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Koordinationsrechtliche Fragen bei
       Familienleistungen

      Prof. Dr. Stamatia Devetzi, Hochschule Fulda




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Gliederung
1.   Neuerungen bei den Familienleistungen durch die
     VO 883/04

2.   Auswirkungen der VO 883/04 auf deutsche
     Familienleistungen

3.   EuGH - Urteil „Bosmann“ (Urt. v. 20. Mai 2008, RS
     C-352/06)



                                                       2
1. Neuerungen bei den Familienleistungen
   Neudefinition von Familienleistungen: Art. 1 lit. z VO 883/04

   Bisherige Unterscheidung zwischen Familienleistungen und
   Familienbeihilfen wurde aufgegeben

   Prinzip der Zusammenrechnung von Versicherungszeiten und
   Berücksichtigung von Familienangehörigen, die in einem
   anderen MS wohnen: allg. Regelungen (Art. 5 und 6)

   Art. 67 VO 883/04: Beschäftigungslandprinzip als
   Anknüpfungspunkt bei Familienleistungen (wurde aufrecht
   erhalten)


                                                                   3
Art. 68: Gewährung von Leistungen in
mehreren MS

  Aus unterschiedlichen       Aus denselben
  Gründen (Abs. 1 lit. a):    Gründen (Abs. 1 lit. b) :
  Reihenfolge:               1.   mehrfache
 1.  Erwerbstätigkeit             Beschäftigung
 2.  Rente                   2.   mehrere Renten
 3.  Wohnort                 3.   mehrere Wohnorte
                                  entscheidend: Wohnort
                                  der Kinder




                                                          4
Beispiele:
  Art. 68 Abs. 1 lit a):
      Vater arbeitet im Ausland, hat dort Anspruch auf Familienleistungen
      aufgrund der Erwerbstätigkeit.
      Mutter hat für dieselben Kinder im Inland einen Anspruch aufgrund des
      Wohnhortes (und arbeitet selbst nicht).
      Vorrang hat der MS, in dem der Vater seine Erwerbstätigkeit ausübt
      (Nachrangigkeit des Wohnortsstaats)


  Art. 68 Abs. 1 lit. b)
      Vater und Mutter arbeiten in unterschiedlichen MS und ihnen stehen
      Familienleistungen aufgrund der Beschäftigung zu.
      Oder: Anspruch auf Familienleistungen knüpft an Rente an; der
      Berechtigte bezieht aber Renten aus unterschiedlichen Staaten.
      Oder: Familienleistungen knüpft an den Wohnort an – Eltern haben
      unterschiedliche Wohnorte.
      Vorrang: Wohnort des Kindes

                                                                              5
Rolle des nachrangigen Trägers und
Antragstellung

  Art. 68 Abs. 2 S. 2: Ansprüche ggü. dem nachrangigen Träger
  werden in Höhe des nach den vorrangig geltenden
  Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt. Ist aber
  der Leistungsbetrag des nachrangigen Trägers höher, so
  muss der Unterschiedsbetrag bezahlt werden.

  Art. 68 Abs. 3: „Europarechtliche Relevanz der Antragstellung“




                                                               6
2. Auswirkungen der VO 883/04 auf deutsche
Familienleistungen

  Art. 2 VO 883/04: Alle versicherten Personen und
  deren Familienangehörige

  Kein „Arbeitnehmer“ mehr i.S.d. Art. 1 Buchst. a)
  der VO 1408/71

  1408/71: Anhangseintragung DE hins. AN-
  Eigenschaft und Familienleistungen: Ausschluss
  der geringfügig Beschäftigten und der
  Selbständigen ohne Rentenversicherung
                                                      7
VO 1408/71: ANHANG I (A) (B) (8) (9) (13) (14) (15)

PERSÖNLICHER GELTUNGSBEREICH DER VERORDNUNG

I. Arbeitnehmer und/oder Selbständige (Artikel 1 Buchstabe a) Ziffern ii) und iii) der
      Verordnung)
C. DEUTSCHLAND

Ist ein deutscher Träger der zuständige Träger für die Gewährung der Familienleistungen
      gemäß Titel III Kapitel 7 der Verordnung, so gilt im Sinne des Artikels 1 Buchstabe a)
      Ziffer ii) der Verordnung
a) als Arbeitnehmer, wer für den Fall der Arbeitslosigkeit pflichtversichert ist oder im
      Anschluß an diese Versicherung Krankengeld oder entsprechende Leistungen erhält
      oder wer als Beamter aus dem Beamtenverhältnis eine Besoldung mindestens in
      dem Umfang erhält, die bei einem Arbeitnehmer zu einer Pflichtversicherung gegen
      Arbeitslosigkeit führt.
b) als Selbständiger, wer eine Tätigkeit als Selbständiger ausübt und
- in einer Versicherung der selbständig Erwerbstätigen für den Fall des Alters
      versicherungs- oder beitragspflichtig ist oder
- in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig ist.
                                                                                         8
Beispiel: RS C-213/05 (Geven)

  NL Staatsbürgerin, Wohnort NL, geringfügige Beschäftigung in
  D – beantragte Erziehungsgeld in D

  1408/71 fand keine Anwendung, weil Frau Geven keine
  Arbeitnehmerin i.S.d. VO war

  Frage des vorlegenden Gerichts: Anwendung von Art. 7 Abs.
  2 VO 1612/68?

  EuGH: ErzG ist zwar eine soziale Vergünstigung; Gewährung
  hängt jedoch von der „hinreichend engen Bindung“ zur
  deutschen Gesellschaft ab. Dies war bei Frau Geven –
  aufgrund der geringen Wochenarbeitszeit – nicht der Fall.

                                                              9
D: Elterngeld ab dem 1.1. 2007
  Elterngeld löste das Erziehungsgeld ab

  § 1 Abs. 1 BEEG: Wohnort oder gew. Aufenthalt in D

  Begründung zum BEEG: Elterngeld ist eine Familienleistung i.S.d.
  VO 1408/71 und auch an Grenzgänger mit Wohnsitz in einem
  anderen MS zu zahlen

  RL zum BEEG: „Geringfügig Beschäftigte sind vom
  Anwendungsbereich der VO 1408/71 ausgeschlossen“

  VO 883/04: Kein „Arbeitnehmer“-Begriff mehr – und keine
  Anhangseintragung auch die geringfügig Beschäftigten fallen in
  den pers. Anwendungsbereich der neuen VO

  Ein Fall ähnlich wie der von Frau Geven würde anders entschieden
  werden!

                                                                     10
3. Fall Bosmann

  Frau Bosmann, wohnhaft in D, alleinerziehende Mutter zweier
  Kinder, die auch in D wohnen und studieren. Sie bezog deutsches
  Kindergeld für die Kinder.

  Ab dem 1.9.2005: Erwerbstätigkeit in den NL. Dort erhält sie keine
  Leistungen, da diese nach NL-Recht nicht für Kinder, die das 18.
  Lebensjahr vollendet haben, gewährt werden.

  BA: Kindergeld abgelehnt, da ihr Kindergeldanspruch ausschließlich
  den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaates (NL) unterliege.




                                                                       11
EuGH - Gründe
  Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) VO 1408/71: Anwendung der
  Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaats (hier NL)

  Frau Bosmann übt im Wohnstaat (D) keine Berufstätigkeit; aus
  diesem Grund findet Art. 10 Abs. 1 Buchst b) Ziff.2 der VO 574/72
  keine Anwendung (kein „Zusammentreffen“ von Familienleistungen).

  Das Gemeinschaftsrecht verpflichtet D nicht, Frau Bosmann
  Kindergeld zu bezahlen.

  Aber: „…der Wohnstaat soll nicht daran gehindert werden (!), dieser
  Person nach seinem Recht Familienbeihilfen zu gewähren“ (Rdnr.
  31).

  „Ein MS, der nicht der zuständige MS ist und der den Anspruch auf
  eine Familienleistung nicht an eine Beschäftigung oder Versicherung
  bindet, kann einer in seinem Gebiet ansässigen Person eine solche
  Leistung gewähren“ (Rdnr. 32).

                                                                        12

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Koordinationsrechtliche Fragen bei Familienleistungen

  • 1. Koordinationsrechtliche Fragen bei Familienleistungen Prof. Dr. Stamatia Devetzi, Hochschule Fulda 1
  • 2. Gliederung 1. Neuerungen bei den Familienleistungen durch die VO 883/04 2. Auswirkungen der VO 883/04 auf deutsche Familienleistungen 3. EuGH - Urteil „Bosmann“ (Urt. v. 20. Mai 2008, RS C-352/06) 2
  • 3. 1. Neuerungen bei den Familienleistungen Neudefinition von Familienleistungen: Art. 1 lit. z VO 883/04 Bisherige Unterscheidung zwischen Familienleistungen und Familienbeihilfen wurde aufgegeben Prinzip der Zusammenrechnung von Versicherungszeiten und Berücksichtigung von Familienangehörigen, die in einem anderen MS wohnen: allg. Regelungen (Art. 5 und 6) Art. 67 VO 883/04: Beschäftigungslandprinzip als Anknüpfungspunkt bei Familienleistungen (wurde aufrecht erhalten) 3
  • 4. Art. 68: Gewährung von Leistungen in mehreren MS Aus unterschiedlichen Aus denselben Gründen (Abs. 1 lit. a): Gründen (Abs. 1 lit. b) : Reihenfolge: 1. mehrfache 1. Erwerbstätigkeit Beschäftigung 2. Rente 2. mehrere Renten 3. Wohnort 3. mehrere Wohnorte entscheidend: Wohnort der Kinder 4
  • 5. Beispiele: Art. 68 Abs. 1 lit a): Vater arbeitet im Ausland, hat dort Anspruch auf Familienleistungen aufgrund der Erwerbstätigkeit. Mutter hat für dieselben Kinder im Inland einen Anspruch aufgrund des Wohnhortes (und arbeitet selbst nicht). Vorrang hat der MS, in dem der Vater seine Erwerbstätigkeit ausübt (Nachrangigkeit des Wohnortsstaats) Art. 68 Abs. 1 lit. b) Vater und Mutter arbeiten in unterschiedlichen MS und ihnen stehen Familienleistungen aufgrund der Beschäftigung zu. Oder: Anspruch auf Familienleistungen knüpft an Rente an; der Berechtigte bezieht aber Renten aus unterschiedlichen Staaten. Oder: Familienleistungen knüpft an den Wohnort an – Eltern haben unterschiedliche Wohnorte. Vorrang: Wohnort des Kindes 5
  • 6. Rolle des nachrangigen Trägers und Antragstellung Art. 68 Abs. 2 S. 2: Ansprüche ggü. dem nachrangigen Träger werden in Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt. Ist aber der Leistungsbetrag des nachrangigen Trägers höher, so muss der Unterschiedsbetrag bezahlt werden. Art. 68 Abs. 3: „Europarechtliche Relevanz der Antragstellung“ 6
  • 7. 2. Auswirkungen der VO 883/04 auf deutsche Familienleistungen Art. 2 VO 883/04: Alle versicherten Personen und deren Familienangehörige Kein „Arbeitnehmer“ mehr i.S.d. Art. 1 Buchst. a) der VO 1408/71 1408/71: Anhangseintragung DE hins. AN- Eigenschaft und Familienleistungen: Ausschluss der geringfügig Beschäftigten und der Selbständigen ohne Rentenversicherung 7
  • 8. VO 1408/71: ANHANG I (A) (B) (8) (9) (13) (14) (15) PERSÖNLICHER GELTUNGSBEREICH DER VERORDNUNG I. Arbeitnehmer und/oder Selbständige (Artikel 1 Buchstabe a) Ziffern ii) und iii) der Verordnung) C. DEUTSCHLAND Ist ein deutscher Träger der zuständige Träger für die Gewährung der Familienleistungen gemäß Titel III Kapitel 7 der Verordnung, so gilt im Sinne des Artikels 1 Buchstabe a) Ziffer ii) der Verordnung a) als Arbeitnehmer, wer für den Fall der Arbeitslosigkeit pflichtversichert ist oder im Anschluß an diese Versicherung Krankengeld oder entsprechende Leistungen erhält oder wer als Beamter aus dem Beamtenverhältnis eine Besoldung mindestens in dem Umfang erhält, die bei einem Arbeitnehmer zu einer Pflichtversicherung gegen Arbeitslosigkeit führt. b) als Selbständiger, wer eine Tätigkeit als Selbständiger ausübt und - in einer Versicherung der selbständig Erwerbstätigen für den Fall des Alters versicherungs- oder beitragspflichtig ist oder - in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig ist. 8
  • 9. Beispiel: RS C-213/05 (Geven) NL Staatsbürgerin, Wohnort NL, geringfügige Beschäftigung in D – beantragte Erziehungsgeld in D 1408/71 fand keine Anwendung, weil Frau Geven keine Arbeitnehmerin i.S.d. VO war Frage des vorlegenden Gerichts: Anwendung von Art. 7 Abs. 2 VO 1612/68? EuGH: ErzG ist zwar eine soziale Vergünstigung; Gewährung hängt jedoch von der „hinreichend engen Bindung“ zur deutschen Gesellschaft ab. Dies war bei Frau Geven – aufgrund der geringen Wochenarbeitszeit – nicht der Fall. 9
  • 10. D: Elterngeld ab dem 1.1. 2007 Elterngeld löste das Erziehungsgeld ab § 1 Abs. 1 BEEG: Wohnort oder gew. Aufenthalt in D Begründung zum BEEG: Elterngeld ist eine Familienleistung i.S.d. VO 1408/71 und auch an Grenzgänger mit Wohnsitz in einem anderen MS zu zahlen RL zum BEEG: „Geringfügig Beschäftigte sind vom Anwendungsbereich der VO 1408/71 ausgeschlossen“ VO 883/04: Kein „Arbeitnehmer“-Begriff mehr – und keine Anhangseintragung auch die geringfügig Beschäftigten fallen in den pers. Anwendungsbereich der neuen VO Ein Fall ähnlich wie der von Frau Geven würde anders entschieden werden! 10
  • 11. 3. Fall Bosmann Frau Bosmann, wohnhaft in D, alleinerziehende Mutter zweier Kinder, die auch in D wohnen und studieren. Sie bezog deutsches Kindergeld für die Kinder. Ab dem 1.9.2005: Erwerbstätigkeit in den NL. Dort erhält sie keine Leistungen, da diese nach NL-Recht nicht für Kinder, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, gewährt werden. BA: Kindergeld abgelehnt, da ihr Kindergeldanspruch ausschließlich den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaates (NL) unterliege. 11
  • 12. EuGH - Gründe Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) VO 1408/71: Anwendung der Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaats (hier NL) Frau Bosmann übt im Wohnstaat (D) keine Berufstätigkeit; aus diesem Grund findet Art. 10 Abs. 1 Buchst b) Ziff.2 der VO 574/72 keine Anwendung (kein „Zusammentreffen“ von Familienleistungen). Das Gemeinschaftsrecht verpflichtet D nicht, Frau Bosmann Kindergeld zu bezahlen. Aber: „…der Wohnstaat soll nicht daran gehindert werden (!), dieser Person nach seinem Recht Familienbeihilfen zu gewähren“ (Rdnr. 31). „Ein MS, der nicht der zuständige MS ist und der den Anspruch auf eine Familienleistung nicht an eine Beschäftigung oder Versicherung bindet, kann einer in seinem Gebiet ansässigen Person eine solche Leistung gewähren“ (Rdnr. 32). 12