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GESCHICHTE U N D HEILSGESCHICHTLICHE
  TRADITIONSBILDUNG IM ALTEN TESTAMENT
            EIN BEITRAG ZUR TRADITIONSGESCHICHTE
                      VON RICHTER VI—VIII

                                      VON

                          WALTER BEYERLIN
                                   Tübingen

   Wer in den Geschichtsbüchern des Alten Testaments liest, steht
vor der Frage, wie sich die hier verarbeiteten Geschichtstraditionen
zur historischen Wirklichkeit verhalten. In der Auseinandersetzung
mit dieser Frage besteht eine Neigung zu extremen Lösungen:
So wird auf der einen Seite ein ungebrochen-unmittelbares Verhältnis
des Überlieferten zum tatsächlichen Geschichtsverlauf angenommen
und der Bericht der Tradition kurzerhand in Historie umgesetzt.
(Im Lager des protestantischen Fundamentalismus wird so ver-
fahren x ), aber auch in der römisch-katholischen Forschung, wofür
                                              2
RICCIOTTI mit seiner „Geschichte Israels" ) Beispiel sein kann.)
Auf der anderen Seite hingegen wird die Kluft zwischen der Dar-
stellung der Tradition und dem realen Geschehen, wie es sich der
historisch-kritischen Forschung darstellt, für unüberbrückbar ge-
halten und darauf verzichtet, den Entstehungsprozess der Über-
lieferungen zurückzuverfolgen bis hin zu den historischen Realitäten,
die die Traditionsbildung angeregt haben. (G. v. RAD vertritt etwa
diesen Standpunkt in seiner „Theologie des Alten Testaments" 3).)
Die erstere Verhältnisbestimmung zu erörtern, wird jeder, der die
Notwendigkeit einer historisch-kritischen Erforschung des Alten
Testaments bejaht, nicht für erforderlich halten. Nötig ist jedoch eine
Auseinandersetzung mit der letzteren Auflassung. Mit Aussicht auf
Erfolg läßt sie sich nicht im allgemeinen führen. Vielmehr muss
bei jeder einzelnen Geschichtstradition untersucht werden, wieweit
sich ihr Werdegang zurückverfolgen lässt und wo ihre Wurzeln

  *) Vgl. dazu J. BRIGHT, Early Israel in Recent History Writing* Studies in Biblical
Theology Nr. 19, London 1956, pp. 26ff.
  a
    ) Wien 1953.
  8
    ) 1. Band München 1957, 2. Band 1960.
Vetus Testamentum XIII                                                           ζ
2                            W. BEYERLIN


zu suchen sind. Im Rahmen dieses Aufsatzes lassen sich jene Fragen
natürlich nur an einer einzigen Tradition aus dem Bereich der Ge-
schichtsbücher verfolgen. Und dabei greifen wir zweckmässigerweise
eine solche Tradition heraus, die einen gewissen Abstand hat von
dem historischen Geschehen, das sie darstellt. Eine Tradition dieser
Art ist die jüngere Gideonüberlieferung in den Kapiteln vi-viii des
Richterbuches. Sie soll im folgenden auf ihr Verhältnis zur historischen
Wirklichkeit untersucht werden: Lässt sich ihr Werdegang zurück-
verfolgen bis zu dem realen geschichtlichen Geschehen, das den
Prozess der Traditionsbildung in Gang gesetzt hat? Ist der geschicht-
liche Rahmen, der Sitz im Leben, sichtbar, in dem die jüngere Gideon-
tradition Gestalt gewann? Lassen sich die Beweggründe und Problem-
stellungen erkennen, die zur Ausgestaltung dieser Tradition beitrugen
und die ja auch Elemente der historischen Wirklichkeit sind? — Ehe
wir mit diesen Fragen an die jüngere Gideonüberlieferung herantreten
können, haben wir zunächst einmal die traditionsgeschichtlich späteren
Partien in Ri. vi-viii ins Auge zu fassen.

                                   I

   Dass die uns überkommene Gideontradition nicht aus einem
Gusse ist, sondern schichtenweise zustandekam, ist in einer Hinsicht
ganz unverkennbar: Die Angaben über Umfang und Stärke des von
Gideon aufgebotenen Heerbanns stehen in einem auffälligen Gegen-
satz zu den Angaben der Überlieferung über die Zahl der Krieger,
mit denen Gideon dann tatsächlich die Auseinandersetzung mit den
Midianitern bestritten hat. Nach Ri. vi 33-35 hat der von Jahwes
Geist ergriffene Richter aus dem Stamm Manasse nicht nur seine
eigene abiesritische Sippe zum Kampf gegen jene beduinischen
Eindringlinge aus der syrisch-arabischen Wüste aufgeboten, sondern
darüber hinaus eine beachtliche Reihe israelitischer Stämme: ganz
Manasse, dazuhin Asser, Sebulon und Naphtali. Nach Ri. vii 3
umfasste dieses Aufgebot nicht weniger als 32 000 Mann. Dieses
ganze stattliche Heer wird dann aber verblüffenderweise noch vor
Beginn des Kampfes nach Hause geschickt; Gideon schlägt die
Midianiter mit einer Truppe von nur 300 Mann in die Flucht. Erst
zur Verfolgung der Flüchtenden wird nach Ri. vii 23 wieder ein
grosses Heer mobilisiert, gestellt von den Stämmen Naphtali, Asser
und ganz Manasse. Von der Verfolgung selbst, die diesem Aufgebot
oblag, hat die Überlieferung jedoch bezeichnenderweise nichts zu
RICHTER VI-VIII                                3


vermelden x). Stattdessen berichtet Kap. viii 4-21 von einer Verfol-
gung, die Gideon im Ostjordanland wiederum nur mit einer Schar
von 300 Mann durchgeführt hat. — Nun wird man sich dieses Hin-
und Herpendeln des biblischen Berichts zwischen der grossen Zahl
des Stämmeheeres und der kleinen Zahl der dann tatsächlich kämpfen-
den Truppe kaum anders als überlieferungsgeschichtlich erklären können:
Es ist allem nach dadurch bedingt, dass in einen älteren Überlieferungs-
bestand eine jüngere Traditionsschicht eingelagert worden ist.
   Dabei kann es nicht fraglich sein, dass die vom Heerbann mehrerer
Stämme handelnden Textelemente der späteren Überlieferung zuzu-
rechnen sind und dem geschichtlichen Hergang fernerstehen als die
Traditionsstücke, die Gideons Truppe auf 300 Mann beziffern2).
Auffallig ist nicht nur, dass von Kampfhandlungen jenes Heerbanns
nichts berichtet wird. Dass er überhaupt trotz aller sich dabei erge-
benden Schwierigkeiten aus den verschiedenen Stämmen zusammen-
berufen worden sein sollte, nur um alsbald wieder entlassen zu werden,
ist, historisch gesehen, nicht eben wahrscheinlich. Schlechterdings
unmöglich ist es jedoch, dass derselbe Heerbann schon einen Tag
nach seiner Entlassung nun zur Verfolgung des flüchtenden Feindes
von neuem aufgeboten worden sein sollte (vgl. Ri. vii 8 mit vii 23).
Aber auch sonst passt das Massenaufgebot der 32 000 Krieger von
Ri. vii 3 recht wenig in den altüberlieferten geschichtlichen Rahmen
hinein: Oder wie sollten etwa diese Abertausende es fertig gebracht
haben, sich um eine einzige Quelle zu lagern 3 ), wie es in Ri. vii 1
behauptet wird? Kurzum, die Überlieferungsstücke, die den Heerbann
mehrerer Stämme ins Spiel bringen, sind spätere, der Historie ferner-
stehende Traditionsbildungen (Ri. vi 33-35; vii 23); ebenso natürlich
die Abschnitte, die in ihrer Erzählung von der Vorstellung eines
grossen Stämmeaufgebots ausgehen (Ri. vii 2-8; viii 22-23). — In-
soweit jedoch die Überlieferungen in Kap. vii und viii trotz der
später wirksam werdenden Tendenz zur Ausweitung des Teil-
nehmerkreises daran festgehalten haben, dass Gideon mit nur 300
Mann den Midianitern entgegentrat, sind sie dem geschichtlichen
  x
   ) Siehe dazu unten S. 15 Anm. 3.
  2
    ) Vgl. hierzu auch etwa E. TÄUBLER, Biblisehe Studien. Die Epoche der Richter,
hrsg. v. H.-J. ZOBEL, Tübingen 1958, pp. 253ff.
  8
    ) So auch etwa H. W. HERTZBERG, Die Bücher Josua, Richter, Ruth, ATD 9,
Göttingen 1953, p. 194. Zur Charodquelle vgl. C. WEIDENKAFF, „Ist cen dschälüd
die alttestamentliche Harodquelle?", Palästinajahrbuch 17,1921, pp. 18-31, dazuhin
R. NORTH, „Realizzazioni intorno a Bet-Scean", Bibbia e Oriente 3, 1961, p. 22
und Tafel II Β, pp. 28/29.
4                               W. BEYERLIN


Sachverhalt sicherlich noch recht nahe. Da nach Ri. viii 4-21 Gideon
mit seinen Leuten zwei Midianiterkönige ganz offensichtlich einer
Blutrache wegen verfolgte (Vers 18-21), ist ohnehin zu vermuten,
dass die Auseinandersetzungen mit jenen beduinischen Eindring-
lingen imgrunde begrenzteren Umfangs waren, auch wenn sie sich
dann in der Folge als von grösserer Tragweite erwiesen. Da es im
alten Israel vor allem der Blutsverband der Sippe war, der die Blutrache
zu vollziehen hatte *), liegt die Annahme nahe, dass jene 300 Mann,
mit denen Gideon jene beiden Midianiterkönige verfolgte, sich aus
den wehrfähigen Männern der Sippe Abieser rekrutierten. Diese
Annahme hat auch darin eine Stütze, dass in Ri. viii 2, in einem von
Stammesgegensätzen beherrschten Zusammenhang2), der über Midian
errungene Sieg als „die Ernte-, die Weinlese Abiesers" bezeichnet
wird3). Die Männer der abiesritischen Sippe sind es allem nach
gewesen, die den Sieg über Midian als Ernte eingebracht haben.
Dementsprechend kann auch die jüngere Tradition in Ri. vi 33-35,
die vom Aufgebot der Stämme berichten will, nicht umhin, ausdrück-
lich und vor allem von der Einberufung der Sippe Abieser zu sprechen
(Vers 34b). Und erst in zwei weiteren Sätzen vermag sie den Kreis
der Aufgebotenen weiter zu ziehen und auf die Stämme Manasse,
Asser, Sebulon und Naphtali auszuweiten (Vers 35).
   Damit aber stehen wir nun vor der wichtigen Frage, warum über-
haupt der späteren Tradition daran lag9 den Teilnehmerkreis in dieser Art
auszuweiten. Zur Beantwortung dieser Frage ist es notwendig, darauf
zu achten, wer imgrunde mit den Truppenkontingenten der genannten
Stämme ins Spiel gebracht werden soll. — Nun wird das Aufgebot
der Stämme in den zu jener späteren Überüeferungsschicht gehören-
den Stellen Ri. vii 8. 23 und viii 22 bezeichnenderweise νΚΊΟΡΗ^Κ
                                                                     - τι ·
genannt. Dabei geht aus dem jeweiligen Zusammenhang zweifelsfrei
hervor, dass es sich hier um einen Kollektivbegriff handelt: gemeint
ist in allen Fällen „die Mannschaft Israels", genauer gesagt: die wehr-
hafte Mannschaft —, der Heerbann Israels. Wichtig ist hierbei
aber auch das Beziehungswort „Israel", das in der alttestamentüchen
Überlieferung von Hause aus ja nicht Volk oder Nation bezeichnet,
  *) Vgl. etwa R. DE VAUX, Das Alte Testament und seine Lebensordnungen I, Freiburg-
Basel-Wien 1960, p. 25.
  a
    ) Vgl. hierzu O. EISSFELDT, „Der geschichtliche Hintergrund der Erzählung
von Gibeas Schandtat (Richter 19-21)", BEER-Festscbrift, Stuttgart 1935, pp. 34f.
  8
    ) Da hier der Name Abieser in Antithese zum ephraimitischen Stamm ge-
braucht ist, meint er nicht Gideon allein, sondern eben die abiesritische Sippe.
So auch G. F. MOORE, Judges, ICC, 7. A. Edinburgh 1958, p. 216.
RICHTER VI-VIII                               5

sondern den sakralen Stämmeverband, der im gemeinsam gepflegten
Jahwekult seine Einheit hat1). Dementsprechend ist dann der
^ΧΊΟΡ-^Κ der Heerbann, den die in diesem sakralen Bund zusammen-
  - τ: ·                    '
geschlossenen Stämme zu stellen verpflichtet sind, sobald ihr Bund
als solcher von aussen oder von innen bedroht wird. Diesem Sach-
verhalt entspricht es in bemerkenswerter Weise, dass gerade im
XX. Kapitel des Richterbuches auffallend gehäuft vom VinftP"^» die
Rede ist 2 ), in einer Erzählung also, die den Stämmebund Israel in
Aktion zeigt: hier schreitet seine Mannschaft, sein Heerbann, gegen
ein Glied dieses Bundes ein, das das in ihm geltende Gottesrecht
verletzt hatte 3). — Nach allem ist der jüngeren Gideontradition also
                    -
daran gelegen, den Heerbann des sakralen Stämmebundes Israel an
den Midianiterkämpfen zu beteiligen. Nicht irgendwelche Einzel-
stämme werden ins Spiel gebracht, sondern, wie Ri. vii 23 ausdrück-
lich sagt, „die Mannschaft Israels aus" diesem und jenem Mitglieds-
stamm 4). Was eine einzelne Sippe in lokaler Begrenzung erlebt und
erstritten hatte, das wird in der späteren Tradition als die Sache des
Stämmebundes verstanden und dargestellt. Was Abieser geerntet,
das wird hier nicht etwa als nationale Tat gefeiert, das wird auch
nicht nur (wie in Ri. viii 1-3) stammesgeschichtlich eingeordnet und
gewertet, das wird vielmehr und vor allem in seiner Bedeutung für
die sakrale Gemeinschaft derer verstanden, die in Jahwe ihren Gott
hatten. Damit aber wurde der Sieg, den Gideon über Midian errungen
hatte und in dem zugleich seine Sippe einer Blutracheverpflichtung
nachgekommen war, entschlossen in einen neuen Sachzusammenhang
hineingestellt: er wird zu einer Heilstat, in der Jahwe die Geschichte
mit seinem Volk Israel weiterführt.

                                  II
  Dass dem wirklich so ist, soll nun anhand der Erzählung von Gideons
Berufung erwiesen werden. Sie hat, eingefügt in einen kultätiologischen
  x
    ) Vgl. hierzu M. NOTH, Das System der ^wölf Stämme Israels, BWANT IV 1,
Stuttgart 1930, pp. 91ff., und Geschichte Israels, 4. A. Göttingen 1959, pp. 12ff.
85ff.
  2
    ) Vgl. dazu ROST-LISOWSKY, Konkordanz %um hebräischen Alten Testament,
Stuttgart 1958, p. 67.
  8
    ) Vgl. M. NOTH, a.a.O., pp. lOOff., andererseits auch O. EISSFELDT, „Der
geschichtliche Hintergrund der Erzählung von Gibeas Schandtat", BEER-Fest-
scbrift, pp. 19-40.
  4
    ) Dabei sind natürlich die geographisch in Frage kommenden Stämme der
Amphiktyonie ausgewählt worden.
6                                 W. BEYERLIN

Zusammenhang1), in Ri. vi llb-17 ihren literarischen Niederschlag
gefunden2). Nach dieser Geschichte wird Gideon nicht sogleich
und ohne alles weitere mit der Errettung Israels aus der Midianiternot
beauftragt. Der Berufung geht ein Gespräch voraus, das zwischen
ihm und Jahwes Engel stattgefunden haben soll. Den Anstoss zu
diesem Gespräch gibt Jahwes Bote mit dem Segensgruss ϊ|δ» ΠΓ       ΊΡ
„Jahwe ist mit dir, tapferer Held" 3) ! (Vers 12). Dieser Gruss reizt
Gideon zu Widerspruch und Klage: „Wenn Jahwe mit uns ist,
warum hat uns dann all dies betroffen? Wo sind dann alle seine
Wundertaten, von denen uns unsere Väter erzählt haben, wenn
sie sagten: Hat uns Jahwe nicht aus Ägypten heraufgeführt?! Nun
aber hat uns Jahwe Verstössen und uns in Midians Hand gegeben!"
(Vers 13). Erst auf diese Worte hin wird dann Gideon berufen und
beauftragt.
   Nun versteht es sich ja von selbst, dass jenes Gespräch zwischen
Jahwes Engel und Gideon nicht auf einen Ohrenzeugen zurückgeht
und, von diesem protokolliert, auf uns gekommen ist. Jener Dialog
ist wie die ganze Berufungsgeschichte und wie überhaupt alle Beru-
fungssagen a posteriori und in Kenntnis der späteren Taten des
Berufenen entstanden4) und also zweifellos unter àie jüngeren Tradi-
tionsbildungen in Ri. vi-viii zu rechnen. Dass sich in der Erzählung
von Gideons Berufung dennoch geschichtlich zutreffende Erinne-
rungen niedergeschlagen haben, ist damit nicht bestritten: So wird
etwa die Notiz, dass man damals aus Furcht vor den Midianitern nicht
auf der Tenne, sondern an unzugänglichem Ort gedroschen habe
(Vers IIb), historisch richtig sein. — Woran aber hat sich die Tradi-
tion orientiert, wenn sie von Gideons Gespräch mit Jahwes Boten
berichtet? Zunächst einmal ganz offensichtlich an der Form des
Volksklagelieds 5). Da Israel auf seinen Klagefeiern (auf seinen ntoix)
   x
     ) Vgl. hierzu E. KUTSCH, „Gideons Berufung und Altarbau Jdc 6, 11-24*',
ThLZ 81, 1956, Sp. 75-84, und die sich auf eine Motivanalyse beschränkende
Untersuchung C. A. KELLERS, „Über einige alttestamentliche Heiligtumslegenden
I", ZAW 67, 1955, pp. 156-161.
   2
     ) Zur Einheitlichkeit des Stücks in literarischer Hinsicht vgl. E. KUTSCH,
a.a.O., Sp. 75ff. (siehe besonders auch Sp. 75, Anm. 1), ferner A. R. JOHNSON,
The One and the Many in the Israelite Conception of God, 2. A. Cardiff 1961, pp. 29ff.
   8
     ) Als Indikativ und nicht als Jussiv verstanden mit E. KUTSCH (a.a.O., Sp. 78,
Anm. 16) u.A.
   4
     ) Mit H. GRESSMANN, Die Anfänge Israels, SATA I 2, 2. Α. Göttingen 1922,
p. 203; G. ν. RAD, „Der Anfang der Geschichtsschreibung im alten Israel"
(1944), Gesammelte Studien, München 1958, p. 155.
   6
      Ähnlich C. A. KELLER, a.a.O., p. 158.
RICHTER VI-VIII                                    7

in dieser Form seine Not vor Gott brachte, musste es naheliegen, auch
Gideons Klage über die Midianiternot entsprechend zu gestalten.
Dass jene Form schon in Gebrauch war, als die Tradition von Gideons
Berufung zu erzählen begann, darf hierbei ohne weiteres angenommen
werden. Denn schon der Stämmebund der Richterzeit hat bei inneren
oder äusseren Notständen Klagefeiern an den Heiligtümern der
Amphiktyonie abgehalten und dabei sicherlich in feststehenden
liturgischen Formen seine Klage vorgebracht. Nach Ri. xx 23. 26
hat sich der Stämmebund in Bethel zur Klage vor Jahwe versammelt,
ehe er gegen Benjamin zog. Und nach 1. Sam. vii 6 hat sich Allisrael
in der Philisternot vor Jahwe in Mizpa zur Klagefeier versammeltx).
So aber, wie hier Israel seine Not geklagt hatte, so musste nach der
Überzeugung der Tradition auch Gideon gesprochen haben. Nach
Ri. xxi 3 hatte der Stämmebund damals in Bethel klagend gefragt:
„Warum, Jahwe, Gott Israels, ist dies in Israel geschehen...?"
Und ähnlich wird die Warum-Frage2) auch in den Klagepsalmen
gestellt 3). Dementsprechend formuliert die Tradition nun aber auch
Gideons Frage angesichts der Midianiternot: „Wenn Jahwe mit
uns ist, warum hat uns dann all dies betroffen... ?" (Ri. vi 13). — Aus-
ser der Warum-Frage ist für das Volksklagelied charakteristisch,
dass es die früheren Heilstaten Jahwes mit der notvollen Gegenwart
konfrontiert4). Hat Jahwe seit der Errettung aus Ägypten seinem
Volk immer wieder wunderbar geholfen, so hat er es nun verworfen.
So wird in den Psalmen lxxx und xliv geklagt5). Nach der Über-
zeugung der Tradition hat Gideon damals in derselben Weise geklagt,
darum legt sie ihm die Frage in den Mund: „Wo sind alle seine
Wundertaten, von denen uns unsere Väter erzählt haben, wenn sie
sagten: Hat uns Jahwe nicht aus Ägypten herausgeführt?! Nun aber
hat uns Jahwe Verstössen und uns in Midians Hand gegeben!"

   *•) Dass 1. Sam. vii nicht erst vom Deuteronomisten stammt, sondern ältere
Tradition umschliesst, hat A. WEISER („Samuels ,Philister-Sieg' ", ZThK 56,
1959, pp. 253ff.) nachgewiesen.
   2
     ) Sie ist schon in akkadischen Klagepsalmen zu belegen. Vgl. A. FALKEN-
STEIN - W. v. SODEN, Sumerische und akkadische Hymnen und Gebete, Zürich-Stuttgart
1953, p. 269.
   8
     ) Vgl. Ps. xliv 25 ; lxxiv 1 ; ferner Jer. xiv 19 ; Klgl. ν 20. Siehe auch H. GUNKEL-
J. BEGRICH, Einleitung in die Psalmen, HK, Göttingen 1933, p. 127, und C. WESTER-
MANN, „Struktur und Geschichte der Klage im Alten Testament", ZAW 66,
1954, pp. 52f. 69.
  4
      ) Vgl. hierzu H. GUNKEL - J. BEGRICH, a.a.O., p. 130.
  5
   ) Vgl. besonders Ps. lxxx 9-15; xliv 2ff. lOff. und mutatis mutandis auch
Ps. ixe 50.
8                             W. BEYERLIN


(Ri. vi 13). Dabei findet sich der Hinweis, dass so einst die Väter
erzählt hätten, in denselben Worten formuliert, sowohl im Volks-
klagelied Ps. xliv 2 1 ) wie in der Berufungsgeschichte Ri. vi 13.
Kurzum, es kann keine Frage sein, dass hier die jüngere Gideon-
tradition nach dem Vorbild einer kultischen Form gestaltet worden
ist, — nach dem Vorbild der Form, in der der sakrale Stämme-
verband auf seinen Klagefeiern jeweils die ihn bedrängende Not
vor seinen Gott gebracht hat.
   Aber nicht nur in formaler Hinsicht steht die Überlieferung von
Gideons Berufung in Beziehung zum Stämmebund Israel. Auch in
ihrer Substanz ist sie entscheidend bestimmt von diesem sakralen
Verband und der ihn tragenden Tradition. Grundlegend war für
die Jahweamphiktyonie ihre heilsgeschichtliche Tradition: die Über-
lieferung von der Herausführung aus Ägypten und von all' den
Wundertaten, in denen Jahwe darnach seine hilfreiche Gegenwart
Israel hatte zuteil werden lassen. Im Lichte dieser heilsgeschichtlichen
Tradition sah der Stämmebund seine Vergangenheit. Und im Lichte
derselben heilsgeschichtlichen Tradition suchte er auch das Dunkel
der ihn bedrängenden Gegenwart zu erhellen. Dass die uns hier
beschäftigende Überlieferung von Gideons Berufung gerade diesem
Bestreben entsprang, ist unverkennbar: Dass Gideon, der Abiesrit
aus dem Stamme Manasse, den midianitischen Eindringlingen ent-
gegentrat, das tat er nach der Überzeugung der späteren Tradition
nicht von sich aus und nicht etwa nur einer Blutrache wegen, dies
tat er vielmehr, weil ihn Jahwe dazu berief, — weil sich Israels Gott
durch Gideons Klage dazu bewegen Hess, nun in der Krise des
Midianiteransturms die Heilsgeschichte fortzuführen, die mit der
Herausführung aus Ägypten begonnen und in vielen Wundertaten
ihre Fortsetzung gefunden hatte. So wird hier in der Darstellung
der jüngeren Gideontradition das, was jener Abiesrit mit den Kriegern
seiner Sippe vollbracht, aus der lokalen und partikularen Beschrän-
kung herausgelöst, dem Bereich des Vieldeutigen entnommen und,
einbezogen in die altüberkommene heilsgeschichtliche Tradition, in
seiner tieferen Bedeutung erschlossen: Der Gott, der einst den Vätern
geholfen, erwies sich hier als der noch immer machtvolle Helfer
seines Volkes. Die amphiktyonische Tradition von der Heraus-
führung aus Ägypten meint ja auch nicht eine vergangene Episode,
sondern gerade Jahwes Heilshandeln, das wirkungsmächtig in die
  x
   ) Zur Herleitung des Psalms aus vorexilischer Zeit vgl. A. WEISER, Die
Psalmen I, ATD 14, 5. A. Göttingen 1959, pp. 45f. 238f.
RICHTER VI-VIII                        9

Gegenwart hereinreicht und Israel noch immer umfängt. Dadurch,
dass ein Stück aktueller Historie ins Licht der alten heilsgeschicht-
lichen Tradition gerückt und als das jüngste Glied in der Kette der
Heilstaten Jahwes gedeutet wird, ist die Überlieferung von Gideons
Berufung in Ri. vi llb-17 zustandegekommen.
   Wird hier die Überwindung der Midianitergefahr analog der Heraus-
führung aus Ägypten verstanden, so kann es nicht wundernehmen,
dass entsprechend auch Gideon selbst von der Tradition dem zur
Seite gestellt wird, der Jahwes Volk aus Ägypten geführt hatte:
Mose nämlich. Der Überlieferung in Ri. vi llb-17 steht es ganz
offensichtlich fest, dass Gideons Berufung in genau derselben Weise
verlaufen sein muss wie die des Mose. Von der letzteren berichtet
eine alte Pentateuchüberlieferung, deren elohistische Bearbeitung
in Ex. iii 9-15 vorliegt1). Nach der Darstellung dieser Tradition
war Moses Berufung Gottes Antwort auf den Klageschrei der
Bedrängten (Ex. iii 9. 10). Entsprechend wird nun auch Gideon
auf seine Klage hin zum Retter Israels berufen (Ri. vi 13.14). Dabei
gleicht das Sendungswort, das an Mose ergeht, weithin demjenigen,
das zu Gideon gesprochen wird. Wie sich Mose (nach Ex. iii 11)
dem ihm zuteil gewordenen Auftrag nicht gewachsen fühlte, so
antwortet (nach Ri. vi 15) auch Gideon mit dem Hinweis auf sein
Unvermögen. Hier wie dort begegnet Jahwe dem Einwand der
Berufenen mit der Zusage seiner Gegenwart, die beidemal in dieselben
Worte (TJSB ΓΡΠ*ρ3) gekleidet ist (vgl. Ex. iii 12 mit Ri. vi 16).
Und wie dem Mose (nach Ex. iii 12) ein Zeichen (nÎK) angekündigt
wird, so erbittet (nach Ri. vi 17) auch Gideon ein Zeichen (nix), das
ihn erkennen lässt, dass Berufung und Auftrag vonfahwe stammen. —
Die Übereinstimmung zwischen beiden Berufungssagen ist eindrucks-
voll genug. Zurückzuführen ist sie, wie gesagt, auf das Bestreben
der jüngeren Gideontradition, in jenem Sieger über die Midianiter
ein Werkzeug desselben Gottes zu sehen, der einst durch Mose sein
Volk aus Ägypten errettet hatte. Darin aber stimmt die Darstellung
des Berufungsvorgangs mit der Grundtendenz des ganzen Über-
lieferungsstückes in Ri. vi llb-17 überein: In all* ihren Teilen ist
diese Traditionsbildung daraufhin ausgerichtet, einerseits in einem
Stück jüngst erlebter Zeitgeschichte die Fortführung der Heils-
geschichte zu erkennen, die mit dem Exodus aus Ägypten begann,
  x
   ) Vgl. dazu M. NOTH, Das zweite Buch Mose, ATD 5, Göttingen 1959, pp.
27ff., und E. KUTSCH, a.a.O., Sp. 79.
10                             W. BEYERLIN

und andererseits eben dadurch die Gegenwartsmächtigkeit der alten
heilsgeschichtlichen Überlieferung zu erweisen. Da der Stämmebund
Israel Träger dieser Tradition war, die hier so offensichtlich im
Mittelpunkt allen Interesses steht, darf auch jene Traditionsbildung
sicherlich gerade auf ihn und ihm nahestehende Kreise zurückgeführt
werden. Damit aber wird der enge sachliche und traditionsgeschicht-
liche Zusammenhang zwischen dem Bericht von Gideons Berufung
und den Stücken deutlich, die den Heerbann des Stämmebundes an
den Midianiterkämpfen beteiligt sehen wollten. Hier wie dort geht
es darum, ältere, noch lokal-partikular beschränkte Überlieferung
zu amphiktyonischer Tradition aufzuarbeiten im Rahmen der traditio-
nellen und institutionellen Voraussetzungen des Stämmebundes
Israel.
                                 ΠΙ
   Aus demselben Zusammenhang wird aber auch die prophetische
Mahnrede verständlich, die in Ri. vi 7-10 jener Berufungserzählung
vorangestellt ist. Insofern sich dieses paränetische Stück an seinen
beiden Enden auf die Traditionen des Kontexts bezieht *), ist an
seiner verhältnismässig späten Einschaltung in den Überlieferungs-
zusammenhang nicht zu zweifeln. Doch ist es ganz unwahrscheinlich,
dass es erst zum Zweck dieser Einschaltung von einem Schriftsteller
abgefasst worden sein sollte, wie M. NOTH meint, der jenen Abschnitt
auf den deuteronomistischen Geschichtsschreiber zurückzuführen
versucht2). Dazu ist am Ende der Mahnrede viel zu wenig für eine
Überleitung zum unmittelbar nachfolgenden Text Sorge getragen,
ganz abgesehen davon, dass dieses paränetische Stück hier überhaupt
fragmentarisch bleibt, da von der Wirkung der Vermahnung wider
Erwarten nicht ein Wort gesagt wird 3). Diese Bruchstückhaftigkeit
deutet aber darauf hin, dass in Ri. vi 7-10 eine vorgegebene Tradition,
an ihrem Ende verkürzt, in das Überlieferungsgefüge eingeschoben
worden ist. Spezifisch deuteronomische Sprachelemente lassen sich
in diesem Traditionsbruchstück nicht nachweisen 4). Die Wendung
  x
    ) Vers 7a nimmt Vers 6b wieder auf (LXX-B, Peschitta und Vulgata werden
mit ihrem kürzeren Text schwerlich den Vorzug verdienen). In Vers 10 wird
über die Wirkung der Mahnrede nichts berichtet mit Rücksicht auf Vers 25fF.
Siehe auch unten.
  2
    ) Vgl. Überlieferungsgeschichtliche Studien, 2. A. Darmstadt 1957, p. 51.
  3
    ) Vgl. hiermit die Sachparallele in Ri. χ 11-16. Siehe auch K. BUDDE, Das
Buch der Richter, KHC 7, Freiburg i. Br. 1897, pp. 52f.
  4
    ) Vgl. seine Diktion etwa mit der Sprachstatistik bei C. STEUERNAGEL, Das
Deuteronomium, HK I 3, 1, 2. A. Göttingen 1923, pp. 41fF.
RICHTER VI-VIII                               11

*?ipa »ötf, mit der jene Mahnrede in Ri. vi 10 schliesst, entspricht
fraglos vordeuteronomischer, ausgesprochen paränetischer Sprach-
gewohnheit x). Lässt Jahwe in Ri. vi 8 seinem Volk vorhalten: „Ich
habe euch aus Ägypten heraufgeführt und habe euch aus dem Sklaven-
hause herausgeführt", so ist nicht einzusehen, dass es sich hier um
deuteronomistische Formulierungen handeln soll, wenn sich schon
die Propheten des 8. Jhdts. in fast genau denselben Worten aus-
gedrückt haben, wie aus Am. ii 10 und Mi. vi 4 2) hervorgeht. Da auf
die Herausführung aus Ägypten und aus dem Sklavenhause auch
schon im geschichtlichen Prolog des Dekalogs hingewiesen wird 3 ),
im Eingang des Grundgesetzes der altisraelitischen Amphiktyonie
also, steht der Annahme nichts im Wege, dass die paränetische Tradi-
tion, die in Ri. vi 7-10 eingearbeitet worden ist, ebenfalls aus dem
Kult des altisraelitischen Stämmebundes stammt. Diese Annahme
findet auch darin eine Stütze, dass nach 1. Sam. χ 18 am Heiligtum
von Mizpa, das nach Ri. xx 1-3; xxi 1. 5. 8 gerade in der Richterzeit
Versammlungsort des sakralen Stämmebundes gewesen zu sein
scheint4), dasselbe paränetische Jahwewort, nur ganz unwesentlich
modifiziert, von Samuel vorgetragen worden ist. Schreibt jene Notiz
des I. Samuelbuches, die in ihrer speziellen Bezugnahme auf das
Heiligtum von Mizpa nicht vom Deuteronomisten erfunden worden
sein kann, sondern doch wohl alte Überlieferung darstellt, jenes
paränetische Wort einer amphiktyonischen Versammlung der Richter-
zeit zu, so wird auch für die der Gideonüberlieferung eingearbeitete
Variante desselben Wortes der altisraelitische Jahwekult als Sitz
im Leben anzunehmen sein. In dieselbe Richtung weist auch der
Umstand, dass von den „Göttern der Amoriter", die Israel nicht
verehren soll, ausser in der paränetischen Überlieferung in Ri. vi 10
nur noch einmal im Alten Testament die Rede ist und zwar in der
Tradition vom Landtag zu Sichern 5) in Jos. xxiv 15. Auffallender-
   *) Vgl. Ex. xix 5 E und dazu die Arbeit des Vfs. Herkunft und Geschichte der
ältesten Sinaitraditionen, Tübingen 1961, pp. 78-90, besonders p. 83, Anm. 1.
   2
     ) Zur Abfassung durch Micha vgl. A. WEISER, Das Buch der ?wölf Kleinen
Propheten I, ATD 24, 3. A. Göttingen 1959, pp. 230f.
   8
     ) Vgl. Ex. xx 2. Insofern dieser Prolog von der Bundesform gefordert wird,
nach der der Dekalog gestaltet worden ist (vgl. hierzu G. E. MENDENHALL,
„Covenant Forms in Israelite Tradition", ΒΑ 17, 1954, pp. 50fF. und BEYERLIN,
a.a.O., pp. 60fF.), gehört er in dieser oder einer ähnlichen Formulierung schon
zum Grundbestand der Zehn Gebote und ist also weder nachträgliche deuterono-
mistische Zutat noch spezifisch elohistische Erweiterung.
   *) Vgl. A. WEISER, „Samuels ,Philister-Sieg' ", ZThK 56, 1959, p. 261.
   6
     ) In Jos. xxiv 1. 25 verdient die masoretische Lesart „Sichern", textkritisch
12                               W. BEYERLIN


 weise werden hier die amoritischen Götter ebenso wie in Ri. vi 10
 mit dem Zusatz erwähnt „in deren Land ihr wohnt". Der Aufforde-
 rung zur Abkehr von ihnen korrespondiert in Jos. xxiv 5ff. 17f.
 ebenso ein Hinweis auf Jahwes Heilshandeln im Exodus und in
 anderen Wundertaten wie in der Mahnrede von Ri. vi 7-10. Überhaupt
 steht die Überlieferung vom Landtag zu Sichern in Jos. xxiv unter
 dem Einfluss derselben Bundesform1), die auch der paränetischen
 Argumentation in Ri. vi 7-10 zugrundeliegt, insofern hier der Vor-
 wurf, den Bundesgehorsam schuldig geblieben zu sein, auf dem
 Hintergrund eines heilsgeschichtlichen Prologs erhoben wird. Da
 die besagte Bundesform nachweislich schon im Stämmebundkult
 der Richterzeit lebendig gewesen ist und auch die zahlreichen Ge-
 meinsamkeiten jener paränetischen Tradition mit der Überlieferung
 vom Landtag zu Sichern auf den Bereich der vorstaatlichen Jahwe-
 amphiktyonie hindeuten, erscheint es nach allem wohlbegründet, die
 Jahweparänese von Ri. vi 7-10 aus dem Kult des altisraelitischen
 Stämmebundes herzuleiten. Hier ist Israel offenbar durch einen
prophetischen Sprecher in dieser Weise vermahnt worden. Dement-
 sprechend lässt die Überlieferung in 1. Sam. χ 18 Samuel jenes Mahn­
wort auf der gesamtisraelitischen Versammlung zu Mizpa vortragen.
Und entsprechend ist es ein W21 BhK, der nach dem Überlieferungs-
fragment von Ri. vi 7-10 Israel vor seiner Errettung aus der Midiani-
ternot mit demselben Mahnwort anspricht. Dass es ein Wort Jahwes
ist, der als „der Gott Israels" näher bezeichnet wird (Vers 8b),
bestätigt überdies, dass es sich hier um eine Stämmebundtradition
handelt, denn jener Gottesname gehört von Hause aus fraglos zur
Institution des Stämmeverbandes2). „Jahwe, der Gott Israels"
hält seinem Volk die Heilstaten vor, die er ihm zugut bei der Heraus-
führung aus Ägypten und bei der Landnahme vollführt und durch
die er seinen Gehorsamsanspruch gegenüber Israel begründet hat,
gerade auch den Anspruch auf ausschliessliche Verehrung, wie er
im 1. Dekaloggebot formuliert ist (vgl. Ex. xx 3). Israel hat sich


und historisch gesehen, den Vorzug vor der LXX-Lesart „Silo". Siehe J. MUILEN-
BURG, VT IX, 1959, p. 357. — Vgl. auch die Arbeit des Vfs., Die Kulttraditionen
Israels in der Verkündigung des Propheten Micha, FRLANT 72, Göttingen 1959,
p. 70.
   *) Vgl. BEYERLIN, Herkunft und Geschichte der ältesten Sinaitraditionen, pp. 60ff.
81fF. und besonders pp. 172ff. Zu jenem Vertragsschema vgl. auch K. BALTZER,
Das Bundesformular, WMANT 4, Neukirchen 1960.
  2
   ) Vgl. dazu BEYERLIN, a.a.O., pp. 35f.
RICHTER VI-VIII                                13

diesem wohlbegründeten Anspruch seines Gottes versagt (Ri. vi 10).
Das soll es erkennen, noch ehe Jahwe, von Gideons Klage bewegt,
sich in einer neuen Heilstat offenbart. Aus der Überzeugung heraus,
dass Israel erst zur Bundestreue ermahnt werden muss, ehe Jahwe
seine Heilsgeschichte mit diesem Volk fortsetzen kann, ist jenes
paränetische Überlieferungsfragment in Ri. vi 7-10 noch vor dem
Bericht von Gideons Berufung eingeschaltet worden. Ist aber auch
die Einarbeitung dieses aus dem amphiktyonischen Jahwekult
stammenden Traditionsstücks imgrunde erfolgt, um den alten
Stämmebundtraditionen vom Sinaibund und den Heilstaten in
ihrer unauflöslichen Wechselbeziehung in einer neuen geschichtlichen
Situation Geltung zu verschaffen, so wird auch diese Einschaltung
auf amphiktyonische Kreise zurückzuführen sein.

                                      IV

   Hat die jüngere Gideontradition die erfolgreiche Abwehr des
Midianiteransturms zu einer Sache des sakralen Stämmebundes und
seines Heerbanns erhoben, so hat sie sich dadurch, wie gesagt, in
einen offenkundigen Gegensatz zur älteren Überlieferung gesetzt,
nach der Gideon seine Siege mit nur 300 Mann erstritt. Diesen
Gegensatz hat die jüngere Tradition dadurch auszugleichen versucht,
dass sie den eben erst aufgebotenen amphiktyonischen Heerbann
der 32 000 noch vor Beginn des Kampfes bis auf einen Rest von 300
Mann wieder nach Hause schicken Hess (vii 8), — bis auf die kleine
Schar also, die nach den alten Nachrichten tatsächlich den Kampf
bestritten hatte x). Nun war sich die spätere Tradition sehr wohl
bewusst, dass jene vorzeitige Entlassung des Heerbanns der Stämme,
die sie anzunehmen gezwungen war, einer überzeugenden Begrün-
dung bedurfte. Denn die Einberufung des Stämmebundheeres war
mit solchen Schwierigkeiten verbunden und die Willigkeit der
einzelnen Stämme zur Heeresfolge war so wenig eine Selbstverständ-
lichkeit 2), dass die Behauptung der Tradition, das glücklich zustande-
gekommene Aufgebot sei alsbald und unverrichteter Dinge wieder
aufgelöst worden, nicht ohne weiteres Glauben finden konnte.

   *) Vgl. im einzelnen den I. Abschnitt.
   a
     ) Vgl. Ritus und Fluchwort bei der Einberufung des israelitischen Heerbanns
nach 1. Sam. xi 7 (siehe dazu auch G. WALLIS mZAW 64, 1952, pp. 57ff.). Vgl.
ferner Ri. xxi 25 (und dazu G. v. RAD, Der Heilige Krieg im alten Israel, 2. A.
Göttingen 1952, p. 28).
14                              W. BEYERLIN

Die Bemerkung der Überlieferung in Ri. vii 3, vor Beginn des
Kampfes seien die Furchtsamen ausgesondert und nach Hause
geschickt worden, ist für jene wundersame Entlassung des ganzen
Heerbanns noch keine zureichende Begründung. Zudem ist dieses
Überlieferungsmotiv ja in erster Linie an der Ausdeutung des Namens
der Quelle Charod interessiert, der hier mit dem hebräischen Wort
Τ1Π „furchtsam, ängstlich" in Zusammenhang gebracht wird x ).
Auch die Erzählung von der Auslese der 300 anhand jener seltsamen
Trinkprobe in Ri. vii 4-7 2) soll im vorliegenden Zusammenhang
weniger die Auflösung des Heerbanns an sich begründen als vielmehr
erklären, unter welchem Gesichtspunkt jene drastische Truppen-
verminderung erfolgte. Warum sie jedoch überhaupt in diesem
verblüffenden Ausmass vorgenommen worden sein soll, wird
theologisch begründet: Nach der Tradition in Ri. vii 2 sprach Jahwe
zu Gideon angesichts des versammelten Heerbanns der Amphi-
ktyonie: „Zu zahlreich ist das Volk, das du bei dir hast, als dass ich
Midian in seine Hand geben könnte. Israel möchte sich sonst wider
mich rühmen und sagen: Meine eigene Hand hat mir Rettung ver-
schafft! / Wir haben uns selbst geholfen!" Und um diese Deutung
der Dinge abzuwenden, befiehlt Jahwe selbst die Entlassung des
Heeres bis auf jene 300 Mann. Sie soll klarstellen, dass es ganz allein
Jahwe ist, der seinem Volk aus der Midianiternot hilft. In diesem
Sinn wird dann auch in Ri. vii 16-22 der Überfall auf das Lager der
Midianiter geschildert. Gideons Sieg kommt dadurch zustande, dass
unter den Feinden eine Panik ausbricht und sie sich gegenseitig
umbringen (Vers 22). Über ihre Niederlage war schon entschieden,
noch ehe ein Israelit einen Finger gerührt; sie war dadurch ent-
schieden, dass Jahwe Midians Lager in Israels Hand gegeben hatte
(Vers 9. 15). Damit dieser Sachverhalt nicht verdeckt würde, beliess
Jahwe dem Gideon nicht mehr als 300 Mann. Mit dieser Darstellung
des Midianiterkrieges hat die jüngere Gideontradition die von ihr
selbst angenommene vorzeitige Entlassung des Stämmebundheeres
zu motivieren versucht. — Wir aber stehen angesichts dieser Motivie-
rung vor der Frage, woran sich die Überlieferung bei dieser ihrer Dar-
stellung des Midianiterkrieges orientiert hat.


  Ύ
    ) Siehe auch etwa H. W. HERTZBERG, Die Bücher fosua, Richter, Ruth, ATD 9,
p. 194.
  a
    ) Vgl. dazu A. MALAMAT, "The War of Gideon and Midian. A Military
Approach", Palestine Exploration Quarterly 1953, pp. 62f.
RICHTER VI-VIII                              15

   Für G. v. RAD Χ ) steht es fest, dass es die sakrale Institution des
heiligen Kriegs war, die hier der Tradition vor Augen stand. Und zwar
nicht etwa nur die Institution an sich, wie sie anderwärts zur An-
wendung gekommen sei. v. RAD ist vielmehr der Auffassung, dass
Gideons Midianiterkrieg, von dem die Überlieferung in Ri. vii
berichtet, zumindest in gewissem Sinn auch in Wirklichkeit als ein
heiliger Krieg geführt worden ist 2 ). Dann aber entspräche jenes
Argument, der Heerbann des Stämmebunds sei entlassen worden, um
klarzustellen, dass Jahwe ganz allein sein Volk gerettet habe, offenbar
dem historischen Sachverhalt, v. RAD hat seine Auffassung damit
begründet, dass das für einen heiligen Krieg wesentliche Kollektiv-
handeln der Stämme zwar nicht schon vor Gideons Überraschungssieg
eingesetzt habe, aber dann doch noch nach diesem Sieg zustande-
gekommen sei. Das aber lasse annehmen, dass auch schon die Aktion
jener 300 Mann imgrunde ein amphiktyonisches Unternehmen
gewesen sei. Nun ist dieser Auflassung gegenüber aber doch zu
fragen, wie es sich rechtfertigen lässt, zwar die erste Einberufung des
Stämmeheeres als unhistorisch zu erachten und die entsprechende
Notiz in Ri. vi 35 als übertreibenden Zusatz zu erklären, die zweite
Einberufung des amphiktyonischen Heerbanns hingegen als ge-
schichtlich glaubwürdig zu beurteilen. Wenn die Überlieferung in
Ri. vii 23 über die Verfolgungsaktion, derentwegen das zweite amphi-
ktyonische Aufgebot erfolgt sein soll, nur eine allgemeine, nichts-
sagende Bemerkung zu machen hat, dann wird es sich hier ebenso
wie in Ri. vi 35 um eine späte, dem tatsächlichen Hergang fern-
stehende Traditionsbildung handeln. Allem nach ist die Mannschaft
des Stämmebunds nach Gideons Midianitersieg so wenig in Aktion
getreten wie vor ihm 3 ). Aber selbst wenn sie nachträglich noch ein-
gegriffen hätte und wenn dies tatsächlich einen heiligen Krieg im
Sinne der v. RADschen These bedeutet hätte, dann könnte dies immer
noch nichts daran ändern, dass jener entscheidende Kampf selbst,
den Gideon mit seinen 300 Abiesriten durchstanden hat, kein heiliger
Krieg gewesen ist. Zu einer Sache des Stämmeverbands und seiner
  x
    ) Der Heilige Krieg im alten Israel.
  a
     ) Vgl. a.a.O., pp. 22f.
   8
     ) Hieran ändert sich auch dann nichts, wenn aufgrund der lokalätiologisch
orientierten Überlieferung in Ri. vii 24fF. auch noch mit einem ephraimitisch-
midianitischen Zusammenstoss zu rechnen wäre, der mit Gideons Unternehmung
nicht einmal in einem unmittelbaren Zusammenhang gestanden haben musste.
Vgl. hierzu auch G. v. RAD, „Der Anfang der Geschichtsschreibung im alten
Israel" (1944), Gesammelte Studien, München 1958, p. 157.
16                              W. BEYERLIN

Mannschaft ist dieser Kampf, wie gesagt, erst nachträglich erhoben
worden. Dem geschichtlichen Sachverhalt entsprach die Darstellung
 der Tradition, wie es zu jener vorzeitigen Entlassung des Stämme-
aufgebots gekommen ist, also sicherlich nicht.
   Offensichtlich ist nun aber G. v. RAD ohnehin der Meinung, die
Überlieferung von Gideons Midianitersieg in Ri. vii sei über das
historisch Begründete hinaus jedenfalls auch nach der Theorie des
heiligen Kriegs noch durchreflektiert und ausgestaltet worden.
 Und so sind für ihn alle wesentlichen Elemente ihres denkwürdigen
Berichts auf den Einfluss des Schemas zurückzuführen, nach dem
die Tradition allenthalben den heiligen Krieg darzustellen pflegte.
Ihm entspricht es, dass Jahwe allein den Kampf entscheidet, dass
Israel sich nicht selber hilft und allenfalls am Rande mitwirkt, dass
Jahwe es ist, der Midian in seines Volkes Hand gibt, dass er den Feind
durch einen Gottesschrecken verwirrt und so den Sieg herbeiführtx).
In dieser ganzen eigenartigen Darstellung, durch die die Überlieferung
die Entlassung des amphiktyonischen Heerbanns noch vor Beginn
des Kampfes motiviert, spiegelt sich nach v. RAD Zug um Zug die
altisraelitische Institution des heiligen Kriegs wider. Dass sie auf
die Traditionsgestaltung hier wie auch in vielen anderen Zusammen-
hängen so nachhaltig eingewirkt hat, entspricht s.E. ihrer grund-
legenden Bedeutung für das alte Israel, denn, so zitiert v. RAD ein
Wort WELLHAUSENS 2) : „Das Kriegslager, die Wiege der Nation,
war auch das älteste Heiligtum. Da war Israel, und da war Jahwe".
   Was nun auch immer das Kriegslager zur Nationwerdung Israels
beitrug, feststeht jedenfalls, dass es ohne jede Bedeutung war für
die Entstehung des sakralen Stämmeverbandes, in dessen Mitte ja die
jüngere Gideonüberlieferung Gestalt gewann. Für die Bildung der
Jahweamphiktyonie war nicht das Erlebnis heiliger Kriege grund-
legend, sondern das OfFenbarungsgeschehen, von dem die Exodus-
und Sinaitradition berichtete. G. v. RAD ist sich auch selbst darüber
im klaren, dass Kriegslager und heilige Kriege bei der Landnahme
der halbnomadischen Gruppen, die sich in Palästina zum sakralen
Stämmeverband Israel zusammenschlössen, schlechterdings keine
Rolle gespielt haben. Hier hat es sich vielmehr, wie auch die Archäolo-
gie erwiesen hat, um einen offensichtlich friedlichen Vorgang gehan-

  x
    ) Vgl. Ri. vii 2. 9. 15. 22 und dazu G. v. RAD, Der Heilige Krieg im alten
Israel, pp. 8-13.
  a
    ) A.a.O., p. 14.
RICHTER VI-VIII                              17

delt1). Auch bietet die Überlieferung keinerlei Handhabe dafür,
irgendeiner jener Gruppen für die Zeit vor der Landnahme eine
kriegerische Unternehmung nachzuweisen 2). Auf diesen Umstand
hatte schon im Jahre 1912 W. CASPARI hingewiesen3), wenn er
schreibt, dass die erste Periode in der Geschichte der Israeliten, ihrer
(halb-)nomadischen Vergangenheit entsprechend, ausgesprochen un-
kriegerisch war 4). Dann aber — so ist mit CASPARI ZU folgern — ist
es auch von vornherein unwahrscheinlich, dass Israel an seinem Gott
zuerst und vor allem die kriegerische Seite entdeckt und als wesentlich
herausgestellt haben sollte. Erst die sesshaft gewordenen Stämme
Israels sind im Lauf ihrer weiteren Geschichte durch fremde Lehr-
meister schmerzvoll zum Kriege unterwiesen worden. Und als sie in
diesem für sie neuen Element ihren Mann zu stellen hatten, da erst
erkannten sie zu ihrer Freude in Jahwe den Kriegsmann 5). Es ist
bemerkenswert, dass auch v. RAD dem Gedankengang CASPARIS
beipflichtet und in Jahwes Machterweis im Krieg „eine neue Offen-
barung seines Wesens" erblickt, die den Stämmen Israels erst im
Zuge ihrer geschichtlichen Weiterentwicklung zuteil geworden sei 6).
Wenn es sich aber hier um eine neue Offenbarung Jahwes in einer
fortgeschrittenen Entwicklungsstufe der Geschichte Israels handelt,
 dann muss die Jahwegemeinde aufgrund einer älteren, ursprüng-
licheren Gottesoffenbarung ins Leben getreten sein, und das Kriegs-
lager ist für ihr Werden und Wesen nicht grundlegend. Die Jahwe-
gemeinde gründet vielmehr in Jahwes machtvoller Offenbarung in
 der Heilstat der Herausführung aus Ägypten und im Sinaibundes-
 schluss. Ausgerüstet mit den Traditionen, die von dieser grund-
legenden Gottesoffenbarung zeugen, hat sich das sesshaft gewordene
Israel dann auch mit dem noch neuen und unvertrauten Phänomen
 des Krieges auseinandergesetzt. Dabei war es, wie das Meerlied in
 Ex. xv erweist7), gerade die heilsgeschichtliche Tradition von der
 Errettung aus Ägypten, die den Weg zu der Erkenntnis bahnte,

   !) Vgl. a.a.O., pp. 15ff.
   ») Vgl. a.a.O., pp. 17f.
   8
     ) In seinem Aufsatz „Was stand im Buche der Kriege Jahwes?", Zeitschrift
für wissenschaftliche Theologie 54, 1912, pp. HOff.
   4
     ) Vgl. a.a.O., pp. llOf.
  «) Vgl. W. CASPARI, a.a.O., p. 129.
  ·) Vgl. Der Heilige Krieg im alten Israel, p. 32.
  7
   ) Daran, dass es die Landnahme voraussetzt, lassen die Verse 13ff. keinen
Zweifel. Vgl. neuerdings auch W. SCHMIDT, Königtum Gottes in Ugarit und Israel,
BZAW 80, Berlin 1961, pp. 64ff.
Vetus Testamentum XIII                                                      2
18                               W. BEYERLIN


 dass Jahwe, der Gott des Exodus, auch ein Kriegsmann sei (Ex. xv 3).
 Es lag ja auch nahe, von dem Gott, der am Schilfmeer geholfen,
 auch in den Kriegen um den Besitz des glücklich erworbenen Kultur-
 landes Hilfe zu erwarten. Gideons Klage in Ri. vi appelliert dement-
 sprechend ja auch an den Gott, der die Väter aus Ägypten geführt.
 Empfing man die Hilfe dieses Gottes, was lag dann näher, als sie als
 ein neues Glied in der Kette der Heilstaten Jahwes zu verstehen, die
 mit der Herausführung aus Ägypten ihren Anfang nahm? Erfuhr
 man Jahwes Hilfe im Midianiterkrieg, was lag dann näher, als sie
 analog der Heilstat des Exodus darzustellen?
    In dem Augenblick aber, da sich Israel dazu entschloss, jenen
 Krieg, den Gideon mit seinen 300 Abiesriten siegreich durchstanden
 hatte, als Jahwes neue, aktuelle Heilstat zu verstehen und die Kunde
 von ihm einzubeziehen in den Zusammenhang der heilsgeschicht-
lichen Tradition, da war auch schon über die Art und Weise ent-
 schieden, in der Gideons Midianiterkrieg darzustellen war. Das
 Gesetz, nach dem die heilsgeschichtliche Überlieferung Israels be-
richtete, bestimmte nun auch die Darstellung des Midianiterkriegs.
Der heilsgeschichtlichen Tradition aber ist es eigentümlich, dass
 sie in allem Geschehen, von dem sie kündet, Jahwe allein und ent-
scheidend am Werk sieht. Nirgendwo spricht sie von einer Mitwir-
kung Israels an Jahwes Heilstaten. Darauf, dass Jahwe allein ge-
handelt und geholfen, basiert ja dann auch sein ausschliesslicher
Herrschaftanspruch. Darin, dass er sein Volk aus Ägypten geführt,
gründet sein ausschliesslicher Anspruch auf Bundesgehorsam. Der
heilsgeschichtliche Prolog des Dekalogs λ) bezeugt, dass Israel nur
einen Helfer hat. Das erste Gebot des Dekalogs schärft ein, dass Israel
darum auch nur einen Herren hat. Für die Richtigkeit dieser Deutung
zeugt ein Hoseawort: „Ich bin Jahwe, dein Gott von Ägypten her:
Einen Gott ausser mir kennst du nicht, und einen Helfer ausser
mir gibt es nicht" (xiii 4). Gerade in ihrer Verbindung mit der Bundes-
forderung enthüllt die heilsgeschichtliche Tradition die Eigenart
ihrer Darstellung, die Jahwe als den allein Handelnden und Helfenden
bezeugt. Das Mahnwort, das in Ri. vi 7-10 der ganzen Gideon-
tradition vorangestellt ist 2 ), macht dies in seiner heilsgeschichtlichen
Darstellung deutlich genug. Nach ihr war es Jahwe (W^Sjn ΏίΚ), der
Israel aus Ägypten geführt, der es aus Feindeshand errettet, der die
   x
     ) Vgl. dazu die Arbeit des Vfs. Herkunft und Geschichte der ältesten Sinaitradi-
tionen, pp. 62f. 81f. 165ÍT. 190f.
   a
     ) Vgl. hierzu oben Abschnitt III.
RICHTER VI-VIII                     19

Bedränger vor den Augen der Israeliten (QD^Dö) und d. h. ohne
ihr Zutun vertrieben hat. Wird aber nun die hier zutage tretende
heilsgeschichtliche Darstellungsweise auf Gideons Midianiterkrieg
angewendet, dann ergibt sich geradezu zwangläufig die Darstellung,
die Ri. vii darbietet: Jahwe allein hat den Sieg wider Midian errungen.
Der Ausgang des Kampfes stand schon fest, als er den Feind in
Gideons Hand gab (Vers 9. 15). Israels Heerbann hat nicht die Hilfe
gebracht. Der Gott von Ägypten her, ausser dem es sonst keinen
Helfer gibt, hat das Heer der Stämme nach Hause geschickt, damit
Israel sich nicht rühme, sich selbst geholfen zu haben (Vers 2ff.).
Ohne Mitwirkung Israels konnte Jahwe jenen Sieg aber nicht anders
erringen als so, dass sich die Feinde in heilloser Panik gegenseitig
mit den Schwertern umbringen (Vers 22). Dank haben alle Elemente
dieser Überlieferung, die G. v. RAD als unveräusserliche Merkmale
der Institution des heiligen Krieges betrachtet, eine einfache Er-
klärung gefunden: Sie sind dadurch zustandegekommen, dass ein
erfolgreich geführter Abwehrkrieg, seines lokalen und partikularen
Charakters entkleidet, heilsgeschichtlich gedeutet und als die Heilstat
des Gottes verstanden wird, der seit der Herausführung aus Ägypten
sich als Israels einziger Helfer erwies. Zu der Annahme, dass es in
Israels Richterzeit eine sakrale Institution des heiligen Krieges oder
auch nur eine ihr entsprechende Theorie gegeben habe, berechtigt
die Gideonüberlieferung jedenfalls nicht. Ob andere, der Gideon-
tradition nahestehende Kriegsdarstellungen, die v. RAD für seine
These heranzieht, nicht ebenso durch die Eigenart heilsgeschichtlicher
Darstellungsweise bedingt sind, wäre der Nachprüfung wert. Ab-
gesehen von dieser Frage, hat die Untersuchung der Überlieferung
vom Midianiterkrieg in Ri. vii aufs neue jedenfalls zu dem Ergebnis
geführt, dass die jüngere Gideontradition unter dem bestimmenden
Einfluss der amphiktyonischen Überlieferungen entstanden und dass
sie dementsprechend aus dem Bereich des sakralen Stämmeverbands
hervorgegangen ist.
                                      V
   Im viii. Kapitel des Richterbuches findet sich noch ein weiteres
Überlieferungsstück, in dem von der Mannschaft des Stämmebunds
Israel die Rede ist: War es nach dem alten Bericht in den Versen 4-21
noch der kleine Kampfverband der abiesritischen Sippe1), den
  x
      ) Vgl. dazu oben Abschnitt I.
20                               W. BEYERLIN

Gideon anführte, so tritt in Ri, viii 22. 23 unvermittelt der amphi-
ktyonische Heerbann wieder in Erscheinung x). Er wendet sich an
seinen siegreichen Führer und trägt ihm die erbliche Herrschaft
an: „Herrsche über uns, sowohl du als auch dein Sohn und deines
Sohnes Sohn, denn du hast uns aus Midians Hand errettet!" Dieses
Angebot weist aber Gideon zurück in dem denkwürdigen Spruch:
„Weder ich selbst will über euch herrschen, noch soll mein Sohn
über euch herrschen Jahwe soll über euch herrschen"! Darüber, wie
dieses Wort geschichtlich einzuordnen und zu deuten ist, gehen
die Meinungen weit auseinander: Für M. BUBER ist es „geschichts-
möglich" in der Epoche zwischen Josuas Tod und Sauls Thron-
besteigung; Gideons Spruch wagt es, mit der Theokratie in Israel
Ernst zu machen 2). Eine ebenso frühe Datierung hält auch K.-H.
BERNHARDT für möglich: Noch in der Zeit vor dem Aufkommen
des Königtums in Israel sei die Alternative „Monarchie oder Patriar-
chat" zu entscheiden gewesen; im Gideonspruch sei die Entscheidung
zugunsten des letzteren gefallen 3). Nach WELLHAUSEN hingegen kann
jener Spruch, insofern er menschliche und göttliche Herrschaft
einander gegenüberstellt, erst einer späteren Phase religionsgeschicht-
licher Entwicklung entstammen 4). Und so verfechten viele Ausleger
die Auffassung, dass Gideons Spruch die Verurteilung des Königtums
durch den Propheten Hosea voraussetze, zu der dieser angesichts
der Thronwirren in den letzten Jahrzehnten des Nordreichs gekom-
men sei5). Nach H. GRESSMANN war es sogar erst der Deuteronomist
in nachexilischer Zeit, der Gideons Antwort in Ri. viii 23 abgefasst
hat, nachdem die aus den schlechten Erfahrungen mit dem Königtum
geschöpfte Erkenntnis des Propheten Hosea, dass sich menschliche
und göttliche Herrschaft nicht vereinbaren lasse, zum Dogma gewor-
den sei6). — Nun wird es sich angesichts dieser vielfaltigen Deutungs-
   *) Das gen. Stück zeichnet sich gegenüber den Versen 21b. 24-27a, die einen
Sachzusammenhang bilden, als eigenständige Überlieferungseinheit ab.
   2
     ) Vgl. Königtum Gottes, 3. A. Heidelberg 1956, pp. 3ff. Siehe hierzu auch N.
W. PORTEOUS, The Kingship of God in Pre-exilic Hebrew Religion, S. 4.
   8
     ) Vgl. Das Problem der altorientalischen Königsideologie im Alten Testament, Suppl.
VT, VIII 1961, pp. 146f.
   4
     ) Vgl. Prolegomena zur Geschichte Israels, 3. A. Berlin 1886, pp. 247f.
   δ
     ) So etwa G. F. MOORE, fudges, ICC (1895) 7. A. 1958, p. 230; K. BUDDE,
Das Buch der Richter, KHC 7, 1897, p. 66; C. F. BURNEY, The Book offudges, 2. Α.
London 1920, pp. 183f. ; Κ. WIESE, Zur Literarkritik des Buches der Richter, BWANT
ΠΙ 4, Stuttgart 1926, p. 42.
   e
     ) Vgl. Der Messias, Göttingen 1929, pp. 212. 229, Anm. 4; Die Anfänge
Israels, SATA I 2, 2. Α., p. 210. Ähnlich offenbar auch G. v. RAD, Theologie des
Alten Testaments I, p. 331.
RICHTER VI-VIII                               21

versuche empfehlen, zunächst einmal den überlieferungsgeschicht-
lichen Zusammenhang aufzuspüren, in dem jene Traditionseinheit
steht. Eines verbindet sie jedenfalls mit den Stücken der jüngeren
Gideontradition: Sie spricht von einer Initiative des ^ΚΊδΡ^Κ,
und d.h., sie geht von der Voraussetzung aus, dass Gideon mit dem
Heerbann des Stämmebunds ins Feld gezogen war. An dieser Dar-
stellung lag aber, wie wir sahen, ganz ausgesprochen den jüngeren
Traditionsbildungen im Gideonkomplex, für die auch die Ver-
wendung des Kollektivbegriffs ^ΊδΡ-Β^Κ eigentümlich ist *). So ist
schon von daher zu vermuten, dass Ri. viii 22. 23 Bestandteil jener
jüngeren, amphiktyonisch orientierten Überlieferungsschicht ist.
Dass in ihr ebenso wie in jenen Versen die Errettung Israels aus der
Midianiternot in verwandter Ausdrucksweise zur Sprache kommt,
bestärkt noch mehr in der Vermutung, jenes Überlieferungselement
im viii. Kapitel gehöre gleicherweise zur jüngeren Gideontradition.
   Dann aber musste es auch im Zusammenhang mit jenen anderen
jüngeren Traditionsbildungen verstanden werden, mit denen wir
uns bisher beschäftigt hatten. Vor allem auch im Zusammenhang
mit der heilsgeschichtlichen Darstellung des Midianiterkriegs in
Ri. vii, die so nachdrücklich festgestellt hatte, dass Jahwe allein
und niemand sonst Israel aus Midians Hand errettet habe. Der Gott,
der seit der Herausführung aus Ägypten sich als Israels einziger
Helfer erwies, will nicht, dass sein Volk sich wider ihn rühme, es
habe sich selbst die Rettung verschafft (Vers 2). Jahwe verschafft die
Rettung, und auch Gideon ist dabei nicht mehr als ein Werkzug,
was in Ri. vi 37 auch klar zum Ausdruck gebracht wird. Er ist sich
seines Unvermögens bewusst und folgt der Berufung nur, weil
Jahwe selbst seine machtvolle Gegenwart zusagt (vi 15f.). Nach
allem kann Israels Mannschaft zu ihrem Führer nicht sagen: Herrsche
über uns, denn du hast uns aus Midians Hs.nd errettet! Dieses An-
gebot — und noch mehr seine Begründung — ist von vornherein
unhaltbar und verkehrt, denn nicht Gideon, sondern Jahwe hat
errettet. Wenn dies die jüngere Gideontradition, der heilsgeschicht-
lichen Darstellungsweise entsprechend, so pointiert hervorgehoben
hat, dann tat sie das nicht zuletzt im Blick auf Jahwes Herrschafts-
anspruch, der seit Israels Anfängen schon immer durch den Hinweis


   *) Vgl. Ri. vii 8. 23. Dass ihn andererseits auch der Deuteronomist anzuwenden
liebte, wird man schwerlich sagen können.
22                              W. BEYERLIN


auf Jahwes Heilshandeln begründet worden ist x ). Hat die Tradition
den Midianitersieg mit solcher Vehemenz als Jahwes Heilstat dar-
gestellt, wie lässt sich dann eine andere Herrschaft als die Jahwes
anstreben und rechtfertigen? Im Gideonspruch wird die Antwort
gegeben, die die heilsgeschichtliche Darstellung in Ri. vi und vii
erheischt: „Nicht ich will über euch herrschen, und nicht mein Sohn
soll über euch herrschen Jahwe soll über euch herrschen!" In diesem
Wort wird imgrunde nur nur noch die Bilanz gezogen aus der Dar-
stellung der jüngeren Gideontradition: Jahwe allein hat geholfen —
Jahwe allein soll auch herrschen! So erweist sich jenes Wort auch in
sachlicher Beziehung als ein organischer Bestandteil der jüngeren
Gideonüberlieferung.
   Dass es seine Entstehung nicht einer Gedankenspielerei, sondern
einem konkreten geschichtlichen Anlass verdankt, ist keine Frage.
In jener Traditionsbildung wird Stellung genommen gegen eine
Bewegung, die Hilfe und Rettung für Israel durch die Einrichtung
einer dynastischen Herrschaft im Bereich des Stämmebunds sicher-
zustellen suchte. Da man im alten Orient allenthalben von der Herr-
schaft des Königs Rettung und Erlösung erhoffte 2), lässt es sich
leicht verstehen, dass auch im Bereich des alten Israel der Gedanke
an eine solche Rettung verschaffende Institution eindringen und an
Boden gewinnen konnte. Spätestens in der Zeit der Philisternot war
dann tatsächlich das Verlangen nach einem Königtum „wie bei
allen Völkern", das die Errettung aus Feindesnot bringen sollte,
unabweisbar gross geworden3). Dass in dieser geschichtlichen
Situation weite Kreise des israelitischen Volks bereit waren, sich
einer menschlichen Herrschaft auf längere Sicht zu unterstellen,
sofern man von ihr Rettung erhoffen konnte, geht aus 1. Sam. χ 27a
hervor: Hier ist von einer oppositionellen Bewegung die Rede,
die gegen eine Herrschaft des Benjaminiten Saul allein darum Be­
denken hat, weil sie an seiner Fähigkeit, Hilfe und Rettung zu ver-
  x
    ) So sind die Bundesforderungen des Dekalogs, wie gesagt, in einem heils-
geschichtlichen Prolog fundiert (Ex. xx 2). Und so ist die auf Bundesgehorsam
dringende Mahnrede im Eingang der Gideonerzählung durch ein heilsgeschicht-
liches Vorwort vorbereitet (Ri. vi 7-10).
   2
     ) Vgl. hierzu etwa R. DE VAUX, Das Alte Testament und seine Lebensordnungen I,
pp. 179f.; ferner auch R. MAYER, „Der Erlöserkönig des Alten Testamentes",
Münchener Theologische Zeitschrift 3, 1952, pp. 228ÍF.
   8
     ) Vgl. 1. Sam. viii und dazu A. WEISER, „Samuel und die Vorgeschichte des
israelitischen Königtums", ZThK 57, 1960, pp. 141ff.; ferner A. ALT, „Die
Staatenbildung der Israeliten in Palästina" (1930), Kleine Schriften zur Geschichte
des Volkes Israel II, München 1953, pp. 24ff.
RICHTER VI-VIII                         23

schaffen, zweifelt. Von diesem personell bedingten Vorbehalt abge-
sehen, ist hier aber jedenfalls der Wille, menschliche Herrschaft zu
akzeptieren, wenn sie Hilfe und Rettung verspricht, historisch
greifbar. Dass diese Bereitschaft auch schon vor der Philisterkrise
zutage getreten sein kann, — dass sie sogar schon gegenüber dem
in Not bewährten Gideon an den Tag gelegt worden sein kann,
erscheint nicht ausgeschlossen. Umso weniger, als dieser nach Ri.
viii 30 und ix 2 über eine ansehnliche Hausmacht verfügte und über
den damaligen Stadtstaat Sichern bereits eine Herrschaft ausgeübt
zu haben scheint. Aber wie dem auch sei, jedenfalls waren in der
Zeit zwischen Gideon und Saul Bestrebungen im Gang, Israel einer
menschlichen Herrschaft zu unterstellen, die seine Rettung in Feindes-
not garantieren sollte.
   Dass aber eine Institution, wie sie hier angestrebt wurde, der
heilsgeschichtlichen Tradition des sakralen Stämmebundes von Grund
auf zuwider sein musste, ist verständlich. Diese kannte ja nur einen
Helfer: den Gott von Ägypten her. Sie begründete nur eine Herr-
schaft: die Herrschaft dieses Gottes. Eine Regierung in Israel, die
sich nicht der Herrschaft Jahwes unterordnete, — die sein Helfen
und Herrschen zu ihrer eigenen Sache machte, musste auf die Ab-
lehnung dieser heilsgeschichtlichen Tradition stossen. Ein mensch-
liches Regiment, das zu seiner Begründung eine Heilstat Jahwes
usurpiert, muss von der amphiktyonischen Tradition verworfen
werden. Denn davon, dass Jahwe uneingeschränkt Israels alleiniger
Helfer und Herr bleibt, ist der Bestand der Amphiktyonie, die in
der Jahweverehrung ihren einzigen Zusammenhalt hat, schlechter-
dings abhängig x). So wird deutlich, dass der Stämmeverband, aus
dessen Mitte die jüngere Gideonüberlieferung insgesamt hervorge-
gangen ist, auch hinter der Ablehnung menschlich-dynastischer
Herrschaft im Gideonspruch steht.
                                 * * *
  Fassen wir die Ergebnisse unserer Untersuchung %usammeny so ergibt
sich: 1.) In den späteren Elementen der Gideontradition hat der
sakrale Stämmebund den Midianitersieg einer einzigen Sippe in
Israel zu seiner eigenen Sache gemacht. 2.) hat er damit dieses aktuelle
Geschehen ins Licht seiner alten heilsgeschichtlichen Tradition
gerückt und in ihm die Fortführung der Heilsgeschichte erkannt,
die in der Berufung des Mose und in der Errettung aus Ägypten ihren
  *) Vgl. dazu auch K.-H. BERNHARDT, a.a.O., p. 157.
24                        W. BEYERLIN


Anfang nahm. 3.) hat der Stämmebund nun den Sieg über Midian in
derselben Weise dargestellt, in der die heilsgeschichtliche Tradition
durchweg von Jahwes Heilstaten berichtet. Hieraus erklären sich hin-
reichend sämtliche Eigenheiten der Kriegsdarstellung in Ri. vii. Und 4.)
ist der Stämmeverband, nachdem er in Gideons Sieg die aktuelle Ret-
tertat seines Gottes erkannt hatte, im Gideonspruch einer Bewegung
entgegengetreten, die Israels Rettung aus Feindesnot dadurch er-
erstrebte, dass sie es menschlicher Herrschaft zu unterstellen suchte.
   Was aber ergibt sich nach allem für die Fragestellung, von der die
Untersuchung ausgegangen ist? In welchem Verhältnis %ur historischen
Wirklichkeit steht die jüngere Gideontradition? Feststeht, dass sie
letztlich auf einem realen geschichtlichen Ereignis beruht: auf der
erfolgreichen Abwehr midianitischer Eindringlinge durch die Abies-
riten. Was sie erlebt und erstritten hatten, das erwies sich hernach
als von grösserer Tragweite: Der gesamtisraelitische Stämmeverband
bezog das Geschehen auf sich und löste es dabei aus seiner lokalen-
partikularen Beschänkung. Darin aber vollzog sich ein weiterer
durchaus geschichtlicher Vorgang: die Einordnung eines historischen
Faktums in einen neuen geschichtlichen Rahmen, — in den Rahmen,
den die Institution des israelitischen Stämmeverbands bildete. Ein-
gepflanzt in diesen neuen historischen Sitz im Leben, entfaltete sich
nun die Überlieferung von Gideons Midianitersieg zu ihrer jetzigen
Gestalt. Was ihre Entfaltung antrieb und steuerte, ist offenkundig:
Es ist der Erkenntnisdrang der Jahwegemeinde, der im abiesritischen
 Sieg über Midian den noch immer lebendigen Heilswillen Jahwes
erkannte. Der Stämmebund konnte diesen Sieg nicht eher verstehen,
als bis er ihn eingeordnet hatte in seine heilsgeschichtliche Tradi-
tion, — als bis er ihn dargestellt hatte, den früheren Heilstaten Jahwes
entsprechend. Und der Stämmebund konnte auch Gideons Bedeutung
erst erfassen, als er ihn in der Nachfolge Moses sah und ihn in der-
 selben Weise wie Mose berufen wusste. Aber auch was zur Entstehung
 des Gideonspruches geführt hat, ist unverkennbar eine Frage, die
der Gang der Geschichte aufwarf. So ist nach allem deutlich, dass
die jüngere Gideontradition in mannigfacher Weise in der historischen
Wirklichkeit wurzelt. Sie ist in jeder Hinsicht aus der Auseinander-
 setzung mit geschichtlichen Realitäten erwachsen. Die treibende
Kraft bei dieser Auseinandersetzung ist einmal die Überzeugung,
 dass Gott eine Geschichte des Heils mit den Vätern begonnen hat,
und zum andern die Bereitschaft, den Fortgang dieses Heilshandelns
in jeder neuen geschichtlichen Situation zu erwarten. Dass die von
RICHTER VI-VIII                         25

dieser Bereitschaft und Überzeugung getragene Darstellung der
jüngeren Gideontradition sich nicht auf eine rein mechanische
Rekonstruktion des äusseren Hergangs der Dinge beschränkt hat,
ist offenkundig. Ist es aber nicht ein Vorurteil, zu glauben, nur eine
solch* vermeintlich objektive Rekonstruktion hätte Wesen und
Bedeutung des Geschehens zutreffend erfassen können? Ist das
Geschehene nicht imgrunde tiefer erfasst in einer Tradition, die es
im Zusammenhang einer Geschichte sieht und darstellt, in der Gott
das Heil seines Volkes wirkt?
^ s
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  • 1. GESCHICHTE U N D HEILSGESCHICHTLICHE TRADITIONSBILDUNG IM ALTEN TESTAMENT EIN BEITRAG ZUR TRADITIONSGESCHICHTE VON RICHTER VI—VIII VON WALTER BEYERLIN Tübingen Wer in den Geschichtsbüchern des Alten Testaments liest, steht vor der Frage, wie sich die hier verarbeiteten Geschichtstraditionen zur historischen Wirklichkeit verhalten. In der Auseinandersetzung mit dieser Frage besteht eine Neigung zu extremen Lösungen: So wird auf der einen Seite ein ungebrochen-unmittelbares Verhältnis des Überlieferten zum tatsächlichen Geschichtsverlauf angenommen und der Bericht der Tradition kurzerhand in Historie umgesetzt. (Im Lager des protestantischen Fundamentalismus wird so ver- fahren x ), aber auch in der römisch-katholischen Forschung, wofür 2 RICCIOTTI mit seiner „Geschichte Israels" ) Beispiel sein kann.) Auf der anderen Seite hingegen wird die Kluft zwischen der Dar- stellung der Tradition und dem realen Geschehen, wie es sich der historisch-kritischen Forschung darstellt, für unüberbrückbar ge- halten und darauf verzichtet, den Entstehungsprozess der Über- lieferungen zurückzuverfolgen bis hin zu den historischen Realitäten, die die Traditionsbildung angeregt haben. (G. v. RAD vertritt etwa diesen Standpunkt in seiner „Theologie des Alten Testaments" 3).) Die erstere Verhältnisbestimmung zu erörtern, wird jeder, der die Notwendigkeit einer historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments bejaht, nicht für erforderlich halten. Nötig ist jedoch eine Auseinandersetzung mit der letzteren Auflassung. Mit Aussicht auf Erfolg läßt sie sich nicht im allgemeinen führen. Vielmehr muss bei jeder einzelnen Geschichtstradition untersucht werden, wieweit sich ihr Werdegang zurückverfolgen lässt und wo ihre Wurzeln *) Vgl. dazu J. BRIGHT, Early Israel in Recent History Writing* Studies in Biblical Theology Nr. 19, London 1956, pp. 26ff. a ) Wien 1953. 8 ) 1. Band München 1957, 2. Band 1960. Vetus Testamentum XIII ζ
  • 2. 2 W. BEYERLIN zu suchen sind. Im Rahmen dieses Aufsatzes lassen sich jene Fragen natürlich nur an einer einzigen Tradition aus dem Bereich der Ge- schichtsbücher verfolgen. Und dabei greifen wir zweckmässigerweise eine solche Tradition heraus, die einen gewissen Abstand hat von dem historischen Geschehen, das sie darstellt. Eine Tradition dieser Art ist die jüngere Gideonüberlieferung in den Kapiteln vi-viii des Richterbuches. Sie soll im folgenden auf ihr Verhältnis zur historischen Wirklichkeit untersucht werden: Lässt sich ihr Werdegang zurück- verfolgen bis zu dem realen geschichtlichen Geschehen, das den Prozess der Traditionsbildung in Gang gesetzt hat? Ist der geschicht- liche Rahmen, der Sitz im Leben, sichtbar, in dem die jüngere Gideon- tradition Gestalt gewann? Lassen sich die Beweggründe und Problem- stellungen erkennen, die zur Ausgestaltung dieser Tradition beitrugen und die ja auch Elemente der historischen Wirklichkeit sind? — Ehe wir mit diesen Fragen an die jüngere Gideonüberlieferung herantreten können, haben wir zunächst einmal die traditionsgeschichtlich späteren Partien in Ri. vi-viii ins Auge zu fassen. I Dass die uns überkommene Gideontradition nicht aus einem Gusse ist, sondern schichtenweise zustandekam, ist in einer Hinsicht ganz unverkennbar: Die Angaben über Umfang und Stärke des von Gideon aufgebotenen Heerbanns stehen in einem auffälligen Gegen- satz zu den Angaben der Überlieferung über die Zahl der Krieger, mit denen Gideon dann tatsächlich die Auseinandersetzung mit den Midianitern bestritten hat. Nach Ri. vi 33-35 hat der von Jahwes Geist ergriffene Richter aus dem Stamm Manasse nicht nur seine eigene abiesritische Sippe zum Kampf gegen jene beduinischen Eindringlinge aus der syrisch-arabischen Wüste aufgeboten, sondern darüber hinaus eine beachtliche Reihe israelitischer Stämme: ganz Manasse, dazuhin Asser, Sebulon und Naphtali. Nach Ri. vii 3 umfasste dieses Aufgebot nicht weniger als 32 000 Mann. Dieses ganze stattliche Heer wird dann aber verblüffenderweise noch vor Beginn des Kampfes nach Hause geschickt; Gideon schlägt die Midianiter mit einer Truppe von nur 300 Mann in die Flucht. Erst zur Verfolgung der Flüchtenden wird nach Ri. vii 23 wieder ein grosses Heer mobilisiert, gestellt von den Stämmen Naphtali, Asser und ganz Manasse. Von der Verfolgung selbst, die diesem Aufgebot oblag, hat die Überlieferung jedoch bezeichnenderweise nichts zu
  • 3. RICHTER VI-VIII 3 vermelden x). Stattdessen berichtet Kap. viii 4-21 von einer Verfol- gung, die Gideon im Ostjordanland wiederum nur mit einer Schar von 300 Mann durchgeführt hat. — Nun wird man sich dieses Hin- und Herpendeln des biblischen Berichts zwischen der grossen Zahl des Stämmeheeres und der kleinen Zahl der dann tatsächlich kämpfen- den Truppe kaum anders als überlieferungsgeschichtlich erklären können: Es ist allem nach dadurch bedingt, dass in einen älteren Überlieferungs- bestand eine jüngere Traditionsschicht eingelagert worden ist. Dabei kann es nicht fraglich sein, dass die vom Heerbann mehrerer Stämme handelnden Textelemente der späteren Überlieferung zuzu- rechnen sind und dem geschichtlichen Hergang fernerstehen als die Traditionsstücke, die Gideons Truppe auf 300 Mann beziffern2). Auffallig ist nicht nur, dass von Kampfhandlungen jenes Heerbanns nichts berichtet wird. Dass er überhaupt trotz aller sich dabei erge- benden Schwierigkeiten aus den verschiedenen Stämmen zusammen- berufen worden sein sollte, nur um alsbald wieder entlassen zu werden, ist, historisch gesehen, nicht eben wahrscheinlich. Schlechterdings unmöglich ist es jedoch, dass derselbe Heerbann schon einen Tag nach seiner Entlassung nun zur Verfolgung des flüchtenden Feindes von neuem aufgeboten worden sein sollte (vgl. Ri. vii 8 mit vii 23). Aber auch sonst passt das Massenaufgebot der 32 000 Krieger von Ri. vii 3 recht wenig in den altüberlieferten geschichtlichen Rahmen hinein: Oder wie sollten etwa diese Abertausende es fertig gebracht haben, sich um eine einzige Quelle zu lagern 3 ), wie es in Ri. vii 1 behauptet wird? Kurzum, die Überlieferungsstücke, die den Heerbann mehrerer Stämme ins Spiel bringen, sind spätere, der Historie ferner- stehende Traditionsbildungen (Ri. vi 33-35; vii 23); ebenso natürlich die Abschnitte, die in ihrer Erzählung von der Vorstellung eines grossen Stämmeaufgebots ausgehen (Ri. vii 2-8; viii 22-23). — In- soweit jedoch die Überlieferungen in Kap. vii und viii trotz der später wirksam werdenden Tendenz zur Ausweitung des Teil- nehmerkreises daran festgehalten haben, dass Gideon mit nur 300 Mann den Midianitern entgegentrat, sind sie dem geschichtlichen x ) Siehe dazu unten S. 15 Anm. 3. 2 ) Vgl. hierzu auch etwa E. TÄUBLER, Biblisehe Studien. Die Epoche der Richter, hrsg. v. H.-J. ZOBEL, Tübingen 1958, pp. 253ff. 8 ) So auch etwa H. W. HERTZBERG, Die Bücher Josua, Richter, Ruth, ATD 9, Göttingen 1953, p. 194. Zur Charodquelle vgl. C. WEIDENKAFF, „Ist cen dschälüd die alttestamentliche Harodquelle?", Palästinajahrbuch 17,1921, pp. 18-31, dazuhin R. NORTH, „Realizzazioni intorno a Bet-Scean", Bibbia e Oriente 3, 1961, p. 22 und Tafel II Β, pp. 28/29.
  • 4. 4 W. BEYERLIN Sachverhalt sicherlich noch recht nahe. Da nach Ri. viii 4-21 Gideon mit seinen Leuten zwei Midianiterkönige ganz offensichtlich einer Blutrache wegen verfolgte (Vers 18-21), ist ohnehin zu vermuten, dass die Auseinandersetzungen mit jenen beduinischen Eindring- lingen imgrunde begrenzteren Umfangs waren, auch wenn sie sich dann in der Folge als von grösserer Tragweite erwiesen. Da es im alten Israel vor allem der Blutsverband der Sippe war, der die Blutrache zu vollziehen hatte *), liegt die Annahme nahe, dass jene 300 Mann, mit denen Gideon jene beiden Midianiterkönige verfolgte, sich aus den wehrfähigen Männern der Sippe Abieser rekrutierten. Diese Annahme hat auch darin eine Stütze, dass in Ri. viii 2, in einem von Stammesgegensätzen beherrschten Zusammenhang2), der über Midian errungene Sieg als „die Ernte-, die Weinlese Abiesers" bezeichnet wird3). Die Männer der abiesritischen Sippe sind es allem nach gewesen, die den Sieg über Midian als Ernte eingebracht haben. Dementsprechend kann auch die jüngere Tradition in Ri. vi 33-35, die vom Aufgebot der Stämme berichten will, nicht umhin, ausdrück- lich und vor allem von der Einberufung der Sippe Abieser zu sprechen (Vers 34b). Und erst in zwei weiteren Sätzen vermag sie den Kreis der Aufgebotenen weiter zu ziehen und auf die Stämme Manasse, Asser, Sebulon und Naphtali auszuweiten (Vers 35). Damit aber stehen wir nun vor der wichtigen Frage, warum über- haupt der späteren Tradition daran lag9 den Teilnehmerkreis in dieser Art auszuweiten. Zur Beantwortung dieser Frage ist es notwendig, darauf zu achten, wer imgrunde mit den Truppenkontingenten der genannten Stämme ins Spiel gebracht werden soll. — Nun wird das Aufgebot der Stämme in den zu jener späteren Überüeferungsschicht gehören- den Stellen Ri. vii 8. 23 und viii 22 bezeichnenderweise νΚΊΟΡΗ^Κ - τι · genannt. Dabei geht aus dem jeweiligen Zusammenhang zweifelsfrei hervor, dass es sich hier um einen Kollektivbegriff handelt: gemeint ist in allen Fällen „die Mannschaft Israels", genauer gesagt: die wehr- hafte Mannschaft —, der Heerbann Israels. Wichtig ist hierbei aber auch das Beziehungswort „Israel", das in der alttestamentüchen Überlieferung von Hause aus ja nicht Volk oder Nation bezeichnet, *) Vgl. etwa R. DE VAUX, Das Alte Testament und seine Lebensordnungen I, Freiburg- Basel-Wien 1960, p. 25. a ) Vgl. hierzu O. EISSFELDT, „Der geschichtliche Hintergrund der Erzählung von Gibeas Schandtat (Richter 19-21)", BEER-Festscbrift, Stuttgart 1935, pp. 34f. 8 ) Da hier der Name Abieser in Antithese zum ephraimitischen Stamm ge- braucht ist, meint er nicht Gideon allein, sondern eben die abiesritische Sippe. So auch G. F. MOORE, Judges, ICC, 7. A. Edinburgh 1958, p. 216.
  • 5. RICHTER VI-VIII 5 sondern den sakralen Stämmeverband, der im gemeinsam gepflegten Jahwekult seine Einheit hat1). Dementsprechend ist dann der ^ΧΊΟΡ-^Κ der Heerbann, den die in diesem sakralen Bund zusammen- - τ: · ' geschlossenen Stämme zu stellen verpflichtet sind, sobald ihr Bund als solcher von aussen oder von innen bedroht wird. Diesem Sach- verhalt entspricht es in bemerkenswerter Weise, dass gerade im XX. Kapitel des Richterbuches auffallend gehäuft vom VinftP"^» die Rede ist 2 ), in einer Erzählung also, die den Stämmebund Israel in Aktion zeigt: hier schreitet seine Mannschaft, sein Heerbann, gegen ein Glied dieses Bundes ein, das das in ihm geltende Gottesrecht verletzt hatte 3). — Nach allem ist der jüngeren Gideontradition also - daran gelegen, den Heerbann des sakralen Stämmebundes Israel an den Midianiterkämpfen zu beteiligen. Nicht irgendwelche Einzel- stämme werden ins Spiel gebracht, sondern, wie Ri. vii 23 ausdrück- lich sagt, „die Mannschaft Israels aus" diesem und jenem Mitglieds- stamm 4). Was eine einzelne Sippe in lokaler Begrenzung erlebt und erstritten hatte, das wird in der späteren Tradition als die Sache des Stämmebundes verstanden und dargestellt. Was Abieser geerntet, das wird hier nicht etwa als nationale Tat gefeiert, das wird auch nicht nur (wie in Ri. viii 1-3) stammesgeschichtlich eingeordnet und gewertet, das wird vielmehr und vor allem in seiner Bedeutung für die sakrale Gemeinschaft derer verstanden, die in Jahwe ihren Gott hatten. Damit aber wurde der Sieg, den Gideon über Midian errungen hatte und in dem zugleich seine Sippe einer Blutracheverpflichtung nachgekommen war, entschlossen in einen neuen Sachzusammenhang hineingestellt: er wird zu einer Heilstat, in der Jahwe die Geschichte mit seinem Volk Israel weiterführt. II Dass dem wirklich so ist, soll nun anhand der Erzählung von Gideons Berufung erwiesen werden. Sie hat, eingefügt in einen kultätiologischen x ) Vgl. hierzu M. NOTH, Das System der ^wölf Stämme Israels, BWANT IV 1, Stuttgart 1930, pp. 91ff., und Geschichte Israels, 4. A. Göttingen 1959, pp. 12ff. 85ff. 2 ) Vgl. dazu ROST-LISOWSKY, Konkordanz %um hebräischen Alten Testament, Stuttgart 1958, p. 67. 8 ) Vgl. M. NOTH, a.a.O., pp. lOOff., andererseits auch O. EISSFELDT, „Der geschichtliche Hintergrund der Erzählung von Gibeas Schandtat", BEER-Fest- scbrift, pp. 19-40. 4 ) Dabei sind natürlich die geographisch in Frage kommenden Stämme der Amphiktyonie ausgewählt worden.
  • 6. 6 W. BEYERLIN Zusammenhang1), in Ri. vi llb-17 ihren literarischen Niederschlag gefunden2). Nach dieser Geschichte wird Gideon nicht sogleich und ohne alles weitere mit der Errettung Israels aus der Midianiternot beauftragt. Der Berufung geht ein Gespräch voraus, das zwischen ihm und Jahwes Engel stattgefunden haben soll. Den Anstoss zu diesem Gespräch gibt Jahwes Bote mit dem Segensgruss ϊ|δ» ΠΓ ΊΡ „Jahwe ist mit dir, tapferer Held" 3) ! (Vers 12). Dieser Gruss reizt Gideon zu Widerspruch und Klage: „Wenn Jahwe mit uns ist, warum hat uns dann all dies betroffen? Wo sind dann alle seine Wundertaten, von denen uns unsere Väter erzählt haben, wenn sie sagten: Hat uns Jahwe nicht aus Ägypten heraufgeführt?! Nun aber hat uns Jahwe Verstössen und uns in Midians Hand gegeben!" (Vers 13). Erst auf diese Worte hin wird dann Gideon berufen und beauftragt. Nun versteht es sich ja von selbst, dass jenes Gespräch zwischen Jahwes Engel und Gideon nicht auf einen Ohrenzeugen zurückgeht und, von diesem protokolliert, auf uns gekommen ist. Jener Dialog ist wie die ganze Berufungsgeschichte und wie überhaupt alle Beru- fungssagen a posteriori und in Kenntnis der späteren Taten des Berufenen entstanden4) und also zweifellos unter àie jüngeren Tradi- tionsbildungen in Ri. vi-viii zu rechnen. Dass sich in der Erzählung von Gideons Berufung dennoch geschichtlich zutreffende Erinne- rungen niedergeschlagen haben, ist damit nicht bestritten: So wird etwa die Notiz, dass man damals aus Furcht vor den Midianitern nicht auf der Tenne, sondern an unzugänglichem Ort gedroschen habe (Vers IIb), historisch richtig sein. — Woran aber hat sich die Tradi- tion orientiert, wenn sie von Gideons Gespräch mit Jahwes Boten berichtet? Zunächst einmal ganz offensichtlich an der Form des Volksklagelieds 5). Da Israel auf seinen Klagefeiern (auf seinen ntoix) x ) Vgl. hierzu E. KUTSCH, „Gideons Berufung und Altarbau Jdc 6, 11-24*', ThLZ 81, 1956, Sp. 75-84, und die sich auf eine Motivanalyse beschränkende Untersuchung C. A. KELLERS, „Über einige alttestamentliche Heiligtumslegenden I", ZAW 67, 1955, pp. 156-161. 2 ) Zur Einheitlichkeit des Stücks in literarischer Hinsicht vgl. E. KUTSCH, a.a.O., Sp. 75ff. (siehe besonders auch Sp. 75, Anm. 1), ferner A. R. JOHNSON, The One and the Many in the Israelite Conception of God, 2. A. Cardiff 1961, pp. 29ff. 8 ) Als Indikativ und nicht als Jussiv verstanden mit E. KUTSCH (a.a.O., Sp. 78, Anm. 16) u.A. 4 ) Mit H. GRESSMANN, Die Anfänge Israels, SATA I 2, 2. Α. Göttingen 1922, p. 203; G. ν. RAD, „Der Anfang der Geschichtsschreibung im alten Israel" (1944), Gesammelte Studien, München 1958, p. 155. 6 Ähnlich C. A. KELLER, a.a.O., p. 158.
  • 7. RICHTER VI-VIII 7 in dieser Form seine Not vor Gott brachte, musste es naheliegen, auch Gideons Klage über die Midianiternot entsprechend zu gestalten. Dass jene Form schon in Gebrauch war, als die Tradition von Gideons Berufung zu erzählen begann, darf hierbei ohne weiteres angenommen werden. Denn schon der Stämmebund der Richterzeit hat bei inneren oder äusseren Notständen Klagefeiern an den Heiligtümern der Amphiktyonie abgehalten und dabei sicherlich in feststehenden liturgischen Formen seine Klage vorgebracht. Nach Ri. xx 23. 26 hat sich der Stämmebund in Bethel zur Klage vor Jahwe versammelt, ehe er gegen Benjamin zog. Und nach 1. Sam. vii 6 hat sich Allisrael in der Philisternot vor Jahwe in Mizpa zur Klagefeier versammeltx). So aber, wie hier Israel seine Not geklagt hatte, so musste nach der Überzeugung der Tradition auch Gideon gesprochen haben. Nach Ri. xxi 3 hatte der Stämmebund damals in Bethel klagend gefragt: „Warum, Jahwe, Gott Israels, ist dies in Israel geschehen...?" Und ähnlich wird die Warum-Frage2) auch in den Klagepsalmen gestellt 3). Dementsprechend formuliert die Tradition nun aber auch Gideons Frage angesichts der Midianiternot: „Wenn Jahwe mit uns ist, warum hat uns dann all dies betroffen... ?" (Ri. vi 13). — Aus- ser der Warum-Frage ist für das Volksklagelied charakteristisch, dass es die früheren Heilstaten Jahwes mit der notvollen Gegenwart konfrontiert4). Hat Jahwe seit der Errettung aus Ägypten seinem Volk immer wieder wunderbar geholfen, so hat er es nun verworfen. So wird in den Psalmen lxxx und xliv geklagt5). Nach der Über- zeugung der Tradition hat Gideon damals in derselben Weise geklagt, darum legt sie ihm die Frage in den Mund: „Wo sind alle seine Wundertaten, von denen uns unsere Väter erzählt haben, wenn sie sagten: Hat uns Jahwe nicht aus Ägypten herausgeführt?! Nun aber hat uns Jahwe Verstössen und uns in Midians Hand gegeben!" *•) Dass 1. Sam. vii nicht erst vom Deuteronomisten stammt, sondern ältere Tradition umschliesst, hat A. WEISER („Samuels ,Philister-Sieg' ", ZThK 56, 1959, pp. 253ff.) nachgewiesen. 2 ) Sie ist schon in akkadischen Klagepsalmen zu belegen. Vgl. A. FALKEN- STEIN - W. v. SODEN, Sumerische und akkadische Hymnen und Gebete, Zürich-Stuttgart 1953, p. 269. 8 ) Vgl. Ps. xliv 25 ; lxxiv 1 ; ferner Jer. xiv 19 ; Klgl. ν 20. Siehe auch H. GUNKEL- J. BEGRICH, Einleitung in die Psalmen, HK, Göttingen 1933, p. 127, und C. WESTER- MANN, „Struktur und Geschichte der Klage im Alten Testament", ZAW 66, 1954, pp. 52f. 69. 4 ) Vgl. hierzu H. GUNKEL - J. BEGRICH, a.a.O., p. 130. 5 ) Vgl. besonders Ps. lxxx 9-15; xliv 2ff. lOff. und mutatis mutandis auch Ps. ixe 50.
  • 8. 8 W. BEYERLIN (Ri. vi 13). Dabei findet sich der Hinweis, dass so einst die Väter erzählt hätten, in denselben Worten formuliert, sowohl im Volks- klagelied Ps. xliv 2 1 ) wie in der Berufungsgeschichte Ri. vi 13. Kurzum, es kann keine Frage sein, dass hier die jüngere Gideon- tradition nach dem Vorbild einer kultischen Form gestaltet worden ist, — nach dem Vorbild der Form, in der der sakrale Stämme- verband auf seinen Klagefeiern jeweils die ihn bedrängende Not vor seinen Gott gebracht hat. Aber nicht nur in formaler Hinsicht steht die Überlieferung von Gideons Berufung in Beziehung zum Stämmebund Israel. Auch in ihrer Substanz ist sie entscheidend bestimmt von diesem sakralen Verband und der ihn tragenden Tradition. Grundlegend war für die Jahweamphiktyonie ihre heilsgeschichtliche Tradition: die Über- lieferung von der Herausführung aus Ägypten und von all' den Wundertaten, in denen Jahwe darnach seine hilfreiche Gegenwart Israel hatte zuteil werden lassen. Im Lichte dieser heilsgeschichtlichen Tradition sah der Stämmebund seine Vergangenheit. Und im Lichte derselben heilsgeschichtlichen Tradition suchte er auch das Dunkel der ihn bedrängenden Gegenwart zu erhellen. Dass die uns hier beschäftigende Überlieferung von Gideons Berufung gerade diesem Bestreben entsprang, ist unverkennbar: Dass Gideon, der Abiesrit aus dem Stamme Manasse, den midianitischen Eindringlingen ent- gegentrat, das tat er nach der Überzeugung der späteren Tradition nicht von sich aus und nicht etwa nur einer Blutrache wegen, dies tat er vielmehr, weil ihn Jahwe dazu berief, — weil sich Israels Gott durch Gideons Klage dazu bewegen Hess, nun in der Krise des Midianiteransturms die Heilsgeschichte fortzuführen, die mit der Herausführung aus Ägypten begonnen und in vielen Wundertaten ihre Fortsetzung gefunden hatte. So wird hier in der Darstellung der jüngeren Gideontradition das, was jener Abiesrit mit den Kriegern seiner Sippe vollbracht, aus der lokalen und partikularen Beschrän- kung herausgelöst, dem Bereich des Vieldeutigen entnommen und, einbezogen in die altüberkommene heilsgeschichtliche Tradition, in seiner tieferen Bedeutung erschlossen: Der Gott, der einst den Vätern geholfen, erwies sich hier als der noch immer machtvolle Helfer seines Volkes. Die amphiktyonische Tradition von der Heraus- führung aus Ägypten meint ja auch nicht eine vergangene Episode, sondern gerade Jahwes Heilshandeln, das wirkungsmächtig in die x ) Zur Herleitung des Psalms aus vorexilischer Zeit vgl. A. WEISER, Die Psalmen I, ATD 14, 5. A. Göttingen 1959, pp. 45f. 238f.
  • 9. RICHTER VI-VIII 9 Gegenwart hereinreicht und Israel noch immer umfängt. Dadurch, dass ein Stück aktueller Historie ins Licht der alten heilsgeschicht- lichen Tradition gerückt und als das jüngste Glied in der Kette der Heilstaten Jahwes gedeutet wird, ist die Überlieferung von Gideons Berufung in Ri. vi llb-17 zustandegekommen. Wird hier die Überwindung der Midianitergefahr analog der Heraus- führung aus Ägypten verstanden, so kann es nicht wundernehmen, dass entsprechend auch Gideon selbst von der Tradition dem zur Seite gestellt wird, der Jahwes Volk aus Ägypten geführt hatte: Mose nämlich. Der Überlieferung in Ri. vi llb-17 steht es ganz offensichtlich fest, dass Gideons Berufung in genau derselben Weise verlaufen sein muss wie die des Mose. Von der letzteren berichtet eine alte Pentateuchüberlieferung, deren elohistische Bearbeitung in Ex. iii 9-15 vorliegt1). Nach der Darstellung dieser Tradition war Moses Berufung Gottes Antwort auf den Klageschrei der Bedrängten (Ex. iii 9. 10). Entsprechend wird nun auch Gideon auf seine Klage hin zum Retter Israels berufen (Ri. vi 13.14). Dabei gleicht das Sendungswort, das an Mose ergeht, weithin demjenigen, das zu Gideon gesprochen wird. Wie sich Mose (nach Ex. iii 11) dem ihm zuteil gewordenen Auftrag nicht gewachsen fühlte, so antwortet (nach Ri. vi 15) auch Gideon mit dem Hinweis auf sein Unvermögen. Hier wie dort begegnet Jahwe dem Einwand der Berufenen mit der Zusage seiner Gegenwart, die beidemal in dieselben Worte (TJSB ΓΡΠ*ρ3) gekleidet ist (vgl. Ex. iii 12 mit Ri. vi 16). Und wie dem Mose (nach Ex. iii 12) ein Zeichen (nÎK) angekündigt wird, so erbittet (nach Ri. vi 17) auch Gideon ein Zeichen (nix), das ihn erkennen lässt, dass Berufung und Auftrag vonfahwe stammen. — Die Übereinstimmung zwischen beiden Berufungssagen ist eindrucks- voll genug. Zurückzuführen ist sie, wie gesagt, auf das Bestreben der jüngeren Gideontradition, in jenem Sieger über die Midianiter ein Werkzeug desselben Gottes zu sehen, der einst durch Mose sein Volk aus Ägypten errettet hatte. Darin aber stimmt die Darstellung des Berufungsvorgangs mit der Grundtendenz des ganzen Über- lieferungsstückes in Ri. vi llb-17 überein: In all* ihren Teilen ist diese Traditionsbildung daraufhin ausgerichtet, einerseits in einem Stück jüngst erlebter Zeitgeschichte die Fortführung der Heils- geschichte zu erkennen, die mit dem Exodus aus Ägypten begann, x ) Vgl. dazu M. NOTH, Das zweite Buch Mose, ATD 5, Göttingen 1959, pp. 27ff., und E. KUTSCH, a.a.O., Sp. 79.
  • 10. 10 W. BEYERLIN und andererseits eben dadurch die Gegenwartsmächtigkeit der alten heilsgeschichtlichen Überlieferung zu erweisen. Da der Stämmebund Israel Träger dieser Tradition war, die hier so offensichtlich im Mittelpunkt allen Interesses steht, darf auch jene Traditionsbildung sicherlich gerade auf ihn und ihm nahestehende Kreise zurückgeführt werden. Damit aber wird der enge sachliche und traditionsgeschicht- liche Zusammenhang zwischen dem Bericht von Gideons Berufung und den Stücken deutlich, die den Heerbann des Stämmebundes an den Midianiterkämpfen beteiligt sehen wollten. Hier wie dort geht es darum, ältere, noch lokal-partikular beschränkte Überlieferung zu amphiktyonischer Tradition aufzuarbeiten im Rahmen der traditio- nellen und institutionellen Voraussetzungen des Stämmebundes Israel. ΠΙ Aus demselben Zusammenhang wird aber auch die prophetische Mahnrede verständlich, die in Ri. vi 7-10 jener Berufungserzählung vorangestellt ist. Insofern sich dieses paränetische Stück an seinen beiden Enden auf die Traditionen des Kontexts bezieht *), ist an seiner verhältnismässig späten Einschaltung in den Überlieferungs- zusammenhang nicht zu zweifeln. Doch ist es ganz unwahrscheinlich, dass es erst zum Zweck dieser Einschaltung von einem Schriftsteller abgefasst worden sein sollte, wie M. NOTH meint, der jenen Abschnitt auf den deuteronomistischen Geschichtsschreiber zurückzuführen versucht2). Dazu ist am Ende der Mahnrede viel zu wenig für eine Überleitung zum unmittelbar nachfolgenden Text Sorge getragen, ganz abgesehen davon, dass dieses paränetische Stück hier überhaupt fragmentarisch bleibt, da von der Wirkung der Vermahnung wider Erwarten nicht ein Wort gesagt wird 3). Diese Bruchstückhaftigkeit deutet aber darauf hin, dass in Ri. vi 7-10 eine vorgegebene Tradition, an ihrem Ende verkürzt, in das Überlieferungsgefüge eingeschoben worden ist. Spezifisch deuteronomische Sprachelemente lassen sich in diesem Traditionsbruchstück nicht nachweisen 4). Die Wendung x ) Vers 7a nimmt Vers 6b wieder auf (LXX-B, Peschitta und Vulgata werden mit ihrem kürzeren Text schwerlich den Vorzug verdienen). In Vers 10 wird über die Wirkung der Mahnrede nichts berichtet mit Rücksicht auf Vers 25fF. Siehe auch unten. 2 ) Vgl. Überlieferungsgeschichtliche Studien, 2. A. Darmstadt 1957, p. 51. 3 ) Vgl. hiermit die Sachparallele in Ri. χ 11-16. Siehe auch K. BUDDE, Das Buch der Richter, KHC 7, Freiburg i. Br. 1897, pp. 52f. 4 ) Vgl. seine Diktion etwa mit der Sprachstatistik bei C. STEUERNAGEL, Das Deuteronomium, HK I 3, 1, 2. A. Göttingen 1923, pp. 41fF.
  • 11. RICHTER VI-VIII 11 *?ipa »ötf, mit der jene Mahnrede in Ri. vi 10 schliesst, entspricht fraglos vordeuteronomischer, ausgesprochen paränetischer Sprach- gewohnheit x). Lässt Jahwe in Ri. vi 8 seinem Volk vorhalten: „Ich habe euch aus Ägypten heraufgeführt und habe euch aus dem Sklaven- hause herausgeführt", so ist nicht einzusehen, dass es sich hier um deuteronomistische Formulierungen handeln soll, wenn sich schon die Propheten des 8. Jhdts. in fast genau denselben Worten aus- gedrückt haben, wie aus Am. ii 10 und Mi. vi 4 2) hervorgeht. Da auf die Herausführung aus Ägypten und aus dem Sklavenhause auch schon im geschichtlichen Prolog des Dekalogs hingewiesen wird 3 ), im Eingang des Grundgesetzes der altisraelitischen Amphiktyonie also, steht der Annahme nichts im Wege, dass die paränetische Tradi- tion, die in Ri. vi 7-10 eingearbeitet worden ist, ebenfalls aus dem Kult des altisraelitischen Stämmebundes stammt. Diese Annahme findet auch darin eine Stütze, dass nach 1. Sam. χ 18 am Heiligtum von Mizpa, das nach Ri. xx 1-3; xxi 1. 5. 8 gerade in der Richterzeit Versammlungsort des sakralen Stämmebundes gewesen zu sein scheint4), dasselbe paränetische Jahwewort, nur ganz unwesentlich modifiziert, von Samuel vorgetragen worden ist. Schreibt jene Notiz des I. Samuelbuches, die in ihrer speziellen Bezugnahme auf das Heiligtum von Mizpa nicht vom Deuteronomisten erfunden worden sein kann, sondern doch wohl alte Überlieferung darstellt, jenes paränetische Wort einer amphiktyonischen Versammlung der Richter- zeit zu, so wird auch für die der Gideonüberlieferung eingearbeitete Variante desselben Wortes der altisraelitische Jahwekult als Sitz im Leben anzunehmen sein. In dieselbe Richtung weist auch der Umstand, dass von den „Göttern der Amoriter", die Israel nicht verehren soll, ausser in der paränetischen Überlieferung in Ri. vi 10 nur noch einmal im Alten Testament die Rede ist und zwar in der Tradition vom Landtag zu Sichern 5) in Jos. xxiv 15. Auffallender- *) Vgl. Ex. xix 5 E und dazu die Arbeit des Vfs. Herkunft und Geschichte der ältesten Sinaitraditionen, Tübingen 1961, pp. 78-90, besonders p. 83, Anm. 1. 2 ) Zur Abfassung durch Micha vgl. A. WEISER, Das Buch der ?wölf Kleinen Propheten I, ATD 24, 3. A. Göttingen 1959, pp. 230f. 8 ) Vgl. Ex. xx 2. Insofern dieser Prolog von der Bundesform gefordert wird, nach der der Dekalog gestaltet worden ist (vgl. hierzu G. E. MENDENHALL, „Covenant Forms in Israelite Tradition", ΒΑ 17, 1954, pp. 50fF. und BEYERLIN, a.a.O., pp. 60fF.), gehört er in dieser oder einer ähnlichen Formulierung schon zum Grundbestand der Zehn Gebote und ist also weder nachträgliche deuterono- mistische Zutat noch spezifisch elohistische Erweiterung. *) Vgl. A. WEISER, „Samuels ,Philister-Sieg' ", ZThK 56, 1959, p. 261. 6 ) In Jos. xxiv 1. 25 verdient die masoretische Lesart „Sichern", textkritisch
  • 12. 12 W. BEYERLIN weise werden hier die amoritischen Götter ebenso wie in Ri. vi 10 mit dem Zusatz erwähnt „in deren Land ihr wohnt". Der Aufforde- rung zur Abkehr von ihnen korrespondiert in Jos. xxiv 5ff. 17f. ebenso ein Hinweis auf Jahwes Heilshandeln im Exodus und in anderen Wundertaten wie in der Mahnrede von Ri. vi 7-10. Überhaupt steht die Überlieferung vom Landtag zu Sichern in Jos. xxiv unter dem Einfluss derselben Bundesform1), die auch der paränetischen Argumentation in Ri. vi 7-10 zugrundeliegt, insofern hier der Vor- wurf, den Bundesgehorsam schuldig geblieben zu sein, auf dem Hintergrund eines heilsgeschichtlichen Prologs erhoben wird. Da die besagte Bundesform nachweislich schon im Stämmebundkult der Richterzeit lebendig gewesen ist und auch die zahlreichen Ge- meinsamkeiten jener paränetischen Tradition mit der Überlieferung vom Landtag zu Sichern auf den Bereich der vorstaatlichen Jahwe- amphiktyonie hindeuten, erscheint es nach allem wohlbegründet, die Jahweparänese von Ri. vi 7-10 aus dem Kult des altisraelitischen Stämmebundes herzuleiten. Hier ist Israel offenbar durch einen prophetischen Sprecher in dieser Weise vermahnt worden. Dement- sprechend lässt die Überlieferung in 1. Sam. χ 18 Samuel jenes Mahn­ wort auf der gesamtisraelitischen Versammlung zu Mizpa vortragen. Und entsprechend ist es ein W21 BhK, der nach dem Überlieferungs- fragment von Ri. vi 7-10 Israel vor seiner Errettung aus der Midiani- ternot mit demselben Mahnwort anspricht. Dass es ein Wort Jahwes ist, der als „der Gott Israels" näher bezeichnet wird (Vers 8b), bestätigt überdies, dass es sich hier um eine Stämmebundtradition handelt, denn jener Gottesname gehört von Hause aus fraglos zur Institution des Stämmeverbandes2). „Jahwe, der Gott Israels" hält seinem Volk die Heilstaten vor, die er ihm zugut bei der Heraus- führung aus Ägypten und bei der Landnahme vollführt und durch die er seinen Gehorsamsanspruch gegenüber Israel begründet hat, gerade auch den Anspruch auf ausschliessliche Verehrung, wie er im 1. Dekaloggebot formuliert ist (vgl. Ex. xx 3). Israel hat sich und historisch gesehen, den Vorzug vor der LXX-Lesart „Silo". Siehe J. MUILEN- BURG, VT IX, 1959, p. 357. — Vgl. auch die Arbeit des Vfs., Die Kulttraditionen Israels in der Verkündigung des Propheten Micha, FRLANT 72, Göttingen 1959, p. 70. *) Vgl. BEYERLIN, Herkunft und Geschichte der ältesten Sinaitraditionen, pp. 60ff. 81fF. und besonders pp. 172ff. Zu jenem Vertragsschema vgl. auch K. BALTZER, Das Bundesformular, WMANT 4, Neukirchen 1960. 2 ) Vgl. dazu BEYERLIN, a.a.O., pp. 35f.
  • 13. RICHTER VI-VIII 13 diesem wohlbegründeten Anspruch seines Gottes versagt (Ri. vi 10). Das soll es erkennen, noch ehe Jahwe, von Gideons Klage bewegt, sich in einer neuen Heilstat offenbart. Aus der Überzeugung heraus, dass Israel erst zur Bundestreue ermahnt werden muss, ehe Jahwe seine Heilsgeschichte mit diesem Volk fortsetzen kann, ist jenes paränetische Überlieferungsfragment in Ri. vi 7-10 noch vor dem Bericht von Gideons Berufung eingeschaltet worden. Ist aber auch die Einarbeitung dieses aus dem amphiktyonischen Jahwekult stammenden Traditionsstücks imgrunde erfolgt, um den alten Stämmebundtraditionen vom Sinaibund und den Heilstaten in ihrer unauflöslichen Wechselbeziehung in einer neuen geschichtlichen Situation Geltung zu verschaffen, so wird auch diese Einschaltung auf amphiktyonische Kreise zurückzuführen sein. IV Hat die jüngere Gideontradition die erfolgreiche Abwehr des Midianiteransturms zu einer Sache des sakralen Stämmebundes und seines Heerbanns erhoben, so hat sie sich dadurch, wie gesagt, in einen offenkundigen Gegensatz zur älteren Überlieferung gesetzt, nach der Gideon seine Siege mit nur 300 Mann erstritt. Diesen Gegensatz hat die jüngere Tradition dadurch auszugleichen versucht, dass sie den eben erst aufgebotenen amphiktyonischen Heerbann der 32 000 noch vor Beginn des Kampfes bis auf einen Rest von 300 Mann wieder nach Hause schicken Hess (vii 8), — bis auf die kleine Schar also, die nach den alten Nachrichten tatsächlich den Kampf bestritten hatte x). Nun war sich die spätere Tradition sehr wohl bewusst, dass jene vorzeitige Entlassung des Heerbanns der Stämme, die sie anzunehmen gezwungen war, einer überzeugenden Begrün- dung bedurfte. Denn die Einberufung des Stämmebundheeres war mit solchen Schwierigkeiten verbunden und die Willigkeit der einzelnen Stämme zur Heeresfolge war so wenig eine Selbstverständ- lichkeit 2), dass die Behauptung der Tradition, das glücklich zustande- gekommene Aufgebot sei alsbald und unverrichteter Dinge wieder aufgelöst worden, nicht ohne weiteres Glauben finden konnte. *) Vgl. im einzelnen den I. Abschnitt. a ) Vgl. Ritus und Fluchwort bei der Einberufung des israelitischen Heerbanns nach 1. Sam. xi 7 (siehe dazu auch G. WALLIS mZAW 64, 1952, pp. 57ff.). Vgl. ferner Ri. xxi 25 (und dazu G. v. RAD, Der Heilige Krieg im alten Israel, 2. A. Göttingen 1952, p. 28).
  • 14. 14 W. BEYERLIN Die Bemerkung der Überlieferung in Ri. vii 3, vor Beginn des Kampfes seien die Furchtsamen ausgesondert und nach Hause geschickt worden, ist für jene wundersame Entlassung des ganzen Heerbanns noch keine zureichende Begründung. Zudem ist dieses Überlieferungsmotiv ja in erster Linie an der Ausdeutung des Namens der Quelle Charod interessiert, der hier mit dem hebräischen Wort Τ1Π „furchtsam, ängstlich" in Zusammenhang gebracht wird x ). Auch die Erzählung von der Auslese der 300 anhand jener seltsamen Trinkprobe in Ri. vii 4-7 2) soll im vorliegenden Zusammenhang weniger die Auflösung des Heerbanns an sich begründen als vielmehr erklären, unter welchem Gesichtspunkt jene drastische Truppen- verminderung erfolgte. Warum sie jedoch überhaupt in diesem verblüffenden Ausmass vorgenommen worden sein soll, wird theologisch begründet: Nach der Tradition in Ri. vii 2 sprach Jahwe zu Gideon angesichts des versammelten Heerbanns der Amphi- ktyonie: „Zu zahlreich ist das Volk, das du bei dir hast, als dass ich Midian in seine Hand geben könnte. Israel möchte sich sonst wider mich rühmen und sagen: Meine eigene Hand hat mir Rettung ver- schafft! / Wir haben uns selbst geholfen!" Und um diese Deutung der Dinge abzuwenden, befiehlt Jahwe selbst die Entlassung des Heeres bis auf jene 300 Mann. Sie soll klarstellen, dass es ganz allein Jahwe ist, der seinem Volk aus der Midianiternot hilft. In diesem Sinn wird dann auch in Ri. vii 16-22 der Überfall auf das Lager der Midianiter geschildert. Gideons Sieg kommt dadurch zustande, dass unter den Feinden eine Panik ausbricht und sie sich gegenseitig umbringen (Vers 22). Über ihre Niederlage war schon entschieden, noch ehe ein Israelit einen Finger gerührt; sie war dadurch ent- schieden, dass Jahwe Midians Lager in Israels Hand gegeben hatte (Vers 9. 15). Damit dieser Sachverhalt nicht verdeckt würde, beliess Jahwe dem Gideon nicht mehr als 300 Mann. Mit dieser Darstellung des Midianiterkrieges hat die jüngere Gideontradition die von ihr selbst angenommene vorzeitige Entlassung des Stämmebundheeres zu motivieren versucht. — Wir aber stehen angesichts dieser Motivie- rung vor der Frage, woran sich die Überlieferung bei dieser ihrer Dar- stellung des Midianiterkrieges orientiert hat. Ύ ) Siehe auch etwa H. W. HERTZBERG, Die Bücher fosua, Richter, Ruth, ATD 9, p. 194. a ) Vgl. dazu A. MALAMAT, "The War of Gideon and Midian. A Military Approach", Palestine Exploration Quarterly 1953, pp. 62f.
  • 15. RICHTER VI-VIII 15 Für G. v. RAD Χ ) steht es fest, dass es die sakrale Institution des heiligen Kriegs war, die hier der Tradition vor Augen stand. Und zwar nicht etwa nur die Institution an sich, wie sie anderwärts zur An- wendung gekommen sei. v. RAD ist vielmehr der Auffassung, dass Gideons Midianiterkrieg, von dem die Überlieferung in Ri. vii berichtet, zumindest in gewissem Sinn auch in Wirklichkeit als ein heiliger Krieg geführt worden ist 2 ). Dann aber entspräche jenes Argument, der Heerbann des Stämmebunds sei entlassen worden, um klarzustellen, dass Jahwe ganz allein sein Volk gerettet habe, offenbar dem historischen Sachverhalt, v. RAD hat seine Auffassung damit begründet, dass das für einen heiligen Krieg wesentliche Kollektiv- handeln der Stämme zwar nicht schon vor Gideons Überraschungssieg eingesetzt habe, aber dann doch noch nach diesem Sieg zustande- gekommen sei. Das aber lasse annehmen, dass auch schon die Aktion jener 300 Mann imgrunde ein amphiktyonisches Unternehmen gewesen sei. Nun ist dieser Auflassung gegenüber aber doch zu fragen, wie es sich rechtfertigen lässt, zwar die erste Einberufung des Stämmeheeres als unhistorisch zu erachten und die entsprechende Notiz in Ri. vi 35 als übertreibenden Zusatz zu erklären, die zweite Einberufung des amphiktyonischen Heerbanns hingegen als ge- schichtlich glaubwürdig zu beurteilen. Wenn die Überlieferung in Ri. vii 23 über die Verfolgungsaktion, derentwegen das zweite amphi- ktyonische Aufgebot erfolgt sein soll, nur eine allgemeine, nichts- sagende Bemerkung zu machen hat, dann wird es sich hier ebenso wie in Ri. vi 35 um eine späte, dem tatsächlichen Hergang fern- stehende Traditionsbildung handeln. Allem nach ist die Mannschaft des Stämmebunds nach Gideons Midianitersieg so wenig in Aktion getreten wie vor ihm 3 ). Aber selbst wenn sie nachträglich noch ein- gegriffen hätte und wenn dies tatsächlich einen heiligen Krieg im Sinne der v. RADschen These bedeutet hätte, dann könnte dies immer noch nichts daran ändern, dass jener entscheidende Kampf selbst, den Gideon mit seinen 300 Abiesriten durchstanden hat, kein heiliger Krieg gewesen ist. Zu einer Sache des Stämmeverbands und seiner x ) Der Heilige Krieg im alten Israel. a ) Vgl. a.a.O., pp. 22f. 8 ) Hieran ändert sich auch dann nichts, wenn aufgrund der lokalätiologisch orientierten Überlieferung in Ri. vii 24fF. auch noch mit einem ephraimitisch- midianitischen Zusammenstoss zu rechnen wäre, der mit Gideons Unternehmung nicht einmal in einem unmittelbaren Zusammenhang gestanden haben musste. Vgl. hierzu auch G. v. RAD, „Der Anfang der Geschichtsschreibung im alten Israel" (1944), Gesammelte Studien, München 1958, p. 157.
  • 16. 16 W. BEYERLIN Mannschaft ist dieser Kampf, wie gesagt, erst nachträglich erhoben worden. Dem geschichtlichen Sachverhalt entsprach die Darstellung der Tradition, wie es zu jener vorzeitigen Entlassung des Stämme- aufgebots gekommen ist, also sicherlich nicht. Offensichtlich ist nun aber G. v. RAD ohnehin der Meinung, die Überlieferung von Gideons Midianitersieg in Ri. vii sei über das historisch Begründete hinaus jedenfalls auch nach der Theorie des heiligen Kriegs noch durchreflektiert und ausgestaltet worden. Und so sind für ihn alle wesentlichen Elemente ihres denkwürdigen Berichts auf den Einfluss des Schemas zurückzuführen, nach dem die Tradition allenthalben den heiligen Krieg darzustellen pflegte. Ihm entspricht es, dass Jahwe allein den Kampf entscheidet, dass Israel sich nicht selber hilft und allenfalls am Rande mitwirkt, dass Jahwe es ist, der Midian in seines Volkes Hand gibt, dass er den Feind durch einen Gottesschrecken verwirrt und so den Sieg herbeiführtx). In dieser ganzen eigenartigen Darstellung, durch die die Überlieferung die Entlassung des amphiktyonischen Heerbanns noch vor Beginn des Kampfes motiviert, spiegelt sich nach v. RAD Zug um Zug die altisraelitische Institution des heiligen Kriegs wider. Dass sie auf die Traditionsgestaltung hier wie auch in vielen anderen Zusammen- hängen so nachhaltig eingewirkt hat, entspricht s.E. ihrer grund- legenden Bedeutung für das alte Israel, denn, so zitiert v. RAD ein Wort WELLHAUSENS 2) : „Das Kriegslager, die Wiege der Nation, war auch das älteste Heiligtum. Da war Israel, und da war Jahwe". Was nun auch immer das Kriegslager zur Nationwerdung Israels beitrug, feststeht jedenfalls, dass es ohne jede Bedeutung war für die Entstehung des sakralen Stämmeverbandes, in dessen Mitte ja die jüngere Gideonüberlieferung Gestalt gewann. Für die Bildung der Jahweamphiktyonie war nicht das Erlebnis heiliger Kriege grund- legend, sondern das OfFenbarungsgeschehen, von dem die Exodus- und Sinaitradition berichtete. G. v. RAD ist sich auch selbst darüber im klaren, dass Kriegslager und heilige Kriege bei der Landnahme der halbnomadischen Gruppen, die sich in Palästina zum sakralen Stämmeverband Israel zusammenschlössen, schlechterdings keine Rolle gespielt haben. Hier hat es sich vielmehr, wie auch die Archäolo- gie erwiesen hat, um einen offensichtlich friedlichen Vorgang gehan- x ) Vgl. Ri. vii 2. 9. 15. 22 und dazu G. v. RAD, Der Heilige Krieg im alten Israel, pp. 8-13. a ) A.a.O., p. 14.
  • 17. RICHTER VI-VIII 17 delt1). Auch bietet die Überlieferung keinerlei Handhabe dafür, irgendeiner jener Gruppen für die Zeit vor der Landnahme eine kriegerische Unternehmung nachzuweisen 2). Auf diesen Umstand hatte schon im Jahre 1912 W. CASPARI hingewiesen3), wenn er schreibt, dass die erste Periode in der Geschichte der Israeliten, ihrer (halb-)nomadischen Vergangenheit entsprechend, ausgesprochen un- kriegerisch war 4). Dann aber — so ist mit CASPARI ZU folgern — ist es auch von vornherein unwahrscheinlich, dass Israel an seinem Gott zuerst und vor allem die kriegerische Seite entdeckt und als wesentlich herausgestellt haben sollte. Erst die sesshaft gewordenen Stämme Israels sind im Lauf ihrer weiteren Geschichte durch fremde Lehr- meister schmerzvoll zum Kriege unterwiesen worden. Und als sie in diesem für sie neuen Element ihren Mann zu stellen hatten, da erst erkannten sie zu ihrer Freude in Jahwe den Kriegsmann 5). Es ist bemerkenswert, dass auch v. RAD dem Gedankengang CASPARIS beipflichtet und in Jahwes Machterweis im Krieg „eine neue Offen- barung seines Wesens" erblickt, die den Stämmen Israels erst im Zuge ihrer geschichtlichen Weiterentwicklung zuteil geworden sei 6). Wenn es sich aber hier um eine neue Offenbarung Jahwes in einer fortgeschrittenen Entwicklungsstufe der Geschichte Israels handelt, dann muss die Jahwegemeinde aufgrund einer älteren, ursprüng- licheren Gottesoffenbarung ins Leben getreten sein, und das Kriegs- lager ist für ihr Werden und Wesen nicht grundlegend. Die Jahwe- gemeinde gründet vielmehr in Jahwes machtvoller Offenbarung in der Heilstat der Herausführung aus Ägypten und im Sinaibundes- schluss. Ausgerüstet mit den Traditionen, die von dieser grund- legenden Gottesoffenbarung zeugen, hat sich das sesshaft gewordene Israel dann auch mit dem noch neuen und unvertrauten Phänomen des Krieges auseinandergesetzt. Dabei war es, wie das Meerlied in Ex. xv erweist7), gerade die heilsgeschichtliche Tradition von der Errettung aus Ägypten, die den Weg zu der Erkenntnis bahnte, !) Vgl. a.a.O., pp. 15ff. ») Vgl. a.a.O., pp. 17f. 8 ) In seinem Aufsatz „Was stand im Buche der Kriege Jahwes?", Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie 54, 1912, pp. HOff. 4 ) Vgl. a.a.O., pp. llOf. «) Vgl. W. CASPARI, a.a.O., p. 129. ·) Vgl. Der Heilige Krieg im alten Israel, p. 32. 7 ) Daran, dass es die Landnahme voraussetzt, lassen die Verse 13ff. keinen Zweifel. Vgl. neuerdings auch W. SCHMIDT, Königtum Gottes in Ugarit und Israel, BZAW 80, Berlin 1961, pp. 64ff. Vetus Testamentum XIII 2
  • 18. 18 W. BEYERLIN dass Jahwe, der Gott des Exodus, auch ein Kriegsmann sei (Ex. xv 3). Es lag ja auch nahe, von dem Gott, der am Schilfmeer geholfen, auch in den Kriegen um den Besitz des glücklich erworbenen Kultur- landes Hilfe zu erwarten. Gideons Klage in Ri. vi appelliert dement- sprechend ja auch an den Gott, der die Väter aus Ägypten geführt. Empfing man die Hilfe dieses Gottes, was lag dann näher, als sie als ein neues Glied in der Kette der Heilstaten Jahwes zu verstehen, die mit der Herausführung aus Ägypten ihren Anfang nahm? Erfuhr man Jahwes Hilfe im Midianiterkrieg, was lag dann näher, als sie analog der Heilstat des Exodus darzustellen? In dem Augenblick aber, da sich Israel dazu entschloss, jenen Krieg, den Gideon mit seinen 300 Abiesriten siegreich durchstanden hatte, als Jahwes neue, aktuelle Heilstat zu verstehen und die Kunde von ihm einzubeziehen in den Zusammenhang der heilsgeschicht- lichen Tradition, da war auch schon über die Art und Weise ent- schieden, in der Gideons Midianiterkrieg darzustellen war. Das Gesetz, nach dem die heilsgeschichtliche Überlieferung Israels be- richtete, bestimmte nun auch die Darstellung des Midianiterkriegs. Der heilsgeschichtlichen Tradition aber ist es eigentümlich, dass sie in allem Geschehen, von dem sie kündet, Jahwe allein und ent- scheidend am Werk sieht. Nirgendwo spricht sie von einer Mitwir- kung Israels an Jahwes Heilstaten. Darauf, dass Jahwe allein ge- handelt und geholfen, basiert ja dann auch sein ausschliesslicher Herrschaftanspruch. Darin, dass er sein Volk aus Ägypten geführt, gründet sein ausschliesslicher Anspruch auf Bundesgehorsam. Der heilsgeschichtliche Prolog des Dekalogs λ) bezeugt, dass Israel nur einen Helfer hat. Das erste Gebot des Dekalogs schärft ein, dass Israel darum auch nur einen Herren hat. Für die Richtigkeit dieser Deutung zeugt ein Hoseawort: „Ich bin Jahwe, dein Gott von Ägypten her: Einen Gott ausser mir kennst du nicht, und einen Helfer ausser mir gibt es nicht" (xiii 4). Gerade in ihrer Verbindung mit der Bundes- forderung enthüllt die heilsgeschichtliche Tradition die Eigenart ihrer Darstellung, die Jahwe als den allein Handelnden und Helfenden bezeugt. Das Mahnwort, das in Ri. vi 7-10 der ganzen Gideon- tradition vorangestellt ist 2 ), macht dies in seiner heilsgeschichtlichen Darstellung deutlich genug. Nach ihr war es Jahwe (W^Sjn ΏίΚ), der Israel aus Ägypten geführt, der es aus Feindeshand errettet, der die x ) Vgl. dazu die Arbeit des Vfs. Herkunft und Geschichte der ältesten Sinaitradi- tionen, pp. 62f. 81f. 165ÍT. 190f. a ) Vgl. hierzu oben Abschnitt III.
  • 19. RICHTER VI-VIII 19 Bedränger vor den Augen der Israeliten (QD^Dö) und d. h. ohne ihr Zutun vertrieben hat. Wird aber nun die hier zutage tretende heilsgeschichtliche Darstellungsweise auf Gideons Midianiterkrieg angewendet, dann ergibt sich geradezu zwangläufig die Darstellung, die Ri. vii darbietet: Jahwe allein hat den Sieg wider Midian errungen. Der Ausgang des Kampfes stand schon fest, als er den Feind in Gideons Hand gab (Vers 9. 15). Israels Heerbann hat nicht die Hilfe gebracht. Der Gott von Ägypten her, ausser dem es sonst keinen Helfer gibt, hat das Heer der Stämme nach Hause geschickt, damit Israel sich nicht rühme, sich selbst geholfen zu haben (Vers 2ff.). Ohne Mitwirkung Israels konnte Jahwe jenen Sieg aber nicht anders erringen als so, dass sich die Feinde in heilloser Panik gegenseitig mit den Schwertern umbringen (Vers 22). Dank haben alle Elemente dieser Überlieferung, die G. v. RAD als unveräusserliche Merkmale der Institution des heiligen Krieges betrachtet, eine einfache Er- klärung gefunden: Sie sind dadurch zustandegekommen, dass ein erfolgreich geführter Abwehrkrieg, seines lokalen und partikularen Charakters entkleidet, heilsgeschichtlich gedeutet und als die Heilstat des Gottes verstanden wird, der seit der Herausführung aus Ägypten sich als Israels einziger Helfer erwies. Zu der Annahme, dass es in Israels Richterzeit eine sakrale Institution des heiligen Krieges oder auch nur eine ihr entsprechende Theorie gegeben habe, berechtigt die Gideonüberlieferung jedenfalls nicht. Ob andere, der Gideon- tradition nahestehende Kriegsdarstellungen, die v. RAD für seine These heranzieht, nicht ebenso durch die Eigenart heilsgeschichtlicher Darstellungsweise bedingt sind, wäre der Nachprüfung wert. Ab- gesehen von dieser Frage, hat die Untersuchung der Überlieferung vom Midianiterkrieg in Ri. vii aufs neue jedenfalls zu dem Ergebnis geführt, dass die jüngere Gideontradition unter dem bestimmenden Einfluss der amphiktyonischen Überlieferungen entstanden und dass sie dementsprechend aus dem Bereich des sakralen Stämmeverbands hervorgegangen ist. V Im viii. Kapitel des Richterbuches findet sich noch ein weiteres Überlieferungsstück, in dem von der Mannschaft des Stämmebunds Israel die Rede ist: War es nach dem alten Bericht in den Versen 4-21 noch der kleine Kampfverband der abiesritischen Sippe1), den x ) Vgl. dazu oben Abschnitt I.
  • 20. 20 W. BEYERLIN Gideon anführte, so tritt in Ri, viii 22. 23 unvermittelt der amphi- ktyonische Heerbann wieder in Erscheinung x). Er wendet sich an seinen siegreichen Führer und trägt ihm die erbliche Herrschaft an: „Herrsche über uns, sowohl du als auch dein Sohn und deines Sohnes Sohn, denn du hast uns aus Midians Hand errettet!" Dieses Angebot weist aber Gideon zurück in dem denkwürdigen Spruch: „Weder ich selbst will über euch herrschen, noch soll mein Sohn über euch herrschen Jahwe soll über euch herrschen"! Darüber, wie dieses Wort geschichtlich einzuordnen und zu deuten ist, gehen die Meinungen weit auseinander: Für M. BUBER ist es „geschichts- möglich" in der Epoche zwischen Josuas Tod und Sauls Thron- besteigung; Gideons Spruch wagt es, mit der Theokratie in Israel Ernst zu machen 2). Eine ebenso frühe Datierung hält auch K.-H. BERNHARDT für möglich: Noch in der Zeit vor dem Aufkommen des Königtums in Israel sei die Alternative „Monarchie oder Patriar- chat" zu entscheiden gewesen; im Gideonspruch sei die Entscheidung zugunsten des letzteren gefallen 3). Nach WELLHAUSEN hingegen kann jener Spruch, insofern er menschliche und göttliche Herrschaft einander gegenüberstellt, erst einer späteren Phase religionsgeschicht- licher Entwicklung entstammen 4). Und so verfechten viele Ausleger die Auffassung, dass Gideons Spruch die Verurteilung des Königtums durch den Propheten Hosea voraussetze, zu der dieser angesichts der Thronwirren in den letzten Jahrzehnten des Nordreichs gekom- men sei5). Nach H. GRESSMANN war es sogar erst der Deuteronomist in nachexilischer Zeit, der Gideons Antwort in Ri. viii 23 abgefasst hat, nachdem die aus den schlechten Erfahrungen mit dem Königtum geschöpfte Erkenntnis des Propheten Hosea, dass sich menschliche und göttliche Herrschaft nicht vereinbaren lasse, zum Dogma gewor- den sei6). — Nun wird es sich angesichts dieser vielfaltigen Deutungs- *) Das gen. Stück zeichnet sich gegenüber den Versen 21b. 24-27a, die einen Sachzusammenhang bilden, als eigenständige Überlieferungseinheit ab. 2 ) Vgl. Königtum Gottes, 3. A. Heidelberg 1956, pp. 3ff. Siehe hierzu auch N. W. PORTEOUS, The Kingship of God in Pre-exilic Hebrew Religion, S. 4. 8 ) Vgl. Das Problem der altorientalischen Königsideologie im Alten Testament, Suppl. VT, VIII 1961, pp. 146f. 4 ) Vgl. Prolegomena zur Geschichte Israels, 3. A. Berlin 1886, pp. 247f. δ ) So etwa G. F. MOORE, fudges, ICC (1895) 7. A. 1958, p. 230; K. BUDDE, Das Buch der Richter, KHC 7, 1897, p. 66; C. F. BURNEY, The Book offudges, 2. Α. London 1920, pp. 183f. ; Κ. WIESE, Zur Literarkritik des Buches der Richter, BWANT ΠΙ 4, Stuttgart 1926, p. 42. e ) Vgl. Der Messias, Göttingen 1929, pp. 212. 229, Anm. 4; Die Anfänge Israels, SATA I 2, 2. Α., p. 210. Ähnlich offenbar auch G. v. RAD, Theologie des Alten Testaments I, p. 331.
  • 21. RICHTER VI-VIII 21 versuche empfehlen, zunächst einmal den überlieferungsgeschicht- lichen Zusammenhang aufzuspüren, in dem jene Traditionseinheit steht. Eines verbindet sie jedenfalls mit den Stücken der jüngeren Gideontradition: Sie spricht von einer Initiative des ^ΚΊδΡ^Κ, und d.h., sie geht von der Voraussetzung aus, dass Gideon mit dem Heerbann des Stämmebunds ins Feld gezogen war. An dieser Dar- stellung lag aber, wie wir sahen, ganz ausgesprochen den jüngeren Traditionsbildungen im Gideonkomplex, für die auch die Ver- wendung des Kollektivbegriffs ^ΊδΡ-Β^Κ eigentümlich ist *). So ist schon von daher zu vermuten, dass Ri. viii 22. 23 Bestandteil jener jüngeren, amphiktyonisch orientierten Überlieferungsschicht ist. Dass in ihr ebenso wie in jenen Versen die Errettung Israels aus der Midianiternot in verwandter Ausdrucksweise zur Sprache kommt, bestärkt noch mehr in der Vermutung, jenes Überlieferungselement im viii. Kapitel gehöre gleicherweise zur jüngeren Gideontradition. Dann aber musste es auch im Zusammenhang mit jenen anderen jüngeren Traditionsbildungen verstanden werden, mit denen wir uns bisher beschäftigt hatten. Vor allem auch im Zusammenhang mit der heilsgeschichtlichen Darstellung des Midianiterkriegs in Ri. vii, die so nachdrücklich festgestellt hatte, dass Jahwe allein und niemand sonst Israel aus Midians Hand errettet habe. Der Gott, der seit der Herausführung aus Ägypten sich als Israels einziger Helfer erwies, will nicht, dass sein Volk sich wider ihn rühme, es habe sich selbst die Rettung verschafft (Vers 2). Jahwe verschafft die Rettung, und auch Gideon ist dabei nicht mehr als ein Werkzug, was in Ri. vi 37 auch klar zum Ausdruck gebracht wird. Er ist sich seines Unvermögens bewusst und folgt der Berufung nur, weil Jahwe selbst seine machtvolle Gegenwart zusagt (vi 15f.). Nach allem kann Israels Mannschaft zu ihrem Führer nicht sagen: Herrsche über uns, denn du hast uns aus Midians Hs.nd errettet! Dieses An- gebot — und noch mehr seine Begründung — ist von vornherein unhaltbar und verkehrt, denn nicht Gideon, sondern Jahwe hat errettet. Wenn dies die jüngere Gideontradition, der heilsgeschicht- lichen Darstellungsweise entsprechend, so pointiert hervorgehoben hat, dann tat sie das nicht zuletzt im Blick auf Jahwes Herrschafts- anspruch, der seit Israels Anfängen schon immer durch den Hinweis *) Vgl. Ri. vii 8. 23. Dass ihn andererseits auch der Deuteronomist anzuwenden liebte, wird man schwerlich sagen können.
  • 22. 22 W. BEYERLIN auf Jahwes Heilshandeln begründet worden ist x ). Hat die Tradition den Midianitersieg mit solcher Vehemenz als Jahwes Heilstat dar- gestellt, wie lässt sich dann eine andere Herrschaft als die Jahwes anstreben und rechtfertigen? Im Gideonspruch wird die Antwort gegeben, die die heilsgeschichtliche Darstellung in Ri. vi und vii erheischt: „Nicht ich will über euch herrschen, und nicht mein Sohn soll über euch herrschen Jahwe soll über euch herrschen!" In diesem Wort wird imgrunde nur nur noch die Bilanz gezogen aus der Dar- stellung der jüngeren Gideontradition: Jahwe allein hat geholfen — Jahwe allein soll auch herrschen! So erweist sich jenes Wort auch in sachlicher Beziehung als ein organischer Bestandteil der jüngeren Gideonüberlieferung. Dass es seine Entstehung nicht einer Gedankenspielerei, sondern einem konkreten geschichtlichen Anlass verdankt, ist keine Frage. In jener Traditionsbildung wird Stellung genommen gegen eine Bewegung, die Hilfe und Rettung für Israel durch die Einrichtung einer dynastischen Herrschaft im Bereich des Stämmebunds sicher- zustellen suchte. Da man im alten Orient allenthalben von der Herr- schaft des Königs Rettung und Erlösung erhoffte 2), lässt es sich leicht verstehen, dass auch im Bereich des alten Israel der Gedanke an eine solche Rettung verschaffende Institution eindringen und an Boden gewinnen konnte. Spätestens in der Zeit der Philisternot war dann tatsächlich das Verlangen nach einem Königtum „wie bei allen Völkern", das die Errettung aus Feindesnot bringen sollte, unabweisbar gross geworden3). Dass in dieser geschichtlichen Situation weite Kreise des israelitischen Volks bereit waren, sich einer menschlichen Herrschaft auf längere Sicht zu unterstellen, sofern man von ihr Rettung erhoffen konnte, geht aus 1. Sam. χ 27a hervor: Hier ist von einer oppositionellen Bewegung die Rede, die gegen eine Herrschaft des Benjaminiten Saul allein darum Be­ denken hat, weil sie an seiner Fähigkeit, Hilfe und Rettung zu ver- x ) So sind die Bundesforderungen des Dekalogs, wie gesagt, in einem heils- geschichtlichen Prolog fundiert (Ex. xx 2). Und so ist die auf Bundesgehorsam dringende Mahnrede im Eingang der Gideonerzählung durch ein heilsgeschicht- liches Vorwort vorbereitet (Ri. vi 7-10). 2 ) Vgl. hierzu etwa R. DE VAUX, Das Alte Testament und seine Lebensordnungen I, pp. 179f.; ferner auch R. MAYER, „Der Erlöserkönig des Alten Testamentes", Münchener Theologische Zeitschrift 3, 1952, pp. 228ÍF. 8 ) Vgl. 1. Sam. viii und dazu A. WEISER, „Samuel und die Vorgeschichte des israelitischen Königtums", ZThK 57, 1960, pp. 141ff.; ferner A. ALT, „Die Staatenbildung der Israeliten in Palästina" (1930), Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel II, München 1953, pp. 24ff.
  • 23. RICHTER VI-VIII 23 schaffen, zweifelt. Von diesem personell bedingten Vorbehalt abge- sehen, ist hier aber jedenfalls der Wille, menschliche Herrschaft zu akzeptieren, wenn sie Hilfe und Rettung verspricht, historisch greifbar. Dass diese Bereitschaft auch schon vor der Philisterkrise zutage getreten sein kann, — dass sie sogar schon gegenüber dem in Not bewährten Gideon an den Tag gelegt worden sein kann, erscheint nicht ausgeschlossen. Umso weniger, als dieser nach Ri. viii 30 und ix 2 über eine ansehnliche Hausmacht verfügte und über den damaligen Stadtstaat Sichern bereits eine Herrschaft ausgeübt zu haben scheint. Aber wie dem auch sei, jedenfalls waren in der Zeit zwischen Gideon und Saul Bestrebungen im Gang, Israel einer menschlichen Herrschaft zu unterstellen, die seine Rettung in Feindes- not garantieren sollte. Dass aber eine Institution, wie sie hier angestrebt wurde, der heilsgeschichtlichen Tradition des sakralen Stämmebundes von Grund auf zuwider sein musste, ist verständlich. Diese kannte ja nur einen Helfer: den Gott von Ägypten her. Sie begründete nur eine Herr- schaft: die Herrschaft dieses Gottes. Eine Regierung in Israel, die sich nicht der Herrschaft Jahwes unterordnete, — die sein Helfen und Herrschen zu ihrer eigenen Sache machte, musste auf die Ab- lehnung dieser heilsgeschichtlichen Tradition stossen. Ein mensch- liches Regiment, das zu seiner Begründung eine Heilstat Jahwes usurpiert, muss von der amphiktyonischen Tradition verworfen werden. Denn davon, dass Jahwe uneingeschränkt Israels alleiniger Helfer und Herr bleibt, ist der Bestand der Amphiktyonie, die in der Jahweverehrung ihren einzigen Zusammenhalt hat, schlechter- dings abhängig x). So wird deutlich, dass der Stämmeverband, aus dessen Mitte die jüngere Gideonüberlieferung insgesamt hervorge- gangen ist, auch hinter der Ablehnung menschlich-dynastischer Herrschaft im Gideonspruch steht. * * * Fassen wir die Ergebnisse unserer Untersuchung %usammeny so ergibt sich: 1.) In den späteren Elementen der Gideontradition hat der sakrale Stämmebund den Midianitersieg einer einzigen Sippe in Israel zu seiner eigenen Sache gemacht. 2.) hat er damit dieses aktuelle Geschehen ins Licht seiner alten heilsgeschichtlichen Tradition gerückt und in ihm die Fortführung der Heilsgeschichte erkannt, die in der Berufung des Mose und in der Errettung aus Ägypten ihren *) Vgl. dazu auch K.-H. BERNHARDT, a.a.O., p. 157.
  • 24. 24 W. BEYERLIN Anfang nahm. 3.) hat der Stämmebund nun den Sieg über Midian in derselben Weise dargestellt, in der die heilsgeschichtliche Tradition durchweg von Jahwes Heilstaten berichtet. Hieraus erklären sich hin- reichend sämtliche Eigenheiten der Kriegsdarstellung in Ri. vii. Und 4.) ist der Stämmeverband, nachdem er in Gideons Sieg die aktuelle Ret- tertat seines Gottes erkannt hatte, im Gideonspruch einer Bewegung entgegengetreten, die Israels Rettung aus Feindesnot dadurch er- erstrebte, dass sie es menschlicher Herrschaft zu unterstellen suchte. Was aber ergibt sich nach allem für die Fragestellung, von der die Untersuchung ausgegangen ist? In welchem Verhältnis %ur historischen Wirklichkeit steht die jüngere Gideontradition? Feststeht, dass sie letztlich auf einem realen geschichtlichen Ereignis beruht: auf der erfolgreichen Abwehr midianitischer Eindringlinge durch die Abies- riten. Was sie erlebt und erstritten hatten, das erwies sich hernach als von grösserer Tragweite: Der gesamtisraelitische Stämmeverband bezog das Geschehen auf sich und löste es dabei aus seiner lokalen- partikularen Beschänkung. Darin aber vollzog sich ein weiterer durchaus geschichtlicher Vorgang: die Einordnung eines historischen Faktums in einen neuen geschichtlichen Rahmen, — in den Rahmen, den die Institution des israelitischen Stämmeverbands bildete. Ein- gepflanzt in diesen neuen historischen Sitz im Leben, entfaltete sich nun die Überlieferung von Gideons Midianitersieg zu ihrer jetzigen Gestalt. Was ihre Entfaltung antrieb und steuerte, ist offenkundig: Es ist der Erkenntnisdrang der Jahwegemeinde, der im abiesritischen Sieg über Midian den noch immer lebendigen Heilswillen Jahwes erkannte. Der Stämmebund konnte diesen Sieg nicht eher verstehen, als bis er ihn eingeordnet hatte in seine heilsgeschichtliche Tradi- tion, — als bis er ihn dargestellt hatte, den früheren Heilstaten Jahwes entsprechend. Und der Stämmebund konnte auch Gideons Bedeutung erst erfassen, als er ihn in der Nachfolge Moses sah und ihn in der- selben Weise wie Mose berufen wusste. Aber auch was zur Entstehung des Gideonspruches geführt hat, ist unverkennbar eine Frage, die der Gang der Geschichte aufwarf. So ist nach allem deutlich, dass die jüngere Gideontradition in mannigfacher Weise in der historischen Wirklichkeit wurzelt. Sie ist in jeder Hinsicht aus der Auseinander- setzung mit geschichtlichen Realitäten erwachsen. Die treibende Kraft bei dieser Auseinandersetzung ist einmal die Überzeugung, dass Gott eine Geschichte des Heils mit den Vätern begonnen hat, und zum andern die Bereitschaft, den Fortgang dieses Heilshandelns in jeder neuen geschichtlichen Situation zu erwarten. Dass die von
  • 25. RICHTER VI-VIII 25 dieser Bereitschaft und Überzeugung getragene Darstellung der jüngeren Gideontradition sich nicht auf eine rein mechanische Rekonstruktion des äusseren Hergangs der Dinge beschränkt hat, ist offenkundig. Ist es aber nicht ein Vorurteil, zu glauben, nur eine solch* vermeintlich objektive Rekonstruktion hätte Wesen und Bedeutung des Geschehens zutreffend erfassen können? Ist das Geschehene nicht imgrunde tiefer erfasst in einer Tradition, die es im Zusammenhang einer Geschichte sieht und darstellt, in der Gott das Heil seines Volkes wirkt?
  • 26. ^ s Copyright and Use: As an ATLAS user, you may print, download, or send articles for individual use according to fair use as defined by U.S. and international copyright law and as otherwise authorized under your respective ATLAS subscriber agreement. No content may be copied or emailed to multiple sites or publicly posted without the copyright holder(s)' express written permission. Any use, decompiling, reproduction, or distribution of this journal in excess of fair use provisions may be a violation of copyright law. This journal is made available to you through the ATLAS collection with permission from the copyright holder(s). The copyright holder for an entire issue of a journal typically is the journal owner, who also may own the copyright in each article. However, for certain articles, the author of the article may maintain the copyright in the article. Please contact the copyright holder(s) to request permission to use an article or specific work for any use not covered by the fair use provisions of the copyright laws or covered by your respective ATLAS subscriber agreement. For information regarding the copyright holder(s), please refer to the copyright information in the journal, if available, or contact ATLA to request contact information for the copyright holder(s). About ATLAS: The ATLA Serials (ATLAS®) collection contains electronic versions of previously published religion and theology journals reproduced with permission. The ATLAS collection is owned and managed by the American Theological Library Association (ATLA) and received initial funding from Lilly Endowment Inc. The design and final form of this electronic document is the property of the American Theological Library Association.