1. Vom Retrenchment zur Krisenreaktionsfähigkeit:
Ein empirischer Vergleich der Wohlfahrtsstaaten
Schweden und Deutschland 1990-2000
Ole Wintermann
Greifswald, den 7. Januar 2005
7. Januar 2005 Ole Wintermann 1
2. Problemstellung
Ausgangslage
Deutsche Reformstau- und Standort-Debatte
•
Schwedisches Erfolgsmodell bei Finanzpolitik, Kostenreduzierung et al.
•
Fragestellung
Wie können diese unterschiedlichen Ist-Zustände erklärt werden?
•
In welcher Weise beeinflusst Politik die Leistungsindikatoren?
•
Welches sind die Determinanten einer erfolgreichen Entwicklung?
•
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3. These
Unterschiedliche Fähigkeiten von Wohlfahrtsstaaten, auf Krisenzustände
zu reagieren, offenbaren sich an der Entwicklung ausgewählter sozio-
ökonomischer Leistungsindikatoren und ergeben sich aus unterschied-
lichen Graden der zeitlichen Abstimmung von programmatischen und
institutionellen Flexibilitäten der politischen Akteure und Prozesse.
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4. Wohlfahrtsstaaten und Krisen
Krisen
Fiskal- und Stagflationskrise
•
Steuerbarkeit
•
Legitimation
•
Integration
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Verteilungs- und Neiddiskussion
•
Erwartung
•
Anreizdiskussion
•
Motivation
•
Globalisierung/Demographischer Wandel/Finanzierung/Wettbewerb
•
Wohlfahrtsstaaten
Maß der Abdeckung und Erbringung sozialer Sicherung
•
Finanzierung, Qualität und Wirkung der Leistung
•
Wohlfahrtsstaatliche Regime
•
Mittelmeer-Modell
•
Ozeanien-Modell
•
Asien-Modell
•
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6. Weiterentwicklung des Ansatzes von Pierson
Elemente eines neuen Ansatzes
Vom Retrenchment zur Krisenreaktionsfähigkeit
•
Vom parteipolitischen Erfolg zur Effektivität
•
Von der Verharrung zur Gleichzeitigkeit der Flexibilitäten
•
Implizite Annahmen
Kurzfristige Top-Down-Entscheidungen
•
Temporäres Abweichen von Parteipolitik
•
Wählerpräferenzen von eher marginaler Bedeutung
•
Interessengruppen verhindern eher sachpolitische Reaktionen
•
Minderheitsregierungen besitzen größeres sachpolitisches Reaktionspotenzial
•
Sozioökonomischer Output der Änderungen ist Erfolgsmaßstab
•
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7. Soziale Sicherung
Schweden
1990 Absenkung Lohnersatzquote in der Krankenversicherung (Minderheit SAP)
•
1992 und 1993 Mitarbeit SAP bei bürgerlichen Krisenpaketen (Bürgerliche Minderheit)
•
Konflikt LO/SAP (Opposition) bei Reform der Sozialversicherungen
•
1991-1994 Konflikt FP/bürgerliche Minderheitsregierung
•
Reform der Arbeitslosenversicherung 1994 (Bürgerliche Minderheit); Revision 1994
•
durch SAP
Verabschiedung Rentenreform auch durch SAP gegen LO (ab 1994, Minderheit SAP)
•
Sparkaket 1994 (Minderheit SAP)
•
Sparpaket 1995/1996 (Minderheit SAP)
•
Deutschland
1990 Übertragung der Sozialversicherungsstruktur und Beitragsfinanzierung gegen SVR
•
und SPD auf die neuen Bundesländer (Bürgerliche Mehrheit Bundesrat und Bundestag)
Rentenreformgesetz 1992, Gesundheitsstrukturgesetz 1992 und Soziale
•
Pflegeversicherung 1995 (Lager übergreifender Konsens)
1996 Biedenkopf-Schröder-Papier
•
1996 Beitragsentlastungsgesetz
•
1997 Rentenreformgesetz `99
•
Rücknahme Rentenreformgesetz `99 noch 1998 (Mehrheit SPD und Bündnis90/Grüne)
•
2000 Beschluss zur Riester-Rente (Bundesrat und Bundestag)
•
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8. Arbeitsmarkt
Schweden
1990/1991 Austritt der Arbeitgeber aus Arbeitsmarkt- und Tarifgremien
•
1991 Rehnberg-Abkommen für Lohnstopp (Minderheit, SAP)
•
1991-1992 Dynamisierung der rezessiven Arbeitsmarkttendenzen durch Privatisierungen
•
im Dienstleistungssektor (Bürgerliche Minderheit)
1991-1994: Aufgabe des Vollbeschäftigungs- zugunsten des Inflationsziels durch SAP
•
Ab 1997 Reform der Lohnpolitik durch `Neuauflage Sjöbadavtalet´zwischen Tarifpartnern
•
Einführung Tax-Credit-System in 2000 (Minderheit, SAP)
•
Deutschland
1990 und 1994 Ausweitung ABM zu Wahlterminen
•
10. Novelle des AFG, Produktive LKZ-Ost
•
1996 Förderung Frühverrentung durch Gesetz zum gleitenden Übergang in den Ruhestand
•
1996 Scheitern des ersten Bündnisses für Arbeit wg. Lohnfortzahlung und Tarifautonomie
•
1996 Wachstum- und Beschäftigungsförderungsgesetz
•
1996 Scheitern der gesetzlichen Möglichkeit der Reduzierung der Lohnfortzahlung
•
1999 Neuregelung Geringfügige Beschäftigung, Scheinselbständigkeit, ökologische
•
Steuerreform, Kündigungsschutz, Schlechtwettergeld, Lohnfortzahlung
2002 Scheitern des 2. Bündnisses für Arbeit u.a.wg. Tarifautonomie
•
Danach Ausbrechen aus Pfadentwicklung durch neues Instrument der Hartz-Kommission
•
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9. Wirtschaftspolitik
Schweden
Ende der 80er Jahre erste Deregulierungsschritte (Minderheit, SAP)
•
1991 Aufgabe der Abwertung als wettbewerbspolitisches Instrument (Minderheit, SAP)
•
1993 vollständige Aufgabe der Wechselkurskontrolle (politischer Konsens)
•
Ab 1991 Fortsetzung der Politik der Privatisierung und Deregulierung bei Post,
•
Telekommunikation,Luft, Eisenbahn, Energie (Bürgerliche Minderheit)
Besonders ab 1991 Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen (Bürgerliche Minderheit)
•
1994 programmatisches Umschwenken der SAP vom Versorgungsstaat zum investiven und
•
global geforderten Wohlfahrtsstaat (Minderheit, SAP)
Deutschand
1990 Einführung der DM-Mark in den neuen Bundesländern (Bürgerliche Mehrheit)
•
Ab 1990 Privatisierung öffentlicher Infrastruktur in den neuen Bundesländern (Bürgerliche
•
Mehrheit)
Besonders nach 1992 restriktive Geldpolitik und Hochzinsphase (Traditionell unabhängige
•
Bundesbank)
1993 und 1994 erste Privatisierungsschritte Bahn und Post (Bürgerliche Mehrheit)
•
Gegen Mitte der 90er Jahre Auslaufen der Dynamik der Abschreibungsmodelle für
•
Bezieher höherer Einkommen in ostdeutscher Bauindustrie
Seit Ende der 90er Jahre Subventionierung der Bauindustrie durch die Eigenheimzulage
•
(Bürgerliche Mehrheit)
1992-2000 kontinuierlich lahmende Binnennachfrage
•
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10. Finanzpolitik
Schweden
1990/1991 Steuerreform (Minderheit, SAP; mit FP)
•
1991-1992 unzureichend gegenfinanzierte Steuersenkungen (Bürgerliche Minderheit)
•
1991 und 1993 Steuerstopp für Kommunen (Bürgerliche Minderheit)
•
1992-1993 Vier Haushaltsnotpakete(Bürgerliche Minderheit mit SAP)
•
1993 Aufkündigung der Zusammenarbeit durch die SAP
•
1994 Wahlsieg der SAP mit Hinweis auf notwendige Kürzungen
•
1994/95 drei weitere Sparpakete (Minderheit SAP; mit C und VP)
•
1997 Verabschiedung eines Gesetzes zur Haushaltspolitik (Minderheit, SAP)
•
Deutschland
1990 Grundsatzentscheidung contra Steuerfinanzierung (Bürgerliche Mehrheit)
•
Ab 1990 Erhöhung indirekter Steuern sowie Schattenhaushalte (Bürgerliche Mehrheit)
•
1993 Solidarpakt (Konsens)
•
1993 Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms sowie
•
Standortsicherungsgesetz (Bürgerliche Mehrheit)
1996 Steuerliche Freistellung Existenzminimum
•
1996 Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (Bürgerliche Mehrheit)
•
1997 Petersberger Steuerbeschlüsse (Scheitern im Bundesrat)
•
1999 Steigerung des Sozialbudgets um 12% (Mehrheit SPD, B90/Grüne)
•
Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 (Mehrheit SPD, B90/Grüne)
•
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11. In-/Flexibilitäten in Schweden
Programmatisch
SAP: Finanzmarktderegulierung
•
SAP: Vom Vollbeschäftigung- zum Inflationsziel, Lohnstopp
•
SAP: Absenkung der Lohnersatzraten, Karenztage, Privatisierungen
•
SAP: Be-/Entlastung Spitzenverdiener, Mehrbelastung bei Sozialabgaben
•
SAP: Aufgabe Volkspension, Leistungs-/Kapitaldeckungsprinzip
•
SAP: Aufgabe Versorgungsstaat, investiver Wohlfahrtsstaat
•
SAP: Tax-Credit-System
•
Reichsbank: Aufgabe der Außenwertkontrolle
•
M: Beibehaltung der angebotsorientierten Steuersenkungspolitik
•
M: Privatisierungen
•
Institutionell
Minderheitsregierungen bzw. Lager übergreifender Konsens
•
Ausschluss der Gewerkschaften
•
Abrücken von Kommissionsarbeit
•
Von der Aufgabe der Selbstverwaltung zur neuen Tarifpartnerschaft
•
Von der solidarischen Lohnpolitik zur Wettbewerbssicht
•
Kontrolle der Gewerkschaften über Arbeitslosenversicherung
•
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12. In-/Flexibilitäten in Deutschland
Programmatisch
CDU/CSU/FDP: Privatisierung öffentlicher Infrastruktur
•
CDU/CSU/FDP: Beibehaltung der angebotsorientierten Steuersenkungspolitik
•
CDU/CSU/FDP: Beitragsfinanzierung Wiedervereinigung
•
CDU/CSU/FDP: Anreiz statt Sparzwang
•
SPD: Steuerpolitik als Umverteilungs-, Konsolidierungs- und Nachfragepolitik
•
SPD: Scheinselbständigkeit, Geringfügige Beschäftigung
•
SPD: Riester-Rente
•
SPD/CDU: Rente, Pflegeversicherung, GKV, Frühverrentung
•
Bündnis90/Grüne: Ökologische Steuerreform
•
Gewerkschaften: Tarifautonomie, Niedriglohnbereich
•
Bundesbank: Restriktive Geld- und Hochzinspolitik
•
Sonstige: Schröder-Biedenkopf-Papier
•
Institutionell
Kanzlermehrheit
•
Zwei Wohlfahrtsparteien
•
Bundesrat
•
Bundesbank
•
Bündnis für Arbeit
•
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14. Vergleich Leistungsindikatoren II
Politikfeld Wirtschaftspolitik Deutschland Schweden
Reales Wachstum des B I P +1,5% 2,6%
3
Bruttoinlandsprodukts
Anteil Dienstleistungssektor 63,9% 73,0%
Staatliche Konsumausgaben +16,3% +2,1%
Staatliche Investitionen -16,1% +7,6%
Öffentliche Bildungsausgaben 4,7% 7,7%
Ausländ. Direktinvestition 55,9 Mrd. $ 60,8 Mrd. $
Exportvolumina +35,5% +57,9%
Produktivitätsindex +14,2% +27,2%
BIP/Kopf +12,0% +19,2%
Politikfeld Finanzpolitik Deutschland Schweden
Haushaltssaldo -1,6% +1,7%
Gesamtschuldenbestand/BIP +56,7% +20,6%
Kaufkraftparitäten gegenüber +13,3% +5,1%
1
$
Inflation +22,6% +17,4%
Kurzfristige Zinsen 4,4% 3,9%
Steuerquote 37,9% 54,2%
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15. Offene Fragen und Defizite
Individuelle Ebene
Zeitpunkt und Art individueller Entscheidungen
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Intensivere Analyse der Mikroebene und politischen Einzelprozesse
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Gewöhnungseffekt, institutionelle Anreize, Sozialisation
•
Freiheit von Werturteilen
Interpretationshoheit, Auswahl und Wechselwirkung der Indikatoren
•
Einbeziehung weiterer Vergleichsfälle
•
Institut der Deutschen Wirtschaft
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Perspektivische Betrachtung
Langfristige Strukturprobleme
•
Normative Basis eines effektiven Wohlfahrtsstaates?
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16. Schlussfolgerungen
Förderung programmatischer Flexibilität
Zielsetzung statt Rahmenfixierung
•
Einstellung zu politischem Pragmatismus
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Gesetzesfolgenabschätzung, Politikberatung und Kommissionen
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Förderung institutioneller Flexibilität
Föderalismus
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Minderheitenregierungen
•
Reform der Wirtschaftsforschungsinstitute
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Innerparteilicher Aufbau
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