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USA aktuell 23. November 2011
Staatsschulden: Eine Plage biblischen Ausmaßes
Autor:
Patrick Franke
Das überparteiliche Komitee zur Defizitreduktion hat sich nicht auf einen gemeinsamen
Tel.: 0 69/91 32-47 38
Sparvorschlag für die Jahre ab 2013 einigen können.
research@helaba.de
Dies unterstreicht die Differenzen zwischen den politischen Lagern, hat aber keine unmit-
telbaren ökonomischen Folgen. Der Kongress kann die „automatischen“ Ausgabenkür-
zungen, die nun eigentlich anstehen, mit einfacher Mehrheit modifizieren.
Redaktion: Leider ist damit eine weitere Gelegenheit verpasst worden, die nötige Haushaltskonsoli-
Dr. Stefan Mitropoulos dierung voranzutreiben. Je näher die Präsidentschafts- und Kongresswahlen im Novem-
ber 2012 rücken, desto geringer wird der Wille zur Kooperation.
Herausgeber:
Die politisch Verantwortlichen in den USA haben zwar grundsätzlich erkannt, dass die hohen
Dr. Gertrud R. Traud Haushaltsdefizite und die steigenden Staatsschulden ein Problem darstellen, das eigentlich drin-
Chefvolkswirt/Leitung Research gend angegangen werden muss. Wenn es um konkrete Schritte geht, folgen sie jedoch Augustinus
Landesbank Hessen-Thüringen von Hippo: „Gib mir Keuschheit und Enthaltsamkeit – aber nicht sofort!“.
MAIN TOWER
Neue Mainzer Str. 52-58 Im August hatten Demokraten und Republikaner einen Kompromiss getroffen. Der Kongress hob
60311 Frankfurt am Main die Schuldengrenze an, der drohende Staatsbankrott wurde verhindert. Man einigte sich einerseits
Telefon: 0 69/91 32-20 24 auf merkliche Einschnitte bei den Ausgaben – aber erst ab dem Fiskaljahr 2013, das im Oktober
Telefax: 0 69/91 32-22 44 2012 beginnt. Andererseits erging der Auftrag an das Komitee, Einsparmöglichkeiten im Umfang
von mindestens weiteren 1,2 Billionen Dollar über zehn Jahre zu finden – jedoch erneut mit der
Maßgabe, dass dies erst ab dem Fiskaljahr 2013 greift. Das laufende Haushaltsjahr wurde ausge-
nommen, denn angesichts des schwachen Wachstums, der hohen Arbeitslosigkeit und der Wahlen
im November 2012 erscheinen kurzfristige Belastungen politisch und ökonomisch nicht ratsam.
Um automatische Ausgabenkürzungen von 1,2 Billionen Dollar zu vermeiden, hätte der Kongress
nun eigentlich bis zum 23. Dezember Zeit gehabt, den Vorschlag des Komitees als Gesetz zu ver-
abschieden – ohne diesen ändern zu können und mit einfacher Mehrheit. Die für eine Verabschie-
dung im Senat faktisch erforderliche Mehrheit von 60 Stimmen war außer Kraft gesetzt.
Unter plausiblen Annahmen auf absehbare Zeit wachsender Schuldenberg
Finanzen des Bundes im Basis- und im realistischeren Alternativszenario des Congressional Budget Office (CBO), % am BIP
10 85
9 Def izit (CBO-Baseline, LS)
"debt held by the public" (CBO-Alternative, RS)
8 80
7 Def izit (CBO-Alternative, LS)
Die Publikation ist mit größter Sorgfalt
6 75
bearbeitet worden. Sie enthält jedoch lediglich
unverbindliche Analysen und Prognosen zu 5 "debt held by the public" (CBO-Baseline, RS)
den gegenwärtigen und zukünftigen Markt- 4 70
verhältnissen. Die Angaben beruhen auf 3
Quellen, die wir für zuverlässig halten, für
2 65
deren Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktua-
1
lität wir aber keine Gewähr übernehmen kön-
nen. Sämtliche in dieser Publikation getroffe-
0 60
2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021
nen Angaben dienen der Information. Sie
dürfen nicht als Angebot oder Empfehlung für Quellen: CBO, Helaba Volkswirtschaft/Research
Anlageentscheidungen verstanden werden.
2. USA aktuell
Nach dem Scheitern des Komitees sind die Perspektiven für eine Einigung schlecht. Schon Ende
2010 hatte eine überparteiliche Kommission einen Vorschlag zur Haushaltskonsolidierung 1 vorge-
Kein gutes Omen stellt und dieser sang- und klanglos in der Schublade verschwand. Theoretisch hat der Kongress
nun vier Wochen Zeit, sich doch noch auf das nötige Sparvolumen zu einigen und damit die auto-
matischen Kürzungen zu verhindern. Diese würden zu je 50 % auf die Verteidigungsausgaben und
die zivilen Ausgaben – einschließlich Medicare, des Gesundheitssystems für Rentner, aber aus-
schließlich Medicaid (Arme) und Social Security (Renten) – entfallen.
Die Hürden für eine Einigung in letzter Minute sind jedoch hoch. Die Republikaner, die im Reprä-
sentantenhaus die Mehrheit der Abgeordneten stellen, verweigern sich mehrheitlich jeglicher Steu-
ererhöhung. Die Demokraten, die im Senat über eine Mehrheit, aber nicht über 60 oder mehr Sitze
verfügen, lehnen deutliche Einschnitte bei den Leistungsgesetzen (insbesondere dem staatlichen
Renten- und Gesundheitssystem) ab. Die Schnittmenge zwischen beiden Parteien ist entsprechend
gering.
Allerdings ist die sich aus einer fehlenden Einigung ergebende Konsequenz automatischer Ein-
schnitte aus Sicht der Politik ebenfalls unattraktiv. So umfangreiche Kürzungen bei den Verteidi-
gungsausgaben (aktuell 50 % der diskretionären Ausgaben des Bundes, aber nur 20 % der Ge-
samtausgaben) könnten negative Auswirkungen auf die Schlagkraft der Streitkräfte haben. Dies
wäre jedoch in breiten Wählerschichten unpopulär. Ob dies wirklich den Druck zu einem Kom-
promiss erhöht, oder es nicht vielmehr wahrscheinlicher macht, dass der Kongress den ganzen
Prozess aushebelt, indem er die „automatischen“ Kürzungen aussetzt, ist offen. Die Ankündigung
von Präsident Obama, einen entsprechenden Versuch durch sein Veto zu stoppen, sollte nicht
überinterpretiert werden. Sie ist Teil der politischen Auseinandersetzung. Wird er im Wahlkampf
wirklich dabei bleiben, wenn ein konkreter Gesetzesentwurf auf seinem Tisch landet?
Status Quo: Hohes strukturelles Defizit, steigende Schuldenlast
Die Notwendigkeit, den Haushalt zu konsolidieren, besteht unverändert. Unter den führenden
Industrienationen haben die USA auch 2011 wieder das größte strukturelle Defizit im Staatshaus-
Am Sparen führt kein
halt. Bereinigt um zyklische Schwankungen liegt der Fehlbetrag der amerikanischen Gebietskör-
Weg vorbei
perschaften aller Ebenen in diesem Jahr bei 8,6 % des Bruttoinlandsproduktes (OECD-Schätzung
vom Mai). Davon entfällt der Löwenanteil auf den Bund, denn die Defizite der Staaten und Ge-
meinden sind vergleichsweise gering. 2
Gesamtsparvolumen nicht sehr ambitioniert USA sind die Nummer Eins beim strukturellen Defizit
Staatsausgaben und geplantes Sparvolumen 2012-2021, Mrd. Dollar Zyklisch bereinigtes Haushaltsdefizit Gesamtstaat 2011, % am BIP
30000 Ausgaben 30000 10 10
($39.000 Mrd.) 9 9
25000 25000
8 8
Rentensystem 7 7
20000 20000
6 OECD-Durchschnitt 6
15000 Verteidigung Gesundheit 15000 5 5
4 4
andere
10000 10000 3 3
Sparvolumen 2 2
5000 zivile 5000
($1.200 Mrd.) 1 1
Ausgaben
0 0 0 0
"discretionary" "mandatory" AUD D F I J CDN E UK USA
Quellen: CBO, Helaba Volkswirtschaft/Research Quellen: OECD, Helaba Volkswirtschaft/Research
1
Siehe hierzu unser USA aktuell „Haushaltspolitik nach den Wahlen: Was nun?“ vom Dezember 2010.
2
Siehe USA aktuell „Kommunalanleihen: Subprime, die Fortsetzung?“ vom Mai 2011.
Helaba Volkswirtschaft/Research · 23. November 2011· © Helaba 2
3. USA aktuell
Die bisherige Verbesserung beim Bundeshaushaltssaldo ist zum einen konjunkturell bedingt und
reflektiert zum anderen das Auslaufen des Stimuluspakets von 2009. Keiner dieser beiden Effekte
wird jedoch nach 2012 noch eine größere Rolle spielen. Die letzten Maßnahmen im Rahmen des
Konjunkturpakets laufen 2012 aus. Konjunkturell ist in den kommenden zwei Jahren keine deutli-
che Verbesserung mehr zu erwarten, denn das Wachstum dürfte in diesem Zeitraum im Durch-
schnitt nahe seinem Trend von 2 % liegen.
Da die Defizite zunächst weiterhin höher sind als das nominale Wachstum steigt die Schuldenlast
der öffentlichen Hand. Zwar liegen die USA im Vergleich mit anderen OECD-Ländern in dieser
Hinsicht eher im Durchschnitt. Zusammen mit dem hohen strukturellen Defizit und dem rasanten
Anstieg der Schuldenquote ergibt sich aber ein wenig schmeichelhaftes Bild von den Staatsfinan-
zen. Für den Gesamtstaat haben die USA 2011 laut OECD einen Schuldenstand von über 100 %
des BIP erreicht. In der in Amerika selbst im Vordergrund stehenden Abgrenzung der Bundes-
schulden („debt held by the public“) liegt der Schuldenstand bei fast 70 % und damit rund doppelt
so hoch wie noch 2006. Auch wenn sich die Zinsbelastung derzeit wegen des Rekordtiefs der
Kapitalmarktzinsen in Grenzen hält, ist der Konsolidierungsbedarf erheblich.
Auslaufende Regelungen als zusätzliche Herausforderungen
Der Handlungsspielraum in der Finanzpolitik wird zusätzlich geschmälert, weil verschiedene Ge-
setze per Jahresanfang 2012 und 2013 auslaufen. Dies gilt es in der Finanzplanung zu berücksich-
Restriktiver Impuls zum
tigen – vorausgesetzt, dass es wirklich so kommt. Denn der Umgang mit diesen „automatischen“
Jahreswechsel
Änderungen ist zwischen Demokraten und Republikanern ebenfalls umstritten. Der nächste Stich-
tag ist der 1. Januar 2012: Erstens endet dann die Regelung, nach der Arbeitslose einen auf bis zu
99 Wochen verlängerten Anspruch auf Unterstützung haben. Da die Arbeitslosenquote mit 9 %
noch immer hoch und der Anteil der Langzeitarbeitslosen erheblich ist, wird diskutiert, die groß-
zügige Regelung um ein Jahr zu verlängern. Zweitens springt zum Jahreswechsel der für das Ka-
lenderjahr 2011 gesenkte Rentenbeitrag wieder auf sein normales Niveau zurück. Dies würde die
Einnahmen der Rentenkasse 2012 um rund 90 Mrd. Dollar erhöhen – aber die privaten Haushalte
in gleichem Umfang belasten. Präsident Obamas im September vorgestellter „American Jobs Act“
sah deshalb vor, den niedrigen Beitrag 2012 beizubehalten und darüber hinaus auch den Arbeitge-
beranteil zu senken. Bisher hat dies jedoch noch keine Mehrheit im Kongress gefunden. Drittens
müssen Investitionen, die von der derzeit möglichen steuerlichen Sofortabschreibung profitieren,
bis zum 31. Dezember 2011 in Betrieb genommen sein. Dies stellt einen Anreiz für Unternehmen
dar, geplante Anschaffungen eher früher als später vorzunehmen. Die Steuereinnahmen werden in
diesem Fall nur verschoben – denn die Abschreibungen fallen in den kommenden Jahren entspre-
chend geringer aus. Die Wirksamkeit dieses Instruments ist jedoch umstritten und es sieht derzeit
so aus, als würde die Deadline hier wie geplant beibehalten.
Schuldenstand im OECD-Vergleich normal, aber… …schneller Anstieg Anlass zur Sorge
Bruttoschulden Gesamtstaat 2011, % am BIP Schulden der öffentlichen Hand, % am BIP
250 250 120 120
100 Bruttoschulden Gesamtstaat* 100
200 200
"Federal debt
80 80
held by the public"**
150 150
60 60
OECD-Durchschnitt
100 100
40 40
50 50
20 20
0 0 0 0
AUD D F I J CDN E UK USA 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012
Quellen: EcoWin, Helaba Volkswirtschaft/Research Quellen: EcoWin, Helaba Volkswirtschaft/Research
* 2011/12: OECD-Schätzung, ** 2011/12: CBO-Baseline.
Helaba Volkswirtschaft/Research · 23. November 2011· © Helaba 3
4. USA aktuell
Größer noch ist die Unsicherheit hinsichtlich des Termins 1. Januar 2013. Zu diesem Zeitpunkt
laufen die so genannten „Bush tax cuts“ aus. Damit wird eine Reihe von umfangreichen Steuer-
senkungen bezeichnet, die unter George Bush 2001 und 2003 in Kraft traten, aber von Anfang an
zeitlich beschränkt waren, weil sie so leichter durch den Kongress gebracht werden konnten. Im
Dezember 2010 einigte sich Präsident Obama mit den Republikanern, die eigentlich schon Ende
2010 auslaufenden Regelungen bis Ende 2012 zu verlängern. Wenn diese Steuerentlastungen in
vollem Umfang auslaufen, bringt dies laut CBO-Schätzungen dem Treasury Mehreinnahmen von
240 Mrd. Dollar im ersten Jahr und fast 2.500 Mrd. Dollar in den nächsten zehn Jahren. In gleicher
Höhe werden allerdings die privaten Haushalte belastet.
Da sich die Republikaner gegen jede Form von Steuererhöhung positioniert haben, kann man ge-
spannt sein, wie sie mit diesem Problem umgehen. Im Wahlkampf könnten sie versuchen, Präsi-
Schwarzer Peter dent Obama den schwarzen Peter zuzuschieben und ihm die Schuld für die drohende Steuererhö-
vor den Wahlen
hung geben. Allerdings wäre denkbar, dass die Demokraten ein Gesetz vorschlagen, das die Steu-
ern nur für die reichsten Amerikaner erhöht. Dann müssten die Republikaner den Wählern erklä-
ren, warum sie – nur um Mehrbelastungen einer kleinen Minderheit zu verhindern – höhere Steu-
ern für alle Amerikaner und möglicherweise eine Rezession in Kauf genommen haben.
Ausgaben zu hoch, Steuern zu niedrig Klarer Reformbedarf im Steuerrecht
Bundesebene, % am BIP Textlänge in Worten (in Tausend)
26 26 3500 3500
Ausgaben
24 24 "Internal Revenue Code"
3000 3000
(Steuergesetz ohne Regulierungen)
22 22
2500 2500
20 20
2000 2000
18 18
Einnahmen
16 16 1500 1500
Bibel plus Tora plus Koran
14 14 1000 (engl. Übersetzung) 1000
12 12
500 500
10 10
1954 1960 1966 1972 1978 1984 1990 1996 2002 2008 0 0
Quellen: EcoWin, Helaba Volkswirtschaft/Research Quellen: Tax Foundation, Yahoo, Helaba Volkswirtschaft/Research
Ausblick : Umfassende Steuerreform als Preis höherer Einnahmen?
Vor allem wenn die Politiker diese 2013 drohende Steuererhöhung verhindern sollten, reichen
„Sparanstrengungen“ im bisher diskutierten Umfang nicht aus, um die langfristige Tragfähigkeit
der US-Staatsfinanzen sicher zu stellen. Die langfristigen Belastungen durch die Sozialsysteme
erfordern in jedem Fall Einschnitte bei den Leistungen, höhere Einnahmen oder eine Kombination
aus beidem. Statt den bislang vorgesehenen 2,4 Billionen Dollar an Konsolidierung von 2013 bis
2022 müsste eher eine Größenordnung von 4 Billionen Dollar anvisiert werden. Dies ist aber bei
einer Beschränkung auf die Ausgabenseite nicht realistisch.
Damit wird der zukünftige Umgang der Republikaner mit dem Thema „höhere Steuern“ zur zent-
ralen Frage. Die Lösung könnte in einer grundlegenden Reform und Vereinfachung des extrem
Höhere Steuern wohl
komplizierten Steuerrechts liegen. Der Bedarf hierfür liegt auf der Hand: Der Internal Revenue
unumgänglich
Code umfasst (ohne Regularien) 3,4 Mio. Worte. Die heiligen Bücher der drei großen monotheisti-
schen Weltreligionen bringen es hingegen auf weniger als 900.000 Worte. So könnten wohl selbst
eingefleischte Gegner höherer Abgaben steigenden Einnahmen zustimmen, sofern das System
gleichzeitig merklich vereinfacht und verbessert würde. Ob es jedoch möglich ist, ohne eine weite-
re Zuspitzung der Situation (Herabstufung durch Rating-Agenturen, Druck des Rentenmarktes) die
Widerstände gegen eine solche Reform zu überwinden, ist fraglich. Denn Steuersubventionen für
Ausgaben für Spenden und Hypothekenzinsen, um nur die zwei wichtigsten zu nennen, haben
zahlreiche und einflussreiche Verteidiger.
Helaba Volkswirtschaft/Research · 23. November 2011· © Helaba 4