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Im Ghetto am schönen Horizont
Um den Dokumentarfilm für meine Diplomarbeit zu drehen, besuchte ich im Jahr 2005 einen Monat
lang täglich „Rádio Favela“, ein ehemaliges Piratenradio in der brasilianischen Metropole Belo
Horizonte.
Die Favela "Aglomerado da Serra" ist noch einmal 150 Meter höher gelegen als der
Rest der Stadt, man kann sie schon von Weitem erkennen – das typische Bild der
Favela, viele kleine flache Häuschen, die dicht an dicht an den Bergen kleben, es
scheint fast, als seien die Hügel selbst aus den rötlichen Ziegelsteinen gebaut.
Ich nehme den Bus 8150 bis Endstation Serra. Dann kommt der steile Anstieg, vorbei
an der "Bar do Cipó", dem Treffpunkt kurz vor der Favela, der "Polícia Militar", dem
neuen Haus des Projektes "Criança Esperanca", einem sozialen Treffpunkt für
Kinder. Es gibt mehrere Wege hinein und hinaus aus der "Vila Nossa Senhora da
Fatima", so heißt dieser Teil der Favela. Wenn ich zum Radio gehe, nehme ich einen
längeren Umweg, der aber nicht so steil ist. Zwischen zwei Häusern durch den
"Beco" (brasilianisch für Gasse). Der Weg ist schmal, zwei Menschen kommen
gerade aneinander vorbei. Es läuft sich gut, dieser "Beco" ist asphaltiert. An anderen
Stellen geht es auf ausgetreten Pfaden aus rutschiger Erde den Berg hinauf und man
muss aufpassen, nicht in einen Hundeschiss zu treten.
In vielen Teilen der Favela lässt die Stadt die Wege befestigen, Stufen aus Beton
führen von der Hauptstraße aus in die oberen und unteren Teile der Favela. Seit
einigen Jahren bemüht sich die Stadt um die Favelas. In "Aglomerado da Serra" gibt
es zwei asphaltierte Straßen und seit einigen Jahren auch Leitungswasser und
Strom. Die Häuser allerdings sind teilweise in lebensgefährlichem Zustand. Auf
dünnen Betonstelen errichtet, kleben sie an den Hängen. Kommt die Regenzeit
zwischen November und März, werden einige der Baracken einfach herab gespült.
2003 begrub eine der Behausungen eine vierköpfige Familie. Einige Arbeiter der
Stadt sind unterwegs und räumen stark gefährdete Wohnungen. Die Bewohner
werden umgesiedelt an den Rand der Stadt in Sozialwohnungen, die ihnen zu einem
"günstigen" Mietpreis überlassen werden, der für die "Favelados" allerdings kaum
bezahlbar ist. Lieber bleiben sie in einem der von Hand gebauten, kleinen Häuschen
aus Ziegelsteinen, zwischen denen der Mörtel hervorquillt.
Auf den zwei befahrbaren Straßen, die sich durch das gesamte "Aglomerado da
Serra" schlängeln, fahren nur wenige Autos und an vielen Stellen passt jeweils nur
ein Fahrzeug durch die Straße.
Wenn Gegenverkehr kommt, müssen alle warten. Seit neuestem verkehrt ein
favelainternes öffentliches Verkehrsmittel, ein Minibus, auf Initiative von "Radio
Favela". Jetzt müssen die Arbeitnehmer des Viertels nicht mehr drei bis sieben
Kilometer zu Fuß zurücklegen, bis sie an der regulären Bushaltestelle vor der Favela
ankommen.
Es hat sich viel getan in den letzten 20 Jahren. Straßenbefestigung,
Wasseranschluss, Elektrizität, Abwasserkanäle, Telefonanschluss. Vieles davon
wurde erst möglich, nachdem Misstände über das Radio verbreitet wurden und
Politiker darauf aufmerksam machten. "Radio Favela" ist nicht gegen den Staat, sagt
Nerimar. Es ist gegen korrupte Politiker und Polizeibeamte und fordert die gleichen
Bürgerrechte für alle Bewohner der Stadt.
Kleine Bars, Friseure und Geschäfte säumen die Strasse. Kinder spielen, alte
Männer sitzen auf den Eingangsstufen, Frauen gehen zur Arbeit, und Hunde laufen
herum, schnüffeln im Abfall. Ab und zu ruft einer etwas zu mir rüber, "O Lourinha",
das heißt soviel wie kleine Blonde. Ich bin so ziemlich die einzige Hellhäutige. Misael,
mein Chef und prominenter Begründer von "Radio Favela" sagt, es sei leicht hier auf
mich aufzupassen: „Como um grão de arroz entre o feijão.“, "wie ein weißes
Reiskorn zwischen schwarzen Bohnen", das findet man schnell. Oder wie "Mosca na
leite", "eine Fliege in der Milch", die sieht man auch sofort. Diesen Vergleich finde ich
weniger appetitlich.
Rassismus ist ein Thema das bis heute gerne geleugnet wird in Brasilien. Generell
gilt: je dunkler die Hautfarbe, desto niedriger das soziale Prestige und der soziale
Status (Die Zeit 40/2004, Feuilleton, "Die höfliche Revolution", Evelyn Finger). Die
vielbeschworene "democracia racial", Verfassungsgrundsatz seit 1946, ist in der
Praxis keinesfalls realisiert. Das Land lebte 350 Jahre lang von der Sklaverei, länger
als jedes andre, 10-mal mehr Sklaven als in die USA wurden hierher verschleppt. In
Brasilien hört man oft, es gäbe keine Diskriminierung der Afrobrasilianer, es gäbe
eher eine Diskrimierung der Armen.
Die meisten Armen sind allerdings schwarz, während die mächtige Oberschicht in
Politik und Wirtschaft fast ausnahmslos weiß ist.
Böse gesagt, bis auf den Kulturminister, klischeehafterweise Sambasänger, den
"Vorzeigeschwarzen". Die Kluft zwischen Arm und Reich zeigt sich auch in der
Einkommensverteilung. 1989 verfügten die oberen 20% der Einkommensempfänger
über 67,5% und die ärmsten 20% über lediglich 2,1% des Gesamteinkommens.
Favelabewohner haben eine unverhältnismäßig schlechtere Gesundheitsversorgung,
Zwischen Ernährung und Lebenserwartung, Bildung und Wohnverhältnissen
bestehen ebenfalls krasse Unterschiede.
(http://www.bpb.de/publikationen/52KT3R,1,0,Beispiele_f%FCr_Entwicklungsunterschiede.html)
Nerimar, zweiter Mann der ersten Stunde des Senders, vergleicht die Favela mit den
"Qilombos" des kolonialen Brasiliens. Im 17. Jahrhundert gründeten Sklaven, die es
geschafft hatten, den Großgrundbesitzern zu entfliehen, Siedlungen an sicheren
Orten, in denen sie in Freiheit leben konnten. Von nun an vollzogen sich bittere
Kämpfe zwischen den entflohenen Sklaven und den "Bandeirantes",
schwerbewaffneten Männern mit scharfen Hunden, die sie töten oder auf die
Plantagen zurückbringen sollten. Viele "Quilombos" leisteten erbitterten Widerstand,
konnten jedoch nicht bestehen.
Im Bundesstaat Alagoas sich befand sich siebzig Jahre lang der größte "Quilombo".
Eine unabhängige Siedlung im schwer zugänglichen Urwald mit über 30.000
entflohenen Sklaven. Sie hatten gegen die schlechten Arbeits- und
Lebensbedingungen auf den Zuckerrohrplantagen rebelliert. Anführer des
"Quilombos" mit dem Namen die "República dos Palmares", der "Malcolm X"
Brasiliens, hieß Zumbi, der wie ein König herrschte und einen unabhängigen
schwarzen Staat gründen wollte. In der "República dos Palmares" gab es eigene
Gesetze, organisierte Landwirtschaft und Viehhaltung. Zumbi gründete ein Heer und
leistete den Kolonialtruppen erbitterten Widerstand. 1699, nach 40 Niederlagen
gelang es den "Bandeirantes" schließlich doch "Palmares" nach langer Belagerung
dem Erdboden gleichzumachen. (http://www.conhecimentosgerais.com.br/historia-do-
brasil/sociedade-colonial.html)
Für die Identitätsbildung der Favelabewohner ist das Wissen um die "Black History"
Brasiliens fundamental und hier sieht "Radio Favela" seinen Bildungsauftrag. In den
Favelas leben zu 90% Nachfahren von Sklaven auf illegal bebautem Grund.
Ein paar Leute kenne ich hier jetzt. Teresinha und Rosa in ihrem Imbiss, in einem
Topf kocht die Fleischfüllung für das Salzgebäck, es duftet bis auf die Strasse. Vorbei
am Herrenfriseur, dort lassen sich die Männer rasieren. Hoffentlich humpelt nicht der
verrückte Alte vorbei, seine Kleidung besteht aus braunen Lumpen und manchmal ist
er komplett nackt darunter. An manchen Tagen sind viele Leute besonders schick
angezogen, mit Anzug und weißem Hemd, ein Gesangsbuch unterm Arm, geht es in
die Kirche. An fast jeder Ecke gibt es ein Gebäude, "Igreja Batista" oder "Assembléia
de Deus" steht über dem Portal geschrieben. Besonders die sektenhaft organisierten
Evangelisten haben eine starke Gemeinde.
Kurz vor dem Radiosender kommt mir Fernanda entgegen, pechschwarz, dürr,
immer ein Baseballcap auf dem Kopf. Sie fummelt an dem BH, den sie unter ihrem
Häkeltop trägt und kommentiert dies lautstark. Ich kann sie kaum verstehen. Sie
spricht starken Slang und wenn sie lacht, sieht man die kaputten Zähne. Ich glaube,
sie ist auch nicht mehr ganz richtig im Kopf, seit fünf Jahren ist sie HIV-positiv und ich
möchte nicht wissen müssen, womit sie ihr Geld verdient hat. Bei Cipó in der Bar hat
mich Misael einem Mann vorgestellt, der in seiner Kindheit als Sklave gehalten
wurde, mitten in der Favela. Festgekettet musste er im Badezimmer schlafen, bis er
eines Tages Freunde fand und befreit wurde. Dies ist ein Ort voller Geschichten,
traurige und schöne. Die Zeit vergeht langsamer hier, für einen kleinen Plausch ist
man immer bereit. Es sind Nachbarn und Freunde, viele kennen sich seit ihrer
Jugend. So muss es in Deutschlands Städten im Mittelalter gewesen sein, oder in
den Arbeitersiedlungen zur Zeit der Industrialisierung, so ist es sicherlich noch immer
in kleinen Dörfern auf dem Land.
Katia, Putzfrau beim Radio erklärt: "Favela. Das ist so wie bei einem Indianerstamm,
alle sind immer zusammen.“ Die Familien sind kinderreich, überall wird gespielt, die
flachen Dächer eignen sich ideal, um von dort aus die selbst gebastelten Drachen
steigen zu lassen, meterhoch wirbeln sie bis weit über die höchstgelegenen
Baracken hinaus. Aus vielen Häusern klingt Musik, das Radio wird aufgedreht oder
eine CD eingelegt, man stört sich nicht am Lärm der Nachbarn, der sich mit der
gesamten Geräuschkulisse vermischt, dem Sound des Lebens, der Menschen.
In der Rua Flor de Maio befindet sich "Rádio Favela", der Graffiti-Schriftzug auf dem
schweren, eisernen Schiebetor ist schon ziemlich verblasst und angerostet. Meistens
ist es offen, gegenüber dem Radio befindet sich eine kleine Spielhalle und eine Bar.
Auf den Stufen vorm Radio treffen sich täglich Celso und seine Freunde. Manchmal
bringen sie Berimbau und Tamburin mit und üben den typischen Rhythmus mit dem
der Kampftanz "Capoeira" begleitet wird.
Das Radio ist ein zweistöckiges Gebäude. Im ersten Stock sitzt Deisiane, die
Tochter von Misael, an Computer und Telefon. Sie macht die Verwaltung und studiert
nebenher. Die Wände hängen voller Urkunden und Fotos. Auf einem Schrank
verstauben verschiedenste Pokale und Preise. Nebenan befindet sich ein kleines
Studio, Regale voller CDs und Platten, die hier nach und nach digitalisiert werden.
Und ein weiterer Raum ist hier, Tische, Stühle, eine Tafel. Es ist das radiointerne
Klassenzimmer. Schulmaterialien werden vom Radio gestellt.
Natürlich gibt es öffentliche Schulen für die Favelakinder. Doch die Ausbildung dort
ist so schlecht, daß viele Schüler nach Jahren noch nicht richtig schreiben und lesen
können. Die Lehrer dieser Schulen sind selbst schlecht ausgebildet und bezahlt, und
so sind die Chancen auf einen hochwertigen Schulabschluss und damit auf ein
Studium an der Universität verschwindend gering. Kaum einer schafft den Abschluss
"segundo grao", der der der neunten Klasse entspricht. Deisiane ist die einzige
Schülerin im ganzen Viertel, die die Qualifikation zum Besuch einer Universität
erreicht hat.
Oben im zweiten Stock befindet sich das Herzstück des Radios: das verglaste Studio
mit Blick auf fast die ganze Stadt. Zwei Hügel des "Aglomerado da Serra", dahinter
die Hochaustürme der Stadtviertel Floresta, Centro und Santa Efigênia.
Wolkenkratzer und Hochhäuser verschwimmen am Horizont im blauen Dunst, bis zu
den grünblauen Bergen. Das Studio ist technisch gut ausgerüstet- Sennheiser-
Mikrofone, Computer, Internetanschluss. Es gibt sieben festangestellte Mitarbeiter
bei "Radio Favela", davon sind zwei bezahlt. Alle anderen sind Teil der Familie oder
Freunde.
Nerimar Teixeira und Misael Santos, beide Mitte vierzig, kennen sich seit ihrer
Kindheit. Sie sind die Begründer von "Radio Favela". Misael moderiert das
Programm "Superpopular", von um Acht bis um Zehn.
Er begrüßt alle Bewohner der Stadtviertel und wünscht ihnen einen Guten Morgen:
"Bom dia para todos Moradores do Betim, Contagem, Barreiro, Aglomerado da
Serra…" usw. Diese Leute grüßt kein anderes Radio der Stadt und auch sonst
niemand. Es sind die Bewohner der einkommensschwächsten Stadtteile und die
meistdiskriminierten. Misael und Nerimar sind auch zuständig für die stündlichen
Nachrichten. Diese beziehen sie, wie alle anderen Radios auch, aus Zeitung,
Fernsehen und Internet. Zusätzlich kommen die "Boca-a-Boca", die "Nachrichten von
Mund zu Mund", dazu. Ist irgendetwas los im "Aglomerado", erfährt das Radio es
meist als allererstes.
"Radio Favela" klingt anders die klassischen Radiostationen, denn seine Sprache ist
die der Straße, Umgangssprache, Favelaslang. Es wird berichtet, was interessiert.
Zum Beispiel, dass die Erste-Hilfe-Posten am Rosenmontag nicht geschlossen sind,
wie in den Jahren zuvor. Dass die Ausgaben des Rathauses für den eigenen Bedarf
um 72,5% angehoben werden und jeder Stadtrat jetzt R$ 7.155 verdient, früher
waren es R$ 4.500. Hörer rufen an und diskutieren live. Jeder Bürger hat die
Möglichkeit seine Meinung mittels "Radio Favela" "on air" zu äußern. Andere Medien,
wie TV und Presse, erfahren dadurch vieles später als "Radio Favela".
Die Gewerkschaftler der Omnibusfahrer haben jeden Samstagvormittag ein festes
Programm und diskutieren über Arbeitsrecht und die niedrigen Löhne. Sonntags
kommt die 79-jährige Dona Mariquinha vorbei und macht ihre Sendung "Robertao
und die Probleme, die jeder so hat". Gespielt wird nur Musik des Schlagersängers
Roberto Carlos, während Mariquinha am Telefon praktische Lebenstips gibt.
Bei "Radio Favela" liegen immer mal wieder Personalausweise herum. Wer seinen
verliert, ruft bei "Radio Favela" an und fragt. Wer einen findet, bringt ihn vorbei. Auch
für Kleinanzeigen ist sich "Radio Favela" nicht schade. Maria Regina will ein
Ergometer haben. Wer eins zu verkaufen habe, solle bei Radio Favela anrufen.
"Quilombo Favela" ist ein Programm, das sich mit dem Thema Rassismus
beschäftigt. Nerimar und Misael betonen immer wieder, wie wichtig es ist, das
Selbstbewusstsein der Favelabewohner zu stärken. Viele Menschen hier wissen
nicht um ihre Rechte, nehmen versteckten Rassismus und Diskriminierung als
unveränderliche Realitäten hin.
Großen Erfolg hat die Sendung "Uai Rap Soul" mit brasilianischem Hip Hop. Das
Telefon steht kaum still, viele Jugendliche rufen an und wünschen sich Musik oder
grüßen ihre Freunde. Misaels Sohn, der 20-jährige Misinha, präsentiert das
Programm. Seit er fünf ist, moderiert er mit. "Radio Favela" hat ein eigenes
Fußballteam, das aus Freunden und Bekannten besteht, alles Anwohner des
"Aglomerado".
Die Musik bei "Radio Favela" ist bunt gemischt, aber eindeutig brasilianisch. Samba,
brasilianische Popmusik, elektronische Musik, Schlager – für jeden Geschmack wird
zu verschiedenen Tageszeiten etwas geboten. Klassische Musik wird nicht gespielt,
genauso wenig wie amerikanische Charts. Stattdessen lässt man sich gerne zu
einem Track der deutschen Soulsängerin Joy Denalane überreden.
Immer wieder kommt Besuch. Studenten oder Journalisten, die sich informieren
wollen, Ausländer aus Italien, Dänemark oder Frankreich haben hier ihre Praktika
gemacht oder Diplomarbeiten geschrieben. Neugierige Hörer sind genauso
willkommen, wie Mitglieder von Hip Hop-Bands, die ihre Platten vorstellen wollen.
Aber auch umgekehrt funktioniert der Austausch, im vergangenen Jahr wurden
Misael und Nerimar in die Schweiz zu einem Kongress der freien Radios eingeladen.
Von dem Balkon des Radios aus, hat man einen wunderschönen Blick über die
Stadt. Überall steigen Drachen aus Plastikfolie empor. Ein Schwarm Tauben zieht
wieder und wieder seine Kreise über dem Tal. Scheinbar aus purer Freude an der
Geschwindigkeit. Ihre Schatten huschen über die Ziegelmauern. Bunte Wäsche an
Leinen auf den Dächern, Mango- und Avocadobäume wachsen in den
Zwischenräumen, Bananenstauden begrünen die steilen Hänge. Ab und zu ein
Schuttplatz. Da stand mal ein Haus, das vom Regen weggewaschen wurde.
Im "Aglomerado da Serra" gibt es noch fünf weitere, nicht legale Radiosender. Drei
davon sind "Evangelicas" und werden von Freikirchen betrieben. Die anderen beiden
senden unregelmäßig, hauptsächlich Musik. Im vergangenen Jahr, lese ich in der
Zeitung, wurden 17 Piratenradios im "Aglomerado da Serra" geschlossen. Deisiane
erklärt, das hinge mit der Wahl des Bürgermeisters zusammen. Viele der Sender
seien von Kandidaten betrieben worden.
Das verstehe ich nicht. Sie erklärt, zur Wahlperiode verbreiteten die Kandidaten ihre
Wahlprogramme über illegale Sender, die nach Ende der Wahl, ganz nach Vorschrift,
von der Polizei geschlossen würden.
"Radio Favela" ist ein “rádio educativa“, ein Bildungsradio. Bis über 300 Kilometer vor
der Stadt kann man "Rádio Favela FM" empfangen. Erst vor wenigen Jahren gab es
eine Konzession der Regierung und damit die legale Sendeerlaubnis auf dem Kanal
106.7 MHz für das gesamte Einzugsgebiet um Belo Horizonte.
Es hat die Auflage, nicht gewinnorientiert zu arbeiten, und muss verschiedene
Gesetzesauflagen erfüllen, z. B. die "Voz do Brasil" des "Rádio Nacional" zwischen
19 und 20 Uhr übertragen, ein Programm der Regierung. Das Gesetz zur
obligatorischen Sendung der "Voz do Brasil" stammt noch aus der Regierungszeit
Gétulio Vargas' und ist über 60 Jahre alt. Eigentlich längst überholt. Trotzdem, falls
bei "Rádio Favela" in der angegebenen Zeit mal wieder eine technische Panne
passiert und die Übertragung ausfällt, drohen hohe Geldstrafen. Gerade läuft ein
Prozess in dem "Rádio Favela" aufgrund der Nichtübertragung der "Voz" der
vergangenen Jahre angeklagt ist.
Von 1981 bis 2000 sendete "Rádio Favela" illegal. Alles begann Ende der siebziger
Jahre. Misael Avelino dos Santos und Nerimar Teixeira sind Jugendliche,
aufgewachsen in der "Favela Aglomerado da Serra" und beste Kumpel. Mit einer
Gruppe von Freunden hören sie Musik und organisieren Parties in den Straßen. Zu
dieser Zeit beginnt der organisierte Drogenhandel sich vor Ort zu etablieren. Um
dieser Gefahr etwas entgegenzusetzen, wollen die Freunde durch kulturelle
Aktivitäten, Musik und Aktionen das Selbstbewusstsein der jugendlichen
Favelabewohner stärken und über Diskriminierung und Rassismus aufklären. Zu
diesem Zweck montieren sie einen selbstgebauten Radiosender. Plattenspieler und
Sendegerät betreiben sie mit Hilfe einer Autobatterie, denn in der Favela gab es zu
der Zeit keine geregelte Stromversorgung. Zuerst senden die Macher nur
unregelmäßig und aus Spaß. Für Misael und Nerimar wird es jedoch bald weit mehr
als eine technische Spielerei. Während Misael in der Stadt Autos wäscht und
nebenbei als DJ Hip Hop-Platten auf Parties auflegt, arbeitet Nerimar in einer
Stahlfabrik.
Zusammen bringen sie das Geld auf, um sich besseres Radioequipment zu kaufen.
Nerimar ist der Techniker, Misael moderiert. Hatten sie vorher mit nur wenigen Watt
gesendet, erreicht ihr Radio nun die ganze Stadt.
Da sie mit dem Betrieb eines nicht autorisierten Senders gegen das Rundfunkgesetz
verstoßen, müssen sie ständig einen Ortswechsel vornehmen, um der Polizei zu
entgehen. Radio Favela sendet immer aus einer anderen Baracke des "Aglomerado
da Serra", die Anwohner helfen gerne, die Jungs und ihr mobiles Equipment zu
verstecken. So kommt es, dass immer mehr Menschen an dem Projekt teilhaben.
Trotzdem, zwischen 1982 und 1997 greift die Polizei, beauftragt vom DENTEL
(Departamento Nacional de Telecomunicações) fünfmal gewaltsam ein,
beschlagnahmt den Sender, zerstört Teile der Einrichtung und nimmt die Betreiber
fest. Misael trägt auf Rücken, Brust und Armgelenken die Narben von Schlägen und
Handschellen. Mit Hilfe der Gemeinschaft der Favelabewohner gelang es jedoch
immer wieder, das Radio "on air" gehen zu lassen. Der größte Übergriff der Polizei
war zugleich der letzte. Im Jahr 1997 versammelten sich über zweihundert Militär-
und Staatspolizisten, zwei Helikopter mit Scharfschützen kreisten über dem
"Aglomerado da Serra", um die Macher von "Rádio Favela" festzunehmen. Die
Polizei in Brasilien ist oft korrupt, manchmal schieben die Beamten ihren Opfern
Drogen unter, um sie dann zu erpressen.
Der Rückhalt in der Bevölkerung war jedoch so stark, dass man die Radiobetreiber
sie nach zwölf Stunden wieder freiließ. Die "Favelados" kampierten vor dem
Polizeigebäude, bis Misael freigelassen wurde und besorgten Anwälte. Misael erzählt
gern, wie an jenem Tag im Polizeipräsidium keiner der kleineren Beamten seine
Inhaftierung unterschreiben wollte, da sie alle Hörer von "Rádio Favela" waren. Der
Sender hatte sich längst Respekt in der ganzen Stadt verschafft, aber die
Anweisungen zur Schließung des Radios waren von der Regierung bzw. dem
"Ministerio das Comunicações" gekommen. Nach zwölf Stunden Haft wurden die
Radiomacher freigelassen. Mittlerweile hat der kleine Sender drei Preise der UNO für
den Kampf gegen den Drogenmissbrauch bekommen.
2002 wurde vor Ort ein Spielfilm "Uma onda no ar" von dem Regisseur Helvécio
Ratton gedreht, der "Rádio Favelas" Bekanntheitsgrad auch außerhalb der Stadt
steigerte. Die Bewohner des "Aglomerado da Serra" sind stolz auf ihr eigenes
Medium.
Der Sender hat einen festen Stamm an Mitarbeitern: Misael, Nerimar, Misaels Sohn
und Tochter, sowie sein Bruder Marcelo. Das Radio bleibt in den Händen der Familie,
weil es sich bezahlte Mitarbeiter kaum leisten kann. Trotzdem betont Misael, "Jeder,
der etwas sagen will im Radio, kann vorbeikommen." Urlaub haben die Radiomacher
eigentlich nie, denn das Radio muss 24 Stunden am Tag senden. Bis um vier
moderiert jemand, danach läuft der Computer.
Mitte der Neunziger gab es ein Projekt, welches delinquenten Jugendlichen helfen
sollte, von der Straße wegzukommen. Übriggeblieben ist Hudson, der ab und zu
Reportagen per Telefon für "Rádio Favela" macht. Bei Bandenkriegen hat er ein Auge
verloren, sein Körper ist von mehreren Kugeln durchschossen. Er betont, durch
"Rádio Favela" habe er sein Leben ändern können und seinen "Revolver gegen ein
Radio getauscht". Heute gibt es dieses Projekt nicht mehr. In jener Zeit sei viel
technisches Gerät kaputt gegangen. Und auch andere Leute lässt Misael nicht mehr
so gern in den Sender. Zwei ehemalige Mitarbeiter haben nicht nur das Radio um
Geld von Anzeigekunden betrogen, sondern es danach verklagt, da es ihre Mitarbeit
nicht finanziell entlohnt hatte. Ohne ehrenamtliche Helfer könnte "Rádio Favela"
jedoch gar nicht existieren. Es finanziert sich durch Anzeigekunden wie z.B. den
Telefonanbieter Telemar und lokale Geschäfte. Ein Zahnarzt inseriert beim Radio und
behandelt dafür kostenlos die Zähne von bedürftigen Kindern. Misael ist ein
unglaublich energischer Mensch. Den ganzen Tag ist er unterwegs, er ist auch
derjenige, der das Radio in der Öffentlichkeit vertritt. Er ist stolz darauf, wie oft über
"Rádio Favela" in den anderen Medien berichtet wird.
Ich fahre mit Misael in die Stadt zum Rathaus, um den Bezirksabgeordneten Antonio
Pinheiro zu besuchen. Das Radio sei so wichtig, weil es glaubwürdig ist, sagt er. Die
Probleme in der Stadt sind Armut, mangelnde Gesundheit und Obdachlosigkeit. Eine
Journalistin von des hauseigenen TV- Senders ist auch zugegen und interviewt mich
über mein Filmprojekt und Misael über das Radio. Sie lässt sich die Website des
Senders zeigen.
Dann erzählt sie, einer ihrer Kollegen sei vor kurzem in der Nähe einer Favela mit
einer Waffe bedroht worden. Misael erklärt, das sei passiert, weil die Jugendlichen
nachmachen würden, was sie im Fernsehen sehen. Am vorigen Abend sei ich noch
alleine Nachts in der Favela herumgelaufen und mir sei nichts passiert.
Die Journalistin staunt. Das stimmt auch, ich war mit den Radioleuten auf einem
Grillfest. Allerdings innerhalb der Favela. Vor der Favela hielt ich mich nach Einbruch
der Dunkelheit nie ohne Begleitung auf. Deisiane hat mich meistens mit zur
Bushaltestelle begleitet.
Das Problem ist, dass einige Straßen, die in die Favela führen, als
Drogenumschlagplatz dienen. Es sind die "Bocas", "Münder". Hier trauen sich die
weißen Mittelstandskids mit ihren VW Golfs noch hin, um Marihuana oder Kokain zu
kaufen. Und da könnte es unangenehm werden, wenn jemand auftaucht, den keiner
kennt. Ich kann mir schon vorstellen, dass Journalisten dort nicht gerne gesehen
sind. Aber das sage ich nicht. Misaels Mutter Dona Nair, die gleich unterhalb des
Radios wohnt, hat mich neulich auch ordentlich ausgeschimpft: „Was, du läufst hier
mit deiner Videokamera auf der Straße rum? Hat dir Misael das nicht gesagt, daß du
das nicht machen kannst?“ Für die wenigen Meter zurück gab sie mir eine Plastiktüte
mit, um das Gerät zu verstecken, damit es mir nicht geklaut wird. Es war helllichter
Tag und ich machte Außenaufnahmen. Aber sie hatte wohl recht. Es gibt in der
Favela Cracksüchtige, die das Wenige ihrer eigenen Nachbarn klauen. Es gibt 15-
jährige, die vergewaltigt und gemordet haben. Nur dass ich sie nie gesehen habe, ich
hatte mich sicher gefühlt, denn "Rádio Favela" passt gut auf mich auf.
Die Welt der Drogenkrimialität nennt Misael "O Mundo Paralel", "die Parallelwelt". Sie
existiert und so richtig etwas dagegen tun kann man nicht. Die Drogenbosse zwingen
niemand mit vorgehaltener Waffe zum Dealer zu werden, sagt Misael, doch wer dort
mitmache, wolle nicht, dass seine Familie lebt. Das Radio wendet sich an diese
Menschen, appelliert an das Gewissen und die Werte der Familie, erklärt wie wichtig
es ist, Bildung zu erlangen, in Würde zu leben und sich nicht zu schämen, arm und
aus der Favela zu sein.
Es gibt eine brandneue Musikrichtung, die bei Radio Favela nicht gespielt wird, den
"Baile Funk". "Musica dos Bandidos", „Gangstermusik“ nennt Misael diese. Es ist der
neueste Hype aus den Favelas, der mittlerweile auch in Europa bekannt wird. So
taucht sie als Werbemusik für einen Jeep von Nissan auf, anscheinend in völliger
Unkenntnis der Texte. Musikalisch relativ einfach zusammengesampelte Beats, dazu
Sprechgesang der schlimmer ist als der härteste amerikanische Gansterrap.
Es sind Texte, die den gröbsten, gewalttätigsten, sexistischsten Machos gefallen,
dazu auffordern, Frauen und Kinder zu missbrauchen, verbreitete Vorurteile gegen
schwarze Frauen der Unterschicht verstärken. Dazu tanzen die "Traficantes" (Dealer)
mit gezogener Waffe, nicht selten kommt es zu Todesfällen.
Alle paar Monate organisiert Misael mit seinem Sohn Hip Hop Konzerte. Seit den
Neunzigern boomt nationaler Hip Hop vor allem bei den sozial benachteiligten
Jugendlichen. Die Texte betonen, wie wichtig es ist, sich nicht vom "richtigen Weg"
abbringen zu lassen, dass Kriminalität nichts bringt, beschreiben das tagtägliche
Leben.
Der Titel von SNJ ("Somos Nós a Justiça", "Wir sind die Gerechtigkeit") wird immer
wieder in Misaels Sohn Misinhas Hip Hop Sendung gewünscht. Ich füge einen
Textauszug als Beispiel an.
SNJ – Pensamentos
Necessidade pra gente já é normal
A gente sabe desse jeito até o final
Só que viveremos com dignidade
Pois somos ricos de pensamentos sonhos de verdade
Pobres, de onde viemos vielas e becos
Sao milhares que nascem, morrem no gueto
O coracao aberta o bem ambicioso na vida
Nada se leva enquanto vai dechars pros outros …
Gedanken
Die Not ist schon normal für uns
Wir wissen das bis zum Lebensende
Nur wenn wir mit Würde leben
Denn wir sind reich im Denken, Träume der Realität
Arm, kommen wir von dort wo enge Gassen sind
Es sind Millionen, die geboren werden und sterben im Ghetto
Das Herz offen und begierig auf das Leben
nichts wird sich bessern, wenn du es den anderen überlässt…
Am Samstag ist ein Konzert von SNJ und anderen Bands, Misinha und Macalé legen
Platten auf bis die Bands auftreten, während Misael am Einlass steht. Einige
Jugendliche laufen mit Videokameras herum. Sie partizipieren an dem neuen Projekt,
TV- Favela. Misael plant nämlich schon seit längerem einen freien Fernsehkanal von
Favelabewohnern für Favelabewohnern. Dazu ist Sergio engagiert, ein
Fersehreporter und Kameramann, der Workshops für die Kids organisiert.
Das Konzert ist ein voller Erfolg. Drei Bands treten auf, SNJ, der Hauptact erst nach
zwei Uhr nachts. Alle sind da – Misaels Frau Lourdes, Misinha, Deisiane, Hudson.
Alles bewegt sich, tanzt, schwitzt. Vor der Bühne springt die Masse auf und ab. Die
Bässe wummern, die Lautstärke ist ohrenbetäubend. Da zieht mich Lourdes von der
Tanzfläche, komm mit, das musst du dir ansehen. Während im Club die begeisterten
Hip Hop-Fans feierten, hat jemand auf den Eingang geschossen. Ungläubig stolpere
ich hinter Lourdes her. In dem Rolltor aus Aluminium sieht man die Einschusslöcher.
Draußen stehen Polizisten, einer hält einem halbnackten Mann in Shorts und ohne T-
Shirt eine Waffe an den Kopf, schreit ihn an. Das ist das Schlimmste, was ich je
gesehen habe. Lourdes zieht mich am Ärmel, wir gehen wieder rein. Im Club wird
weiter gefeiert, die Band sagt etwas zu dem Vorfall, es seien Leute mit bösen
Absichten gewesen, die den Spaß an der Party verderben wollten. Mir ist dieser auch
vergangen, Hudson und Lourdes tanzen weiter, Misael ist verschwunden.
Ich fahre noch einmal zurück in die Favela, hoch zur Radioantenne. Es ist dunkel.
Wie Millionen von Juwelen funkeln die Lichter der Stadt dort unten. Straßenzüge und
Wolkenkratzer. Die Lichter der Favela sind näher, leuchten gelblich. Die Hunde
beginnen zu bellen, begrüßen den anbrechenden Tag. Das tausendfache Kläffen,
Jaulen und Winseln mischt sich mit dem Gesang der Vögel. Es ist schön hier.

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Im Ghetto am schönen Horizont

  • 1. Im Ghetto am schönen Horizont Um den Dokumentarfilm für meine Diplomarbeit zu drehen, besuchte ich im Jahr 2005 einen Monat lang täglich „Rádio Favela“, ein ehemaliges Piratenradio in der brasilianischen Metropole Belo Horizonte. Die Favela "Aglomerado da Serra" ist noch einmal 150 Meter höher gelegen als der Rest der Stadt, man kann sie schon von Weitem erkennen – das typische Bild der Favela, viele kleine flache Häuschen, die dicht an dicht an den Bergen kleben, es scheint fast, als seien die Hügel selbst aus den rötlichen Ziegelsteinen gebaut. Ich nehme den Bus 8150 bis Endstation Serra. Dann kommt der steile Anstieg, vorbei an der "Bar do Cipó", dem Treffpunkt kurz vor der Favela, der "Polícia Militar", dem neuen Haus des Projektes "Criança Esperanca", einem sozialen Treffpunkt für Kinder. Es gibt mehrere Wege hinein und hinaus aus der "Vila Nossa Senhora da Fatima", so heißt dieser Teil der Favela. Wenn ich zum Radio gehe, nehme ich einen längeren Umweg, der aber nicht so steil ist. Zwischen zwei Häusern durch den "Beco" (brasilianisch für Gasse). Der Weg ist schmal, zwei Menschen kommen gerade aneinander vorbei. Es läuft sich gut, dieser "Beco" ist asphaltiert. An anderen Stellen geht es auf ausgetreten Pfaden aus rutschiger Erde den Berg hinauf und man muss aufpassen, nicht in einen Hundeschiss zu treten. In vielen Teilen der Favela lässt die Stadt die Wege befestigen, Stufen aus Beton führen von der Hauptstraße aus in die oberen und unteren Teile der Favela. Seit einigen Jahren bemüht sich die Stadt um die Favelas. In "Aglomerado da Serra" gibt es zwei asphaltierte Straßen und seit einigen Jahren auch Leitungswasser und Strom. Die Häuser allerdings sind teilweise in lebensgefährlichem Zustand. Auf dünnen Betonstelen errichtet, kleben sie an den Hängen. Kommt die Regenzeit zwischen November und März, werden einige der Baracken einfach herab gespült. 2003 begrub eine der Behausungen eine vierköpfige Familie. Einige Arbeiter der Stadt sind unterwegs und räumen stark gefährdete Wohnungen. Die Bewohner werden umgesiedelt an den Rand der Stadt in Sozialwohnungen, die ihnen zu einem "günstigen" Mietpreis überlassen werden, der für die "Favelados" allerdings kaum bezahlbar ist. Lieber bleiben sie in einem der von Hand gebauten, kleinen Häuschen aus Ziegelsteinen, zwischen denen der Mörtel hervorquillt.
  • 2. Auf den zwei befahrbaren Straßen, die sich durch das gesamte "Aglomerado da Serra" schlängeln, fahren nur wenige Autos und an vielen Stellen passt jeweils nur ein Fahrzeug durch die Straße. Wenn Gegenverkehr kommt, müssen alle warten. Seit neuestem verkehrt ein favelainternes öffentliches Verkehrsmittel, ein Minibus, auf Initiative von "Radio Favela". Jetzt müssen die Arbeitnehmer des Viertels nicht mehr drei bis sieben Kilometer zu Fuß zurücklegen, bis sie an der regulären Bushaltestelle vor der Favela ankommen. Es hat sich viel getan in den letzten 20 Jahren. Straßenbefestigung, Wasseranschluss, Elektrizität, Abwasserkanäle, Telefonanschluss. Vieles davon wurde erst möglich, nachdem Misstände über das Radio verbreitet wurden und Politiker darauf aufmerksam machten. "Radio Favela" ist nicht gegen den Staat, sagt Nerimar. Es ist gegen korrupte Politiker und Polizeibeamte und fordert die gleichen Bürgerrechte für alle Bewohner der Stadt. Kleine Bars, Friseure und Geschäfte säumen die Strasse. Kinder spielen, alte Männer sitzen auf den Eingangsstufen, Frauen gehen zur Arbeit, und Hunde laufen herum, schnüffeln im Abfall. Ab und zu ruft einer etwas zu mir rüber, "O Lourinha", das heißt soviel wie kleine Blonde. Ich bin so ziemlich die einzige Hellhäutige. Misael, mein Chef und prominenter Begründer von "Radio Favela" sagt, es sei leicht hier auf mich aufzupassen: „Como um grão de arroz entre o feijão.“, "wie ein weißes Reiskorn zwischen schwarzen Bohnen", das findet man schnell. Oder wie "Mosca na leite", "eine Fliege in der Milch", die sieht man auch sofort. Diesen Vergleich finde ich weniger appetitlich. Rassismus ist ein Thema das bis heute gerne geleugnet wird in Brasilien. Generell gilt: je dunkler die Hautfarbe, desto niedriger das soziale Prestige und der soziale Status (Die Zeit 40/2004, Feuilleton, "Die höfliche Revolution", Evelyn Finger). Die vielbeschworene "democracia racial", Verfassungsgrundsatz seit 1946, ist in der Praxis keinesfalls realisiert. Das Land lebte 350 Jahre lang von der Sklaverei, länger als jedes andre, 10-mal mehr Sklaven als in die USA wurden hierher verschleppt. In Brasilien hört man oft, es gäbe keine Diskriminierung der Afrobrasilianer, es gäbe eher eine Diskrimierung der Armen.
  • 3. Die meisten Armen sind allerdings schwarz, während die mächtige Oberschicht in Politik und Wirtschaft fast ausnahmslos weiß ist. Böse gesagt, bis auf den Kulturminister, klischeehafterweise Sambasänger, den "Vorzeigeschwarzen". Die Kluft zwischen Arm und Reich zeigt sich auch in der Einkommensverteilung. 1989 verfügten die oberen 20% der Einkommensempfänger über 67,5% und die ärmsten 20% über lediglich 2,1% des Gesamteinkommens. Favelabewohner haben eine unverhältnismäßig schlechtere Gesundheitsversorgung, Zwischen Ernährung und Lebenserwartung, Bildung und Wohnverhältnissen bestehen ebenfalls krasse Unterschiede. (http://www.bpb.de/publikationen/52KT3R,1,0,Beispiele_f%FCr_Entwicklungsunterschiede.html) Nerimar, zweiter Mann der ersten Stunde des Senders, vergleicht die Favela mit den "Qilombos" des kolonialen Brasiliens. Im 17. Jahrhundert gründeten Sklaven, die es geschafft hatten, den Großgrundbesitzern zu entfliehen, Siedlungen an sicheren Orten, in denen sie in Freiheit leben konnten. Von nun an vollzogen sich bittere Kämpfe zwischen den entflohenen Sklaven und den "Bandeirantes", schwerbewaffneten Männern mit scharfen Hunden, die sie töten oder auf die Plantagen zurückbringen sollten. Viele "Quilombos" leisteten erbitterten Widerstand, konnten jedoch nicht bestehen. Im Bundesstaat Alagoas sich befand sich siebzig Jahre lang der größte "Quilombo". Eine unabhängige Siedlung im schwer zugänglichen Urwald mit über 30.000 entflohenen Sklaven. Sie hatten gegen die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen auf den Zuckerrohrplantagen rebelliert. Anführer des "Quilombos" mit dem Namen die "República dos Palmares", der "Malcolm X" Brasiliens, hieß Zumbi, der wie ein König herrschte und einen unabhängigen schwarzen Staat gründen wollte. In der "República dos Palmares" gab es eigene Gesetze, organisierte Landwirtschaft und Viehhaltung. Zumbi gründete ein Heer und leistete den Kolonialtruppen erbitterten Widerstand. 1699, nach 40 Niederlagen gelang es den "Bandeirantes" schließlich doch "Palmares" nach langer Belagerung dem Erdboden gleichzumachen. (http://www.conhecimentosgerais.com.br/historia-do- brasil/sociedade-colonial.html) Für die Identitätsbildung der Favelabewohner ist das Wissen um die "Black History" Brasiliens fundamental und hier sieht "Radio Favela" seinen Bildungsauftrag. In den Favelas leben zu 90% Nachfahren von Sklaven auf illegal bebautem Grund.
  • 4. Ein paar Leute kenne ich hier jetzt. Teresinha und Rosa in ihrem Imbiss, in einem Topf kocht die Fleischfüllung für das Salzgebäck, es duftet bis auf die Strasse. Vorbei am Herrenfriseur, dort lassen sich die Männer rasieren. Hoffentlich humpelt nicht der verrückte Alte vorbei, seine Kleidung besteht aus braunen Lumpen und manchmal ist er komplett nackt darunter. An manchen Tagen sind viele Leute besonders schick angezogen, mit Anzug und weißem Hemd, ein Gesangsbuch unterm Arm, geht es in die Kirche. An fast jeder Ecke gibt es ein Gebäude, "Igreja Batista" oder "Assembléia de Deus" steht über dem Portal geschrieben. Besonders die sektenhaft organisierten Evangelisten haben eine starke Gemeinde. Kurz vor dem Radiosender kommt mir Fernanda entgegen, pechschwarz, dürr, immer ein Baseballcap auf dem Kopf. Sie fummelt an dem BH, den sie unter ihrem Häkeltop trägt und kommentiert dies lautstark. Ich kann sie kaum verstehen. Sie spricht starken Slang und wenn sie lacht, sieht man die kaputten Zähne. Ich glaube, sie ist auch nicht mehr ganz richtig im Kopf, seit fünf Jahren ist sie HIV-positiv und ich möchte nicht wissen müssen, womit sie ihr Geld verdient hat. Bei Cipó in der Bar hat mich Misael einem Mann vorgestellt, der in seiner Kindheit als Sklave gehalten wurde, mitten in der Favela. Festgekettet musste er im Badezimmer schlafen, bis er eines Tages Freunde fand und befreit wurde. Dies ist ein Ort voller Geschichten, traurige und schöne. Die Zeit vergeht langsamer hier, für einen kleinen Plausch ist man immer bereit. Es sind Nachbarn und Freunde, viele kennen sich seit ihrer Jugend. So muss es in Deutschlands Städten im Mittelalter gewesen sein, oder in den Arbeitersiedlungen zur Zeit der Industrialisierung, so ist es sicherlich noch immer in kleinen Dörfern auf dem Land. Katia, Putzfrau beim Radio erklärt: "Favela. Das ist so wie bei einem Indianerstamm, alle sind immer zusammen.“ Die Familien sind kinderreich, überall wird gespielt, die flachen Dächer eignen sich ideal, um von dort aus die selbst gebastelten Drachen steigen zu lassen, meterhoch wirbeln sie bis weit über die höchstgelegenen Baracken hinaus. Aus vielen Häusern klingt Musik, das Radio wird aufgedreht oder eine CD eingelegt, man stört sich nicht am Lärm der Nachbarn, der sich mit der gesamten Geräuschkulisse vermischt, dem Sound des Lebens, der Menschen.
  • 5. In der Rua Flor de Maio befindet sich "Rádio Favela", der Graffiti-Schriftzug auf dem schweren, eisernen Schiebetor ist schon ziemlich verblasst und angerostet. Meistens ist es offen, gegenüber dem Radio befindet sich eine kleine Spielhalle und eine Bar. Auf den Stufen vorm Radio treffen sich täglich Celso und seine Freunde. Manchmal bringen sie Berimbau und Tamburin mit und üben den typischen Rhythmus mit dem der Kampftanz "Capoeira" begleitet wird. Das Radio ist ein zweistöckiges Gebäude. Im ersten Stock sitzt Deisiane, die Tochter von Misael, an Computer und Telefon. Sie macht die Verwaltung und studiert nebenher. Die Wände hängen voller Urkunden und Fotos. Auf einem Schrank verstauben verschiedenste Pokale und Preise. Nebenan befindet sich ein kleines Studio, Regale voller CDs und Platten, die hier nach und nach digitalisiert werden. Und ein weiterer Raum ist hier, Tische, Stühle, eine Tafel. Es ist das radiointerne Klassenzimmer. Schulmaterialien werden vom Radio gestellt. Natürlich gibt es öffentliche Schulen für die Favelakinder. Doch die Ausbildung dort ist so schlecht, daß viele Schüler nach Jahren noch nicht richtig schreiben und lesen können. Die Lehrer dieser Schulen sind selbst schlecht ausgebildet und bezahlt, und so sind die Chancen auf einen hochwertigen Schulabschluss und damit auf ein Studium an der Universität verschwindend gering. Kaum einer schafft den Abschluss "segundo grao", der der der neunten Klasse entspricht. Deisiane ist die einzige Schülerin im ganzen Viertel, die die Qualifikation zum Besuch einer Universität erreicht hat. Oben im zweiten Stock befindet sich das Herzstück des Radios: das verglaste Studio mit Blick auf fast die ganze Stadt. Zwei Hügel des "Aglomerado da Serra", dahinter die Hochaustürme der Stadtviertel Floresta, Centro und Santa Efigênia. Wolkenkratzer und Hochhäuser verschwimmen am Horizont im blauen Dunst, bis zu den grünblauen Bergen. Das Studio ist technisch gut ausgerüstet- Sennheiser- Mikrofone, Computer, Internetanschluss. Es gibt sieben festangestellte Mitarbeiter bei "Radio Favela", davon sind zwei bezahlt. Alle anderen sind Teil der Familie oder Freunde. Nerimar Teixeira und Misael Santos, beide Mitte vierzig, kennen sich seit ihrer Kindheit. Sie sind die Begründer von "Radio Favela". Misael moderiert das Programm "Superpopular", von um Acht bis um Zehn.
  • 6. Er begrüßt alle Bewohner der Stadtviertel und wünscht ihnen einen Guten Morgen: "Bom dia para todos Moradores do Betim, Contagem, Barreiro, Aglomerado da Serra…" usw. Diese Leute grüßt kein anderes Radio der Stadt und auch sonst niemand. Es sind die Bewohner der einkommensschwächsten Stadtteile und die meistdiskriminierten. Misael und Nerimar sind auch zuständig für die stündlichen Nachrichten. Diese beziehen sie, wie alle anderen Radios auch, aus Zeitung, Fernsehen und Internet. Zusätzlich kommen die "Boca-a-Boca", die "Nachrichten von Mund zu Mund", dazu. Ist irgendetwas los im "Aglomerado", erfährt das Radio es meist als allererstes. "Radio Favela" klingt anders die klassischen Radiostationen, denn seine Sprache ist die der Straße, Umgangssprache, Favelaslang. Es wird berichtet, was interessiert. Zum Beispiel, dass die Erste-Hilfe-Posten am Rosenmontag nicht geschlossen sind, wie in den Jahren zuvor. Dass die Ausgaben des Rathauses für den eigenen Bedarf um 72,5% angehoben werden und jeder Stadtrat jetzt R$ 7.155 verdient, früher waren es R$ 4.500. Hörer rufen an und diskutieren live. Jeder Bürger hat die Möglichkeit seine Meinung mittels "Radio Favela" "on air" zu äußern. Andere Medien, wie TV und Presse, erfahren dadurch vieles später als "Radio Favela". Die Gewerkschaftler der Omnibusfahrer haben jeden Samstagvormittag ein festes Programm und diskutieren über Arbeitsrecht und die niedrigen Löhne. Sonntags kommt die 79-jährige Dona Mariquinha vorbei und macht ihre Sendung "Robertao und die Probleme, die jeder so hat". Gespielt wird nur Musik des Schlagersängers Roberto Carlos, während Mariquinha am Telefon praktische Lebenstips gibt. Bei "Radio Favela" liegen immer mal wieder Personalausweise herum. Wer seinen verliert, ruft bei "Radio Favela" an und fragt. Wer einen findet, bringt ihn vorbei. Auch für Kleinanzeigen ist sich "Radio Favela" nicht schade. Maria Regina will ein Ergometer haben. Wer eins zu verkaufen habe, solle bei Radio Favela anrufen. "Quilombo Favela" ist ein Programm, das sich mit dem Thema Rassismus beschäftigt. Nerimar und Misael betonen immer wieder, wie wichtig es ist, das Selbstbewusstsein der Favelabewohner zu stärken. Viele Menschen hier wissen nicht um ihre Rechte, nehmen versteckten Rassismus und Diskriminierung als unveränderliche Realitäten hin. Großen Erfolg hat die Sendung "Uai Rap Soul" mit brasilianischem Hip Hop. Das Telefon steht kaum still, viele Jugendliche rufen an und wünschen sich Musik oder
  • 7. grüßen ihre Freunde. Misaels Sohn, der 20-jährige Misinha, präsentiert das Programm. Seit er fünf ist, moderiert er mit. "Radio Favela" hat ein eigenes Fußballteam, das aus Freunden und Bekannten besteht, alles Anwohner des "Aglomerado". Die Musik bei "Radio Favela" ist bunt gemischt, aber eindeutig brasilianisch. Samba, brasilianische Popmusik, elektronische Musik, Schlager – für jeden Geschmack wird zu verschiedenen Tageszeiten etwas geboten. Klassische Musik wird nicht gespielt, genauso wenig wie amerikanische Charts. Stattdessen lässt man sich gerne zu einem Track der deutschen Soulsängerin Joy Denalane überreden. Immer wieder kommt Besuch. Studenten oder Journalisten, die sich informieren wollen, Ausländer aus Italien, Dänemark oder Frankreich haben hier ihre Praktika gemacht oder Diplomarbeiten geschrieben. Neugierige Hörer sind genauso willkommen, wie Mitglieder von Hip Hop-Bands, die ihre Platten vorstellen wollen. Aber auch umgekehrt funktioniert der Austausch, im vergangenen Jahr wurden Misael und Nerimar in die Schweiz zu einem Kongress der freien Radios eingeladen. Von dem Balkon des Radios aus, hat man einen wunderschönen Blick über die Stadt. Überall steigen Drachen aus Plastikfolie empor. Ein Schwarm Tauben zieht wieder und wieder seine Kreise über dem Tal. Scheinbar aus purer Freude an der Geschwindigkeit. Ihre Schatten huschen über die Ziegelmauern. Bunte Wäsche an Leinen auf den Dächern, Mango- und Avocadobäume wachsen in den Zwischenräumen, Bananenstauden begrünen die steilen Hänge. Ab und zu ein Schuttplatz. Da stand mal ein Haus, das vom Regen weggewaschen wurde. Im "Aglomerado da Serra" gibt es noch fünf weitere, nicht legale Radiosender. Drei davon sind "Evangelicas" und werden von Freikirchen betrieben. Die anderen beiden senden unregelmäßig, hauptsächlich Musik. Im vergangenen Jahr, lese ich in der Zeitung, wurden 17 Piratenradios im "Aglomerado da Serra" geschlossen. Deisiane erklärt, das hinge mit der Wahl des Bürgermeisters zusammen. Viele der Sender seien von Kandidaten betrieben worden. Das verstehe ich nicht. Sie erklärt, zur Wahlperiode verbreiteten die Kandidaten ihre Wahlprogramme über illegale Sender, die nach Ende der Wahl, ganz nach Vorschrift, von der Polizei geschlossen würden.
  • 8. "Radio Favela" ist ein “rádio educativa“, ein Bildungsradio. Bis über 300 Kilometer vor der Stadt kann man "Rádio Favela FM" empfangen. Erst vor wenigen Jahren gab es eine Konzession der Regierung und damit die legale Sendeerlaubnis auf dem Kanal 106.7 MHz für das gesamte Einzugsgebiet um Belo Horizonte. Es hat die Auflage, nicht gewinnorientiert zu arbeiten, und muss verschiedene Gesetzesauflagen erfüllen, z. B. die "Voz do Brasil" des "Rádio Nacional" zwischen 19 und 20 Uhr übertragen, ein Programm der Regierung. Das Gesetz zur obligatorischen Sendung der "Voz do Brasil" stammt noch aus der Regierungszeit Gétulio Vargas' und ist über 60 Jahre alt. Eigentlich längst überholt. Trotzdem, falls bei "Rádio Favela" in der angegebenen Zeit mal wieder eine technische Panne passiert und die Übertragung ausfällt, drohen hohe Geldstrafen. Gerade läuft ein Prozess in dem "Rádio Favela" aufgrund der Nichtübertragung der "Voz" der vergangenen Jahre angeklagt ist. Von 1981 bis 2000 sendete "Rádio Favela" illegal. Alles begann Ende der siebziger Jahre. Misael Avelino dos Santos und Nerimar Teixeira sind Jugendliche, aufgewachsen in der "Favela Aglomerado da Serra" und beste Kumpel. Mit einer Gruppe von Freunden hören sie Musik und organisieren Parties in den Straßen. Zu dieser Zeit beginnt der organisierte Drogenhandel sich vor Ort zu etablieren. Um dieser Gefahr etwas entgegenzusetzen, wollen die Freunde durch kulturelle Aktivitäten, Musik und Aktionen das Selbstbewusstsein der jugendlichen Favelabewohner stärken und über Diskriminierung und Rassismus aufklären. Zu diesem Zweck montieren sie einen selbstgebauten Radiosender. Plattenspieler und Sendegerät betreiben sie mit Hilfe einer Autobatterie, denn in der Favela gab es zu der Zeit keine geregelte Stromversorgung. Zuerst senden die Macher nur unregelmäßig und aus Spaß. Für Misael und Nerimar wird es jedoch bald weit mehr als eine technische Spielerei. Während Misael in der Stadt Autos wäscht und nebenbei als DJ Hip Hop-Platten auf Parties auflegt, arbeitet Nerimar in einer Stahlfabrik. Zusammen bringen sie das Geld auf, um sich besseres Radioequipment zu kaufen. Nerimar ist der Techniker, Misael moderiert. Hatten sie vorher mit nur wenigen Watt gesendet, erreicht ihr Radio nun die ganze Stadt.
  • 9. Da sie mit dem Betrieb eines nicht autorisierten Senders gegen das Rundfunkgesetz verstoßen, müssen sie ständig einen Ortswechsel vornehmen, um der Polizei zu entgehen. Radio Favela sendet immer aus einer anderen Baracke des "Aglomerado da Serra", die Anwohner helfen gerne, die Jungs und ihr mobiles Equipment zu verstecken. So kommt es, dass immer mehr Menschen an dem Projekt teilhaben. Trotzdem, zwischen 1982 und 1997 greift die Polizei, beauftragt vom DENTEL (Departamento Nacional de Telecomunicações) fünfmal gewaltsam ein, beschlagnahmt den Sender, zerstört Teile der Einrichtung und nimmt die Betreiber fest. Misael trägt auf Rücken, Brust und Armgelenken die Narben von Schlägen und Handschellen. Mit Hilfe der Gemeinschaft der Favelabewohner gelang es jedoch immer wieder, das Radio "on air" gehen zu lassen. Der größte Übergriff der Polizei war zugleich der letzte. Im Jahr 1997 versammelten sich über zweihundert Militär- und Staatspolizisten, zwei Helikopter mit Scharfschützen kreisten über dem "Aglomerado da Serra", um die Macher von "Rádio Favela" festzunehmen. Die Polizei in Brasilien ist oft korrupt, manchmal schieben die Beamten ihren Opfern Drogen unter, um sie dann zu erpressen. Der Rückhalt in der Bevölkerung war jedoch so stark, dass man die Radiobetreiber sie nach zwölf Stunden wieder freiließ. Die "Favelados" kampierten vor dem Polizeigebäude, bis Misael freigelassen wurde und besorgten Anwälte. Misael erzählt gern, wie an jenem Tag im Polizeipräsidium keiner der kleineren Beamten seine Inhaftierung unterschreiben wollte, da sie alle Hörer von "Rádio Favela" waren. Der Sender hatte sich längst Respekt in der ganzen Stadt verschafft, aber die Anweisungen zur Schließung des Radios waren von der Regierung bzw. dem "Ministerio das Comunicações" gekommen. Nach zwölf Stunden Haft wurden die Radiomacher freigelassen. Mittlerweile hat der kleine Sender drei Preise der UNO für den Kampf gegen den Drogenmissbrauch bekommen. 2002 wurde vor Ort ein Spielfilm "Uma onda no ar" von dem Regisseur Helvécio Ratton gedreht, der "Rádio Favelas" Bekanntheitsgrad auch außerhalb der Stadt steigerte. Die Bewohner des "Aglomerado da Serra" sind stolz auf ihr eigenes Medium.
  • 10. Der Sender hat einen festen Stamm an Mitarbeitern: Misael, Nerimar, Misaels Sohn und Tochter, sowie sein Bruder Marcelo. Das Radio bleibt in den Händen der Familie, weil es sich bezahlte Mitarbeiter kaum leisten kann. Trotzdem betont Misael, "Jeder, der etwas sagen will im Radio, kann vorbeikommen." Urlaub haben die Radiomacher eigentlich nie, denn das Radio muss 24 Stunden am Tag senden. Bis um vier moderiert jemand, danach läuft der Computer. Mitte der Neunziger gab es ein Projekt, welches delinquenten Jugendlichen helfen sollte, von der Straße wegzukommen. Übriggeblieben ist Hudson, der ab und zu Reportagen per Telefon für "Rádio Favela" macht. Bei Bandenkriegen hat er ein Auge verloren, sein Körper ist von mehreren Kugeln durchschossen. Er betont, durch "Rádio Favela" habe er sein Leben ändern können und seinen "Revolver gegen ein Radio getauscht". Heute gibt es dieses Projekt nicht mehr. In jener Zeit sei viel technisches Gerät kaputt gegangen. Und auch andere Leute lässt Misael nicht mehr so gern in den Sender. Zwei ehemalige Mitarbeiter haben nicht nur das Radio um Geld von Anzeigekunden betrogen, sondern es danach verklagt, da es ihre Mitarbeit nicht finanziell entlohnt hatte. Ohne ehrenamtliche Helfer könnte "Rádio Favela" jedoch gar nicht existieren. Es finanziert sich durch Anzeigekunden wie z.B. den Telefonanbieter Telemar und lokale Geschäfte. Ein Zahnarzt inseriert beim Radio und behandelt dafür kostenlos die Zähne von bedürftigen Kindern. Misael ist ein unglaublich energischer Mensch. Den ganzen Tag ist er unterwegs, er ist auch derjenige, der das Radio in der Öffentlichkeit vertritt. Er ist stolz darauf, wie oft über "Rádio Favela" in den anderen Medien berichtet wird. Ich fahre mit Misael in die Stadt zum Rathaus, um den Bezirksabgeordneten Antonio Pinheiro zu besuchen. Das Radio sei so wichtig, weil es glaubwürdig ist, sagt er. Die Probleme in der Stadt sind Armut, mangelnde Gesundheit und Obdachlosigkeit. Eine Journalistin von des hauseigenen TV- Senders ist auch zugegen und interviewt mich über mein Filmprojekt und Misael über das Radio. Sie lässt sich die Website des Senders zeigen. Dann erzählt sie, einer ihrer Kollegen sei vor kurzem in der Nähe einer Favela mit einer Waffe bedroht worden. Misael erklärt, das sei passiert, weil die Jugendlichen nachmachen würden, was sie im Fernsehen sehen. Am vorigen Abend sei ich noch alleine Nachts in der Favela herumgelaufen und mir sei nichts passiert.
  • 11. Die Journalistin staunt. Das stimmt auch, ich war mit den Radioleuten auf einem Grillfest. Allerdings innerhalb der Favela. Vor der Favela hielt ich mich nach Einbruch der Dunkelheit nie ohne Begleitung auf. Deisiane hat mich meistens mit zur Bushaltestelle begleitet. Das Problem ist, dass einige Straßen, die in die Favela führen, als Drogenumschlagplatz dienen. Es sind die "Bocas", "Münder". Hier trauen sich die weißen Mittelstandskids mit ihren VW Golfs noch hin, um Marihuana oder Kokain zu kaufen. Und da könnte es unangenehm werden, wenn jemand auftaucht, den keiner kennt. Ich kann mir schon vorstellen, dass Journalisten dort nicht gerne gesehen sind. Aber das sage ich nicht. Misaels Mutter Dona Nair, die gleich unterhalb des Radios wohnt, hat mich neulich auch ordentlich ausgeschimpft: „Was, du läufst hier mit deiner Videokamera auf der Straße rum? Hat dir Misael das nicht gesagt, daß du das nicht machen kannst?“ Für die wenigen Meter zurück gab sie mir eine Plastiktüte mit, um das Gerät zu verstecken, damit es mir nicht geklaut wird. Es war helllichter Tag und ich machte Außenaufnahmen. Aber sie hatte wohl recht. Es gibt in der Favela Cracksüchtige, die das Wenige ihrer eigenen Nachbarn klauen. Es gibt 15- jährige, die vergewaltigt und gemordet haben. Nur dass ich sie nie gesehen habe, ich hatte mich sicher gefühlt, denn "Rádio Favela" passt gut auf mich auf. Die Welt der Drogenkrimialität nennt Misael "O Mundo Paralel", "die Parallelwelt". Sie existiert und so richtig etwas dagegen tun kann man nicht. Die Drogenbosse zwingen niemand mit vorgehaltener Waffe zum Dealer zu werden, sagt Misael, doch wer dort mitmache, wolle nicht, dass seine Familie lebt. Das Radio wendet sich an diese Menschen, appelliert an das Gewissen und die Werte der Familie, erklärt wie wichtig es ist, Bildung zu erlangen, in Würde zu leben und sich nicht zu schämen, arm und aus der Favela zu sein. Es gibt eine brandneue Musikrichtung, die bei Radio Favela nicht gespielt wird, den "Baile Funk". "Musica dos Bandidos", „Gangstermusik“ nennt Misael diese. Es ist der neueste Hype aus den Favelas, der mittlerweile auch in Europa bekannt wird. So taucht sie als Werbemusik für einen Jeep von Nissan auf, anscheinend in völliger Unkenntnis der Texte. Musikalisch relativ einfach zusammengesampelte Beats, dazu Sprechgesang der schlimmer ist als der härteste amerikanische Gansterrap.
  • 12. Es sind Texte, die den gröbsten, gewalttätigsten, sexistischsten Machos gefallen, dazu auffordern, Frauen und Kinder zu missbrauchen, verbreitete Vorurteile gegen schwarze Frauen der Unterschicht verstärken. Dazu tanzen die "Traficantes" (Dealer) mit gezogener Waffe, nicht selten kommt es zu Todesfällen. Alle paar Monate organisiert Misael mit seinem Sohn Hip Hop Konzerte. Seit den Neunzigern boomt nationaler Hip Hop vor allem bei den sozial benachteiligten Jugendlichen. Die Texte betonen, wie wichtig es ist, sich nicht vom "richtigen Weg" abbringen zu lassen, dass Kriminalität nichts bringt, beschreiben das tagtägliche Leben. Der Titel von SNJ ("Somos Nós a Justiça", "Wir sind die Gerechtigkeit") wird immer wieder in Misaels Sohn Misinhas Hip Hop Sendung gewünscht. Ich füge einen Textauszug als Beispiel an. SNJ – Pensamentos Necessidade pra gente já é normal A gente sabe desse jeito até o final Só que viveremos com dignidade Pois somos ricos de pensamentos sonhos de verdade Pobres, de onde viemos vielas e becos Sao milhares que nascem, morrem no gueto O coracao aberta o bem ambicioso na vida Nada se leva enquanto vai dechars pros outros … Gedanken Die Not ist schon normal für uns Wir wissen das bis zum Lebensende Nur wenn wir mit Würde leben Denn wir sind reich im Denken, Träume der Realität Arm, kommen wir von dort wo enge Gassen sind
  • 13. Es sind Millionen, die geboren werden und sterben im Ghetto Das Herz offen und begierig auf das Leben nichts wird sich bessern, wenn du es den anderen überlässt… Am Samstag ist ein Konzert von SNJ und anderen Bands, Misinha und Macalé legen Platten auf bis die Bands auftreten, während Misael am Einlass steht. Einige Jugendliche laufen mit Videokameras herum. Sie partizipieren an dem neuen Projekt, TV- Favela. Misael plant nämlich schon seit längerem einen freien Fernsehkanal von Favelabewohnern für Favelabewohnern. Dazu ist Sergio engagiert, ein Fersehreporter und Kameramann, der Workshops für die Kids organisiert. Das Konzert ist ein voller Erfolg. Drei Bands treten auf, SNJ, der Hauptact erst nach zwei Uhr nachts. Alle sind da – Misaels Frau Lourdes, Misinha, Deisiane, Hudson. Alles bewegt sich, tanzt, schwitzt. Vor der Bühne springt die Masse auf und ab. Die Bässe wummern, die Lautstärke ist ohrenbetäubend. Da zieht mich Lourdes von der Tanzfläche, komm mit, das musst du dir ansehen. Während im Club die begeisterten Hip Hop-Fans feierten, hat jemand auf den Eingang geschossen. Ungläubig stolpere ich hinter Lourdes her. In dem Rolltor aus Aluminium sieht man die Einschusslöcher. Draußen stehen Polizisten, einer hält einem halbnackten Mann in Shorts und ohne T- Shirt eine Waffe an den Kopf, schreit ihn an. Das ist das Schlimmste, was ich je gesehen habe. Lourdes zieht mich am Ärmel, wir gehen wieder rein. Im Club wird weiter gefeiert, die Band sagt etwas zu dem Vorfall, es seien Leute mit bösen Absichten gewesen, die den Spaß an der Party verderben wollten. Mir ist dieser auch vergangen, Hudson und Lourdes tanzen weiter, Misael ist verschwunden. Ich fahre noch einmal zurück in die Favela, hoch zur Radioantenne. Es ist dunkel. Wie Millionen von Juwelen funkeln die Lichter der Stadt dort unten. Straßenzüge und Wolkenkratzer. Die Lichter der Favela sind näher, leuchten gelblich. Die Hunde beginnen zu bellen, begrüßen den anbrechenden Tag. Das tausendfache Kläffen, Jaulen und Winseln mischt sich mit dem Gesang der Vögel. Es ist schön hier.