartier der Partei, begann der Sturz der Provisorischen
Regierung, den er seit einem Monat gefordert hatte. Dies trug sich
zu, noch bevor der Morgen des 25. Oktober anbrach. Von nun
an ließ man jeden Anschein fallen, dass das Militärische Revo-
lutionskomitee lediglich die Revolution verteidige und bemüht
sei, die bestehenden Verhältnisse bis zu einer Willensbekundung
des Kongresses aufrechtzuerhalten. Alles wurde nun offen daran
gesetzt, den Delegierten den Sturz der Provisorischen Regierung
noch vor Kongressbeginn als vollendete Tatsache zu präsentieren.
Am Morgen des 25. Oktober besetzten vom Militärischen
Revolutionskomitee befehligte militärische Abteilungen alle stra-
tegisch wichtigen Brücken, Regierungsgebäude, Bahnhöfe und
35. Die Bolschewiki und die Oktoberrevolution in Petrograd | 13
Kraftwerke sowie Post- und Telegrafenämter, die sich noch nicht
in ihren Händen befanden. Außerdem belagerten sie das Winter-
palais, das nur von wenigen, demoralisierten und stetig dahin-
schwindenden Truppen verteidigt wurde. Bevor sich der Ring
schloss, gelang Kerenski auf der Suche nach Truppen die Flucht
an die Front. Der »Sturm auf das Winterpalais«, der in Eisen-
steins Filmklassiker »Oktober« so eindrucksvoll dargestellt wird,
war ein sowjetischer Mythos. Mit Einbruch der Dunkelheit wurde
das historische Gebäude nach kurzem Kanonenbeschuss aus der
Peter-Pauls-Festung mühelos eingenommen und die dort verblie-
benen Regierungsmitglieder wurden verhaftet. Bereits Stunden
zuvor war eine von Lenin verfasste Proklamation über den Sturz
der Provisorischen Regierung ins ganze Land telegrafiert worden.
Rückblickend liegt auf der Hand, dass Lenin in erster Linie des-
halb auf dem gewaltsamen Sturz der Provisorischen Regierung
vor Eröffnung des Sowjetkongresses bestand, weil er ausschlie-
ßen wollte, dass der Kongress eine sozialistische Koalitionsregie-
rung einsetzen würde, in der die gemäßigten Sozialisten großen
Einfluss hätten. Diese Strategie bewährte sich. Am Vorabend der
Kongresseröffnung, noch vor Beginn der offenen Militäropera-
tionen, die in der Einnahme des Winterpalais gipfelten, stand
aufgrund der Parteizugehörigkeit der anreisenden Delegierten
und ihrer Haltung zur Regierungsfrage praktisch fest, dass den
Verfechtern einer demokratischen sozialistischen Mehrparteien-
regierung, deren Programm Frieden und grundlegende Reformen
vorsah, Erfolg beschieden sein würde.6
Dies gilt es zu berücksichtigen, um den Sturz der Provisori-
schen Regierung vor Eröffnung des Sowjetkongresses in seiner
ganzen Bedeutung zu erfassen. Die enorme politische Wirkung
dieses Vorgehens wurde deutlich, sobald der Zweite Gesamtrus-
sische Sowjetkongress begann. Die Menschewiki und Sozialrevo-
lutionäre verweigerten aus Protest ihre Teilnahme am Präsidium.
Kaum hatte das mehrheitlich von Bolschewiki besetzte Präsidium
unter der Leitung Kamenews die von der »alten«, gemäßigt-sozi-
alistischen Sowjetführung geräumten Plätze eingenommen und
das Thema der Staatsmacht als ersten Tagesordnungspunkt ange-
kündigt, da eilte schon Juli Martow als glühender Verfechter
eines Regierungswechsel an das Rednerpult, um eine außeror-
36. 14 | Prolog
dentliche Erklärung zu verlesen. Unter dem bedrohlichen Don-
nern des nahen Kanonenfeuers, nach Atem ringend wegen der
Tuberkulose, die ihn wenige Jahre später das Leben kosten sollte,
beschwor Martow die Delegierten mit sich vor Aufregung über-
schlagender Stimme, den Straßenkämpfen ein Ende zu bereiten
und sofort Verhandlungen zwischen allen sozialistischen Parteien
in die Wege zu leiten, um eine für alle Seiten annehmbare »demo-
kratische« Regierung zu bilden.7
Da die Mehrheit der Kongressdelegierten – Menschewiki,
Linke Sozialrevolutionäre, die meisten Bolschewiki und, obgleich
zögernd, auch viele zentristische Menschewiki und Sozialrevolu-
tionäre – eine Zusammenarbeit zwischen den Sozialisten sehnlich
wünschten, wurde Martows Appell natürlich mit tosendem Beifall
aufgenommen. Die Vertreter der Vereinigten Sozialdemokraten –
Internationalisten8 und der Linken Sozialrevolutionäre erhoben
sich, um ihre Unterstützung zu bekunden. Auch Lunatscharski
erhob sich als Vertreter der Bolschewiki. Aus Berichten über den
Kongress geht hervor, dass Martows Vorschlag binnen kurzer Zeit
einstimmig angenommen wurde. Einen Augenblick lang hatte
es den Anschein, als ob der Kongress doch noch auf einen Weg
zurückgebracht werden könnte, der zu einer Regierung aus allen
sozialistischen Parteien führen würde.9
Doch es kam anders. Bevor überhaupt daran zu denken war,
den vom Kongress gebilligten Vorschlag Martows in die Tat
umzusetzen, verurteilten mehrere Redner der Menschewiki und
Sozialrevolutionäre die Bolschewiki als Usurpatoren und kündig-
ten an, den Kongress zu verlassen, um gegen sie zu kämpfen. Der
Geist der Zusammenarbeit, der am Vorabend des Kongresses ein
breites Spektrum der Sozialisten beseelt hatte, verflüchtigte sich
in grimmigen Wortgefechten, in deren Verlauf die meisten Men-
schewiki und Sozialrevolutionäre den Saal verließen, um sich
an der Koordination des Widerstands gegen die bolschewistisch
geführten Militäroperationen zu beteiligen.10
Kurz darauf unternahm Martow einen letzten vergeblichen
Versuch, die verbliebenen Delegierten zur Verwirklichung seines
Vorschlags zu bewegen. Doch mittlerweile war die Stimmung
auf dem Kongress derart aufgeheizt, dass seine Worte im Tumult
untergingen. Hatte die Atmosphäre auf früheren Kongressen die
37. Die Bolschewiki und die Oktoberrevolution in Petrograd | 15
gemäßigten Bolschewiki begünstigt, die eine Einigung mit allen
sozialistischen Gruppen anstrebten, so war es nun genau umge-
kehrt. Diesen Umschwung machte sich Trotzki zunutze, um den
Bruch mit den gemäßigten Sozialisten zu vertiefen. Wie der linke
Menschewik und unübertroffene Chronist der Revolution Nikolas
Suchanow schildert, rief Trotzki aus: »Der Aufstand der Volks-
massen bedarf nicht der Rechtfertigung … Schert euch hin, wohin
ihr von nun an gehört: auf den Kehrichthaufen der Geschichte!«,
worauf Martow laut Suchanow zurückgab: »Dann gehen wir!«11
Martow wegwinkend brachte Trotzki eine Resolution ein, die
den Aufstand in den Straßen unterstützte und die Menschewiki
und Sozialrevolutionäre als Lakaien der Bourgeoisie anklagte.12
Viele Jahre später erinnerte sich der renommierte Historiker
Boris Nikolajewski, der damals als Menschewik gemeinsam mit
Martow den Saal verließ, dass Martow schweigend hinausging,
ohne sich noch einmal umzudrehen. Ein junger bolschewistischer
Arbeiter in einem schwarzen, umgürteten Hemd wandte sich ihm
zu und rief mit unverhüllter Trauer in der Stimme: »Wir rechne-
ten untereinander schon damit, dass einige uns im Stich lassen
würden, aber doch nicht Martow.« Bei diesen Worten hielt Mar-
tow inne. Er blieb kurz stehen, schüttelte in seiner typischen Art
den Kopf und schien etwas antworten zu wollen. Doch dann über-
legte er es sich anders und murmelte lediglich, als er hinaustrat:
»Eines Tages werdet ihr verstehen, an welchem Verbrechen ihr
euch beteiligt.«13
Unterdessen zog sich die Eröffnungssitzung des Kongresses
in die Länge, ständig unterbrochen von begeisterten revolutio-
nären Siegesmeldungen. Im Namen der Linken Sozialrevolutio-
näre beschwor Boris Kamkow die Delegierten, Trotzkis Resolu-
tion nicht anzunehmen, da sie zu scharf formuliert sei. Seiner
Ansicht nach konnte der Kampf gegen die Konterrevolution nur
dann Erfolg haben, wenn er von den gemäßigten Vertretern der
Demokratie und insbesondere der Bauernschaft, bei der die Bol-
schewiki wenig Einfluss besaßen, unterstützt wurde. »Im Inter-
esse einer vereinten revolutionären Front ist eine möglichst breite
demokratische Staatsmacht unverzichtbar«, erklärte Kamkow.14
Etwa um drei Uhr morgens wurde bekannt gegeben, dass die
vom Militärischen Revolutionskomitee geführten Truppen das
38. 16 | Prolog
Winterpalais eingenommen und die dort versammelten Minister
der Provisorischen Regierung verhaftet hätten. Zu diesem Zeit-
punkt kehrte Naum Kapelinski, ein Vertreter der Menschewiki-
Internationalisten, in den Saal zurück und unternahm einen
letzten vergeblichen Versuch, die Delegierten zu Bemühungen
um eine friedliche Beilegung der Krise zu bewegen. Kamenew
konnte nichts weiter tun, als die Abstimmung über die Resolu-
tion Trotzkis, dessen flammende Anklage gegen die Menschewiki
und Sozialrevolutionäre den Kongress polarisierte, stillschwei-
gend zu vertagen, um die Tür für eine zukünftige Zusammenar-
beit offenzuhalten. Kurz darauf befasste sich der Kongress mit
einem von Lenin verfassten Manifest, »An alle Arbeiter, Soldaten
und Bauern«, das den Aufstand in Petrograd guthieß, den Über-
gang der politischen Macht in die Hände des Kongresses und der
lokalen Sowjets in ganz Russland verkündete und die Ziele der
Sowjetmacht bekanntgab: sofortiges Friedensangebot, verein-
fachte Übertragung des Bodens an die Bauernschaft, Wahrung der
Rechte der Soldaten, völlige Demokratisierung der Armee, Arbei-
terkontrolle über die Industrie, baldige Einberufung der Konstitu-
ierenden Versammlung, Belieferung der Städte mit Getreide und
des Landes mit Industriegütern sowie Gewährung des Selbstbe-
stimmungsrechts für alle Nationen. Mit der Verabschiedung die-
ses Manifests endete am 26. Oktober um fünf Uhr morgens die
historische erste Sitzung des Zweiten Gesamtrussischen Sowjet-
kongresses. Das Zeitalter der Sowjets in der Geschichte Russlands
hatte begonnen.
* * *
Die Oktoberrevolution in Petrograd wird oft als brillant inszenier-
ter Staatsstreich dargestellt, der ohne Unterstützung der Bevölke-
rung von einem verschworenen Trupp Berufsrevolutionäre unter
der genialen Führung des Fanatikers Lenin durchgeführt und
überdies von den Deutschen großzügig finanziert wurde. Diese
Interpretation, von der »revisionistischen« Geschichtsschreibung
der 1970er- und 1980er-Jahre in Frage gestellt, wurde nach der
Auflösung der Sowjetunion zum Ende der Gorbatschow-Ära wie-
39. Die Bolschewiki und die Oktoberrevolution in Petrograd | 17
der aus der Versenkung geholt, obwohl die Fakten, die aus den
soeben freigegebenen sowjetischen Archiven hervorgingen, die
Erkenntnisse der Revisionisten bestätigten. Am anderen Ende des
politischen Spektrums stellten die sowjetischen Historiker, die an
einen strikten Kanon zur Rechtfertigung des sowjetischen Staats
und seiner Führung gebunden waren, die Oktoberrevolution als
einen breiten Volksaufstand der revolutionären russischen Mas-
sen dar. Dieser Lesart zufolge wurzelte der Aufstand in der his-
torischen Entwicklung des russischen Zarenreichs und wurde in
seinem Verlauf von den universalen Gesetzen der Geschichte
bestimmt, die Karl Marx erstmals formuliert hatte und die Lenin
anwandte.
In Wirklichkeit wird man der Oktoberrevolution in Petrograd
weder durch den Begriff des Militärputschs noch durch denjenigen
des Volksaufstands gerecht. Wie oben aufgezeigt, setzte sie sich
in Wirklichkeit aus beiden Elementen zusammen. Ihre Wurzeln
liegen in den Besonderheiten der politischen, gesellschaftlichen
und ökonomischen Entwicklung des vorrevolutionären Russlands
und in dessen kriegsbedingten Erschütterungen. Man kann sie
zum einen als Höhepunkt eines langen politischen Kampfs auffas-
sen: Auf der einen Seite stand das ständig wachsende Spektrum
linker sozialistischer Gruppen, unterstützt von der überwiegen-
den Mehrheit der Petrograder Arbeiter, Soldaten und Matrosen,
die sich mit den Ergebnissen der Februarrevolution nicht zufrie-
dengaben. Ihnen gegenüber befand sich das zunehmend isolierte
Bündnis aus Liberalen und gemäßigten Sozialisten, das die Pro-
visorische Regierung kontrollierte, sowie zwischen Februar und
Oktober 1917 die nationalen Führungsgremien der Sowjets. Als
am 25. Oktober der Zweite Gesamtrussische Sowjetkongress
zusammentrat, stand der relativ friedliche Sieg des erstgenannten
Lagers so gut wie fest. Man kann die Oktoberrevolution aber auch
als eine Auseinandersetzung auffassen, die zunächst vorwiegend
innerhalb der bolschewistischen Führung ausgetragen wurde:
Auf der einen Seite standen die Befürworter einer ausschließlich
aus Sozialisten gebildeten Mehrparteienregierung, die Russland
eine von den Sozialisten dominierte Konstituierende Versamm-
lung verschaffen sollte, und auf der andere Seite die Leninisten,
in deren Augen die gewaltsame revolutionäre Aktion das geeig-
40. 18 | Prolog
netste Mittel darstellte, Russland auf einen ultra-radikalen, unab-
hängigen revolutionären Weg zu führen, der im Ausland bahnbre-
chende sozialistische Revolutionen auslösen sollte.
Dieser Konflikt, der 1917 immer wieder auf- und abflammte,
brach im Vorfeld der Oktoberrevolution und unmittelbar danach
mit besonderer Heftigkeit aus. Der von den Bolschewiki orga-
nisierte Sturz der Provisorischen Regierung vor dem Zweiten
Gesamtrussischen Sowjetkongress, der Auszug der Menschewiki
und Sozialrevolutionäre und, wie noch aufzuzeigen ist, die kom-
promisslose Haltung der Bolschewiki in den Verhandlungen über
die Bildung einer breiten sozialistischen Koalitionsregierung nach
dem Kongress (die mit ihren ersten militärischen Siegen über
regierungstreue Truppen zusammenfiel) verurteilten die Bemü-
hungen der gemäßigten Bolschewiki um die Teilung der Staats-
macht zum Scheitern und trugen dazu bei, dass sich am Ende das
autoritäre Regierungssystem sowjetischer Prägung durchsetzte.
Alles hing davon ab, ob Lenins Wette auf die internationale Revo-
lution aufging. Der Ausgang der Ereignisse sollte jedoch nicht
darüber hinwegtäuschen, dass die Oktoberrevolution in Petro-
grad in hohem Maße ein authentischer Ausdruck der allgemeinen
Enttäuschung über die Ergebnisse der Februarrevolution und der
Hoffnungen des Volks auf eine bessere, gerechtere Zukunft war.