1. FAU-Proseminar: Die Copernicanische Wende – Ein Motiv zur Entstehung der
neuzeitlichen Naturwissenschaft, 11. Sitzung, Fr 13.01.12, Pierre Leich
Chronologie der Konfrontation von Galileo Galilei und der
katholische Kirche anhand von Dokumenten
Audienz 1611 bei Papst
Sidereus Nuncius (Sternenbotschaft),
Paul V. sowie Feierlichkei-
Venedig 1610 ten des römischen
Jesuitenkollegiums
Anfrage Kardinal Bellarmins vom 19.4.1611 an das römi-
schen Kollegium über die Wesenheit „der neuen astronomi-
schen Entdeckungen eines vortrefflichen Mathematikers“
Gutachten von Christoph Clavius, Christoph Grienberger,
P. Malcotio und P. Lembo attestiert am 24.4.1611 Galilei –
ohne seinen Namen zu nennen – die Wahrheit seiner astro-
nomischen Entdeckungen.
Christoph Scheiner, Tres
Brief vom 21.12.1613 an Epistolae De Maculis
Castelli, dass die Heilige
Istoria e Dimostrazioni intorno alle Macchie Solari
(Geschichte und Erklärung der Sonnenflecken), Solaribus, 1612
Schrift nicht wörtlich aus-
gelegt werden dürfe und Rom 1613
ihr in mathematischen Dis-
kussionen der letzte Platz
einzuräumen sei.
Predigt von Tommaso Aufgrund einer Abschrift des Briefes an Castelli macht der
Caccini vom 4. Advent Dominikanerpater Niccolò Lorini am 7.2.1615 den Präsiden-
In einem Sendschreiben ten der Indexkongregation, Kardinal Sfondrati „mit der Sach-
1614 in Florenz über
an die toskanische Groß- lage bekannt“.
herzogin-Witwe Christina
„galileische Männer".
di Lorena aus dem Jahr
1615 befasst sich Galilei Schreiben von Bellarmin an Foscarini vom 12. April 1615, in dem die hypothetische Annahme
erneut mit der Abgrenzung der Erdbewegung für unbedenklich erklärt wird. Apodiktische Rede widerspreche jedoch der
von Theologie und Natur- Schrift. Gäbe es einen Beweis für den Heliozentrismus, müssten wir bei Auslegung der Schrift
wissenschaft. lieber sagen, wir verständen einzelne Stellen nicht, als eine Anschauung für falsch erklären,
die als wahr bewiesen wurde, aber im Zweifelsfall soll man die Schrift nicht verlassen.
Galilei schickt Kardinal
Sachverständige prüfen Bericht vom 25.2.1616 über
Orsini unterm8.1.1616 die aufgrund eines Dekrets päpstliche Anweisung, Galilei
Ausarbeitung eines Vor-
vom 19.2.1616 die Schrift zu ermahnen, die Meinung auf-
trags über seine Gezeiten-
zugeben, dass die Sonne das
theorie, aus der der ‘vierte
über die Sonnenflecken
und erklären am 24.2.1616 Zentrum der Welt, aber die Erde
Tag’ des Dialogo hervor-
einzelne Passagen für töricht sich bewege; falls er sich
ging. Eine Abschrift erhält
und absurd in der Philoso- weigere, solle ihm befohlen
im Mai 1618 Erzherzog
phie und formell ketzerisch werden, dass er ganz und
Leopold von Österreich.
(Sonne als Zentrum) bzw. gar sich enthalte, eine solche
irrig im Glauben (Erde ist in Meinung zu lehren, zu vertei-
doppelter Bewegung). digen oder zu besprechen.
Protokoll vom 26.2.1616, Protokoll der Kongregation Eine Bescheinigung von
Galilei sei befohlen wor- vom 3. März 1616 über den Kardinal Bellarmin vom 26.
den, die Meinung, daß die Bericht von Bellarmin, dass Mai 1616 bestätigt, Galilei
Sonne das Zentrum der Galilei ermahnt wurde, die Das Dekret der Indexkon-
habe weder abgeschwo-
Welt und unbeweglich sei, Meinung, die Sonne sei das gregation vom 5. März
ren, noch sei er bestraft
die Erde hingegen sich be- Zentrum der Himmelskugel 1616 suspendiert De Re-
worden; ihm sei lediglich
wege, aufzugeben und und unbeweglich, die Erde volutionibus von Coperni-
das Indexdekret bekannt-
dieselbe fernerhin weder hingegen beweglich, auf- cus und verbietet alle
gemacht worden.
in irgendeiner Weise fest- zugeben und dass er sich Schriften, die Heliozen-
zuhalten, noch zu lehren dabei beruhigt habe; wei- trismus als wahr und nicht
oder zu verteidigen durch terhin wurde ihm das mit der heiligen Schrift wi-
Wort oder Schrift. Indexdekret mitgeteilt. dersprechend darstellen.
Das Monitium vom 15. Mai
1620 regelt die Verbesse-
rungen der Schrift De
Revolutionibus.
Orazio Grassi, Libra Discorso delle comete di Mario Guiducci fato da lui nella Accademia
astronomica ac philo- Fiorentina nel suo medesimo consolato, Firenze 1619
sophica, Florenz 1619
2. Niccolò Riccardi erteilt am
3.2.1623 Approbation Gunstbezeugungen von
nach einer lobenden Er- Urban VIII. für Galilei in
klärung vom 2.2.1623. sechs Audienzen 1624;
lobendes Attest vom
8.6.1624 an Ferdinando II.
Il Saggiatore (Der Goldwäger), Rom 1623 de’ Medici.
Offener Brief an Fran-
cesco Ingoli, Rom 1624 Anonyme Anzeige wegen Gutachten von Pater Urban VIII. erlaubt Galilei
Widerspruch des Atomis- Giovanni de Guevaras bei einer Audienz am 18.
mus mit Sessio XIII, Kan. 2, Mai 1630 hypothetische
Christoph Scheiner, Rosa des Konzils von Trient. Diskussion des Coperni-
canischen Systems (Brief
Galileis vom 18.5.1630).
Ursina sive Sol,
Bracciano 1626-30.
Mitte 1630 erfolgt eine be- Imprimatur vom 11.9.1630
dingte Freigabe durch
Übertragung der Verant-
wortung für Approbation in Florenz durch den Ge-
Niccolò Riccardi. durch Riccardi an den Flo- neralvikar des Erzbi-
rentiner Inquisitor vom 21. schofs, Pietro Nicolino,
Mai 1631; Mitteilung päpst- und den Generalinquisitor
Briefwechsel mit Elia licher Bedingungen. Clemente Egidio. Am 12.9.
Diodati, Geri Bocchineri, folgt die Zustimmung des
Benedetto Castelli, großherzoglichen Zen-
Federico Cesi u.a. Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo,
sors Niccolò dell’ Altella.
Tolemaico e Copernicano (Dialog über die beiden
hauptsächlichsten Weltsysteme), Florenz 1632
Eine Denkschrift der Vorbereitungs- Am 23. September 1632 ordnet der
kommission formuliert die Belastungs- Papst die Vorladung an, die am 1. Okto-
momente, insbesondere die Übertretung ber 1632 durch den Inquisitor in Florenz
des Befehls vom 26.2.1616. Galilei mitgeteilt wird.
Beim 1. Verhör am 12.4. Im 2. Verhör am 30. April Zum 3. Verhör am 10. Mai Beim 4. Verhör am 21. Juni
1633 kann sich Galilei an gesteht Galilei Mehrdeutig- legt Galilei eine Verteidi- 1633 erklärte Galilei, er
kein Sonderverbot von keiten des Dialogo ein und gungsschrift vor, in der er habe nach der Entschei-
1616 erinnern; daher gab schlägt vor, zwei weitere das bisher Gesagte wie- dung der Oberen die ver-
er der Zensur keine Kennt- Tage hinzufügen, um die derholt; er glaubt sich er- dammte Lehre nie wieder
nis davon; er könne aller- zugunsten der falschen neut nur dem Dekret unter- für wahr gehalten. "Im
dings nicht mit Bestimmtheit und verurteilten Lehre worfen. Zu seiner Entlas-
tung legt er das Zeugnis
übrigen bin ich in Ihren
sagen, dass die Worte „auf vorgebrachten Gründe mit Händen, tun Sie, wie Ih-
irgendeine Weise“ nicht ge- der äußersten Kraft zu wi- von Kardinal Bellarmins im nen beliebt."
fallen seien. derlegen. Original vor.
Am 17.4.1633 bestätigten Am 16. Juni ordnet der
Inquisitionsräte, Galilei Papst an, Galilei sei über
habe die Meinung von der seine Motive für den Dia-
Bewegung der Erde und logo unter Androhung der
dem Stillstehen der Sonne Tortur zu befragen, und
erörtert bzw. festgehalten wenn er standhaft bliebe,
und verteidigt bzw. gelehrt. sei er aufzufordern, vor der
Kongregation des Heiligen
Regelmäßige Depeschen Offiziums zu schwören und
von Francesco Niccolini zu Gefängnis nach Gutdün-
an Bali Andrea Cioli vom ken zu verurteilen.
15.8.1632 bis 3.12.1633.
Am 22. Juni 1633 wird Galilei vom Inquisitionstribunal we- In der Abschwörungsformel verflucht Galilei die im Urteil
gen Übertretung des als erfolgt betrachteten Sonderverbots genannten Irrtümer und Ketzereien. “Ich Galileo Galilei habe
zu förmlichen Kerker verurteilt. Er habe sich darüberhinaus abgeschworen und eigenhändig unterzeichnet.”
der Ketzerei schwer verdächtig gemacht, da er im Dialogo
eine Meinung als probabel hinstellt, von welcher erklärt wor- Abschriften des Urteils und der Abschwörformel werden
den war, sie widerspreche der Hl. Schrift. Die Druckerlaub- an alle apostolischen Nuntien und Inquisituren gesandt mit
nis sei erschlichen worden. Der Dialogo wird verboten. der Aufforderung, beides in öffentlicher Versammlung in An-
wesenheit von Gelehrten zu verlesen.
Am 23.6.1633 wandelt der Ein Dekret vom 30.6.1633
Papst die Gefängnisstrafe ordnet die Verlegung nach
in eine Verbannung in die Siena an.
Villa des Großherzogs von
Toskana auf Trinita de Niccolini benachrichtigt
Monti bei Rom um. Galilei am 3.12.1633 über
päpstliche Erlaubnis, sich
sofort nach Arcetri bege-
ben zu dürfen.
Am 9. März 1638 erlaubt
Discorsi e dimostrazioni mathematiche intorno à due
Generalinquisitor, Pater
nuove scienze attenenti alla mechanica e i movimenti
locali (Unterredungen und mathematische Demonstratio- Fanano, die Verlegung
nen über zwei neue Wissenszweige), Leiden 1638 nach Florenz.
3. Annotation vom 25.2.1616 Protokoll vom 26.2.1616 Protokoll vom 3.3.1616 Attest von Kardinal Bellarmin
über päpstliche Anweisung über die Ermahnung über Kongregationssitzung vom 26.5.1616
Bellarmin solle Galilei vor sich Bellarmin habe Galilei vor sich Bellarmin habe Galilei ermahnt
rufen und ermahnen („moneat“) gerufen und ermahnt („monuit“) („monitus“)
die Meinung aufzugeben, die irrtümliche Meinung seine Meinung aufzugeben
dass die Sonne das Zentrum der aufzugeben („deserat“) („deserendam opinionem“),
Welt und unbeweglich und die dass die Sonne das Zentrum
Erde in jährlicher und täglicher der Sphären und unbeweglich,
Bewegung sei die Erde aber beweglich sei
(„ad deserendas dam oponem“) „et
successive“
Galilei sei lediglich das Index-
und vorgeschrieben, die Mei- dekret bekanntgemacht worden
nein falls er sich weigern würde nung, dass die Sonne das („publicata“), demzufolge die dem
(„si recusaverit parere“), Zentrum der Welt und unbeweg- Copernicus zugeschriebene
ja
lich sei, die Erde hingegen sich Lehre, dass die Erde sich um die
bewege, völlig aufzugeben Sonne bewege und diese im
solle ihm befohlen werden, dass („omnino relinquat“) Mittelpunkt der Welt stillstehe, im
er sich völlig enthalte, eine und dieselbe weiterhin weder in Widerspruch zur Schrift stehe
solche Meinung irgendeiner Weise („qovis mõ“) („sia contraria alle Sacre
… zu lehren („docere“), … zu lehren („doceat“), Scritture“) und weder
… zu verteidigen („defendere“) oder … zu verteidigen („defendat“) … verteidigt („difendere“)
… zu behandeln („tractare“) oder … noch festgehalten („tenere“)
… festzuhalten („teneat“)
werden kann
doch
sofern er sich nicht anschicke ansonsten
genau
solle er eingekerkert werden werde das heilige Offizium gegen
(„carceretur“) ihn vorgehen
Galilei beruhigte sich und Galilei habe sich beruhigt
versprach zu gehorchen
weiterhin wurde ihm das Dekret
der Indexkongregation mitgeteilt
S. 304f. S. 305 S. 198 S. 200
4. G 3 und der Atomismus
Pietro Redondi veröffentlichte 1983 eine völlig neue Einschätzung des Galilei-
Prozesses, nach der ihn gerade die Anklage wegen Copernicus-Sympathie vor dem
Ketzerei-Vorwurf bewahren sollte.
Redondi fand ein G 3 genanntes Dokument, in dem vermutlich ein Pater anfragt, wie
sich einige Aussagen im Saggiatore zu Festlegungen des Konzils von Trient verhalten. Das
Schreiben zitiert ausführlich und geschickt aus Aristoteles’ De anima 428b-429a und
aus dem Saggiatore und legt nahe, dass die Substanz-Akzidenz-Lehre des
Saggiatore nicht vereinbar ist mit der Verwandlung der Substanz von Brot und Wein
in die Substanz des Leibes und Blutes Christi „vere, realiter et substantialiter“ (Dekret
883 des Tridentinums).
Da ich in den vergangenen Tagen das Buch des Herrn Galileo Galilei mit dem Titel
Saggiatore gelesen habe, bin ich dazu gelangt, eine Lehre zu erwägen, die schon von
den Alten gelehrt und von Aristoteles höchst wirksam widerlegt wurde und die nun von
selbigem Herrn Galilei erneuert wird; und da ich sie vergleichen wollte mit der wahren
und unanzweifelbaren Regel der offenbaren Glaubenslehren, so fand ich heraus, daß
selbige Lehre im Lichte jener Erleuchtung […] falsch erscheint oder auch – was mir
nicht zu entscheiden ansteht – sehr schwierig und gefährlich derart, daß derjenige,
welcher sie für wahr annimmt, später nicht zögern und unsicher sein möge in viel
schwierigeren Fragen. […] Der vorgen. Autor will in dem zitierten Buch auf Bl. 196 Z.
29 jene Aussage erklären, die Aristoteles vielmals machte, daß die Bewegung die
Ursache der Wärme sei; und er will sie weiter für seinen Vorsatz zurechtbiegen, und so
unternimmt er es, zu beweisen, daß die Akzidentien, die man gemeinhin Wärme,
Geruch, Geschmack etc. nennt, nichts anderes als reine Vokabeln sind und nur im
empfindenden Körper des Lebewesens sind, das sie verspürt. […]
So behauptet er, die Akzidentien, die unsere Sinne wahrnehmen und die Geschmack,
Geruch, Farben etc. heißen, seien weder Subjekte noch das, wofür man sie gemeinhin
hält, sondern einzig in unseren wahrnehmenden Sinnen, so wie der Kitzel nicht in der
Hand, der Feder ist, die zum Beispiel über die Fußsohle streicht, sondern einzig im
wahrnehmenden Sinnesorgan des Lebewesens. […]
Der Autor fährt fort, seine Doktrin zu erklären und verwendet viel Geschick darauf, zu
beweisen, daß diese Akzidentien im Gegensatz stehen zum Objekt und Gegenstand
unserer Wahrnehmung. Und wie man auf Bl. 198, Z. 12 sieht, erklärt er es mit den
Atomen des Anaxagoras oder des Demokrit, die er Teilchen oder kleinste Partikeln
nennt, und darin, so behauptet er fortgesetzt, lassen sich auch die Körper auflösen; im
Verhältnis zu unseren Sinnen aber durchdringen sie unsere Substanz, und ganz nach
den unterschiedlichen Arten der Berührung und der unterschiedlichen Formen jener
Teilchen, ob sie nun glatt oder rauh, hart oder nachgiebig sind, und danach, ob es viele
oder wenige sind, stechen sie uns in unterschiedlicher Weise und gehen in größerer
oder kleinerer Teilung durch uns hindurch, und zwar entweder zu unserem Leidwesen
oder zu unserem Gefallen. Dem taktilen Empfinden als dem gegenständlichsten und
körperlichsten Sinn entsprechen, so behauptet er, Erdteilchen, dem Geschmack
diejenigen des Wassers – und sie werden von ihm flüssig genannt –, dem Geruch
entsprechen die kleinsten Teilchen aus Feuer – und er nennt sie Feuerteilchen –, dem
Gehör entsprechen die der Luft; dem Gesicht ordnet er das Licht zu, von dem er
vorgibt, nur sehr wenig zu wissen. Und auf Bl. 199, Z. 25 faßt er zusammen, daß es
nichts anderes in den gemeinhin als mit Geschmack, Geruch usw. versehenen Körpern
bedarf, welche in uns die Gerüche und den Geschmack erwecken, als Größe und
verschiedene Formen; und daß Gerüche, Geschmack und Farben nirgends sonst sind
als in unseren Augen, Nasen und auf unseren Zungen, so daß, nähme man diese
Organe fort, sich die Akzidentien allein nach dem Namen von den Atomen
unterscheiden.
5. Wenn man nun annimmt, diese Philosophie sei wahr, dann dünkt mich, können die
Akzidentien, die im Hlg. Sakrament von der Substanz getrennt sind, wohl schwerlich
existieren. Denn dort kommen die Begriffe und Gegenstände des taktilen Empfindens,
des Gesichtssinns, des Geschmackssinns usw. vor; nach jener Theorie wird man
sagen, daß hier die kleinsten Teilchen der ursprünglichen Substanz, die unsere Sinne
aktivierte, verbleiben, die, wie das Anaxagoras sagte und wie es auch unser Autor auf
Bl. 200, Z. 28 zu behaupten scheint, substantiell sein soll, dann folgt daraus, daß im
Sakrament substantielle Teile von Brot und Wein sind, und das ist ein Irrglaube, den
das Heilige Konzil von Trient in der Sessio XIII, Kanon 2 verurteilt hat.1
Da beim Saggiatore nicht zu leugnen ist, dass eine anti-aristotelische Korpuskellehre
mit Konsequenzen für die Auffassung von Substanz und Akzidens vertreten wird,
macht dieser atomistische Materialismus nach Redondi auch den eigentlichen Kern
der Anzeige gegen den Saggiatore aus. Nach der Materielehre des Saggiatore
beruhen aber die Wahrnehmungen auf kleinsten Partikeln der Substanz, und auch
nach der Wandlung sind es diese Substanzpartikel der Hostie, die die gleich
gebliebene Wahrnehmung auslösen – eine vom Tridentinum mit dem Bann belegte
Aussage.
Einen „vielversprechenden Ansatz zur Skizzierung eines veränderten Galilei-Bildes“
sieht Christian Thiel, da eine Reihe unverstandener Umstände im neuen Licht
plausibel erscheinen:
Galilei war immer noch der offizielle Wissenschaftler des Papstes, er wird nach der
Anzeige nicht wie andere dem Heiligen Officium überstellt, sondern direkt dem Papst
und seiner von Kardinal Francesco Barberini geleiteten Kommission. Nicht wegen
der Gewogenheit des Papstes, aber auch nicht wegen dessen besonderer
Gekränktheit – die Person war in den Hintergrund getreten. Man hatte einst gegen
Galilei erhobene schwere Anklagen wegen Häresie auf fragwürdige Weise
versanden lassen, nun lag erneut eine Anklage wegen Häresie vor. Wäre der Fall vor
das Heilige Offizium gekommen, hätte dort Kardinal Borgia als Gegner des Papstes
seine Chance zur Entfachung eines Skandals sicher wahrgenommen. Der Fall war
keine Affäre der Person Galilei, sondern eine Staatsaffäre. „Hätte es sich gezeigt,
dass der offizielle Wissenschaftler des Papstes ein verdächtiger Ketzer gegen den
rechten Glauben war, dann wäre das ein Skandal gewesen“2. Der Fall durfte
keinesfalls vor das Heilige Officium kommen, daher die Einsetzung einer
Sonderkommission des Papstes. Diese sollte den Fall schnellstens aus der Welt
schaffen: Anklage nicht wegen irgendeiner Häresie, sondern wegen Verletzung eines
Gebots (nämlich des Verbots der Erörterung des Copernicanischen Weltbildes); wohl
zum Nutzen Galileis, aber keineswegs aus besonderer Rücksicht auf ihn, sondern
allein auf das Ansehen und den Einfluss des Heiligen Stuhles bedacht.
1 Lat. Manuskript aus dem Archiv der Heiligen Kongregation für Glaubensfragen, Rom, Serie Acta et
Documenta (AD), Vol. EE, ff. 292r u. v, 293r; Übersetzung nach Pietro Redondi, Galilei, der Ketzer,
München 1991 (erstmals erschienen als Galileo Eretico, Torino 1983), S. 336-337.
2 Pietro Redondi, Galilei, der Ketzer, München 1991, S. 260.