Betriebswirtschaftslehre (B.Sc.) an der Universität Duisburg Essen
Leich vr-fuer-ki
1. Pierre Leich, Nürnberg, Juni 1994
Virtual Reality als Element für Künstliche Intelligenz
Über einen Zusammenhang von Künstlicher Intelligenz und Virtual Reality für ein
Forschungsprogramm „Artifizielle Person“
Abstract Zusammenfassung
The concept of reason has, since the Der Vernunftbegriff wird seit der Neuzeit zuneh-
beginning of the modern era, been mend als rechnende Vernunft formuliert. Die
increasingly formulated as calculation- vergleichbar raschen Anfangserfolge der KI-
based. The comparatively rapid initial Forschung beruhen ebenso auf dieser Anschau-
success of research into artificial ung wie ihre augenblicklichen Schwierigkeiten. In
intelligence is as much rooted in this dieser Situation scheint es sinnvoll, eine Einsicht
tendency as the present difficulties in this fruchtbar zu machen, welche die Sprachphiloso-
field. In the current situation it would phie des 20. Jahrhunderts zu einer pragmatischen
appear sensible to apply the insight which Begründung von Syntax und Semantik geführt
has led 20th Century linguistic philosophy hat. Das in der VR-Forschung entwickelte
to the establishment of pragmatic theories Equipment könnte dabei die Anwendung
of syntax and semantics. VR technology handlungstheoretischer Überlegungen auf künstli-
could well facilitate the transfer of action- che Systeme in der Praxis ermöglichen und ein
theory contemplation onto artificial erweitertes Forschungsprogramm für KI begrün-
systems, and thus broaden the horizon of den.
the artificial intelligence research
programme.
Einleitung Entwicklung der KI
Meine ersten Vorstellungen von Compu- Die Bemühungen um künstliche Intelli-
tern und Robotern erhielt ich vor ca. 25 genz beginnen systematisch wie historisch
Jahren durch den Magazinteil eines Comic- mit den logischen Untersuchungen von
heftes. Der abgebildete Roboter empfahl Aristoteles. Pascal (1642), Leibniz (1672),
sich als fleißiger Haushaltsgehilfe und Babbage (1835) und Boole (1847) waren
besaß selbstverständlich die Gestalt eines weitere wichtige Stationen.1
Menschen. Ich erinnere, daß es mir schon Nachdem es zunächst um die Übertragung
damals ein Greuel war, Computer nicht von Aussagen in formale Systeme und die
schlicht in Kästen zu verpacken und Robo- Schlußregeln innerhalb solcher Systeme
ter nicht anders zu konstruieren als wie ging, rückte zunehmend die technische
dies bei Industrierobotern üblich ist: Robo- Realisierung in den Vordergrund.
ter und Computer haben eben prinzipiell Als Additionsmaschine erfunden boten sich
nichts miteinander zu tun. Computer für umfangreiche Informations-
Neuerdings glaube ich allerdings, daß ein verarbeitung an. Verführt durch den ra-
wesentlicher Zusammenhang besteht schen Erfolg der rechnenden Vernunft
zwischen „künstlich denken“ und „künst- wurde deren Heuristik herangezogen,
lich tun“. jeden Erkenntnisgewinn unter dem Mo-
2. dell der Informationsverarbeitung zu be- dritte Version ins Auge fassen.
trachten. Genügt die Abarbeitung der Wer sich an die erste Antwort wagt, begibt
Algorithmen vernünftigen Gesichtspunk- sich unweigerlich in das Terrain philoso-
ten, muß nur noch das Vorliegen der Aus- phischer Argumente. Da von Identität die
gangsbedingungen gesichert werden. Der Rede ist, wäre insbesondere die Überflüs-
Mechanismus ist dann wahrheitsvererbend. sigkeit von Termen wie Intelligenz, Geist
Aus Sicht der KI-Forschung stellen sich und Bewußtsein zu erweisen, bzw. deren
damit zwei Problembereiche: vollständiges mechanistisches Verständnis.
1. Wie kann Weltwissen repräsentiert Da sich dieser Strang am Ende leicht
werden? aufnehmen läßt, sollen zuvor die Schwie-
2. Welche Prozesse entsprechen Er- rigkeiten aus der „internen Sicht“ der KI
kenntnisgewinn? dargestellt werden.
Zur Lösung der ersten Aufgabe muß Wis-
sen über die Welt diskret formulierbar und
einer symbolverarbeitenden Maschine KI und Welt
implementierbar sein. Ich werde in einem Raum mit einer Obst-
Auf die Problematik des Kontextes hierbei kiste aufgefordert mich zu setzen. Mit nur
möchte ich anschließend eingehen. geringem Zögern werde ich die Kiste als
Die Formulierung der zweiten Frage ist Stuhl benutzen, obwohl ich sie bei Anwe-
deutlich schwächer als der Anspruch, mit senheit eines Designsessels nicht einmal
der Simulation intelligenter Prozesse auch als Schemel in Erwägung gezogen hätte. In
gleich eine Theorie des menschlichen einer anderen Situation wäre ich vielleicht
Verstandes zu liefern. Zunächst ist nur an bereit, die Obstkiste für den fehlenden
ein Ensemble von Regeln gedacht, etwa Designtisch zu nehmen.
Prädikatenlogik, Naturgesetze, Erkennen Welche Rolle, welche Gegenstände besit-
von Gewinnstellungen etc., mit dem Er- zen, ist durchaus keine triviale Angelegen-
gebnisse kognitiver Prozesse technisch heit. Die Zuordnung der Prädikatoren ist
reproduziert werden können. Die Überein- in diesem schlichten Beispiel von einem
stimmung von Computer und Mensch Verständnis des Gesamtzusammenhangs
besteht darin, daß beide z.B. Knobelauf- abhängig. In noch größerem Ausmaß be-
gaben richtig lösen. Ihre Ergebnisse - oder trifft dies die Gewichtung der einzelnen
im Vorgriff Interaktionen - sind dann hin- Sachverhalte.2
sichtlich Knobelaufgaben funktional Um den Erkenntnisgewinn durch Compu-
gleich. ter zu steigern, sollten dem Automaten
In der Regel wird von dieser Gleichheit auf möglichst viele Informationen zur Verfü-
eine Identität der Struktur geschlossen. gung stehen. Da die Anzahl an Informatio-
Diese Position - meist schwache KI-These nen stets erweiterbar und damit prinzipiell
genannt - wird nicht selten zu der Behaup- offen ist, stellt sich jedoch generell wie
tung verstärkt, prinzipielle Wesens- auch im Einzelfall die Frage nach der
gleichheit zu verkünden. In Abstufung Auswahl der relevanten Umstände. Men-
eröffnen sich damit drei Zielrichtungen: schen lösen diese Aufgabe mit Alltags-
• qualitative Identität wissen, sie reklamieren Plausibilität und
• Übereinstimmung der Struktur bringen unstrukturierte Vorannahmen ein.
• Entsprechung der Resultate Für die KI-Forschung wird gerade die von
Zumindest die beiden letzten Alternativen Menschen als „selbstverständlich“ berück-
dürfen als empirisch kontrollierbar gelten. sichtigte Kontextabhängigkeit zum Pro-
Bevor die Befunde der Neurologie eine blem.
Beurteilung der mittleren Ebene aber An dieser Stelle lohnt sich ein Blick auf die
nicht ermöglichen, sollte eine naturwissen- Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts.
schaftliche Erörterung zunächst nur die
3. Parallele zu Philosophie können natürlich auch „reine Abbildungs-
interessen“ geltend machen, aber im me-
Als mit dem Mittel der modernen Logik
thodischen Aufbau vollzog sich eine Wen-
Anfang des Jahrhunderts ein neues Instru-
dung. Zur Basis von Syntax und Semantik
ment zur Analyse von Aussagen zur Verfü-
wurde Pragmatik.
gung stand, glaubte auch die Philosophie
Ich möchte die ausgiebige Auseinanderset-
die Frage nach der Grundlegung von
zung, die zu diesem Ergebnis führte, hier
Erkenntnis neu stellen zu können. Der
nicht aufrollen, aber als Resümee für den
logische Empirismus definierte Wissen als
Fortgang dieser Arbeit zusammenfassen:
Operation aus elementaren Befunden,3
• Eine reine Tatsachenerhebung ist nicht
welche die Gegebenheiten der Welt reprä-
möglich, stets sind Wertungen konstitutiv.
sentieren. Das entstehende Basisproblem
Geltungsfragen können daher nur in einem
sollte möglichst eliminiert werden durch
pragmatisch fundierten Kontext aufgewor-
ein Programm, das philosophische Fragen
fen werden, in dem die Möglichkeit be-
auf syntaktische Fragen reduzieren wollte4
steht, Interessen und Absichten zu verhan-
und naturwissenschaftliche Fragen durch
deln.
die Anwendung syntaktischer Mittel auf
Dieses Ergebnis ließ das Vorhaben schei-
unproblematisch empirisches Material
tern, von einer atomistischen Wissensbasis
zurückführen wollte.
aus mit nur logisch-semantischen Mitteln
Zunehmend wurde jedoch deutlich, daß
unser Wissen zu begründen.
selbst der „Kalkül Sprache“ nicht mit
syntaktischen Mitteln allein zu deuten ist.
Semantische Theorien wurde entwickelt, KI und Sprache
um die Bedeutung der Ausdrücke zu
Die Geschichte der KI-Forschung scheint
sichern oder - wie Tarski (1935) es formu-
diese Entwicklung nachzuvollziehen, ohne
lierte - den Wahrheitsbegriff in den forma-
freilich die Argumente aus der Sprachphi-
lisierten Sprachen zu begründen. Während
losophie zur Kenntnis zu nehmen.
durch die Arbeiten zur Semantik die Auto-
Demnach befindet sich die KI-Forschung
nomie der Syntax gebrochen war, entstand
in der zweiten Phase, wo lexikalische
andererseits die Gefahr, daß die wissen-
Referenz- und Relationenlisten den
schaftliche Begründung die vor-
Wissenspool speisen und eine normal-
sprachlichen Unterscheidungen nun auf
sprachliche Dateneingabe angestrebt wird.
der Ebene der Sprache reformuliert.
Beliebt sind auch Hand-Auge-Maschinen,
Um diese „ontologische Verdoppelung“ zu
welche einfachen Situationen die notwen-
vermeiden, gleichzeitig die Einsichten aus
digen Informationen selbsttätig entneh-
den semantischen Theorien zu wahren,
men. Denkbar erscheint in dieser Phase
wurden zunehmend C.S. Peirce, G. Ryle,
auch, den Computer mit allen Rundfunk-
J.L. Austin und insbesondere L. Wittgen-
programmen zu füttern.
stein diskutiert, welche im Rahmen des
Dennoch ist die Weigerung, die Ebene der
„linguistic turn“ eine konsequent pragma-
Sätze zu verlassen, mit dem Versuch
tische Sichtweise forderten. Methodisches
gleichzusetzen, die Bedeutung der Aus-
Mittel war der Handlungsbegriff, durch
drücke von der Beziehung der Sprecher
den die Kontaktstelle zum „Gegebenen“
zueinander und zu den sprachlichen Ele-
nicht mehr von einem unterstellten
menten abzutrennen.
Realitätsbegriff abhängt, sondern Bedeu-
Was ergibt nun eine Übertragung der
tung in gemeinsamer Interaktion erst
sprachphilosophischen Ergebnisse auf die
konstituiert wird. Sprache ist demnach
KI-Forschung?
nicht auf Abbildung von Wirklichkeits-
ausschnitten oder Sachverhalten angelegt,
sondern sie eröffnet primär Handlungs-
möglichkeiten. Praktische Bedürfnisse
4. KI und Handlung Im Vordergrund dagegen stehen Konstella-
tionen und Strategien. Allgemein gespro-
Mir scheint der Schlüssel für eine neue
chen, ist Intelligenz weniger das Lösen als
Phase der KI-Forschung darin zu liegen,
das Entwickeln einer Lösungsstrategie.
auch in der Theorie der künstlichen Intel-
Solche Intelligenz setzt einen gewissen
ligenz den Handlungsbegriff an zentraler
Freiheitsgrad voraus in der Wahl der Mit-
Stelle zu plazieren.
tel. Um diesen Freiheitsgrad zu organisie-
Handeln bedeutet aber nicht nur Arme
ren, werden regulative Instrumentarien
und Beine zu besitzen. Automaten müßten
benötigt, welche den Hintergrund liefern,
als Mitglied einer Handlungsgemeinschaft
auf dem Menschen gewöhnlich handeln.
„erzogen“ werden. Die Dateneingabe von
An dieser Stelle sollte man vermuten, daß
„Welt“ erfolgt weder durch Satzsysteme
das Forschungsprogramm „artifizielle
noch mit Hilfe künstlicher Sinnesorgane,
Person“ abgebrochen werden muß, denn
sondern in interaktiven Lernsituationen.
welche Ziele sollten konkret angegeben
Ausgaben sind nicht schlicht Reports,
werden? Ich vermute aber, daß es gar nicht
sondern Äußerungen werden als Handlun-
notwendig ist, eine vollständige Liste
gen gewertet und wie über eine Person
„oberster Ziele“ zu finden, sondern daß
verhandelt.
nur überhaupt antriebsmotivierende Ziele
Nun ist es aber offensichtlich nicht damit
implementiert werden müssen. Sicher
getan, nur so zu tun „als ob“ Reaktionen
wären Ziele zum Wohl der Menschheit -
des Computers Handlungen wären. Nur
zusammengestellt von den Weisesten der
weil Menschen ihren Umgang mit einer
Erde - nützlich, aber im Zweifelsfall dürfte
Apparatur als Handlung interpretieren,
es auch „Versuche, Lob zu erhalten“ tun
muß es nicht gerechtfertigt sein, die Pro-
oder „Strebe es an, einmal als Beteiligter in
zesse an der Apparatur als Handlung zu
einer Fernsehshow über Künstliche Intelli-
werten und die Apparatur selbst als Han-
genz mitzuwirken“. Bezeichnenderweise
delnden.
sind sich auch Menschen in der Regel über
An welcher Stelle erfolgt ein qualitativer
ihre Ziele oder andere intentionalen Zu-
Zuwachs, der es angemessen erscheinen
stände nicht wesentlich klarer und nähern
läßt, etwa von einer „artifiziellen Person“
sich Lebensproblemen dennoch auf intelli-
zu sprechen?
gente Weise.
Die Rede von Person scheint mir in die-
Neben der Einführung von Zielen, wird
sem Zusammenhang geeignet, da eine
von einer „artifiziellen Person“ erwartet,
Debatte über Geist, Bewußtsein oder gar
daß sie selbstbezügliche Aussagen treffen
Seele nicht intendiert ist, aber darauf
kann. Einige Daten erhalten damit den
hingewiesen werden soll, daß wir es mit
Status von Erinnerungen. Der Computer
selbstorganisierenden Automaten zu tun
muß lernen, daß „Handlungen“ Auswir-
haben. Als Kriterium möchte ich das Vor-
kungen auf ihn haben und er muß frühere
liegen von Zieldispositionen vorschlagen.
Reaktionen auf seine „Handlungen“ ins
Ziel eines „unselbständigen“ Computers
Kalkül ziehen, wenn er Ziele verfolgt. Er
ist höchstens die ordnungsgemäße Erledi-
muß dazu gebracht werden, handlungs-
gung klar vorgegebener Aufgaben. Schach-
leitende Theorien zu entwickeln, die ihm
programme waren daher lange die Parade-
in seinem Umgang mit Menschen nützlich
beispiele der KI. Doch für jeden Zug alle
sind. Er soll anstreben, bei möglichst
Fortsetzungen zu berechnen und jeweils
vielen (Sprach-)Spielen mitzuspielen.
wieder alle möglichen Gegenzüge usw. auf
Schließlich sollte er sich eine Meinung
der Suche nach einer Gewinnstellung -
bilden, was beim Menschen Intelligenz
dies macht kein Großmeister. Lebende
genannt wird.
Schachmeister überblicken nur für wenige
Um ein praktisches Beispiel zu geben, ist
Stellungen die Fortsetzungen weniger
in vielen Situationen gar nicht die theore-
Züge in eine Tiefe von bis zu fünf Zügen.
5. tisch ideale Lösung gefragt, sondern dieje- Analoges muß freilich für das Hormon-
nige, welche „ideal durchsetzungsfähig“ ist system gelten. Vielleicht spielt auch das
(und einen Schritt in die richtige Richtung Lympfdrüsensystem eine Rolle und Moda-
darstellt). Damit benötigen Computer litäten, von denen wir nur gerüchtweise
plötzlich kulturelles Wissen und Kenntnis- gehört haben. Ob nach Telepräsenz also
se um Eigenarten von Menschen, welche konsequenterweise Teleportation, Telepa-
oft diesen selbst rational nicht verfügbar thie und Telekinese angesagt sind, kann
sind, sondern die sich nur im Handeln zunächst zurückgestellt bleiben.
erweisen. Um die Zielrichtung zu verdeutlichen,
Die Sozialisierung von Computern gerät ließe sich als Ideal für die Wirkungsweise
rasch an eine Grenze, wenn es zum Ver- des Körpersensors die der SF-Literatur
ständnis bestimmter Vorgänge darüberhin- entnommene „Nerveninduktion“ heran-
aus notwendig ist, einen menschlichen ziehen. Zur Wiedergabe der Modalität
Körper zu besitzen. Um einen Vorschlag zu „Sehen“ genügt die geschickte Erregung
machen, wie kinästhetische Informationen des Sehzentrums. Überall wo die Benut-
(aus Gelenken, Muskeln etc.) sowie Wis- zung eines Codes bereits etabliert ist, kann
sen, das nur durch Lebensvollzug erwor- die Kommunikation im Prinzip auf
ben werden kann, der KI verfügbar ge- neuronaler Ebene stattfinden.
macht werden kann, muß nun ein weiterer Die Interpretation zusätzlicher Erregungs-
Strang aufgenommen werden, der zunächst muster setzt auch hier keine Theorien
in keinem Zusammenhang mit Künstlicher über „Denken“ voraus. Welche Erregungs-
Intelligenz steht. muster welche Erfahrung repräsentieren,
wird bereits heute schlicht durch Feed-
back-Experiment5 erwiesen. Sollten Ge-
Virtual Reality danken durch elektrodynamische Apparate
Virtuelle Realität oder besser Telepräsenz stimuliert werden können, so wird der
zielt auf die Erschaffung neuer Handlungs- Proband schon sagen, welche Gedanken-
zusammenhänge, indem zu den „wirkli- inhalte er vorfindet.
chen“ Handlungen „künstliche“ hinzu- Ich betone dies, weil ich hervorheben
genommen werden. Diese sind „künstlich“ möchte, daß auch an dieser Stelle keine
in dem Sinn, daß Regeln noch nicht eta- materialistische Theorie des Denkens
bliert sind. notwendig ist. Solange Methoden zur
Das Instrument für Telepräsenz ist ein Beurteilung der neuen Handlungs-
möglichst umfassender Körpersensor. Er möglichkeiten zur Verfügung stehen, kann
nimmt jegliche Regung wahr, überträgt jede abtast- und reproduzierbare Aktivität
und stellt sie einzelnen (auch sich selbst) zur Kommunikation herangezogen werden.
oder mehreren gleichzeitig oder zu einem Kommen wir nun auf die Erzeugung einer
späteren Zeitpunkt unter beliebiger Verän- „artifiziellen Person“ zurück.
derung zur Verfügung. Zu jeder Sinnes-
modalität sind Apparate für Äußerung und
Wiedergabe zu konstruieren. Telepräsenz für KI
Dabei muß die Wiedergabe nicht analog in Das Instrumentarium, welches zur Reali-
dem Sinn sein, daß eine Kraft durch sierung von Telepräsenz benötigt wird,
nanotechnische Minimotoren simuliert wird zutreffend als Interface bezeichnet.
wird. „Spüren lassen“ kann auch bedeuten, Auf dieser Kontaktfläche berühren sich die
Erregungsmuster durch Felder zu erzeu- Welt der handelnden Menschen und der
gen, die äquivalent interpretiert werden. virtuelle Raum, auf den deren Handlungen
Im Prinzip ist das Sinnesorgan damit über- abgebildet werden und damit für Interak-
brückbar und das Nervensystem zieht sich tionen „zweiter Ordnung“ bereit stehen.
auf das Gehirn zurück. Diese Informationsmatrix ist nun ideal
6. geeignet, die Laborumgebung artifizieller tion von Verhalten bei biologischen Syste-
Personen6 zu gestalten. Da beide compu- men beobachtet werden kann, liegt es
tergestützt konstruiert werden, brauchen nahe, deren Aufbau zu untersuchen.
Schnittstellenprobleme auf der Ebene der Neben die prozessor-orientierte For-
Syntax nicht befürchtet werden. schung, deren Fortgeschrittendste Konzep-
Für eine artifizieller Person ist es völlig te neuronale Netze verwenden, und die
gleichgültig, ob eine menschliche Gestalt erwähnte interface-orientierte, müßte
von VR-Rechnern „vorgespielt“ oder schließlich noch eine künstlerisch-wissen-
materiell simuliert wird. Es ist daher auch schaftliche Kreativität treten, welche die
nicht notwendig, auf die Hilfe von Robotik interessanten Ergebnisse erst heraus-
und - wohl oder übel - Genetik zu warten. kitzelt8. Was Träume, Inspirationen und
Ob der Arbeitsspeicher eines Versuchs- Visionen anbelangt, dürften Computer bis
androiden das Schütteln der rechten Hand auf weiteres auf Menschen angewiesen
von Biomotoren gemeldet bekommt oder sein. Auch die Feinabstimmung von Zielen
die äquivalenten Signale irgendwie anders und Prioritäten bedarf wohl immer wieder
erzeugt werden, macht keinerlei Unter- kleiner Korrekturen oder zumindest
schied, wenn er dies nur als Gruß interpre- stichprobenartiger Kontrollen9.
tiert und darauf zu reagieren weiß. Für Ganz allgemein dürfte die Modellierung
Computer kann die Antwort auf einen einer artifiziellen Person die Form eines
Solipsismusvorbehalt nur bejahrt werden: Trainings annehmen.
Diese Welt ist nur eingebildet. Nachdem seit Newtons epochemachender
Es ist überraschend, daß die Pioniere der Principia gerade 300 Jahre vergangen sind,
VR ihre Arbeit eher in einer Intelligenz- kann sich die KI-Forschung aber ruhig ein
verstärkung verstanden als es die heutige paar Jahrtausende nehmen, um diverse
Cyberspaceliteratur tut. Zwischen KI und Details zu klären. Eine Unterhaltung mit
VR gab es damals jedoch kaum Austausch. artifiziellen Personen soll schließlich nicht
Die Dateneingabe/Anlern-, Dressurphase nur informativ und unterhaltsam sein,
dürfte ähnlich wie bei Kindern verlaufen, sondern auch originell und anregend.
nur daß bei einem Computer massive Wollte man diese Geschöpfe bedauern,
parallele Kommunikation vorstellbar ist. dann höchstens, weil ihnen Bewußtsein
Theoretisch könnte jeder Mitspieler am unbekannt ist.
globalen Netzwerk bei der Bildung künst- Die Frage nach Bewußtsein artifizieller
licher Intelligenz durch einen Telefonanruf Personen scheint mir für die Theorie der
oder mittels Telepräsenzsitzung mitwirken. KI gänzlich unwesentlich zu sein. Da sich
Für den Computer erfolgt sein Lernen Menschen - und insbesondere KI-Forscher
nicht schlicht durch Wissensanhäufung, - jedoch so außerordentlich dafür interes-
sondern durch üben und erproben. sieren, ist es unumgänglich, im Rahmen
Ich vermute, artifizielle Intelligenz wird einer Einschätzung von KI darauf einzuge-
sich dem annähern können, was beim hen.
Menschen Intelligenz genannt wird, sofern
theoretische und empirische Elemente
Gelegenheit erhalten, quasi in einem Besitzen Computer
Abschleifungsprozeß zur menschlichen Bewußtsein?
Position zu konjugieren7. Die empirischen
Die physikalistisch/kybernetische Theorie
Elemente betreffen dabei die Kontakt-
besagt, daß in einem Automaten das Vor-
fläche (-raum wäre angebrachter) zur
handensein hinreichend komplexer
Lebenswelt (hier wäre Interaktionsraum
Informationsverarbeitungsprozesse mit
zutreffend), während die Theorie die
Bewußtsein äquivalent ist.
Konzeptbildung kanalisieren muß. Da
Bei der bisher dargelegten Auffassung tritt
umwelt- und handlungsbezogene Organisa-
„bewußt“ jedoch nie als Charakterisierung
7. des Zustandes einer Maschine auf, da eine mit jenem Umstand heute keine solche
Schalterstellung (oder Kombinationen Vorstellung von Ich wie ich sie jetzt von
daraus) und ein mentaler Zustand zunächst mir im Augenblick habe. Eine Vorstellung
verschiedenen Kategorien angehören. Zum von Ich zu besitzen, kann also nicht äqui-
Kriterium wurde die größtmögliche Annä- valent mit einer bestimmten Konstellation
herung an einen Menschen - ganz in Über- innerer und äußerer Zustände sein. Denn
einstimmung mit dem Turing-Test, der die obwohl solche Konstellation bei einem
Ununterscheidbarkeit fordert. Apparat jederzeit realisiert werden können,
Daher irrt Turing, wenn er sein Verfahren darf ein Ich nur in den Augenblicken
zur Beantwortung der Frage vorstellt: auftreten, welche Gegenwart reklamieren
Können Maschinen denken? So wie er sein können. Ist dies beim Menschen schon
Immitationsspiel einführt, hatte er offenbar rätselhaft genug, wird es für die
im Sinn: Können Maschinen glaubhaft Bewußtseinsfrage artifizieller Personen
machen, daß sie denken? Diese beiden zum echten Problem.
Fragen sind verschieden, wie jedermann Ein ganz anderes Argument lautet: Wäre es
weiß, der eine Zaubervorführung besucht möglich, einen Computer mit Bewußtsein
hat. zu bauen, wäre es sicher auch möglich,
Der Turing-Test ist folglich die maximale einen in seinem Denken und Verhalten
Qualitätsforderung an einen ordentlich identischen zu bauen, welcher das Phäno-
kultivierten KI-Rechner, sie ist kein empi- men Bewußtsein nicht aufweist. Wer logi-
rischen Tests für eine Eigenschaft, von der sche Identität vertritt, muß daher die
bisher nicht die Rede war.10 Möglichkeit zu einer solchen Apparatur
Welches ist nun diese Eigenschaft? leugnen, was wenig sinnvoll erscheint.
Es ist von Dali bekannt, daß er sich gele- 2. Nun mag es jedoch empirische Gründe
gentlich vorstellte, ein Bahnhof zu sein. geben, warum eine gewisse Komplexität an
Könnte sich nicht auch ein Bahnhof vor- Informationsverarbeitungsprozessen Be-
stellen, ein Künstler zu sein? wußtsein hervorbringt.
Diese Frage scheint darauf hinauszulaufen, Diese Möglichkeit möchte ich nicht grund-
daß es irgendwie ist, ein Mensch zu sein. sätzlich bestreiten und glaube auch, daß
Der Autor kann sich eine Maschine vorstel- ein Unmöglichkeitsbeweis unmöglich ist.
len, die in allen Situationen so agiert wie Dennoch muß das Argument beim gegen-
er. Sie sei gerade dabei einen Aufsatz über wärtigen begrifflichen und empirischen
KI und VR zu schreiben. Hat sie deswegen Stand der Wissenschaft als unverständlich
die gleiche Vorstellung von Ich wie ich sie und keineswegs naheliegend bezeichnet
habe? werden.
• Wenn wir die Möglichkeit dafür im Auge Ich halte es zwar für zulässig, ein Ich als
haben, werden wir wahrscheinlich Ja sagen. Kristallisationspunkt einer artifiziellen
Bei anderen Menschen ist unsere Lage Person anzunehmen - etwa mit dem Status
keineswegs klarer, obwohl dieses Einver- theoretischer Begriffe in der Physik - sehe
ständnis unumstritten ist. aber nicht, inwieweit dieses Ich mit Selbst-
• Wenn wir allerdings Notwendigkeit for- bewußtsein ausgestattet sein soll. Obwohl
dern, gibt es kein Argument, denn als verwandt, würden gerade die euphorischen
Lösung können nur eine logische und eine Physikalisten sich verwahren, einen Ein-
empirische Variante anerkannt werden. fluß von Planetenkonstellationen auf
1. Sich wie ein Mensch zu verhalten und menschliche Schicksale anzunehmen,
ein Mensch zu sein, sind logisch das glei- während sie bei anderen Konstellationen
che. mit mentalen Zuschreibungen weitaus
Hierfür sehe ich keinen Grund. Im Gegen- großzügiger sind.
teil: ich war gestern so wie ich üblicherwei- Bei Organismen, deren Funktionsweise wir
se bin und doch verbindet sich für mich nicht kennen, ja wo wir nicht einmal wis-
8. sen, ob eine Funktionsweise vorliegt,
bleibt uns in der Tat nur eine Beurteilung 1 Eine historische Reihenfolge müßte freilich mit
Schickard aufnehmen. (Vgl. Briefwechsel mit
des Verhaltens. Bei künstlichen Systemen Kepler über Rechenmaschine für 4 Grundrechen-
dagegen steht uns die Möglichkeit offen, arten).
in der Terminologie ihrer Konstruktion zu 2 Ein schönes Beispiel ist die Einbindung
sprechen und wir sollten es zunächst dabei fiktionaler Kontexte.
belassen. 3 Die Autoren diskutieren an dieser Stelle je nach
Ausrichtung über Sachverhalte, Sinnesdaten,
Vielleicht ist der Physikalismus eines der Protokollsätze, Basissätze etc.
bedeutendsten Forschungsprogramme der 4 Systematisch weitreichendster Versuch war
Wissenschaft, die These selbst bleibt Carnap Vorschlag, ein Basisproblem gar nicht erst
jedoch Glaubenssache. aufkommen zu lassen, um den von Russell und
Hilbert eingeführten Strukturbegriff zu verwen-
den.
5 Vgl. die Versuche, in denen Gehirnwellen zur
Steuerung herangezogen werden sowie die
Arbeiten der Molekularbiologin Kary Mullis.
6 Ich verzichte im folgenden auf die Anführungs-
zeichen.
7 In der Astronomie bezeichnet Konjunktion die
gleiche Stellung für einen Beobachter.
8 Walther Ch. Zimmerli spricht von der Mensch-
Maschine-Kommunikation als kreatives Tandem.
9 Die Problematik sogenannter Expertensysteme
wage ich hier nicht aufzugreifen.
10 Der Unterschied erinnert an den Status von
Trägheit in der Physik. Zunächst als empirisches
Gesetz betrachtet, sprechen wir heute vom
Trägheitssatz, der den Hintergrund für Naturge-
setze abgibt.
Anschrift: Pierre Leich, Hastverstraße 21,
D-90408 Nürnberg, Tel 0911 81026-28,
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