BDI Webinar zum EuG Urteil vom 23.11.2022 zur Einstufung von Titandioxid (verb. Rs. T
1. Rechtsanwalt Hartmut Scheidmann / Rechtsanwältin Kathrin Dingemann, Berlin, 19.01.2023
BDI-Webinar zum EuG-Urteil vom 23.11.2022 zur
Einstufung von Titandioxid (verb. Rs. T-279/20 u. a.)
- Bedeutung und Rechtsfolgen des Urteils -
2. 2
Gliederung
I. Sachverhalt und Vorbemerkungen
II. Wesentliche Aussagen des EuG
III. Urteilswirkungen
IV. Schadensersatzansprüche
3. 3
I. Sachverhalt und Vorbemerkungen (1)
Urteil des EuG (Gericht erster Instanz) vom 23.11.2022
in den verbundenen Rechtssachen
• T-279/20 und T-288/20 – gemeinsame Verhandlung und
Entscheidung
• T-283/20 – gemeinsame Verhandlung
Antrag und Tenor: Nichtigerklärung der Delegierten VO (EU)
2020/217, soweit sie die harmonisierte Einstufung und
Kennzeichnung von Titandioxid in bestimmten Pulverformen als
karzinogener Stoff betrifft
„Große Sache“:
• erweiterte Kammer = 5 Richter/innen
• viele Beteiligte: Parteien und Streithelfer
4. 4
I. Sachverhalt und Vorbemerkungen (2)
Rechtssache
Klägerseite Beklagtenseite
Kläger Streithelfer Beklagter Streithelfer
T-279/20 CWS Powder
Coatings, DE
Billions Europe, UK
+ weitere
2 x Ettengruber, DE
TIGER Coatings, A
EU Kommission DK
F
NL
SE
ECHA
EU Parlament
EU Rat
T-283/20 Billions Europe,
UK + 7 weitere
Cefic, BE
CEPE, BE
BCF, UK
ACA, USA
Mytilineos
Delfi-Dystomon
EU Kommission DK
F
NL
SE
ECHA
SLO
T-288/20 Brillux, DE
Daw, DE
Billions Europe, UK
+ 7 weitere
Sto, DE
Rembrandtin
Coatings, A
EU Kommission DK
F
NL
SE
ECHA
EU Parlament
EU Rat
5. 5
I. Sachverhalt und Vorbemerkungen (3)
Einleitende Darstellungen im Urteil
• Vorgeschichte (Rn. 2–15) – s. Präsentation Dr. Heike Liewald, vdmi
• Zusammenfassung des umfassenden Vorbringens der Kläger –
9 Klagegründe in T-279/22 und T-288/22, 6 Klagegründe in
T-283/22 (weitgehend übereinstimmend) – zusammengefasst zu
7 Gründen (Rn. 21–27):
• 1 – offensichtlicher Beurteilungsfehler, Verstoß gegen Kriterien der
CLP-VO bzgl. Vorgaben zur Einstufung und Kennzeichnung
• 2–7 [...]
• Vorbemerkungen zum System der harmonisierten Einstufung und
Kennzeichnung wegen Gefahr einer karzinogenen Wirkung
(Rn. 28–39):
• Betonung, dass es auf intrinsische (inhärente) Eigenschaften des
Stoffes ankommt
6. 6
I. Sachverhalt und Vorbemerkungen (4)
• Vorbemerkungen zur Intensität der Kontrolle durch das EuG,
Darstellung der ständigen Rechtsprechung (Rn. 40–47):
• grds. weites Ermessen der EU-KOM wg. komplexer
wissenschaftlicher und technischer Beurteilungen
• eingeschränkte Prüfung, ob
• Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind
• der Sachverhalt von der KOM zutreffend festgestellt worden ist
• keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung des Sachverhalts
erfolgt ist
• kein Ermessensmissbrauch vorliegt
• → zu prüfen, ob
• EU-KOM sorgfältig und unparteiisch alle relevanten
Gesichtspunkte des Einzelfalls untersucht hat
• die angeführten Beweise/Daten relevant, sachlich richtig,
zuverlässig, kohärent, vollständig sind und die aus ihnen
gezogenen Schlüsse zu stützen vermögen
7. 7
II. Wesentliche Aussagen des EuG (1)
Prüfung auf offensichtliche Beurteilungsfehler und
Rechtsanwendungsfehler, beschränkt auf zwei Teile
Teil 1: Beurteilung der Zuverlässigkeit der Heinrich-Studie,
umfassend und detailliert (Rn. 50–123)
• Hinsichtlich der Heinrich-Studie ist das Erfordernis, dass die
Einstufung eines karzinogenen Stoffes auf zuverlässigen und
anerkannten Untersuchungen beruhen muss, nicht erfüllt
• Rügen nicht unzulässig, da es um Beurteilung der Zuverlässigkeit
der Heinrich-Studie geht, nicht um wissenschaftliche Bewertung
• RAC-Stellungnahme beruht auf Heinrich-Studie
• offensichtlicher Beurteilungsfehler wegen Nichtberücksichtigung
der Dichte von Partikelagglomeraten – Beurteilung der Studie ist
unplausibel
• Einwände von EU-KOM und ECHA verfangen nicht
8. 8
II. Wesentliche Aussagen des EuG (2)
Teil 2: Verstoß gegen die Kriterien für die Einstufung und
Kennzeichnung eines Stoffes als karzinogen (Rn. 124–180)
• CLP-VO erfordert Einstufung als karzinogen aufgrund
„intrinsischer Eigenschaften“, Krebs zu erzeugen
• „intrinsische Eigenschaften“ bedeutet im wörtlichen Sinne
„Eigenschaften eines Stoffes, die ihm eigen sind“; entspricht dem
Sinn und Zweck der CLP-VO
• Kriterien gelten nicht nur für Kat. 1A und 1B, auch für Kat. 2
9. 9
II. Wesentliche Aussagen des EuG (3)
Teil 2: Forts.
[...]
• Einstufung von TiO2 beruht nicht auf dessen „intrinsischen
Eigenschaften“
• vielmehr – nach RAC – auf „Partikeltoxizität“, die „nicht
intrinsisch im klassischen Sinn“ ist
• Gefahr der Karzinogenität besteht nur in Verbindung mit bestimmten
lungengängigen Titandioxidpartikeln, wenn sie in einem bestimmten
Aggregatzustand, einer bestimmten Form, einer bestimmten Größe
und einer bestimmten Menge vorhanden sind; sie zeigt sich nur bei
einer Lungenüberlastung
10. 10
II. Wesentliche Aussagen des EuG (4)
Teil 2: Forts.
[...]
• Konzept der EU-KOM der „intrinsischen Gefahr“, die auch an
eine bestimmte Form bzw. eine bestimmten Aggregatzustand
anknüpfen kann, greift nicht
• zum einen aus Normen für Selbsteinstufung hergeleitet
• zum anderen folgt die der Einstufung von TiO2 zugrunde gelegte
Gefahr nicht aus bestimmter Form bzw. bestimmtem
Aggregatzustand
11. 11
II. Wesentliche Aussagen des EuG (5)
Teil 2: Forts.
[...]
• Keine Vergleichbarkeit mit anderen harmonisierten Einstufungen,
die an Zustand oder Form eines Stoffes anknüpfen
• Blei (reproduktionstoxisch) und Nickel (karzinogen) – sowohl
Massivstoff als auch Pulver eingestuft
• Asbest (karzinogen) – der Stoff als solches, nicht Partikel bestimmter
Größe eingestuft
• (E-)Glas-Mikrofasern (karzinogen) – Toxizität beruht zwar im
Wesentlichen auf Form und Größe, aber auch auf
Oberflächenchemie und Biopersistenz
• Feuerfeste Keramikfasern (karzinogen) – zwar Eigenschaften der
Fasern wie Länge, Durchmesser, aber auch Biopersistenz
maßgeblich
12. 12
II. Wesentliche Aussagen des EuG (6)
Schlussfolgerung 1
Ermutigend, dass EuG eine sehr dichte Verfahrens- und
Plausibilitätskontrolle der wissenschaftlich-technischen Beurteilung
der EU-KOM (beruhend auf ECHA/RAC) durchgeführt hat. Das war
bisher nicht immer so.
Es ist zu hoffen, dass es so bleibt und dass EU-KOM/ECHA/RAC
sich mehr an diesen Maßstäben ausrichten.
13. 13
II. Wesentliche Aussagen des EuG (7)
Schlussfolgerung 2
Allein die intrinsischen Eigenschaften des Stoffes sind für die
harmonisierte Einstufung relevant.
Eine Anknüpfung an reine Partikeltoxizität ist ausgeschlossen –
Präzedenz für alle PSLT-Stäube (GBS)
Nicht ausgeschlossen erscheint Anknüpfung an intrinsische
Eigenschaften eines Stoffes in bestimmter Form (z.B.
Oberflächenchemie, Biopersistenz, WHO-Kriterien) – „intrinsische
Gefahren“
Offen ist, ob für Selbsteinstufung ein Unterschied zu machen ist
14. 14
III. Urteilswirkungen (1)
Urteilstenor (Ziffer 2.): „Die Delegierte Verordnung (EU) 2020/217 der
Kommission vom 4. Oktober 2019 […] wird für nichtig erklärt, soweit sie die
harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid in Pulverform
mit mindestens 1 % Partikel mit aerodynamischem Durchmesser von
höchstens 10 µm betrifft“
→ (Teil-)Nichtigerklärung betrifft mithin
▪ Anhang I der Delegierten Verordnung 2020/217 mit Änderungen von Anhang
II Teil 2 der CLP-Verordnung 1272/2008 (Anfügung von Abschnitt 2.12 mit
Hinweisen EUH211 und EUH212 zur Gestaltung des Kennzeichnungsetiketts)
▪ Anhang II der Delegierten Verordnung 2020/217 mit Änderungen von Anhang
III Teil 3 der CLP-Verordnung (Sprachfassungen der Hinweise EUH211 und
EUH212)
▪ die Änderungen von Anhang VI Teil 1 der CLP-Verordnung in Anhang III der
Delegierten Verordnung 2020/217 (Anfügung der Anmerkung W in Nr.
1.1.3.2, Anfügung der Anmerkung 10 in Nr. 1.1.3.2)
▪ den durch Anhang III der Delegierten Verordnung 2020/217 neu eingefügten
Eintrag von Titandioxid in der Tabelle 3 zur harmonisierten Einstufung und
Kennzeichnung in Anhang VI Teil 3 der CLP-Verordnung
15. 15
III. Urteilswirkungen (2)
Bedeutung der Nichtigerklärung
→ Urteil hat (mit seinem Wirksamwerden, s. Folie 16) rechtsgestaltende
Wirkung
→ Nichtigkeit erga omnes, d. h. mit allgemeiner Wirkung für und gegen
alle, nicht nur für die Beteiligten des Rechtsstreits
→ Nichtigkeit ex tunc, d. h. die Nichtigerklärung wirkt auf den Zeitpunkt
des Erlasses der Delegierten Verordnung zurück; Rechtslage wird
rückwirkend so angesehen, als habe die Regelung niemals existiert
16. 16
III. Urteilswirkungen (3)
Zeitpunkt des Eintritts der Wirkungen
→ Besonderheit bei Urteilen des EuG, durch die − wie hier − eine
Verordnung für (teil-)nichtig erklärt wird:
„Abweichend von Artikel 280 AEUV werden die Entscheidungen des
Gerichts, in denen eine Verordnung für nichtig erklärt wird, erst nach
Ablauf der [Rechtsmittelfrist] oder, wenn innerhalb dieser Frist ein
Rechtsmittel eingelegt worden ist, nach dessen Zurückweisung wirksam
[…]“ (Art. 60 Abs. 2 Satzung EuGH);
d. h. frühestens 2 Monate und 10 Tage nach Zustellung (Februar),
bei Einlegung eines Rechtsmittels erst nach dessen Zurückweisung
→ Rechtsmittel zum EuGH möglich (auf Rechtsfragen beschränkt);
mögliche Rechtsmittelführer: Kommission als unterlegene Partei,
Mitgliedstaaten und Unionsorgane als Streithelfer der KOM, bislang
nicht beteiligte Mitgliedstaaten und Unionsorgane
17. 17
III. Urteilswirkungen (4)
Handlungspflichten der KOM infolge der Nichtigerklärung
→ Art. 266 AEUV: „Die Organe […], denen das für nichtig erklärte Handeln
zur Last fällt, […] haben die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs der
Europäischen Union ergebenden Maßnahmen zu ergreifen“
→ Selbstständige Befolgungs- und Folgenbeseitigungspflicht: Pflicht zur
vollständigen Beseitigung des rechtswidrigen Unionshandelns und aller
seiner tatsächlichen und rechtlichen Folgen (in den Grenzen des
Streitgegenstands)
18. 18
III. Urteilswirkungen (5)
Neugestaltung der Rechtslage
1. Harmonisierte Einstufung von Titandioxid in der CLP-Verordnung
→ (Deklaratorische) Aufhebung der für nichtig erklärten Teile der
Delegierten Verordnung 2020/217 betr. Titandioxid
→ Ersetzung der für nichtig erklärten Regelungen nur unter Beachtung
des Tenors und der tragenden Urteilsgründe zulässig
→ Hier: Neue Einstufung würde neues Verfahren zur harmonisierten
Einstufung und Kennzeichnung (CLH) auf der Grundlage von
„zuverlässigen und anerkannten Untersuchungen“ erfordern;
Neueinstufung zudem nur unter Beachtung der Auslegung des EuG zu
den „intrinsischen Eigenschaften“ des Stoffes, Krebs zu erzeugen; nicht
bei reiner „Partikeltoxizität“ (wenn Anhang I der CLP-Verordnung nicht
geändert wird)
19. 19
III. Urteilswirkungen (6)
2. Harmonisierte Einstufungen weiterer Stoffe
→ KOM ist nicht verpflichtet, Rechtsakte bzw. Regelungen zu überprüfen,
die u. U. mit demselben Rechtsfehler behaftet sind wie die
aufgehobenen Maßnahmen, aber selbst nicht angefochten wurden
(Beschränkung auf Streitgegenstand)
→ Umweg über Vorlageverfahren nach Ablauf der Frist für weitere
Nichtigkeitsklagen? Wohl (-), vgl. zudem Rn. 170 ff. des Urteils:
Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid nach Ansicht des EuG
nicht mit der anderer Stoffe vergleichbar
→ Auslegung des EuG für zukünftige Einstufungen zu beachten
3. Andere Rechtsakte
→ Folgenbeseitigungspflicht umfasst auch alle Unionsrechtsakte, die auf
dem annullierten Rechtsakt beruhen bzw. von ihm ihre Rechtmäßigkeit
ableiten; Pflicht zur Aufhebung bzw. Änderung entsprechend dem
Umfang der Kassation
20. 20
III. Urteilswirkungen (7)
Frist für die Neugestaltung der Rechtslage
→ Nach der Rechtsprechung des EuGH Pflicht zur Durchführung der
„Maßnahmen“ i. S. d. Art. 266 AEUV innerhalb einer „angemessenen
Frist“ (anders als für Mitgliedstaaten i. R. d. Art. 260 AEUV, dort
„unverzüglich“)
→ Hier voraussichtlich mit der nächsten Änderungsverordnung (ATP) im
(Früh-)Sommer 2023, wenn kein Rechtsmittel eingelegt werden sollte
21. 21
IV. Schadensersatzansprüche
Unionshaftung aus Art. 340 Abs. 2 AEUV?
→ Unionsrechtlicher Amtshaftungsanspruch steht selbstständig neben
Befolgungs- und Folgenbeseitigungspflicht aus Art. 266 AEUV,
vgl. Satz 2
→ muss mit Haftungsklage nach Art. 268 AEUV gegen die Kommission vor
dem EuG geltend gemacht werden, keine Entschädigung von Amts wegen
→ Präjudizwirkung des Nichtigkeitsurteils, aber kein automatischer
Schadensersatzanspruch bei rechtswidrigem Handeln von Unionsorganen
→ hinreichend qualifizierte Verletzung einer individualschützenden Norm
sowie unmittelbar kausaler Schaden erforderlich
→ „offenkundige und erhebliche“ Überschreitung der Befugnisse erforderlich;
Kriterien: besonderer Bedeutung der verletzten Schutznorm;
unentschuldbarer Normverstoß; klar abgrenzbare Gruppe von
Geschädigten; Schaden jenseits der Grenzen des allgemeinen
Wirtschaftsrisikos
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