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Sendung vom 25.06.2009, 20.15 Uhr
Prof. Dr. Michael Bordt SJ
Rektor der Hochschule für Philosophie München
im Gespräch mit Wolfgang Küpper
Küpper: Er ist katholischer Priester, Jesuitenpater und zudem Professor für
Philosophie mit den Schwerpunkten Ästhetik und Anthropologie. Und er ist
Rektor der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München. Herzlich
willkommen, Professor Michael Bordt.
Bordt: Danke schön.
Küpper: Sie sind 1960 in Hamburg geboren. Ich würde mal sagen, dass das nicht
gerade die katholischste Stadt ist, die wir in Deutschland haben. Wie war
denn Ihr Werdegang zum Jesuitenorden?
Bordt: Das war ein langer Weg. Meine Mutter ist katholisch, mein Vater
evangelisch. Ich bin in der katholischen Kirche groß geworden mit
Kommunion und Firmung. Danach hatte ich allerdings wie viele Jugendliche
in der Pubertät eine große Krise mit der Kirche. Ich bin bis heute meiner
Mutter sehr dankbar, dass sie mir da jede Freiheit gelassen hat – in dem
tiefen Vertrauen darauf, dass es der liebe Gott schon irgendwie machen
wird, dass ich wieder einen Zugang zur Religion bekomme. Ich habe also
mit 16, 17 Jahren aufgehört zu glauben und in die Kirche zu gehen. Ich
habe mich stattdessen ganz der Kultur hingegeben: Ich wollte Musiker und
Dirigent werden, habe komponiert und habe dann nach dem Abitur
Zivildienst gemacht, und zwar in einem Heim für geistig und körperlich
behinderte Kinder. Diese Erfahrung hat mich tatsächlich an die Grenzen
dessen geführt, was ich aushalten konnte. Ich meine damit die Erfahrung
mit großer Aggressivität, mit großem Leid, mit sehr starkem Hass der Kinder
und mit großen Beziehungsschwierigkeiten innerhalb des Teams, in dem
ich arbeitete. Das alles hat dazu geführt, dass ich mir gedacht habe: Das,
was mich bisher in meinem Leben gehalten hat, nämlich die Musik, die
Kultur, das hält nun nicht mehr, das gibt mir einfach nicht mehr die Kraft,
aus der ich leben kann.
Küpper: Es waren also im Prinzip zwei Krisen, die da in relativ kurzer Zeit
aufeinandergefolgt sind. Die eine Krise führte dazu, dass Sie gesagt haben:
"Mit Kirche, mit Religion, mit dem lieben Gott kann ich nichts mehr
anfangen." Und dann kam im Zivildienst diese Krise, die Sie auf Dinge
aufmerksam gemacht hat, die Sie bis dahin nicht gekannt haben.
Bordt: Nein, das Erste war keine Krise gewesen; das war einfach das Gefühl:
Dieses Theater muss ich wirklich nicht mehr mitmachen! Das alles hat mich
2. also nicht in eine Situation gestürzt, die irgendwie bedrohlich gewesen wäre.
Nein, das war so, wie wenn man auf einmal nicht mehr bestimmte
Fernsehserien schauen würde: Man wächst da irgendwie raus und denkt
sich, ich lasse die machen, aber für mich ist das nichts mehr. Das war also
keine Krise. Meine tatsächliche Krise bekam ich dann in dieser soeben
beschriebenen Situation, als ich das Gefühl hatte, dass alles, was bis dahin
mein Leben zusammengehalten hat, einbricht, und dass ich nicht mehr die
Möglichkeit habe, darauf gut reagieren zu können.
Küpper: Was hatte Sie denn bis zu diesem Zeitpunkt gehalten?
Bordt: Die Kultur, die Musik, das Leben in der Literatur, in Opern usw. Ich bin
damals sehr viel in Opern gegangen. Der emotionale Push, der von Opern
ausgeht, war das, was mich damals gehalten hat.
Küpper: War das alles weg, als Sie in dieses Heim kamen und plötzlich merkten,
dass Jugendliche aggressiv und voll von Hassgefühlen sein können?
Bordt: Das war dort in der Tat ziemlich schnell weg. Das war deswegen schnell
weg, weil ich das Gefühl hatte, dass ich dort nicht mehr auftanken kann,
dass ich dort nicht mehr das bekomme, was ich brauche, um der Situation
in meinem Leben irgendwie gerecht werden zu können. Das war das
Schwierige dabei. Der zweite Punkt bezog sich auf die Berufswahl. Nach
dem Abitur war klar, dass ich irgendwie Dirigent oder Komponist werde.
Nach diesen Erfahrungen kam dann aber sehr schnell die Überlegung in
mir auf: Für wen mache ich das eigentlich, wenn ich z. B. Dirigent werde.
Ich hatte das Gefühl, dass ich das für ein reines Bildungsbürgertum mache.
Die Auseinandersetzung mit der sozialen Realität der Armut oder der, wenn
Sie so wollen, Unterprivilegierten hat bei mir sehr stark den Impuls
freigesetzt: Ich möchte eigentlich mein Leben nicht fürs Bildungsbürgertum
hingeben.
Küpper: Das war Ihnen zu spießig?
Bordt: Pierre Boulez hat damals gesagt, man sollte alle Opernhäuser in die Luft
sprengen. Und wenn es eine Unterschriftensammlung dazu gegeben hätte,
dann hätte ich meine Unterschrift sicher darunter gesetzt. Mein Blick damals
auf dieses Bürgertum sah so aus, dass ich das Gefühl hatte: "Na ja, das
sind emotional armselige Menschen, die sich in klassischen
Sinfoniekonzerten ihren Push holen, um überhaupt wieder etwas zu fühlen,
wo doch eigentlich das Leben selbst so gelebt werden muss, dass da die
Emotionen mit dabei sind, dass sie integriert werden! Das Leben muss
spannend sein – und nicht die Oper!" Dieses Gefühl hatte ich damals sehr,
sehr stark.
Küpper: Wer hat Ihnen denn in dieser Krise geholfen? Sie beschreiben ja soeben
das Aufeinanderprallen von zwei Welten: Die eine Welt stößt Sie total ab
wegen dieser bürgerlichen Spießigkeit. Die andere Welt ist dieser soziale
Brennpunkt. Sie waren damit im Prinzip ein bisschen alleine gelassen,
oder?
Bordt: Mir hat damals ein Freund geholfen, der seinerseits in einer
charismatischen Gruppe drin war. Ich bin dann nach ungefähr zwei Dritteln
meines Zivildienstes ebenfalls in diese charismatische Gruppe
hineingekommen. Dort hatte ich dann ein richtiges Bekehrungserlebnis,
eine ganz tiefe religiöse Erfahrung, mit der ich mich dann später auch
3. theoretisch auseinandergesetzt habe. Es gibt innerhalb der
Religionsphilosophie ja auch Strömungen, die auf sehr hohem Niveau so
etwas wie Bekehrungserlebnisse analysieren. Das war mir sehr hilfreich,
um das, was damals passiert ist, überhaupt integrieren zu können in mein
Denken. Jedenfalls war das damals ein Erlebnis, das mein Leben
grundlegend verändert hat.
Küpper: Können Sie dieses Bekehrungserlebnis beschreiben? Da denkt der
normale Mensch doch an Paulus und andere.
Bordt: Das war wirklich etwas, das von einem auf den anderen Augenblick
geschah, und zwar innerhalb eines Gottesdienstes: Ich hatte plötzlich das
Gefühl, ich bin vollkommen geliebt und mir kann nichts passieren, egal was
kommt. Dieses Gefühl, das wirklich von einem Moment auf den anderen
plötzlich da war, war von einer ungeheuren Stärke: Ich kann machen, was
ich will, diese Liebe ist da, zu dieser Liebe kann ich immer zurück.
Küpper: Liebe von wem?
Bordt: Von Gott. Ich hatte das Gefühl, es gibt etwas Absolutes, es gibt Gott und er
liebt mich und das wird mein Leben für immer tragen.
Küpper: Wenn Sie noch einmal die Relation zu den behinderten Menschen in
diesem Heim herstellen: Wie wichtig waren diese Menschen in diesem
Zusammenhang für Sie? Gab es da eine Kausalität und wenn ja, wie sah
sie aus?
Bordt: Die Kausalität bestand zumindest darin, dass mich diese Arbeit an meine
Grenzen geführt hat, sodass ich das Gefühl bekommen habe: Ich suche
etwas, das meinem Leben Halt gibt. Denn alles andere, das mich bis dahin
getragen hatte, hielt auf einmal nicht mehr. Über die Freundschaft zu
meinem Schulkameraden bin ich eben eher zufällig in diese charismatische
Gruppe hineingekommen, in der ich dann dieses Erlebnis hatte.
Küpper: Aber das waren noch nicht die Jesuiten.
Bordt: Stimmt, das waren noch nicht die Jesuiten. Eine andere Art von Krise
erlebte ich im Anschluss daran, weil ich sehr schnell das Gefühl hatte, dass
diese charismatische Gruppe zwar einen echten religiösen Kern hat – das
habe ich sehr gut gespürt –, dass aber die Kultur, die sich darum herum
bildet, total eng ist. Ich bin deswegen nur zwei, drei Monate dabei gewesen
und habe dann einen wirklich langen Weg der Suche angetreten, um zu
schauen, wo ich eigentlich diesen religiösen Impuls leben kann, was ich aus
diesem religiösen Impuls machen kann. Dieser Weg hat mich nach Taizé
geführt: Dort wollte ich mal eintreten. Er hat mich ins Priesterseminar
geführt, weil ich mir dachte, ich möchte Diözesanpriester werden. Ich war
also immer auf der Suche danach, wie sich dieser Grundimpuls so entfalten
kann, dass er wirklich zu mir passt.
Küpper: Aus welchen Gründen ist es mit Taizé nichts geworden?
Bordt: Ich war Feuer und Flamme, dort einzutreten, weil ich dachte, dass das nun
endlich der richtige Ort für mich sei. Ich habe dort dann auch gleich den
Novizenmeister kennengelernt, der mich dann Exerzitien machen ließ: Er
hat mich zehn Tage lang vor allem mit Psalmentexten meditieren lassen. In
diesen zehn Tagen hatte ich auch täglich ein Gespräch mit ihm. Aber nach
diesen zehn Tagen sagte er zu mir, ich solle doch erst einmal mein Leben
4. selbst meistern, solle erst einmal schauen, dass aus mir ein selbständiger
Mensch wird. Ich habe im Anschluss daran dann jedes Jahr oder sogar
jedes halbe Jahr Exerzitien in Taizé gemacht. Aus diesen Exerzitien heraus
hat sich dann aber diese Vision ergeben: Vielleicht ist es doch das Richtige,
Jesuit zu werden. Ich hatte damals ja auch in München bei den Jesuiten an
der Hochschule für Philosophie studiert, deren Rektor ich jetzt bin. Als ich
mein Magisterstudium im Jahr 1988 in Philosophie abgeschlossen hatte,
habe ich mir gedacht: "Jetzt wage ich den Schritt!" Wobei man sagen muss,
dass die Spiritualität bei den Jesuiten sehr ähnlich derjenigen ist, die ich
damals in Taizé kennengelernt hatte: ganz einfach die Stille, das Meditieren
und Gott wirklich in der Stille suchen. Denn die Jesuiten stehen ja ebenfalls
für Spiritualität und für Exerzitien.
Küpper: Dieses Suchen in der Stille, das Meditieren, das Lesen, das Nachdenken,
das einem Jesuiten nicht nur zusteht, sondern die eigentliche Grundlage
dieses Ordenslebens ausmacht: Das ist, wenn ich das mal so profan
ausdrücken darf, doch etwas recht Luxuriöses. Sehen Sie das auch so?
Bordt: Wenn die Auseinandersetzung mit sich selbst und die Auseinandersetzung
mit dem, was im Leben eigentlich zählt, luxuriös ist, dann würde ich dem
zustimmen. Aber ich sehe das selbst natürlich überhaupt nicht als luxuriös
an, das ist vielmehr ganz einfach die Basis. Wenn man diese Basis nicht
irgendwie sichert, dann hat der Bau des Lebens darauf gar keinen Sinn.
Wenn unsere Gesellschaft so weit kommt, dass das anfängt, luxuriös zu
sein: sich zu fragen, was wirklich zählt und worauf es im Leben ankommt,
dann kann ich nur sagen: "Oha! Da werden jetzt aber Werte regelrecht
umgekehrt!" Denn das ist doch wirklich das, was im Leben entscheidend ist,
sich zu fragen: Wer bin ich? Wer ist Gott?
Küpper: Damit wären wir bereits wieder beim Begriff "Krise", der derzeit in aller
Munde ist und der sich fast schon zu einem Modewort entwickelt, freilich
verbunden mit ganz schwerwiegenden Inhalten. Sie selbst haben ein
kleines Büchlein geschrieben mit dem Titel "Was in Krisen zählt". Das sind
Antworten eines Jesuiten auf Fragen, die wir momentan alle stellen. Darin
ist mir ein Satz aufgefallen, der ziemlich am Anfang steht: Sie wehren sich
dagegen, mit moralistischen Argumenten der Krise zu begegnen. Warum
haben Sie etwas gegen die Moralisten? Zurzeit haben die Moralisten
natürlich Hochkonjunktur, das ist klar. Denn es gibt viele Leute, die sagen:
"Klar, es musste ja so kommen mit der Finanzkrise, mit der Wirtschaftskrise,
mit der Klimakatastrophe usw.! Wenn wir uns ein bisschen moralischer
verhalten würden, dann wäre das alles nicht passiert!"
Bordt: Ich bin zu wenig Experte, um einschätzen zu können, ob diejenigen Leute
recht haben, die sagen, dass man das alles bereits hatte kommen sehen.
Das Problem ist hingegen die ethische Analyse, wie man sie jetzt an diese
Phänomene anlegt. Da entsteht auf einmal der Eindruck: "Diese Manager
haben halt ein moralisches Fehlverhalten an den Tag gelegt und deswegen
ist es so weit gekommen." Ich glaube, dass man ziemlich weit zurückgehen
müsste in der Philosophie, um mit einem genauen Schlaglicht die geistige
Situation heute beleuchten zu können. Wenn man sich die ethische
Diskussion ansieht, die es ja weltweit gibt, dann sieht man, dass es zwei
verschiedene Weisen gibt, über unser Leben und über Ethik
nachzudenken. Da gibt es einerseits die Ethik von Immanuel Kant, die in
5. Deutschland natürlich sehr prominent ist. Und da gibt es andererseits das,
was man eine utilitaristische Ethik oder auch Tugendethik nennen könnte,
denn das verschwimmt manchmal. Man kann hier diese Grenzziehung also
nicht so genau vornehmen, wie man das gerne hätte. Bei der Ethik Kants
besteht das Grundproblem darin, dass dabei der einzelne Mensch halt so
sein Leben lebt, und das ist ja auch alles gut und schön so, dass aber
irgendwann bestimmte Handlungen und bestimmte Dinge, die wir tun oder
nicht tun, auf einmal den Bereich der Moral betreffen. Aber die Fragen, ob
wir z. B. Sport treiben oder wie wir unsere persönlichen Beziehungen leben,
sind oft nicht unmittelbar moralisch relevant. Moralisch relevant sind nur
bestimmte Handlungen, die andere Menschen betreffen. Moralisch nicht
relevant ist die Frage, wie wir mit uns selbst umgehen oder wie wir selbst
nach Glück streben. Die Tugendethik, die ich in meinem Buch
starkzumachen versuche, geht hingegen davon aus, dass es nicht so sehr
moralisches Fehlverhalten war, dass man also ethische Regeln verletzt hat
und es deswegen zur Krise gekommen ist. Nein, meiner Ansicht nach kam
es zur Krise vielmehr deswegen, weil man sich nicht mehr Rechenschaft
darüber ablegte, was eigentlich unser Leben gelingen lässt. Das
Fehlverhalten kommt also dadurch zustande, dass Werte verdreht werden.
Küpper: Ihnen liegt also, wenn ich das richtig sehe, der aristotelische Ansatz ein
bisschen näher als der kantische. Für Sie ist die Frage wichtig: Was muss
geschehen, damit ein Leben gelingen kann, damit der Mensch so etwas wie
Glück erfahren kann.
Bordt: Genau.
Küpper: Wobei man natürlich auch erst einmal definieren müsste, was Glück ist. Sie
sprechen nämlich auch von den falschen Vorstellungen, die der Mensch
vom Glück u. U. hat. Bei uns gibt es aber heutzutage ja doch das Problem,
dass man dabei zusehen kann und muss, wie überall Werte vernichtet
werden, wie Finanzmittel im Nichts verschwinden, wie Firmen
bankrottgehen, wie die Arbeitslosigkeit steigt. Manche Leute machen daher
an der Tatsache, dass sie einen Arbeitsplatz haben, ihr persönliches Glück
fest. Wenn diese Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren, sagen sie sich,
dass nun ihr Glück zerstört sei, dass sie nun einsam und verlassen seien.
Wie kommen Sie mit diesen Verhältnissen zurecht, wenn Sie eine Antwort
auf die Frage geben sollen, was in der Krise zählt?
Bordt: Ich glaube, dass es zwei Säulen sind, die im Leben eines Menschen
stimmen müssen, damit er selbst sagen kann, er sei zufrieden mit seinem
Leben. Damit ist nun nicht so eine satte, selbstgefällige Zufriedenheit
gemeint, sondern gemeint ist: "Ja, ich lebe mein Leben so, dass ich das
Gefühl habe, so stimmt es für mich! Selbst dann, wenn es schwierig ist und
es Spannungen gibt und selbst wenn in meinem Leben auch Krisen
vorkommen, kann ich mein Leben doch bejahen!" Eine dieser beiden
zentralen Säulen besteht aus den tiefen persönlichen Beziehungen, also
aus Liebe und/oder tiefer persönlicher Freundschaft. Ich glaube, dass es
eine ganz wichtige Säule im Leben von uns Menschen ist, dass wir ein
Umfeld haben, dem wir uns dazugehörig fühlen und von dem wir sagen:
"Wir begegnen diesen Menschen nicht nur deswegen, weil es gerade lustig
ist mit ihnen oder weil sie uns etwas nützen, sondern weil es denen wirklich
auf mich ankommt und weil es mir wirklich auf ihn, auf sie ankommt. Ich
6. möchte also Menschen kennen und mit ihnen mein Leben teilen, die ich um
ihrer selbst willen mag und schätze." Die zweite Säule ist, dass wir etwas
tun, etwas, das zu uns passt, etwas, das wir selbst als sinnvoll erleben und
das für andere Menschen wertvoll ist, das für andere Menschen zählt. Ich
glaube, wir wollen irgendwie Spuren hinterlassen im Leben von anderen
Menschen, und zwar auch dadurch, dass wir etwas tun, was wichtig ist.
Meiner Ansicht nach besteht nun ein großes Problem darin, dass man diese
Tätigkeiten, die sinnvoll und für andere wichtig sein müssen, im Zuge der
industriellen Revolution reduziert hat auf Lohnarbeit. Das heißt, man hat das
Gefühl, das Leben ist dann sinnvoll, wenn man einen bezahlten Arbeitsplatz
hat, also einen Arbeitsplatz, mit dem man Geld verdient, während andere
Tätigkeiten im Hinblick auf die Frage, ob das eigene Leben gelingt,
überhaupt keine Rolle spielen. Wir haben bei uns an der Hochschule einen
Kreis von Förderern und Sponsoren, die sich ungefähr vier Mal im Jahr
treffen zu einem gemeinsamen Abendessen, bei dem ein Jesuit auch einen
Vortrag hält. Dabei haben sich die Leute vorgestellt und eine Dame hat
dabei gesagt, sie sei "nur Hausfrau". Wenn man sagt, man sei nur
Hausfrau, heißt das, man definiert sich von der Lohnarbeit her, denn eine
Hausfrau bekommt nun einmal kein Geld für das, was sie tut. Das heißt,
man nimmt von sich selbst an, man würde nicht richtig arbeiten, man würde
z. B. nur Kinder erziehen. Ich glaube, hier ist etwas fundamental verkehrt,
das sich in der Krise immer weiter durchzieht. Ich glaube, wir leben in einer
Gesellschaft, die den Sinn von nicht bezahlten Tätigkeiten wieder ganz neu
entdecken muss. Denn was sich jetzt in dieser Krise ja so langsam
abzeichnet, ist doch tatsächlich, dass großflächig Arbeitsplätze wegfallen,
dass Leute tatsächlich in die Arbeitslosigkeit getrieben werden. Wenn aber
arbeitslos zu sein bedeutet, dass der Sinn des Lebens verloren geht, dass
der Selbstwert nur deswegen verloren geht, weil man keine Lohnarbeit
mehr hat, wird diese Krise tatsächlich zur Katastrophe.
Küpper: Das ist sicherlich eine interessante These, dennoch bleibt die Frage im
Raum stehen, wie hierbei bestimmte materielle Fragen gelöst werden
können. Derjenige, der seine Arbeit verliert, wird davon ja existenziell
berührt, indem er sich dann nämlich fragen muss, wovon er künftig leben
soll.
Bordt: Das ist richtig.
Küpper: Und es mag halt nicht jeder von Hartz IV leben, was man ja auch verstehen
kann.
Bordt: Genau, aber es ist natürlich eine politische Frage, diese Frage, ob die Politik
z. B. die Unternehmen stützt und man sagt, dass das Wichtigste die
Sicherung von Arbeitsplätzen sei, oder ob man sagt, dass man die
Menschen stützt und Hartz IV aufwertet und die Zeit der Arbeitslosigkeit
aufwertet. Es ist in der Tat ein großes gesellschaftliches Problem, dass der
Hartz-IV-Regelsatz viel zu niedrig ist. Es geht darum, dass die Menschen
tatsächlich auf einem Niveau leben können, bei dem die Grundversorgung
auch wirklich gesichert, bei dem die Versicherung gesichert ist, bei dem die
Teilnahme am kulturellen Leben gesichert ist usw. Das muss nicht so viel
mehr sein als heute, denn ich denke hier z. B. an die Diskussion zum
gesicherten, bedingungslosen Grundeinkommen: Hier geht man von einem
Betrag von ungefähr 800 bis 1000 Euro im Monat aus, die jedem Bürger
7. zustehen sollten. Ich denke, solche gesellschaftlichen Modelle sind in
Zukunft ungeheuer wichtig in einer Gesellschaft, der die Arbeit ausgeht.
Man muss also auf der einen Seite eine wirtschaftliche Vision für die
Arbeitslosen haben, denn die Vision darf nicht Hart IV sein, weil das wirklich
grauenvoll ist. Zweitens aber braucht man, und das ist genauso wichtig,
eine geistige Vision für Arbeitslose, nämlich die Frage wirklich zu stellen,
was deren Leben sinnvoll macht, und zwar unabhängig von Lohnarbeit.
Küpper: Und diese geistige Vision vermissen Sie?
Bordt: Ja, die vermisse ich ganz krass. Denn man muss sich ja nur einmal
anschauen, wie in der Politik diskutiert wird: Da geht es immer nur darum,
dass man Arbeitsplätze erhalten muss, und nicht darum, was man mit einer
Gesellschaft macht, der die Arbeitsplätze ausgehen. Selbst wenn wir die
Krise nicht hätten, ist absehbar, dass wir in Zukunft nicht mehr so viel Arbeit
haben werden, um in der westlichen Welt auf breiter Front alle Arbeitsplätze
sichern zu können.
Küpper: Auf der anderen Seite gibt es hier aber auch den Manager, der sagt: "Ich
versuche Arbeitsplätze zu erhalten, und das geht eben nur über
Gewinnmaximierung, über Wachstum, über Expansion." Wenn man das
nun in Relation setzt zu Ihrer These, dass man Gemeinschaft suchen solle,
dass man Menschen lieben und etwas Sinnvolles tun soll, wie ist dann das
Handeln des Managers zu bewerten?
Bordt: Wir wollen hier ja sicherlich nicht über einzelne Leute sprechen. Ich bin
darüber hinaus auch kein Wirtschaftsfachmann, ich kann mich überhaupt
nicht dazu äußern, was wirtschaftlich gesehen sinnvolles Handeln ist. Aber
auch für den Manager wäre doch zu hoffen, dass er das Gefühl hat, intakte
persönliche Beziehungen zu haben, nicht einen 24-Stunden-Arbeitstag zu
leben, bei dem das wegfällt, und in seiner Arbeit etwas zu machen, was für
ihn sinnvoll ist. Ein Problem von nicht wenigen Vorstandsvorsitzenden und
Managern, die ich kenne, besteht ja gerade darin, dass sie das Gefühl
haben, dass die Arbeit, die sie leisten, überhaupt nicht befriedigt, weil sie
wissen, dass auch sie nur ein Rädchen im Getriebe sind. Sie empfinden die
Verantwortung, für die Sie einstehen müssen, als völlig sinnlos.
Küpper: Das sind Beobachtungen, die Sie direkt machen, denn Sie haben mit
Managern zu tun, die zu Ihnen kommen und Kurse belegen nach dem
Motto: "Wie gestalte ich mein Leben sinnvoll" usw.
Bordt: Ja, sie kommen zu unseren Vorträgen und Workshops.
Küpper: Kann man denn diese Manager wirklich bewegen? Oder sind sie
unempfänglich für das, was Sie sagen? Denn die geistige Ebene fehlt ja,
wie Sie gesagt haben, weitgehend: Es sei nicht üblich, genau darüber zu
diskutieren; man ziehe sich stattdessen auf das Finanzielle, auf die
Buchhaltung, auf die Aktienkurse usw. zurück. Wann kommt denn dieser
andere Impuls?
Bordt: Ich glaube, dass es eine Sache ist, zu sehen, dass das, was im Leben zählt,
tiefe Beziehungen und eine sinnvolle Tätigkeit sind. Das ist ja klar, d. h. es
gibt nur wenig Leute, die mein Buch gelesen haben und dann sagen, das
sei Humbug, in Wirklichkeit zähle nur Schönheit, Geld usw. Aber von der
Einsicht, dass das richtig ist, ist es ein weiter Weg zu der Fähigkeit, das
auch zu realisieren. Denn oft sind die Menschen ja auch ganz einfach in
8. sehr konkreten Beziehungen, Schwierigkeiten, Strukturen usw. gefangen,
sodass sie nicht einfach so mal sagen können: "Jetzt nehme ich davon
Abschied und jetzt strukturiere ich mein Leben um!" Denn diese Menschen
haben ja auch Verantwortung.
Küpper: Das geht also nicht auf Knopfdruck. Dennoch sagen Sie, die Krise sei eine
Chance für einen Neubeginn. Damit hätte die Krise auch wirklich ihren
Wortsinn erfüllt, denn eigentlich heißt "krisis" im Griechischen
"Unterscheidung" und nicht nur "missliche Lage". Es soll also in einer Krise
eigentlich etwas positives Neues entstehen. Sie haben es soeben schon
angedeutet, dass das nicht von heute auf morgen und auf Knopfdruck
möglich ist: wie dann?
Bordt: Ich glaube, dass das ein sehr langer Prozess ist. "Neubeginn" ist vielleicht
auch schon zu positiv gesagt: Ich glaube, das ist eher eine Neuorientierung,
dass es in eine neue Richtung geht, bei der man gucken muss, was das
heißt und was man deswegen wie genau umstellen muss.
Küpper: Hilft da die ignatianische Meditationsübung? Ist das ein Weg, um zur Ruhe
zu finden, zur inneren Mitte zu kommen? Bei der ignatianischen Meditation
geht das freilich nicht anstrengungslos, sondern nur unter Einsatz aller
Kräfte, die in diesem Fall eben sozusagen in der Ruhe liegen.
Bordt: Ich bin davon überzeugt. Wobei es aber ein Missverständnis wäre, wenn
man Meditation als ein "zur Ruhe kommen" auffasst. Wenn Leute, die sehr
viel arbeiten – das müssen nicht Manager sein, aber jedenfalls Leute, deren
Leben voll ausgefüllt ist mit ihrer Tätigkeit –, anfangen zu meditieren, dann
haben diese Leute natürlich alle die Vorstellung: "Wunderbar, jetzt kommen
wir mal richtig zur Ruhe und zu unserer Mitte!" Was sie jedoch, wenn sie
mal ein, zwei, drei Tage still sind, merken, ist, dass sie völlig nervös werden.
Sie merken, dass sie eigentlich überhaupt nicht zur Ruhe kommen.
"Meditieren" heißt für mich, manchmal wie mit einer Lupe auf das eigene
Leben zu schauen und zu merken, wie unruhig das eigene Leben eigentlich
ist, wie getrieben das eigene Leben ist. Schauen Sie, auch für mich als
Rektor der Hochschule für Philosophie ist es keinesfalls so, dass ich,
obwohl ich nun schon seit 20 Jahren meditiere, da immer absolut zur Ruhe
käme. Man darf sich das nicht so vorstellen, dass diese halbe Stunde
Meditation oder die Messe morgens etwas ist, von dem ich sage: "Ja, das
ist eine wunderbare Ruhe, in der ich komplett abschalten kann." Nein, da
merke ich leider erst einmal, was da an Spannungen in meinem Leben
vorhanden ist. Ich glaube, die Chance der Meditation oder der Exerzitien
besteht darin, einen realistischen Blick auf sich selbst zu gewinnen und
dann im Alltag vielleicht zu merken: "Ich müsste jetzt mal was machen!"
Wenn man mal wirklich zur Ruhe kommt und sich sich selbst stellt, dann
merkt man, dass es im eigenen Leben Spannungen gibt, die mit den
Beziehungen zu tun haben, und dass es wichtig wäre, dafür nun endlich
mal wieder etwas zu tun, also mit dem eigenen Mann, der eigenen Frau,
den eigenen Kindern zu sprechen usw. Das sind Dinge, die in der Realität
aber erst einmal umgesetzt werden müssen, denn oft ist es sehr schwierig,
sie umzusetzen.
Küpper: Geht so etwas ohne Hilfestellung? Kann man von sich aus zu diesem
inneren Punkt finden? Oder braucht man immer jemanden, der einem sagt,
wie man das anstellt, der einen begleitet, der diesen ganzen Prozess
9. mitmacht? Wenn Sie als Jesuit meditieren, dann machen Sie das ja nicht
alleine, sondern Sie machen das mit anderen zusammen. Damit wären wir
wieder bei den so wichtigen Beziehungen zu den Menschen.
Bordt: Meditation ist für mich wie ein Gang durch die Wüste: Da ist es gut, einen
Führer dabei zu haben, der sich ein bisschen auskennt.
Küpper: Wir haben von der Finanz- und Wirtschaftskrise gesprochen: Das ist das
Thema, das uns momentan am meisten bedrängt und bei dem wir alle das
Gefühl haben, dass da etwas schiefgelaufen ist. Wir wollen hier keine
Anklage erheben, aber der Verweis auf so etwas wie Tugenden – Sie
haben vorhin bereits davon gesprochen –, auf Kardinaltugenden wie
Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigung usw. sei doch erlaubt. Ist das Gespür
für diese Tugenden verloren gegangen, ist deshalb die momentane Krise so
schlimm?
Bordt: Ich glaube, es ist das Gespür verloren gegangen, worauf es im Leben
ankommt. Es ist nicht so, dass das Gefühl für Tugenden weggebrochen
wäre. Nein, das Problem ist grundsätzlicher. Ich glaube, es liegt wirklich an
der Frage, wie wir unser Leben ausrichten sollen. Die Kardinaltugenden
leiten sich ab vom lateinischen cardo. Ich habe ja früher immer gedacht, das
wären die Tugenden der Kardinäle, aber dem ist nicht so.
Küpper: Die haben diese Tugenden vielleicht auch.
Bordt: Hoffen wir es! "Cardo" heißt jedenfalls "Dreh-, Angelpunkt einer Tür". Das
bedeutet, die Kardinaltugenden sind im Grunde genommen der Dreh- und
Angelpunkt, auf den es ankommt bei der Frage, wie wir unseren Charakter
entwickeln müssen, damit unser Leben gelingen kann. Ich glaube, so etwas
wie z. B. Mut oder Zivilcourage ist etwas, das enorm wichtig ist in unserer
Zeit, wo wir von Vorstellungen des gelungenen Lebens geradezu überflutet
werden, die eigentlich völlig sekundär sind. Nehmen Sie als Beispiel die
Vorstellung vom absolut gelingenden Sexualleben, die Vorstellung, wie
Partnerschaft gelebt werden soll, die Vorstellungen von Reichtum, schnellen
Autos usw. Der erfolgreiche Mensch, der Mensch mit dem super Body ist
der Mensch, der angeblich ein gelungenes Leben lebt. Die Bilder in den
Medien, im Fernsehen, vor allem in der Werbung lassen uns nämlich nicht
unberührt. Wenn wir solche Bilder sehen, dann denken wir uns: "Wenn ich
so wäre, dann würde mein Leben gelingen!" Sich diesem Strom zu
widersetzen und nein zu sagen, zu sagen, dass es darauf überhaupt nicht
ankommt, ist enorm wichtig. Natürlich wird man selbst auch von diesen
üblichen Vorstellungen beeinflusst im eigenen emotionalen Leben, in dem,
wie und was man fühlt. Dennoch muss man sich widersetzen, muss sich
sagen, dass es auf andere Dinge ankommt: Das ist eine Tugend – die
Zivilcourage, die ja mit der klassischen Tugend des Mutes, der Tapferkeit
zusammenhängt –, die heute sehr wichtig ist. Es ist wichtig, dass man auch
mal gegen den Strom schwimmen kann.
Küpper: Es gibt aber doch das Problem, dass wir in einer globalisierten
Massengesellschaft leben, d. h. wir haben mit Problemen zu tun, die nicht
nur auf München, auf Bayern, auf die Bundesrepublik beschränkt sind,
sondern sich auf die ganze Welt erstrecken. Es gibt also eine immense
Menge von Menschen, die eigentlich über das nachdenken müssten, was
Sie vorschlagen, damit wir auf diesem Weg etwas weiter kommen. Sehen
Sie denn irgendwelche Chancen, dass wir Anstöße geben können, die
10. weltweit von allen gleichermaßen beachtet werden? Oder bräuchte man da
nicht doch wieder hilfreiche Mitstreiter, die ganz weit oben stehen? Ich
nenne hier als Beispiel den neuen amerikanischen Präsidenten Barack
Obama, dem man ja messianische Tugenden zuspricht, die er allerdings
erst noch beweisen muss. Der wäre doch eigentlich ganz wichtig in so
einem Prozess. Oder nehmen wir die Menschen aus Asien, die heutzutage
im Wirtschaftsleben so heftig mitmischen, dass wir uns manchmal fragen
müssen, ob wir da überhaupt noch mithalten können. Wie kommen also
kommunistische Chinesen mit dieser Ansicht zurecht? Wie können sie
solche philosophischen Überlegungen, wie Sie sie vertreten, adaptieren?
Bordt: Ich empfinde es als etwas im luftleeren Raum argumentiert, wenn Sie
fragen, wie die Chinesen darauf reagieren. Aber es wäre interessant, mit
Chinesen darüber ins Gespräch zu kommen. Das bin ich aber noch nicht.
Es wäre interessant zu erfahren, ob auch sie diesen beiden Prioritäten
zustimmen würden, also der Liebe bzw. den tiefen persönlichen
Beziehungen und der Tätigkeit, die für einen selbst sinnvoll und für andere
Menschen wichtig ist. Ich kann auch Barack Obama überhaupt nicht
einschätzen. Was man jedoch bereits jetzt klar erkennen kann, sind diese
irrsinnigen Projektionen, die auf Obama vor allem vor seiner Wahl geworfen
wurden. Das hat ja auch mit den Hoffnungen zu tun, die die Menschen
haben: z. B. mit der Hoffnung darauf, dass es einem Präsidenten nicht um
sich selbst geht, dass er also die Macht, die er als Präsident hat, nicht
deswegen haben möchte, weil er es selbst so toll findet, mächtig zu sein,
sondern weil er eine Vision hat, wie eine bessere Politik aussehen kann,
und die Macht braucht, um diese Vision durchsetzen zu können. Ob das
stimmt, kann ich überhaupt nicht beurteilen, weil ich ihn nicht kenne. Aber
sehr interessant ist jedenfalls diese Hoffnung, die man mit ihm verbindet.
Das zeigt doch, wie ich finde, dass man durchaus optimistisch sein kann,
dass sich etwas bewegen lässt. Dafür aber braucht es auch in Deutschland
einen viel breiteren gesellschaftlichen Diskurs: Solange vonseiten der Politik
immer noch gesagt wird, wir müssen quasi um jeden Preis Arbeitsplätze
erhalten, heißt das, dass man sich im Grunde genommen überhaupt keine
Alternativen dazu ansieht, Alternativen, wie man das Leben der Bürger
sinnvoll machen kann, auch wenn Arbeitsplätze wegfallen. Diese
gesellschaftlichen Diskussionen müssen also meiner Meinung nach
dringend geführt werden.
Küpper: Nun könnte natürlich auch der Vorwurf aufkommen, dass sich ein Jesuit bei
seinen Überlegungen zu diesen Fragen recht leicht tut, denn er ist ja in eine
Gemeinschaft einbezogen, lebt mit Gleichgesinnten zusammen, hat u. a.
das Gelübde der Armut abgelegt, muss sich also um materielle Fragen des
Alltags nicht wirklich kümmern, und einen Arbeitsplatzkampf kennt er
ebenfalls nicht. Bei Menschen, die heutzutage bei VW oder BMW
Kurzarbeit leisten oder von Arbeitslosigkeit bedroht sind, sieht das ganz
anders aus: Diese Menschen zweifeln und verzweifeln sehr wohl an ihrer
materiellen Existenzgrundlage. Wie kommen wir da klar?
Bordt: Wie kommen wir damit klar? Sie meinen sicherlich, wie ich damit
klarkomme.
Küpper: Ja, selbstverständlich. Sie sind einfach, wenn ich das mal so sagen darf, der
wohlbehütete Jesuit im Gegensatz zu dem Menschen, der draußen im
11. Leben steht und kämpfen muss und der sich z. B. täglich fragen muss, wie
er seine drei Kinder durchbringt.
Bordt: Ich sehe mich lediglich als jemanden, der ein Angebot für eine Diskussion
macht. Ich sehe mich keinesfalls als Moralapostel, der zu den Leuten sagt:
"Ihr müsst bessere Beziehungen leben und sollt nur noch sinnvolle
Tätigkeiten ausüben!" Nein, ich glaube zwar, dass meine Überlegungen
richtig sind, aber mich möchte darüber lediglich mit Leuten ins Gespräch
kommen. Ich habe ja bereits betont, dass ich den Hartz-IV-Satz für politisch
geradezu skandalös halte. Die Kinderarmut in Deutschland stellt einen
gesellschaftlichen Skandal dar! Da muss die Politik etwas ändern, da muss
sie etwas tun. Denn es kann einfach nicht angehen, dass in unserem Land
Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, mit wirklicher Armut konfrontiert
sind. Aber das eine schließt das andere ja nicht aus. Natürlich bin ich von
Armut nicht direkt betroffen, aber ich bin auf der anderen Seite eben auch
Rektor der Hochschule für Philosophie München, denn auch an unserem
Orden gehen die finanziellen Probleme der heutigen Zeit nicht einfach
vorbei. Das heißt, wir müssen nun eine Stiftung aufbauen, die in zehn
Jahren über ein Kapital von zehn Millionen Euro verfügt, damit wir unsere
Hochschule weiterführen können. Es ist eine enorme Arbeit, die ich da
machen muss, wenn ich immer wieder schauen muss, wie ich dafür Gelder
akquirieren kann. Es ist natürlich richtig, dass mir das existenziell nicht so an
die Nieren geht, weil wir Jesuiten diesbezüglich ja relativ unabhängig sind.
Wir könnten das als Jesuiten also ganz lässig sehen: Wenn die Hochschule
für Philosophie geschlossen werden müsste, weil wir nicht mehr die nötigen
finanziellen Mittel hätten, dann könnte ich immer noch irgendwo Pfarrer
sein, weil ich ja Priester bin. Das stimmt also. Aber ich würde trotzdem nicht
sagen, dass ich deswegen mit dem normalen Wirtschaftsleben nichts zu tun
hätte, dass das für mich eine völlig ferne Welt sei. Ich glaube, dass das, was
ich sage bzw. sagen möchte, nur ein Mosaikstein ist in einem Geflecht von
anderen Lösungen. Denn letztlich brauchen wir dafür einen wirklich breiten
gesellschaftlichen Konsens, wenn wir in diese Richtung gehen wollen.
Küpper: Und es ist natürlich das Vorrecht des Philosophen, einen Denkanstoß zu
geben und nicht gleich mit der Exceltabelle kommen und sagen zu müssen,
wie die genaue Bilanz aussieht und dass man deshalb dieses und jenes tun
müsse. So etwas maßen Sie sich jedoch gar nicht an, sondern Sie
versuchen Denkanstöße zu geben, die den Horizont erweitern sollen.
Bordt: Richtig. Und die Gefahr gerade in so einer Krisensituation ist ja die, dass
sich Menschen zu irgendwelchen Prognosen oder auch Forderungen
hinreißen lassen, die sie überhaupt nicht überschauen können. Nehmen wir
als Beispiel Opel: So ein Unternehmen rauszulösen aus General Motors ist
viel komplizierter, als man sich das vorstellt. Um überhaupt erst einmal
einen Überblick zu bekommen, wie so etwas gehen könnte, braucht es
irrsinnig viel Arbeit. Diese Forderung einfach auf die Fahne zu schreiben,
dass Opel aus dem Konzern rausgelöst werden muss, ist ein bisschen eine
Irreführung im Hinblick auf die damit verbundenen Schwierigkeiten. Ich finde
es daher gefährlich, wenn Leute in solchen Situationen Dinge sagen und
Forderungen erheben, bei denen sie gar nicht überschauen können, was
das für Schwierigkeiten mit sich bringt.
12. Küpper: Gilt denn Ihr Denkanstoß auch für die anderen beiden großen
Krisenszenarien von heute, also auch für den weltweiten Terrorismus und
für unsere globale Umweltproblematik, die Klimaerwärmung?
Bordt: Ich glaube, dass Terrorismus, Klimaveränderung und Finanzkrise eine
gemeinsame Wurzel haben. Ich gebe aber sofort zu, dass das spekulative
Philosophie ist. Die gemeinsame Wurzel ist die Ungerechtigkeit, die auch
mit dem Welthunger und der Weltarmut zu tun hat. Wir dürfen nicht
vergessen, dass nach wie vor täglich 24000 Menschen an Armut, an
Hunger oder an den Folgen der Armut sterben. Damit sind wir hier in
Deutschland nicht unmittelbar konfrontiert: Nur an den Grenzen Europas
bekommen wir ein bisschen was davon mit oder übers Fernsehen. Aber
eigentlich ist das die offene Wunde unserer Erde, unserer Welt. Ich glaube,
solange hier nicht eine gerechte Lösung gefunden wird, solange diese
Weltarmut nicht besiegt wird, werden sich auch diese Krisen nicht
beruhigen. Ich glaube, dass das etwas mit dem mehr Haben-Wollen, mit
dem immer mehr Haben-Wollen, dem Konsum der westlichen Welt zu tun
hat, die die politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten hat, das dann
auch gegenüber den ärmsten Ländern der Welt durchzusetzen. Aber das
ist natürlich ein riesengroßes Problem. Bei der Klimakatastrophe und auch
bei der Wirtschaftskrise scheint es mir ganz deutlich zu sein, dass das
etwas damit zu tun hat.
Küpper: Sie sprechen und argumentieren als Philosoph, als Rektor der Hochschule
für Philosophie München, die vom Jesuitenorden getragen wird. Vielleicht
vermisst jetzt in unserem Gespräch der eine oder andere den Bezug zur
Kirche und zur Katholizität. Wie würden Sie sich da einordnen?
Bordt: Schauen Sie, wenn man sagt, dass das Wichtigste im Leben das Lieben
und eine wirklich sinnvolle Tätigkeit sei, dann ist das sozusagen eine
säkulare Umformulierung dessen, was die zentralen Dinge des christlichen
Glaubens sind. Lieben ist nämlich der Punkt, um den es im Christentum
geht: dass wir einander lieben. Dass wir zweitens mit Gott die Schöpfung
weiter vorantreiben, ist ebenfalls zentral: Das heißt, dass wir etwas tun, was
sinnvoll und für andere Menschen wichtig ist. Selbst wenn das so formuliert
wird, dass das nichts mit Kirche und Theologie zu tun hat, sind das die
zentralen Punkte unseres Glaubens. Meine Auffassung ist, dass die Kirche
und die Theologie in den letzten 30, 40 Jahren leider an gesellschaftlicher
Orientierungsfunktion verloren haben und dass dieses Bedürfnis nach
Orientierung von der Theologie auf die Philosophie übergegangen ist. Es ist
daher heute die Aufgabe der Philosophie, Orientierung zu bieten.
Deswegen haben wir Jesuiten überhaupt eine Hochschule für Philosophie.
Denn man könnte sich ja fragen, warum ein Orden dafür dermaßen viele
Mittel, auch finanzielle Mittel einsetzt.
Küpper: Diese Hochschule ist allerdings sehr erfolgreich, denn z. B. die
Abbrecherquote ist bei Ihnen an der Hochschule erheblich niedriger als im
Fach Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität, wo nach den
ersten Semestern ungefähr 90 Prozent der Studienanfänger dieses
Studium wieder abbrechen. Demgegenüber sind das bei Ihnen nur
ungefähr 40 Prozent. Das heißt doch wohl auch, dass man irgendwie einen
näheren und besseren Kontakt zu den Studierenden gewinnt, wenn man
offen argumentiert.
13. Bordt: Richtig, das stimmt. Aber wir könnten ja z. B. auch eine Fakultät für
Orchideenkunde oder Ornithologie haben: Auch hier hätten wir dann eine
geringere Abbrecherquote. Aber auch hier würde man sich fragen, warum
die Jesuiten Ornithologie betreiben. Mit der Philosophie ist es genauso.
Aber die Philosophie ist ja nun einmal auch die Basis für die Theologie –
zumindest der Theorie nach und auch gemäß dem, was Papst Benedikt
möchte. Aber faktisch ist es so, dass der Anteil der Philosophie innerhalb
des Theologiestudiums konstant nach unten geht bzw. auf einem sehr
niedrigen Level verharrt. Wir sind aber der Überzeugung, dass einer der
Gründe für die Krise der Theologie auch darin liegt, dass dort keine
fundamentale Philosophieausbildung mehr geleistet wird. Wichtiger ist aber
noch etwas anderes: Ich glaube, dass in unserer Gesellschaft heute die
Philosophie wertorientierend die Funktion einnehmen kann, die früher die
Theologie innehatte: Diese Funktion besteht darin, eine Gesprächsplattform
zu bilden, auf der sich Kirche und nicht-kirchliche Welt treffen können. Es ist
also wichtig, dass wir Jesuiten innerhalb der Kirche an die Grenze gehen
und den Dialog gerade mit Leuten suchen, die nicht kirchlich oder religiös
gebunden sind.
Küpper: Sind Theologen in der Fragestellung vielleicht ängstlicher als Philosophen?
Bordt: Nein, das glaube ich nicht.
Küpper: Wenn Sie behaupten, dass die Deutungskraft der Theologen nachgelassen
habe in den letzten 20, 30 Jahren, dann fragt man sich natürlich, woran das
liegt: Haben die Theologen nicht mehr den Mut, offen zu reden, offen zu
diskutieren, während das der Philosoph leichter betreiben kann?
Bordt: Ich glaube nicht, dass das eine Frage von Ängstlichkeit ist, das ist
stattdessen auch eine Frage des geistigen Klimas, das in der Theologie
herrscht. Wenn man innerhalb der Theologie z. B. brisante Themen der
Moral diskutiert, dann wird sich jemand, der nicht bereits fest Professor ist,
hüten, öffentlich irgendetwas zu diesem Thema, das ja gesellschaftlich
relevant ist, zu sagen. Und zwar aus ganz naheliegenden Gründen – also
könnte man hier insofern doch von Ängstlichkeit sprechen. Aber ich glaube,
dass das einfach an der Atmosphäre liegt, die sich in den letzten
Jahrzehnten innerhalb der Theologie herausgebildet hat und die das freie
Nachdenken einfach schwierig macht, wenn man z. B. im akademischen
theologischen Sektor eine Karriere machen möchte. Das sind Dinge, die …
Küpper: … eigentlich absolut betrüblich sind.
Bordt: Ja, das ist absolut betrüblich. Denn zur Lösung von gesellschaftlichen
Problemen braucht es eben auch kreatives Nachdenken. Für Kreativität
braucht man jedoch einen angstfreien Raum. Und wenn dieser angstfreie
Raum nicht mehr gegeben ist, dann gibt es keine Kreativität mehr, dann
wird die ganze Diskussion steril.
Küpper: Das ist wieder – zu Recht, denn ich persönlich finde das sehr gut – die
Freiheit des Ordensmannes, die wir hier hören. Was müsste denn
geschehen, damit auch im Bereich der Theologie mehr freie Räume
geschaffen werden? Wer sitzt da am Hebel, wer müsste da etwas machen?
Die Studenten, die Professoren?
Bordt: Selbstverständlich müsste das von den Professoren ausgehen. Aber das
müsste eben auch von der Seite Roms ausgehen: und zwar von einer