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Akira Kurosawa - Der Krieger und die Kamera
                                                Von Klaus Wiesmüller

Akira Kurosawa gilt als einer der größten Regisseure aller Zeiten,
Filme wie Rashomon, Die Sieben Samurai oder Yojimbo wurden
umgehend zu Klassikern und dienen bis heute Filmfans und Film-
schaffenden gleichermaßen als Inspiration. In diesem Essay möch-
te ich bekannte und unbekannte Werke Kurosawas vorstellen und
der Frage nachgehen, was die Filme trotz ihrer Unterschiede ver-
bindet und welche Zusammenhänge zwischen Leben und Werk Ku-
rosawas gesehen werden können.

Akira Kurosawa wurde 1910 als Sohn einer alten Samurai-Familie
in Tokyo geboren. Sein Vater, ein ehemaliger Militärausbilder, legte
zwar großen Wert auf traditionelle Werte wie Strenge, Disziplin und
Selbstbeherrschung, war aber auch sehr aufgeschlossen. Er baute
beispielsweise das erste Schwimmbad Japans und maß Kinofilmen,
die er sich mit seiner Familie regelmäßig ansah, einen großen er-
zieherischen Wert bei. Die ersten Schuljahre waren für den jungen
Akira die Hölle (er beschreibt sich selbst als langsam, fast zurück-
geblieben, sowie als Heulsuse, weshalb er permanent unter den
Streichen seiner Mitschüler litt). Ein Schulwechsel und ein neuer
Kunstlehrer, der seine individuellen Talente erkannte und förderte
und kreatives Denken belohnte, machte den Schulgang erträgli-
cher. Außerdem lernte Akira eine noch größere Heulsuse kennen:
Keinosuke Uekusa. Die beiden wurden schnell beste Freunde, ver-
brachten viel Zeit zusammen und arbeiteten später sogar zusam-
men, denn Uekusa wurde Drehbuchautor.

Großen Einfluss auf den jungen Akira hatte außerdem sein älterer
Bruder Heigo, ein brillanter, hochintelligenter Schüler mit sehr ei-
genen Ansichten von der Welt. Er brachte Akira das Schwimmen
bei, indem er ihn einfach mitten auf dem See aus einem Boot stieß.
Außerdem lehrte er ihn nach dem Kanto-Erdebeben, das am 1.
September 1923 große Teile Tokyos zerstörte, eine zentrale Le-
bensweisheit: „Wenn man allem mit offenem Blick begegnet, gibt
es nichts, wovor man Angst haben müsste.“ Heigo nahm Akira
nämlich auf einen Rundgang durch die zerstörte Stadt mit. Als ein-
zige lebende Wesen weit und breit wanderten sie durch die Ruinen,
vorbei an Bergen verbrannter Leichen und an Kanälen und Flüssen,
deren Wasser von den darin treibenden Leichen rot gefärbt war.
Nach der Heimkehr erwartete Akira, eine Nacht voller Alpträume zu
verbringen, doch er schlief wie ein Stein, denn er hatte angesichts
der furchtbaren Szenen nicht weggesehen.

Nach dem Schulabschluss war Kurosawa fest entschlossen, Maler
zu werden. Sein Vater unterstützte ihn dabei, und schlug vor, er
solle auf die Kunstakademie gehen. Doch Akira hielt von einer aka-
demischen Kunstausbildung wenig, er war ein Mann der Tat, der
wenig auf theoretisches Hintergrundwissen gab. Entsprechend fiel
er bei den Aufnahmeprüfungen durch und verfolgte nach dem
Schulabschluss 1928 freie Studien. Sein Talent war unbestritten,
eines seiner Gemälde wurde sogar in eine Ausstellung aufgenom-
men. Doch die immer prekärer werdende wirtschaftliche Situation
seiner Familie erschwerte eine ernsthafte Malerei: Farben und
Leinwand waren einfach zu teuer geworden. Deshalb wandte sich
Kurosawa der Literatur, dem Theater und dem Film zu. Er war be-
reits seit seiner Jugend von den großen russischen Schriftstellern
begeistert gewesen, besonders von den Werken Dostojevskis, des-
sen „Idiot“ er später verfilmte. Außerdem empfahl ihm Heigo, der
mittlerweile als Benshi (Erzähler von Stummfilmen) tätig war, viele
wegweisende Filme. Doch dessen Existenz als Benshi war von den
immer populärer werdenden Tonfilmen bedroht, gemeinsam mit
anderen Erzählern ging er in den Streik, der aber scheiterte. Weni-
ge Monate später beging Heigo, Akiras großes Vorbild, Selbstmord.

Nach dem Tod Heigos war Kurosawa drei Jahre lang auf der Suche:
nach einem Stil als Maler, nach Gelegenheitsarbeiten, um seine
Familie zu unterstützen und um seine Materialien zu bezahlen. An-
gesichts langweiliger, uninspirierender Arbeiten wie Illustrationen
für Zeitschriften und Kochkurse und einer zunehmenden Frustrati-
on über die eigene Unfähigkeit, einen künstlerischen Stil zu entwi-
ckeln, begann er über eine berufliche Neuorientierung nachzuden-
ken. Eines Tages im Jahr 1935 fand er eine Anzeige in der Zeitung.
Das neu gegründete Filmstudio PCL suchte Regieassistenten.

Lehrjahre und die ersten eigenen Filme

Bei PCL traf Akira Kurosawa auf einen weiteren Lehrer, der seine
individuellen Talente förderte und ihn stark beeinflusste: der Regis-
seur Kajiro Yamamoto. Yama-san, wie er von Kurosawa und ande-
ren Mitarbeitern gern genannt wurde, war für seine erfolgreichen
Komödien und Musicals bekannt. Er legte großen Wert darauf, dass
seine Regieassistenten mit allen Bereichen der Filmproduktion Er-
fahrungen sammelten. Er ermunterte sie, eigene Ideen einzubrin-
gen und verwendete ihre Szenen auch dann in seinen Filmen, wenn
er einmal nicht zufrieden war. Über Yama-san schreibt Kurosawa in
seiner Autobiographie:

„Ich habe so viel über Filme und die Arbeit eines Filmregisseurs
von Yama-san gelernt, dass ich unmöglich alles beschreiben kann.
Er war ohne Frage der beste Lehrer. Der beste Beweis dafür ist die
Tatsache, dass die Werke seiner ‚Lehrlinge’ (er hasste dieses Wort)
seinem eigenen überhaupt nicht ähneln. Er achtete darauf, seine
Regieassistenten nicht zu beschränken, sondern förderte ihre indi-
viduellen Qualitäten.“

1942 war es dann so weit. Nachdem ein erstes Skript für ein eige-
nes Projekt von den Produzenten abgelehnt worden war, fand Ku-
rosawa in dem Buch Sanshiro Sugata eine Vorlage für seinen ers-
ten Film. In Sanshiro Sugata werden bereits eine Reihe von das
gesamte Werk Kurosawas prägenden Elementen erkennbar, so et-
wa das Thema des Films, das Verhältnis des Schülers Sanshiro zu
seinem Lehrmeister und die persönliche Entwicklung des Schülers.
Sanshiro will Judo lernen und begibt sich dazu in die Obhut eines
Meisters. Er ist überaus begabte, weiß aber nicht, wie er mit seinen
Fähigkeiten umgehen soll, die er willkürlich einsetzt. Der Meister
bleibt davon unbeeindruckt und fordert von Sanshiro Demut, Ge-
duld und Respekt anderen gegenüber sowie die Bereitschaft, sich
auf einen lebenslangen Weg zu einem besseren Selbst zu machen.

Auch die auf sich wechselseitig verstärkenden Kontrasten beruhen-
de dynamische Schnitttechnik Kurosawas findet sich bereits in sei-
nem Erstlingswerk. In einer Kampfszene, in der Sanshiro seinen
Gegner gegen eine Wand wirft, so dass dieser stirbt, experimen-
tiert er beispielsweise mit Zeitlupeneffekten, die später in Die Sie-
ben Samurai zum Ein-
satz kommen und die
den Effekt der schnellen
Bewegungen des Kamp-
fes    (extrem     schnelle
Schnitte)       dramatisch
verstärken     sowie    die
Endgültigkeit des Todes
hervorheben. Das Ent-
setzen und der Hass der
bei dem Kampf anwe-
senden Tochter des Ge-
töteten werden durch
eine lange Großaufnah-
me betont, die mit den
vorherigen        schnellen
Schnitten und Totalen
steht stark kontrastiert.

Kurosawas Faible für die Schaffung bedrohlicher oder dramatischer
Stimmung mittels bestimmter Wetterphänomene wie Wind und
Regen deutet sich ebenfalls bereits in Sanshiro Sugata an: Der fi-
nale Showdown findet unter offenem Himmel auf einem sturmum-
tosten Berg statt. In späteren Filmen wie Rashomon, Ein streunen-
der Hund, Die Sieben Samurai, Yojimbo oder Ran verwendet Kuro-
sawa diese Elemente bis zum Exzess, um die Bedeutung einer Sze-
ne hervorzuheben oder eine neue Entwicklung anzukündigen.

Sanshiro Sugata war ein Riesenhit und Kurosawa drehte bis
Kriegsende drei weitere Filme, darunter eine stark propagandis-
tisch gefärbte Fortsetzung von Sanshiro Sugata. Von den Kriegs-
jahren berichtet Kurosawa immer wieder mit großer Wut, die sich
vor allem gegen die Zensoren richtet, die mit ihrer fanatischen,
blinden Ablehnung alles dessen, was sie als nicht japanisch oder
schädlich für die Kriegsanstrengungen betrachteten (dazu gehörten
u.a. singende Kinder, nackte Frauenfüße oder eine Geburtstagspar-
ty), ihm und anderen Filmschaffenden das Leben zu Hölle machten.

Kriegsende und die frühen Heldenfilme

Akira Kurosawas erster Nachkriegsfilm, Kein Bedauern für meine
Jugend, beschäftigte sich dann auch gleich mit der militaristischen
Vergangenheit Japans: Im Mittelpunkt der Handlung stehen Yukie,
Tochter eines liberalen Professors, und ihre Liebe zu dem linken
Aktivisten Noge, der als Spion verhaftet und zu Tode gefoltert wird.
Diese Ereignisse geben aber nur den Rahmen für Yukies Kampf
gegen die Widrigkeiten des Lebens ab, durch den sie Charakter-
stärke, Disziplin und Mut in sich entdeckt und durch den sie zu sich
selbst findet. Dadurch wird sie zum Prototyp des Kurosawa-Helden,
der sich immer mit dem Dilemma auseinandersetzen muss, dass
der Weg zur Selbsterkenntnis und zur Verbesserung gesellschaftli-
cher Zustände ein einsamer Weg ist. Gleichzeitig ist ein Leben oh-
ne Hingabe an ein Ideal, ein höheres Ziel oder einen Lehrer aber
leer, bedeutungslos und Ausdruck von Selbstsucht.

Diesen Weg zur Selbster-
kenntnis zeigt Kein Be-
dauern für meine Jugend
exemplarisch auf: Yukie,
die verwöhnte, naive Pro-
fessorentochter die nichts
von den Härten des Le-
bens weiß und deren Liebe
zu Noge unerfüllt bleibt,
bis sie beginnt, eigenstän-
dig das Leben zu erkun-
den und ihm nach Tokyo
folgt. Dort werden die bei-
den ein Paar, doch Noge
wird unter dem Vorwurf
der Spionage und getötet.
Der Tod Noges und Yukies
Entscheidung, als Witwe
bei seinen Eltern auf dem Land zu leben, sind der Wendepunkt des
Films und der Beginn eines Martyriums. Von den Dorfbewohnern
ausgegrenzt und gehasst, von den Schwiegereltern nicht akzep-
tiert, schuftet sie bis zur Erschöpfung auf den Feldern. Langsam
gewinnt sie den Respekt ihrer Schwiegereltern und wird zu einer
selbstbewussten, aufrechten und mutigen Frau.

Über seine Helden schrieb Kurosawa: „Ich mag ungeformte Typen,
die aus Material gemacht sind, das umso heller und heller glänzt,
je mehr man sie poliert.“

Kurosawas Ansicht, dass sich der Mensch durch seine Taten defi-
niert und dass der Weg zur Selbstfindung über Disziplin, Mut, Auf-
richtigkeit und Hingabe führt, erscheinen angesichts seiner Her-
kunft und der strengen Erziehung durch Vater und Bruder nur allzu
logisch. Diese zeitlosen Kriegerideale finden sich in den meisten
Filmen seiner Reifephase, zusammen mit dem Interesse für die
Entwicklung des Helden und dem Bewusstsein, dass Gut und Böse
nur durch Haaresbreite getrennt sind. Denn ob aus dem Rohdia-
manten ein glänzender Brillant wird oder ob er zerschleißt, hängt in
Kurosawas Filmen nicht zuletzt von den Lebensumständen, der
Umwelt – dem Schicksal ab. Niemals wird man eine simple, auf
schwarz-weißen Gegensätzen beruhende Gegenüberstellung von
guten und schlechten Menschen finden. Stattdessen betont er die
Relativität von Gut und Böse: Häufig finden sich Szenen, in denen
die Unterschiede zwischen dem Schurken und dem Helden ver-
schwimmen, oder Showdowns, in denen sich zwei in ihrem Wesen
und ihren Fähigkeiten ähnliche Menschen gegenüberstehen, weil
das Schicksal sie auf unterschiedliche Seiten verschlagen hat.

Das wohl konsequentes-
te Beispiel dafür ist der
Showdown in Ein streu-
nender Hund, in dem
Toshiro   Mifune    einen
Mörder verfolgt und in
einem Wald (ein bei Ku-
rosawa häufig vorkom-
mendes Symbol für die
Abgründe der menschli-
chen Seele) stellt. Am
Ende des im Matsch ei-
nes Tümpels ausgetra-
genen Kampfes liegen
beide erschöpft auf einer
Wiese, und sind nicht
mehr unterscheidbar.

Kurosawa entwickelt in seinen frühen Nachkriegsfilmen nicht nur
ein sozialkritisches Heldenkino, sondern auch besondere Techniken
und visuelle Stilelemente, um den Raum bzw. das Bild für Aussa-
gen über seine Charaktere zu nutzen. Dazu gehören die lineare
Fragmentierung des Raums und die Kompression des Raums mit
Hilfe starker Teleobjektive, auf die ich später noch zu sprechen
komme. Mit linearer Fragmentierung ist eine Bildgestaltung ge-
meint, in der sich wiederholende Linien und flächenhafte Muster
dominieren, und die damit die innere Zerrissenheit der Charaktere
zum Ausdruck bringt. Beispiele wären eine Szene aus Der trunkene
Engel, in dem das Bild des von Mifune verkörperten Yakuza in ei-
nem Spiegel mehrfach reflektiert wird. Im selben Film wird der von
Takashi Shimura gespielte Arzt wiederholt in Räumen gezeigt, in
denen durch die Jalousien hereinfallende Sonnenstrahlen ein Mus-
ter aus Licht und Schatten an die Wand werfen. Die wohl
konsequenteste Anwendung linearer Fragmentierung ist die erste
Hälfte von Zwischen Himmel und Hölle, in der der Hauptcharakter
zwischen der Aufgabe seines Vermögens und der Rettung des
entführten Sohnes seines Chauffeurs wählen muss und in der der
gesamte Bildhintergrund von den Raum einnehmenden und ihn
damit strukturierenden Vorhangfalten dominiert wird.

Die Reifephase der 1950er und 1960er Jahre

In Rashomon, Kurosawas internationalem Durchbruch, verwendet
er die vertikale bzw. horizontale Strukturierung des Raums dage-
gen als Stilmittel, um die unterschiedlichen Handlungsebenen des
Films abzugrenzen. Rashomon ist geprägt durch die Zahl drei: Es
gibt drei Handlungsebenen, nämlich den Wald, in dem die Ermor-
dung eines Samurai und die Vergewaltigung seiner Frau stattfin-
den, den Gerichtshof, in dem der Hergang des Verbrechens aus
drei verschiedenen Perspektiven berichtet wird, und das Rasho-
mon-Tor, wo ein Holzfäller und ein Priester einem dritten Mann von
den Geschehnissen be-
richten. In jeder der drei
Handlungsebenen       sind
immer nur drei Personen
zu sehen. Die Szenen
am Rashomon-Tor sind
durch vertikale Struktu-
ren geprägt (die Pfeiler,
der Regen) und der Ge-
richtshof durch horizon-
tale (siehe Screenshot).
Der von einem Chaos
aus Licht und Schatten
dominierte Wald dage-
gen dient wieder als
Symbol für die Unerklär-
lichkeit und Irrationalität
menschlichen Handelns.

Mit Rashomon erreichte Kurosawa (und mit ihm das gesamte japa-
nische Kino) internationale Anerkennung und Bekanntheit. Die
Auszeichnung mit dem Goldenen Löwen in Venedig machte ihn ü-
ber Nacht zum gefeierten Meisterregisseur. Zugleich markiert Ras-
homon das Ende des Experimentierens und den Auftakt zu einer
15-jährigen Schaffensphase, in dem Kurosawa konstant Filme von
allerhöchster Qualität und künstlerischer Reife drehte.

Sein wahrscheinlich bekanntester Film aus dieser Zeit ist Die Sie-
ben Samurai, der viele der zuvor erprobten Stilmittel, Motive und
Themen zusammenführt und in dem Kurosawa darüber hinaus
erstmals durch den Einsatz von starken Teleobjektiven den Zu-
schauer auf bisher nie da gewesene Weise direkt in das Geschehen
hineinzieht. Mit der Verwendung der Teleobjektive erreicht er aber
auch die starke Kompression des auf der Leinwand dargestellten
Raums, das oben erwähnte zweite wichtige Element in Kurosawas
Inszenierung seiner Charaktere neben der Fragmentierung des
Raums. Es ist besonders dieser Effekt, der die finale Schlacht in Die
Sieben Samurai auch heute noch so unglaublich packend macht.

Kurosawa benutzt die Möglichkeiten der Teleobjektive aber auch
zur Konstruktion von Zusammengehörigkeit von Personen und so-
zialen Gruppen, etwa gleich zu Beginn von Die Sieben Samurai. Die
Bauern des von Banditen bedrohten Dorfes versammeln sich und
beklagen ihr Schicksal. Einer aus ihrer Mitte versucht die anderen
zu überreden, gegen die Banditen zu kämpfen. Er steht mit seiner
Meinung jedoch allein da und wird so aus der Vogelperspektive vo-
rübergehend zum Außenseiter. Durch einen brillanten Schnitt auf
eine ebenerdige Einstellung, in der der Raum zwischen dem Au-
ßenseiter und der Gruppe durch den starken Telezoom nicht mehr
als Distanz wahrnehmbar ist, macht Kurosawa aber sofort klar,
dass der Bauer trotz der Meinungsverschiedenheit nach wie vor Teil
seiner sozialen Gruppe ist.

Letztlich    entschließen
sich die Bauern, das
Wagnis einzugehen, die
Banditen zu bekämpfen
und machen sich dazu
auf die Suche nach ge-
eigneten Samurai. Be-
merkenswert an diesem
Teil des Films ist der ra-
dikale Bruch mit den
Traditionen des chamba-
ra,     des   klassischen
Schwertkampffilms.      In
diesen Filmen wurden –
gerade     während    des
Krieges – Samurai im-
mer als unvergleichlich
nobel, aufrecht, selbstlos
und heldenmütig bis zum Tod dargestellt. Kurosawas Samurai da-
gegen sind ganz normale Menschen: Sie haben Angst vor dem
Feind, retten ihr Leben zur Not auch indem sie sich verstecken o-
der davonlaufen, sie trinken, lachen, sind mal gutmütig und hilfs-
bereit und mal zornig und unberechenbar.

Auch bei der Darstellung der Lebensbedingungen und insbesondere
der Kampfszenen legte Kurosawa größten Wert auf Realismus. So
unterscheiden sich seine Schwertkämpfe völlig von den klassi-
schen, eher an Ballett erinnernden chambara-Kämpfen. Bei Kuro-
sawa besteht ein Kampf oft aus nur einem einzigen Schwerthieb,
wenn dieser von einem erfahrenen Samurai ausgeführt wird, oder
aus planlosem Herumrennen und Schwertgefuchtel, wenn die Bau-
ern am Werk sind. Mit dieser Art der realistischen Darstellung sollte
Kurosawa insbesondere mit seinen späteren Filmen Yojimbo und
Sanjuro das gesamte Schwertkampfgenre verändern.

Wie viele Helden Kurosawas kämpfen die sieben Samurai (oder
zumindest einige von ihnen) letztlich für ein höheres Gut: Sie stre-
ben nach Vollkommenheit ihrer Kampftechnik, kämpfen für die Ü-
berwindung gesellschaftlicher Schranken oder für eine bessere,
gerechtere Welt, in der Bauern nicht mehr in Furcht leben müssen.
Die drei überlebenden Samurai müssen am Ende aber erkennen,
dass ihnen letztlich nichts bleibt außer dem Leben an sich. Die
Bauern feiern den Sieg, bepflanzen die Reisfelder und leben trotz
der gemeinsam gefochtenen Schlachten in einer anderen Welt als
die Samurai, die mit der Erinnerung an ihre toten Kameraden ein-
sam zurückbleiben. Die gesellschaftlichen Schranken bleiben be-
stehen und der Kampf für eine bessere Welt ist ein einsamer.
Dieses Dilemma beschäftigte Kurosawa in der Folge vor allem in
seinen zeitgenössischen Filmen: Bilanz eines Lebens ist das Porträt
eines Vaters, der sich und seine Familie vor der Gefahr eines A-
tomkriegs durch die Auswanderung nach Brasilien in Sicherheit
bringen will, dabei aber auf den erbitterten Widerstand seiner Fa-
milie stößt und dadurch den Verstand verliert. Die Bösen schlafen
gut beschäftigt sich mit den kriminellen Machenschaften, die aus
der engen Verflechtung von Industriekonzernen und Politik in Ja-
pan folgen, und dem vergeblichen Rachefeldzug Toshiro Mifunes
gegen einen korrupten Führungszirkel.

Pessimismus und eine Verzweiflungstat

Großen kommerziellen Erfolg hatte Kurosawa auch Anfang der
1960er Jahre mit Yojimbo, dessen Fortsetzung Sanjuro und Rot-
bart, über den er sich jedoch mit Toshiro Mifune zerstritt. Die bei-
den sollten nie wieder einen Film zusammen drehen, was Kurosawa
später sehr bedauerte. Dann änderten sich die Arbeitsbedingungen
jedoch dramatisch: Durch den Siegeszug des Fernsehens sanken
die Einnahmen an den Kinokassen, drei große Filmstudios (Daei,
Shintoho, Nikkatsu) gingen Bankrott und die verbleibenden setzten
auf schnell und billig produzierte Genrefilme. Unter diesen Bedin-
gungen hatte der für seinen Perfektionismus gefürchtete Kurosawa
große Probleme, die Finanzierung seiner Projekte zu sichern. Sein
Engagement für das Amerikanisch-Japanische Großprojekt Tora!
Tora! Tora! endete in einem Debakel und mit seinem Rückzug.
Schließlich gründete er mit drei weiteren Regisseuren ein eigenes
Produktionsstudio und drehte 1970 Dodesukaden, sein erster Film
in fünf Jahren und sein erster Farbfilm. Dodesukaden floppte aber
an den Kinokassen, worauf sich das gerade gegründete Studio so-
fort wieder auflöste und Akira Kurosawa in eine tiefe Krise stürzte.
Am 22. Dezember 1971 unternahm er einen Selbstmordversuch.

Erst ein Angebot der sowjetischen Produktionsgesellschaft Mosfilm
ermöglichte es Kurosawa 1975 wieder, hinter die Kamera zu tre-
ten. Obwohl der daraus resultierende Film Dersu Uzala von der Kri-
tik begeistert aufgenommen wurde, blieb es dabei, dass sich kein
Studio für einen weiteren Film fand. Nur mit Hilfe zweier großer
Bewunderer aus Amerika, Francis Ford Coppola und George Lucas,
brachte Kurosawa schließlich das Geld für Kagemusha zusammen,
der sehr erfolgreich in den Kinos lief und auch prompt zwei Oscar-
nominierungen erhielt. Kurosawa selbst betrachtete Kagemusha,
das desillusionierende Porträt eines Diebes, der als Double für ei-
nen gestorbenen Fürsten einspringt, nach eigener Aussage lediglich
als Probelauf für das Werk, das er selbst als den Höhepunkt seines
filmischen Schaffens schon seit Jahren plante: Ran.

Ran unterscheidet sich von den bisher vorgestellten Filmen durch
einen ausgesprochenen Pessimismus gegenüber menschlichem
Handeln, steht damit aber ein Stück weit repräsentativ für die zwi-
schen 1970 und 1990 entstandenen vier Filme. Er handelt vom al-
ternden Fürsten Hidetora, der sein Reich unter seinen drei Söhnen
aufteilt, die sich anschließend bekriegen und Hidetora verstoßen.
All die Untaten, die er in seinem langen Leben begangen hat, holen
ihn nun ein, denn seine Söhne verhalten sich nur so, wie er es ih-
nen immer vorgelebt hat. Die Welt ist in Ran ein Ort, an dem Wer-
te nichts zählen, an dem die sich gegenseitig barbarisch abschlach-
tende Menschheit am Abgrund steht und den Göttern nur ver-
ständnisloses Zusehen bleibt. Kurosawa, der Regisseur, der
Schlachten und Schwertkämpfe immer realistisch bis zum Äußers-
ten dargestellt hatte, verzichtet nun auf Ton und weitgehend auch
auf Farben, um die Schrecken von Krieg und Tod hervorzuheben.

Altgediente Techniken und Stilmittel wie die Verwendung extremer
Teleobjektive zur Komprimierung des Raums oder den Einsatz von
Wind und Wetter, um entscheidende Wendepunkte zu illustrieren,
erinnern an alte Meisterwerke. Neu ist bei Ran jedoch eine alp-
traumhafte Ästhetik, die den früheren Realismus in vielen Szenen
verdrängt      und
dem Zuschauer
die kommentie-
rende Perspekti-
ve des Regis-
seurs aufdrängt.
Deutlich      wird
dies etwa in den
bereits erwähn-
ten Schlachten-
szenen        oder
durch die sur-
reale Darstellung
von     Hidetoras
Abgleiten in den
Wahnsinn (siehe
Screenshot).
Außerdem ist Ran von starker Verfremdung, Generalisierung und
Schematisierung vor allem der Charaktere geprägt: Drei Söhne mit
einer je eigenen, fest zugeordneten Farbe und die idealtypische
Verkörperung bestimmter menschlicher Eigenschaften (Rachsucht,
Gier, Ehrgeiz, Schwäche, Güte, Grausamkeit, Loyalität, Aufrichtig-
keit, Selbstlosigkeit) durch die Charaktere, die so gar nicht zu den
früheren Filmen passen will, machen Ran zusammen mit der surre-
alen Atmosphäre zu einer Parabel menschlichen Verhaltens. Kuro-
sawa will dem Zuschauer eine Lektion erteilen, die er aber nicht
fühlen soll (Mitgefühl und Empathie entstehen zu keinem Zeit-
punkt, der Zuschauer ist immer distanziert), sondern verstehen.
Die schwere Krise, die Kurosawa durchlebt hat und seine wieder-
holte tiefe Enttäuschung in den vorangegangenen Jahren machen
diese Lektion zu einer sehr trostlosen und pessimistischen.

Versöhnliches Spätwerk

Nachdem Akira Kurosawa in zwei Jahrzehnten lediglich vier Filme
gedreht hatte, blühte er im Alter von 80 Jahren noch einmal auf.
Innerhalb von drei Jahren entstanden drei Filme, die sich allerdings
grundlegend sowohl von seinen frühen und klassischen Filmen als
auch von denen der „Pessimismusphase“ unterscheiden. Das Leh-
rer-Schüler-Verhältnis findet sich zwar in Rhapsody in August und
Madadayo, nimmt aber einen völlig anderen Charakter an. Es geht
weniger um einen Kampf der Schüler mit sich selbst unter mehr
oder weniger gestrenger Anleitung durch einen Meister, als viel-
mehr um nostalgische Rückblicke und die wohlmeinende Weiterga-
be von Lebenserfahrung, häufig in langen Monologen. Ein neues
Thema ist die Auseinandersetzung mit dem herannahenden Tod,
die im Meister selbst die Erkenntnis reifen lässt, dass das Leben
trotz all der Kämpfe gerade im Kleinen viel Schönes zu bieten hat,
und die einer großen Wertschätzung des Lebens Ausdruck gibt.

Entsprechend herrscht in diesen späten Filmen Kurosawas eine
kontemplative, fast besinnliche Stimmung, unterbrochen von hu-
morigen Einlagen und angereichert mit ganz viel Nostalgie und
Sentimentalität. Erheblichen Anteil an dieser Stimmung hat ein
vollkommen veränderter visueller Stil: Kurosawa verzichtet fast
völlig (mit Ausnahme der Schlussszene von Rhapsody in August)
auf die faszinierende und mitreißende Dynamik früherer Filme.
Stattdessen dominieren statische Bilder, alltägliche Szenen von
gemeinsamen
Abendessen oder
lange Gespräche
auf der Veranda,
die an die Filme
Ozus oder Naru-
ses     erinnern.
Visuell    kehrte
Kurosawa       zu
seinen Wurzeln
in der Malerei
zurück und schuf
gerade poetische
Szenen von fas-
zinierender,
umwerfender
Schönheit.

Der Krieger in Kurosawa kam zur Ruhe und erzählte nun im Kreise
seiner Kinder und Freunde Geschichten aus seinem bewegten Le-
ben und versuchte, dem Tod noch eine Weile von der Schippe zu
springen, um die Schönheit des Lebens zu genießen. Akira Kuro-
sawa starb am 6. September 1998 im Alter von 88 Jahren.


Literatur zu Akira Kurosawa:
Galbraith, Stuart IV: The Emperor and the Wolf
Kurosawa, Akira: Something like an Autobiography
Prince, Stephen: The Warrior’s Camera
Richie, Donald: The Films of Akira Kurosawa
Yoshimoto, Mitsuhiro: Kurosawa – Film Studies and Japanese Cinema

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Akira Kurosawa - Der Krieger und die Kamera

  • 1. Akira Kurosawa - Der Krieger und die Kamera Von Klaus Wiesmüller Akira Kurosawa gilt als einer der größten Regisseure aller Zeiten, Filme wie Rashomon, Die Sieben Samurai oder Yojimbo wurden umgehend zu Klassikern und dienen bis heute Filmfans und Film- schaffenden gleichermaßen als Inspiration. In diesem Essay möch- te ich bekannte und unbekannte Werke Kurosawas vorstellen und der Frage nachgehen, was die Filme trotz ihrer Unterschiede ver- bindet und welche Zusammenhänge zwischen Leben und Werk Ku- rosawas gesehen werden können. Akira Kurosawa wurde 1910 als Sohn einer alten Samurai-Familie in Tokyo geboren. Sein Vater, ein ehemaliger Militärausbilder, legte zwar großen Wert auf traditionelle Werte wie Strenge, Disziplin und Selbstbeherrschung, war aber auch sehr aufgeschlossen. Er baute beispielsweise das erste Schwimmbad Japans und maß Kinofilmen, die er sich mit seiner Familie regelmäßig ansah, einen großen er- zieherischen Wert bei. Die ersten Schuljahre waren für den jungen Akira die Hölle (er beschreibt sich selbst als langsam, fast zurück- geblieben, sowie als Heulsuse, weshalb er permanent unter den Streichen seiner Mitschüler litt). Ein Schulwechsel und ein neuer Kunstlehrer, der seine individuellen Talente erkannte und förderte und kreatives Denken belohnte, machte den Schulgang erträgli- cher. Außerdem lernte Akira eine noch größere Heulsuse kennen: Keinosuke Uekusa. Die beiden wurden schnell beste Freunde, ver- brachten viel Zeit zusammen und arbeiteten später sogar zusam- men, denn Uekusa wurde Drehbuchautor. Großen Einfluss auf den jungen Akira hatte außerdem sein älterer Bruder Heigo, ein brillanter, hochintelligenter Schüler mit sehr ei- genen Ansichten von der Welt. Er brachte Akira das Schwimmen bei, indem er ihn einfach mitten auf dem See aus einem Boot stieß. Außerdem lehrte er ihn nach dem Kanto-Erdebeben, das am 1. September 1923 große Teile Tokyos zerstörte, eine zentrale Le- bensweisheit: „Wenn man allem mit offenem Blick begegnet, gibt es nichts, wovor man Angst haben müsste.“ Heigo nahm Akira nämlich auf einen Rundgang durch die zerstörte Stadt mit. Als ein- zige lebende Wesen weit und breit wanderten sie durch die Ruinen, vorbei an Bergen verbrannter Leichen und an Kanälen und Flüssen, deren Wasser von den darin treibenden Leichen rot gefärbt war. Nach der Heimkehr erwartete Akira, eine Nacht voller Alpträume zu verbringen, doch er schlief wie ein Stein, denn er hatte angesichts der furchtbaren Szenen nicht weggesehen. Nach dem Schulabschluss war Kurosawa fest entschlossen, Maler zu werden. Sein Vater unterstützte ihn dabei, und schlug vor, er solle auf die Kunstakademie gehen. Doch Akira hielt von einer aka- demischen Kunstausbildung wenig, er war ein Mann der Tat, der wenig auf theoretisches Hintergrundwissen gab. Entsprechend fiel er bei den Aufnahmeprüfungen durch und verfolgte nach dem Schulabschluss 1928 freie Studien. Sein Talent war unbestritten,
  • 2. eines seiner Gemälde wurde sogar in eine Ausstellung aufgenom- men. Doch die immer prekärer werdende wirtschaftliche Situation seiner Familie erschwerte eine ernsthafte Malerei: Farben und Leinwand waren einfach zu teuer geworden. Deshalb wandte sich Kurosawa der Literatur, dem Theater und dem Film zu. Er war be- reits seit seiner Jugend von den großen russischen Schriftstellern begeistert gewesen, besonders von den Werken Dostojevskis, des- sen „Idiot“ er später verfilmte. Außerdem empfahl ihm Heigo, der mittlerweile als Benshi (Erzähler von Stummfilmen) tätig war, viele wegweisende Filme. Doch dessen Existenz als Benshi war von den immer populärer werdenden Tonfilmen bedroht, gemeinsam mit anderen Erzählern ging er in den Streik, der aber scheiterte. Weni- ge Monate später beging Heigo, Akiras großes Vorbild, Selbstmord. Nach dem Tod Heigos war Kurosawa drei Jahre lang auf der Suche: nach einem Stil als Maler, nach Gelegenheitsarbeiten, um seine Familie zu unterstützen und um seine Materialien zu bezahlen. An- gesichts langweiliger, uninspirierender Arbeiten wie Illustrationen für Zeitschriften und Kochkurse und einer zunehmenden Frustrati- on über die eigene Unfähigkeit, einen künstlerischen Stil zu entwi- ckeln, begann er über eine berufliche Neuorientierung nachzuden- ken. Eines Tages im Jahr 1935 fand er eine Anzeige in der Zeitung. Das neu gegründete Filmstudio PCL suchte Regieassistenten. Lehrjahre und die ersten eigenen Filme Bei PCL traf Akira Kurosawa auf einen weiteren Lehrer, der seine individuellen Talente förderte und ihn stark beeinflusste: der Regis- seur Kajiro Yamamoto. Yama-san, wie er von Kurosawa und ande- ren Mitarbeitern gern genannt wurde, war für seine erfolgreichen Komödien und Musicals bekannt. Er legte großen Wert darauf, dass seine Regieassistenten mit allen Bereichen der Filmproduktion Er- fahrungen sammelten. Er ermunterte sie, eigene Ideen einzubrin- gen und verwendete ihre Szenen auch dann in seinen Filmen, wenn er einmal nicht zufrieden war. Über Yama-san schreibt Kurosawa in seiner Autobiographie: „Ich habe so viel über Filme und die Arbeit eines Filmregisseurs von Yama-san gelernt, dass ich unmöglich alles beschreiben kann. Er war ohne Frage der beste Lehrer. Der beste Beweis dafür ist die Tatsache, dass die Werke seiner ‚Lehrlinge’ (er hasste dieses Wort) seinem eigenen überhaupt nicht ähneln. Er achtete darauf, seine Regieassistenten nicht zu beschränken, sondern förderte ihre indi- viduellen Qualitäten.“ 1942 war es dann so weit. Nachdem ein erstes Skript für ein eige- nes Projekt von den Produzenten abgelehnt worden war, fand Ku- rosawa in dem Buch Sanshiro Sugata eine Vorlage für seinen ers- ten Film. In Sanshiro Sugata werden bereits eine Reihe von das gesamte Werk Kurosawas prägenden Elementen erkennbar, so et- wa das Thema des Films, das Verhältnis des Schülers Sanshiro zu seinem Lehrmeister und die persönliche Entwicklung des Schülers. Sanshiro will Judo lernen und begibt sich dazu in die Obhut eines
  • 3. Meisters. Er ist überaus begabte, weiß aber nicht, wie er mit seinen Fähigkeiten umgehen soll, die er willkürlich einsetzt. Der Meister bleibt davon unbeeindruckt und fordert von Sanshiro Demut, Ge- duld und Respekt anderen gegenüber sowie die Bereitschaft, sich auf einen lebenslangen Weg zu einem besseren Selbst zu machen. Auch die auf sich wechselseitig verstärkenden Kontrasten beruhen- de dynamische Schnitttechnik Kurosawas findet sich bereits in sei- nem Erstlingswerk. In einer Kampfszene, in der Sanshiro seinen Gegner gegen eine Wand wirft, so dass dieser stirbt, experimen- tiert er beispielsweise mit Zeitlupeneffekten, die später in Die Sie- ben Samurai zum Ein- satz kommen und die den Effekt der schnellen Bewegungen des Kamp- fes (extrem schnelle Schnitte) dramatisch verstärken sowie die Endgültigkeit des Todes hervorheben. Das Ent- setzen und der Hass der bei dem Kampf anwe- senden Tochter des Ge- töteten werden durch eine lange Großaufnah- me betont, die mit den vorherigen schnellen Schnitten und Totalen steht stark kontrastiert. Kurosawas Faible für die Schaffung bedrohlicher oder dramatischer Stimmung mittels bestimmter Wetterphänomene wie Wind und Regen deutet sich ebenfalls bereits in Sanshiro Sugata an: Der fi- nale Showdown findet unter offenem Himmel auf einem sturmum- tosten Berg statt. In späteren Filmen wie Rashomon, Ein streunen- der Hund, Die Sieben Samurai, Yojimbo oder Ran verwendet Kuro- sawa diese Elemente bis zum Exzess, um die Bedeutung einer Sze- ne hervorzuheben oder eine neue Entwicklung anzukündigen. Sanshiro Sugata war ein Riesenhit und Kurosawa drehte bis Kriegsende drei weitere Filme, darunter eine stark propagandis- tisch gefärbte Fortsetzung von Sanshiro Sugata. Von den Kriegs- jahren berichtet Kurosawa immer wieder mit großer Wut, die sich vor allem gegen die Zensoren richtet, die mit ihrer fanatischen, blinden Ablehnung alles dessen, was sie als nicht japanisch oder schädlich für die Kriegsanstrengungen betrachteten (dazu gehörten u.a. singende Kinder, nackte Frauenfüße oder eine Geburtstagspar- ty), ihm und anderen Filmschaffenden das Leben zu Hölle machten. Kriegsende und die frühen Heldenfilme Akira Kurosawas erster Nachkriegsfilm, Kein Bedauern für meine Jugend, beschäftigte sich dann auch gleich mit der militaristischen
  • 4. Vergangenheit Japans: Im Mittelpunkt der Handlung stehen Yukie, Tochter eines liberalen Professors, und ihre Liebe zu dem linken Aktivisten Noge, der als Spion verhaftet und zu Tode gefoltert wird. Diese Ereignisse geben aber nur den Rahmen für Yukies Kampf gegen die Widrigkeiten des Lebens ab, durch den sie Charakter- stärke, Disziplin und Mut in sich entdeckt und durch den sie zu sich selbst findet. Dadurch wird sie zum Prototyp des Kurosawa-Helden, der sich immer mit dem Dilemma auseinandersetzen muss, dass der Weg zur Selbsterkenntnis und zur Verbesserung gesellschaftli- cher Zustände ein einsamer Weg ist. Gleichzeitig ist ein Leben oh- ne Hingabe an ein Ideal, ein höheres Ziel oder einen Lehrer aber leer, bedeutungslos und Ausdruck von Selbstsucht. Diesen Weg zur Selbster- kenntnis zeigt Kein Be- dauern für meine Jugend exemplarisch auf: Yukie, die verwöhnte, naive Pro- fessorentochter die nichts von den Härten des Le- bens weiß und deren Liebe zu Noge unerfüllt bleibt, bis sie beginnt, eigenstän- dig das Leben zu erkun- den und ihm nach Tokyo folgt. Dort werden die bei- den ein Paar, doch Noge wird unter dem Vorwurf der Spionage und getötet. Der Tod Noges und Yukies Entscheidung, als Witwe bei seinen Eltern auf dem Land zu leben, sind der Wendepunkt des Films und der Beginn eines Martyriums. Von den Dorfbewohnern ausgegrenzt und gehasst, von den Schwiegereltern nicht akzep- tiert, schuftet sie bis zur Erschöpfung auf den Feldern. Langsam gewinnt sie den Respekt ihrer Schwiegereltern und wird zu einer selbstbewussten, aufrechten und mutigen Frau. Über seine Helden schrieb Kurosawa: „Ich mag ungeformte Typen, die aus Material gemacht sind, das umso heller und heller glänzt, je mehr man sie poliert.“ Kurosawas Ansicht, dass sich der Mensch durch seine Taten defi- niert und dass der Weg zur Selbstfindung über Disziplin, Mut, Auf- richtigkeit und Hingabe führt, erscheinen angesichts seiner Her- kunft und der strengen Erziehung durch Vater und Bruder nur allzu logisch. Diese zeitlosen Kriegerideale finden sich in den meisten Filmen seiner Reifephase, zusammen mit dem Interesse für die Entwicklung des Helden und dem Bewusstsein, dass Gut und Böse nur durch Haaresbreite getrennt sind. Denn ob aus dem Rohdia- manten ein glänzender Brillant wird oder ob er zerschleißt, hängt in Kurosawas Filmen nicht zuletzt von den Lebensumständen, der Umwelt – dem Schicksal ab. Niemals wird man eine simple, auf
  • 5. schwarz-weißen Gegensätzen beruhende Gegenüberstellung von guten und schlechten Menschen finden. Stattdessen betont er die Relativität von Gut und Böse: Häufig finden sich Szenen, in denen die Unterschiede zwischen dem Schurken und dem Helden ver- schwimmen, oder Showdowns, in denen sich zwei in ihrem Wesen und ihren Fähigkeiten ähnliche Menschen gegenüberstehen, weil das Schicksal sie auf unterschiedliche Seiten verschlagen hat. Das wohl konsequentes- te Beispiel dafür ist der Showdown in Ein streu- nender Hund, in dem Toshiro Mifune einen Mörder verfolgt und in einem Wald (ein bei Ku- rosawa häufig vorkom- mendes Symbol für die Abgründe der menschli- chen Seele) stellt. Am Ende des im Matsch ei- nes Tümpels ausgetra- genen Kampfes liegen beide erschöpft auf einer Wiese, und sind nicht mehr unterscheidbar. Kurosawa entwickelt in seinen frühen Nachkriegsfilmen nicht nur ein sozialkritisches Heldenkino, sondern auch besondere Techniken und visuelle Stilelemente, um den Raum bzw. das Bild für Aussa- gen über seine Charaktere zu nutzen. Dazu gehören die lineare Fragmentierung des Raums und die Kompression des Raums mit Hilfe starker Teleobjektive, auf die ich später noch zu sprechen komme. Mit linearer Fragmentierung ist eine Bildgestaltung ge- meint, in der sich wiederholende Linien und flächenhafte Muster dominieren, und die damit die innere Zerrissenheit der Charaktere zum Ausdruck bringt. Beispiele wären eine Szene aus Der trunkene Engel, in dem das Bild des von Mifune verkörperten Yakuza in ei- nem Spiegel mehrfach reflektiert wird. Im selben Film wird der von Takashi Shimura gespielte Arzt wiederholt in Räumen gezeigt, in denen durch die Jalousien hereinfallende Sonnenstrahlen ein Mus- ter aus Licht und Schatten an die Wand werfen. Die wohl konsequenteste Anwendung linearer Fragmentierung ist die erste Hälfte von Zwischen Himmel und Hölle, in der der Hauptcharakter zwischen der Aufgabe seines Vermögens und der Rettung des entführten Sohnes seines Chauffeurs wählen muss und in der der gesamte Bildhintergrund von den Raum einnehmenden und ihn damit strukturierenden Vorhangfalten dominiert wird. Die Reifephase der 1950er und 1960er Jahre In Rashomon, Kurosawas internationalem Durchbruch, verwendet er die vertikale bzw. horizontale Strukturierung des Raums dage- gen als Stilmittel, um die unterschiedlichen Handlungsebenen des
  • 6. Films abzugrenzen. Rashomon ist geprägt durch die Zahl drei: Es gibt drei Handlungsebenen, nämlich den Wald, in dem die Ermor- dung eines Samurai und die Vergewaltigung seiner Frau stattfin- den, den Gerichtshof, in dem der Hergang des Verbrechens aus drei verschiedenen Perspektiven berichtet wird, und das Rasho- mon-Tor, wo ein Holzfäller und ein Priester einem dritten Mann von den Geschehnissen be- richten. In jeder der drei Handlungsebenen sind immer nur drei Personen zu sehen. Die Szenen am Rashomon-Tor sind durch vertikale Struktu- ren geprägt (die Pfeiler, der Regen) und der Ge- richtshof durch horizon- tale (siehe Screenshot). Der von einem Chaos aus Licht und Schatten dominierte Wald dage- gen dient wieder als Symbol für die Unerklär- lichkeit und Irrationalität menschlichen Handelns. Mit Rashomon erreichte Kurosawa (und mit ihm das gesamte japa- nische Kino) internationale Anerkennung und Bekanntheit. Die Auszeichnung mit dem Goldenen Löwen in Venedig machte ihn ü- ber Nacht zum gefeierten Meisterregisseur. Zugleich markiert Ras- homon das Ende des Experimentierens und den Auftakt zu einer 15-jährigen Schaffensphase, in dem Kurosawa konstant Filme von allerhöchster Qualität und künstlerischer Reife drehte. Sein wahrscheinlich bekanntester Film aus dieser Zeit ist Die Sie- ben Samurai, der viele der zuvor erprobten Stilmittel, Motive und Themen zusammenführt und in dem Kurosawa darüber hinaus erstmals durch den Einsatz von starken Teleobjektiven den Zu- schauer auf bisher nie da gewesene Weise direkt in das Geschehen hineinzieht. Mit der Verwendung der Teleobjektive erreicht er aber auch die starke Kompression des auf der Leinwand dargestellten Raums, das oben erwähnte zweite wichtige Element in Kurosawas Inszenierung seiner Charaktere neben der Fragmentierung des Raums. Es ist besonders dieser Effekt, der die finale Schlacht in Die Sieben Samurai auch heute noch so unglaublich packend macht. Kurosawa benutzt die Möglichkeiten der Teleobjektive aber auch zur Konstruktion von Zusammengehörigkeit von Personen und so- zialen Gruppen, etwa gleich zu Beginn von Die Sieben Samurai. Die Bauern des von Banditen bedrohten Dorfes versammeln sich und beklagen ihr Schicksal. Einer aus ihrer Mitte versucht die anderen zu überreden, gegen die Banditen zu kämpfen. Er steht mit seiner Meinung jedoch allein da und wird so aus der Vogelperspektive vo- rübergehend zum Außenseiter. Durch einen brillanten Schnitt auf
  • 7. eine ebenerdige Einstellung, in der der Raum zwischen dem Au- ßenseiter und der Gruppe durch den starken Telezoom nicht mehr als Distanz wahrnehmbar ist, macht Kurosawa aber sofort klar, dass der Bauer trotz der Meinungsverschiedenheit nach wie vor Teil seiner sozialen Gruppe ist. Letztlich entschließen sich die Bauern, das Wagnis einzugehen, die Banditen zu bekämpfen und machen sich dazu auf die Suche nach ge- eigneten Samurai. Be- merkenswert an diesem Teil des Films ist der ra- dikale Bruch mit den Traditionen des chamba- ra, des klassischen Schwertkampffilms. In diesen Filmen wurden – gerade während des Krieges – Samurai im- mer als unvergleichlich nobel, aufrecht, selbstlos und heldenmütig bis zum Tod dargestellt. Kurosawas Samurai da- gegen sind ganz normale Menschen: Sie haben Angst vor dem Feind, retten ihr Leben zur Not auch indem sie sich verstecken o- der davonlaufen, sie trinken, lachen, sind mal gutmütig und hilfs- bereit und mal zornig und unberechenbar. Auch bei der Darstellung der Lebensbedingungen und insbesondere der Kampfszenen legte Kurosawa größten Wert auf Realismus. So unterscheiden sich seine Schwertkämpfe völlig von den klassi- schen, eher an Ballett erinnernden chambara-Kämpfen. Bei Kuro- sawa besteht ein Kampf oft aus nur einem einzigen Schwerthieb, wenn dieser von einem erfahrenen Samurai ausgeführt wird, oder aus planlosem Herumrennen und Schwertgefuchtel, wenn die Bau- ern am Werk sind. Mit dieser Art der realistischen Darstellung sollte Kurosawa insbesondere mit seinen späteren Filmen Yojimbo und Sanjuro das gesamte Schwertkampfgenre verändern. Wie viele Helden Kurosawas kämpfen die sieben Samurai (oder zumindest einige von ihnen) letztlich für ein höheres Gut: Sie stre- ben nach Vollkommenheit ihrer Kampftechnik, kämpfen für die Ü- berwindung gesellschaftlicher Schranken oder für eine bessere, gerechtere Welt, in der Bauern nicht mehr in Furcht leben müssen. Die drei überlebenden Samurai müssen am Ende aber erkennen, dass ihnen letztlich nichts bleibt außer dem Leben an sich. Die Bauern feiern den Sieg, bepflanzen die Reisfelder und leben trotz der gemeinsam gefochtenen Schlachten in einer anderen Welt als die Samurai, die mit der Erinnerung an ihre toten Kameraden ein- sam zurückbleiben. Die gesellschaftlichen Schranken bleiben be- stehen und der Kampf für eine bessere Welt ist ein einsamer.
  • 8. Dieses Dilemma beschäftigte Kurosawa in der Folge vor allem in seinen zeitgenössischen Filmen: Bilanz eines Lebens ist das Porträt eines Vaters, der sich und seine Familie vor der Gefahr eines A- tomkriegs durch die Auswanderung nach Brasilien in Sicherheit bringen will, dabei aber auf den erbitterten Widerstand seiner Fa- milie stößt und dadurch den Verstand verliert. Die Bösen schlafen gut beschäftigt sich mit den kriminellen Machenschaften, die aus der engen Verflechtung von Industriekonzernen und Politik in Ja- pan folgen, und dem vergeblichen Rachefeldzug Toshiro Mifunes gegen einen korrupten Führungszirkel. Pessimismus und eine Verzweiflungstat Großen kommerziellen Erfolg hatte Kurosawa auch Anfang der 1960er Jahre mit Yojimbo, dessen Fortsetzung Sanjuro und Rot- bart, über den er sich jedoch mit Toshiro Mifune zerstritt. Die bei- den sollten nie wieder einen Film zusammen drehen, was Kurosawa später sehr bedauerte. Dann änderten sich die Arbeitsbedingungen jedoch dramatisch: Durch den Siegeszug des Fernsehens sanken die Einnahmen an den Kinokassen, drei große Filmstudios (Daei, Shintoho, Nikkatsu) gingen Bankrott und die verbleibenden setzten auf schnell und billig produzierte Genrefilme. Unter diesen Bedin- gungen hatte der für seinen Perfektionismus gefürchtete Kurosawa große Probleme, die Finanzierung seiner Projekte zu sichern. Sein Engagement für das Amerikanisch-Japanische Großprojekt Tora! Tora! Tora! endete in einem Debakel und mit seinem Rückzug. Schließlich gründete er mit drei weiteren Regisseuren ein eigenes Produktionsstudio und drehte 1970 Dodesukaden, sein erster Film in fünf Jahren und sein erster Farbfilm. Dodesukaden floppte aber an den Kinokassen, worauf sich das gerade gegründete Studio so- fort wieder auflöste und Akira Kurosawa in eine tiefe Krise stürzte. Am 22. Dezember 1971 unternahm er einen Selbstmordversuch. Erst ein Angebot der sowjetischen Produktionsgesellschaft Mosfilm ermöglichte es Kurosawa 1975 wieder, hinter die Kamera zu tre- ten. Obwohl der daraus resultierende Film Dersu Uzala von der Kri- tik begeistert aufgenommen wurde, blieb es dabei, dass sich kein Studio für einen weiteren Film fand. Nur mit Hilfe zweier großer Bewunderer aus Amerika, Francis Ford Coppola und George Lucas, brachte Kurosawa schließlich das Geld für Kagemusha zusammen, der sehr erfolgreich in den Kinos lief und auch prompt zwei Oscar- nominierungen erhielt. Kurosawa selbst betrachtete Kagemusha, das desillusionierende Porträt eines Diebes, der als Double für ei- nen gestorbenen Fürsten einspringt, nach eigener Aussage lediglich als Probelauf für das Werk, das er selbst als den Höhepunkt seines filmischen Schaffens schon seit Jahren plante: Ran. Ran unterscheidet sich von den bisher vorgestellten Filmen durch einen ausgesprochenen Pessimismus gegenüber menschlichem Handeln, steht damit aber ein Stück weit repräsentativ für die zwi- schen 1970 und 1990 entstandenen vier Filme. Er handelt vom al- ternden Fürsten Hidetora, der sein Reich unter seinen drei Söhnen aufteilt, die sich anschließend bekriegen und Hidetora verstoßen.
  • 9. All die Untaten, die er in seinem langen Leben begangen hat, holen ihn nun ein, denn seine Söhne verhalten sich nur so, wie er es ih- nen immer vorgelebt hat. Die Welt ist in Ran ein Ort, an dem Wer- te nichts zählen, an dem die sich gegenseitig barbarisch abschlach- tende Menschheit am Abgrund steht und den Göttern nur ver- ständnisloses Zusehen bleibt. Kurosawa, der Regisseur, der Schlachten und Schwertkämpfe immer realistisch bis zum Äußers- ten dargestellt hatte, verzichtet nun auf Ton und weitgehend auch auf Farben, um die Schrecken von Krieg und Tod hervorzuheben. Altgediente Techniken und Stilmittel wie die Verwendung extremer Teleobjektive zur Komprimierung des Raums oder den Einsatz von Wind und Wetter, um entscheidende Wendepunkte zu illustrieren, erinnern an alte Meisterwerke. Neu ist bei Ran jedoch eine alp- traumhafte Ästhetik, die den früheren Realismus in vielen Szenen verdrängt und dem Zuschauer die kommentie- rende Perspekti- ve des Regis- seurs aufdrängt. Deutlich wird dies etwa in den bereits erwähn- ten Schlachten- szenen oder durch die sur- reale Darstellung von Hidetoras Abgleiten in den Wahnsinn (siehe Screenshot). Außerdem ist Ran von starker Verfremdung, Generalisierung und Schematisierung vor allem der Charaktere geprägt: Drei Söhne mit einer je eigenen, fest zugeordneten Farbe und die idealtypische Verkörperung bestimmter menschlicher Eigenschaften (Rachsucht, Gier, Ehrgeiz, Schwäche, Güte, Grausamkeit, Loyalität, Aufrichtig- keit, Selbstlosigkeit) durch die Charaktere, die so gar nicht zu den früheren Filmen passen will, machen Ran zusammen mit der surre- alen Atmosphäre zu einer Parabel menschlichen Verhaltens. Kuro- sawa will dem Zuschauer eine Lektion erteilen, die er aber nicht fühlen soll (Mitgefühl und Empathie entstehen zu keinem Zeit- punkt, der Zuschauer ist immer distanziert), sondern verstehen. Die schwere Krise, die Kurosawa durchlebt hat und seine wieder- holte tiefe Enttäuschung in den vorangegangenen Jahren machen diese Lektion zu einer sehr trostlosen und pessimistischen. Versöhnliches Spätwerk Nachdem Akira Kurosawa in zwei Jahrzehnten lediglich vier Filme gedreht hatte, blühte er im Alter von 80 Jahren noch einmal auf. Innerhalb von drei Jahren entstanden drei Filme, die sich allerdings grundlegend sowohl von seinen frühen und klassischen Filmen als
  • 10. auch von denen der „Pessimismusphase“ unterscheiden. Das Leh- rer-Schüler-Verhältnis findet sich zwar in Rhapsody in August und Madadayo, nimmt aber einen völlig anderen Charakter an. Es geht weniger um einen Kampf der Schüler mit sich selbst unter mehr oder weniger gestrenger Anleitung durch einen Meister, als viel- mehr um nostalgische Rückblicke und die wohlmeinende Weiterga- be von Lebenserfahrung, häufig in langen Monologen. Ein neues Thema ist die Auseinandersetzung mit dem herannahenden Tod, die im Meister selbst die Erkenntnis reifen lässt, dass das Leben trotz all der Kämpfe gerade im Kleinen viel Schönes zu bieten hat, und die einer großen Wertschätzung des Lebens Ausdruck gibt. Entsprechend herrscht in diesen späten Filmen Kurosawas eine kontemplative, fast besinnliche Stimmung, unterbrochen von hu- morigen Einlagen und angereichert mit ganz viel Nostalgie und Sentimentalität. Erheblichen Anteil an dieser Stimmung hat ein vollkommen veränderter visueller Stil: Kurosawa verzichtet fast völlig (mit Ausnahme der Schlussszene von Rhapsody in August) auf die faszinierende und mitreißende Dynamik früherer Filme. Stattdessen dominieren statische Bilder, alltägliche Szenen von gemeinsamen Abendessen oder lange Gespräche auf der Veranda, die an die Filme Ozus oder Naru- ses erinnern. Visuell kehrte Kurosawa zu seinen Wurzeln in der Malerei zurück und schuf gerade poetische Szenen von fas- zinierender, umwerfender Schönheit. Der Krieger in Kurosawa kam zur Ruhe und erzählte nun im Kreise seiner Kinder und Freunde Geschichten aus seinem bewegten Le- ben und versuchte, dem Tod noch eine Weile von der Schippe zu springen, um die Schönheit des Lebens zu genießen. Akira Kuro- sawa starb am 6. September 1998 im Alter von 88 Jahren. Literatur zu Akira Kurosawa: Galbraith, Stuart IV: The Emperor and the Wolf Kurosawa, Akira: Something like an Autobiography Prince, Stephen: The Warrior’s Camera Richie, Donald: The Films of Akira Kurosawa Yoshimoto, Mitsuhiro: Kurosawa – Film Studies and Japanese Cinema