1. Personality
Interview: Collin Thomas
14 beat 09 | 2009
Collin Thomas
Katastrophen-Management
von Tobias Fischer Manchmal steckt man als Musiker in einer Sackgasse und wünscht sich nichts sehnlicher als eine einfache
Methode, der eigenen Kreativität auf die Sprünge zu helfen. Collin Thomas hat eine solche Methode be-
gründet. Sie heißt „Alphabetische Musikerzeugung“ und bietet großen Freiraum bei direkten Ergebnissen.
Doch hat der gewiefte Minimalist und Schlagzeuger noch mehr ungewöhnliche Ideen auf Lager. Beat un-
terhielt sich mit dem Innovator.
2. Interview: Collin Thomas
Personality
beat 09 | 2009 15
Beat / Ich finde es interessant, dass du
einerseits frei improvisierst und anderer-
seits Zufallsoperationen nutzt. Wo siehst du
Berührungspunkte zwischen diesen Welten?
Collin / Nun, offensichtlich handelt es sich
um Gegenpole. Andererseits gehören sie
auch eng zusammen. Diese ungewöhnl-
che Beziehung gilt auch für mein gesam-
tes Werk. Denn es gibt Phasen, in denen ich
diese beiden Konzepte trenne, ein ande-
res Mal führe ich sie zusammen. Die Über-
schneidung von Komposition und Impro-
visation kann sowohl ein wunderbarer
musikalischer Moment als auch eine Katast-
rophe sein. Die eigentliche Herausforderung
besteht darin frühzeitig zu erkennen, wann
der letztere Fall eintreten könnte. Meine
Arbeit mit dem Trompetenspieler Nick How-
ell ist ganz besonders von diesem Gegen-
satz geprägt, da wir beide an dieser Schnitt-
menge arbeiten.
ABC der Musik
Beat / Die „alphabetische Musikerzeugungs-
methode“ ist ja eine solche Technik, die bei-
den Bereiche miteinander zu versöhnen. Wie
hast du sie entwickelt?
Collin / 1973 gab Leonard Bernstein eine
Vorlesungsreihe an der Harvard-Universität
über die Beziehung zwischen Musik und
Sprache. Diese Vorträge haben mich dazu
angeregt darüber nachzudenken, was es
außer Noten auf dem Papier noch für andere
Eigenschaften von Musik geben kann. Ich
war schon immer ein Fan von Cage und
Schoenberg und wollte herausfinden, ob
vielleicht eine Verbindung zwischen den
Zufallsoperationen von Cage, den 12-Ton-
Reihen von Schoenberg sowie den linguis-
tischen Konzepten von Bernstein besteht.
Nach sechs Monaten des Herumexperimen-
tierens hatte ich das Konzept entwickelt.
Allerdings war ich erst vier weitere Jahre
später soweit es auch zu Papier zu bringen.
Beat / Wie funktioniert die Methode?
Collin / Einfach gesagt werden musikali-
schen Ereignissen Buchstaben zugeordnet,
sodass also eine bestimmte Melodie oder
Notenfolge dem Buchstaben A entspricht,
eine andere dem B und so weiter bis zum
Z. Danach denkt man sich Sätze aus und
notiert sie in die entsprechenden Noten um.
Beat / Das bedeutet, dass die Methode stark
von der Definition der Buchstaben abhängt.
Wie gehst du dabei normalerweise vor?
Collin / Das Aufstellen des Alphabets ist
ganz bestimmt die größte Herausforderung.
Es kann schwierig sein, sich das eventu-
elle Endergebnis vorzustellen. Andererseits
kann man die Sache von zwei Seiten aus
angehen. Wenn ich an wirklichen Zufallser-
gebnissen interessiert bin, entwickle ich ein
Alphabet, das vor allem aus sehr grundle-
genden Werten wie einzelnen Noten oder
Pausen besteht. Um das Ergebnis präziser
zu kontrollieren definiere ich komplexere
musikalische Bausteine. Das können dann
zum Beispiel komplette Phrasen, harmoni-
sche Passagen oder sogar ganze Abschnitte
einer Partitur sein. Das ist der ungewisseste
Teil der Methode – und er kann daher auch
schon abschreckend wirken.
Beat / Er kann aber auch sehr viel Spaß
machen!
Collin / Ja, und im Endeffekt ist die Methode
auch entwickelt worden, um Musik damit
zu machen. Wer eher auf exakte Vorgehens-
weisen steht, wird hier bestimmt zu nichts
gezwungen.
Alphabetisch remixen
Beat / Wie intensiv hast du die Methode für
die Stücke auf deiner ersten Solo-CD „For The
Painters“ verwendet?
Collin / Wenn ich ganz ehrlich bin, nicht
besonders intensiv. „For The Painters” ist
ein betont improvisatorisches Album, und
es gibt darauf einfach nicht besonders viel
Platz für die Methode. Die einzigen Ausnah-
men sind die Zwischenstücke. Dabei handelt
es sich eigentlich um längere Tracks, die ich
„alphabetisch remixt“ habe.
»Die Überschneidung von Kom-
position und Improvisation kann
sowohl ein wunderbarer musi-
kalischer Moment als auch eine
Katastrophe sein.«
Collin Thomas‘ Methode der „Alphabetischen Musik-
erzeugung“ kann auch auf Soundeffekte und Beats
angewandet werden.
Manchmal muss man schon
ganz genau hinhören …
… um bei den Stücken des am äußersten Rand der Stille nach Klang forschenden Col-
lin Thomas überhaupt etwas zu vernehmen. Thomas schätzt die feine Anordnung von
Tönen ebenso wie ihre organisierte Abwesenheit und verbindet Improvisationen und
komponierte Sequenzen zu gespenstisch durchlöcherten Skizzen. Während der Großteil
seiner Diskografie kostenlos im Netz erhältlich ist, hat er gerade auch seine erste Solo-
CD veröffentlicht: das mit seiner selbstgebauten Music Box Drum eingespielte Album
„For The Painters“. www.collinthomas.net | www.nickandcollin.com
Diskografie:
Solo:
For The Painters
Mit Nick Howell:
Floor Fifty
Subtle Configuration
Spring Dance
Eskimo
Blades and Choirs
3. Personality
Interview: Collin Thomas
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Audioprogramm mit einem Buchstaben.
Mein Traum ist es ja auch, das Ganze noch
auf andere Kunstformen wie visuelle und
dramatische Künste auszuweiten.
Selbst ist der Instrumentenbauer
Beat / Man beobachtet gerade, dass immer
mehr Performer und Komponisten ihre Ins-
trumente selbst bauen. Auf „For The Pain-
ters” verwendest du ja auch ein einzigartiges
neues Gerät, nämlich die „Music Box Drum“,
bei der sich unter der Membran verschie-
denen Kontaktmikrofone und Soundeffek-
terzeuger befinden. Sind wir uns gerade in
einer Zeit, in der die Wahl der richtigen Inst-
rumente wieder genauso entscheidend wird
wie die eigentliche Komposition?
»Ich stehe mit beiden Beinen in
der Kraftwerk’schen „Mensch-
Maschine“-Mentalität, aber eine
direkte physische Interaktion ist
essenziell für meine Arbeit.“
Beat / Wie bitte?
Collin / Ich war schon immer von der Idee
eines alphabetischen Remixes fasziniert. Ich
habe diesen Gedanken bereits auf Noten-
texte und fertig aufgenommene Stücke
angewendet. Dabei nehme ich eine Auf-
nahme, schneide sie in Stücke und weise
dann den einzelnen so entstandenen
Abschnitten wieder Buchstaben des Alpha-
bets zu.
Beat / Man könnte die Alphabetmethode
ja auch für Faktoren wie Sound. Effekte
oder Beats verwenden. Hast du damit schon
Erfahrung gesammelt?
Collin / Es ist recht leicht die Methode auch
auf Klänge anzuwenden. Am einfachsten
verknüpft man einen ganz bestimmten
Sound in einer DAW oder einem anderen
Klangforschung
am äußeren
Rand der Stille:
Collin Thomas.
Unter der Membran der Music Drum Box verbergen sich Kontaktmikrofone und Soundeffekterzeuger.
Collin / Da sehe ich auf jeden Fall so. Obwohl
ich ein begeisterter Nutzer von Software
und computerbasierter Musik bin, gibt es da
eine gewisse kalte und leblose Qualität der
Interaktion. In dem Augenblick, da das Drü-
cken einer Taste und das Zupfen einer Saite
durch einen Mausklick ersetzt wurden, ging
eine physische Interaktion verloren, die seit
tausenden von Jahren Teil der Musik gewe-
sen ist. Obwohl die einfache Benutzung
natürlich spannend ist und auch zu äußerst
schönen Ergebnissen geführt hat, war es
für traditionell erzogene Musiker wie mich
klar, dass die Abwesenheit dieser direkten
Einflussnahme nicht ewig andauern konnte.
Ich stehe also mit beiden Beinen in der
Kraftwerk‘schen „Mensch-Maschine“-Men-
talität, aber eine direkte physische Interak-
tion ist essenziell für meine Arbeit.
Beat / Was für Effektgeräte benutzt du
zusammen mit der Music Drum Box?
Collin / Von Delay zu Wah-Wah und Fuzz
ist alles erlaubt. Kürzlich habe ich sie durch
Softwareeffekte, vornehmlich Freeware,
geleitet und fantastische Ergebnisse erzielt.
Der erste Track meines Livealbums vom 20.
März dieses Jahres verwendet ausschließlich
digitale Effekte auf einem Laptop. Es war die
einzige Methode, diesen Ambient-Drone, der
aus der Kombination aus Schlagzeug und
Laptop entstand, zu erzeugen. Für mich war
das ein ganz besonderer Moment.
Beat / Gibt es Pläne, die MDB auch für
andere Musiker herzustellen?
Collin / Leider nein, obwohl ich durchaus
darüber nachgedacht habe. Das Gerät her-
zustellen war überhaupt nur deswegen
möglich, weil ich bei einer örtlichen Schlag-
zeugfabrik angestellt war, wo ich die not-
wendigen Mittel besorgen konnte, die ich
für eine derart ausgefallene Einheit benö-
tigte. Die Rezession hat auch vor mir nicht
halt gemacht, und nach meiner Entlassung
bei dieser Fabrik ist die Idee einer Serienpro-
duktion in den Hintergrund gerückt. Obwohl
sie immer eine Möglichkeit bleiben wird. ◼