1. FAU-Proseminar: Die Copernicanische Wende – Ein Motiv zur Entstehung der
neuzeitlichen Naturwissenschaft, 9. Sitzung, Do 15.12.11, Pierre Leich
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Galileis Eindringen in die Theologie
Im Jahr 1613 nahm Galileis Freund Benedetto Castelli an einem Tischgespräch an
der großherzoglichen Tafel von Christina di Lorena / Christina von Lothringen teil, bei
dem diese ihn auf die vordergründigen Widersprüche zwischen der Bibel und der
copernicanischen Lehre angesprochen hatte. In seinem „Brief an Castelli“ gibt Galilei
eine ausführliche Darstellung über Bibelexegese. Er gibt zwar zu, dass die Heilige
Schrift niemals lügen oder irren könne, doch würden sich ihre Ausleger in arge
Widersprüche, selbst in Ketzereien, ja in Gotteslästerungen verwickeln, wollten sie
die Bibel immer genau nach ihrem Wortlaut interpretieren. So müssten sie dann Gott
Hände, Füße und Ohren zuschreiben und ebenso menschliche Empfindungen, wie
Zorn, Reue, Hass, auch ihn der Vergesslichkeit und Unkenntnis der Zukunft fähig
halten.
Da also die Heilige Schrift an vielen Stellen eine andere Auslegung, als wie der
Wortlaut scheinbar besagt, nicht bloß gestattet, sondern geradezu erheischt, so scheint
mir, es sei der Heiligen Schrift in mathematischen Diskussionen der letzte Platz
einzuräumen.1
In Form eines Sendschreibens aus dem Jahr 1615 an die toskanische Großherzogin-
Witwe Christina di Lorena präzisiert Galilei seine Position, versucht eine
Beweislastumkehrung und moniert eine falsche Bibelauslegung. Ausführlich befasst
er sich mit der Beziehung von Theologie und Naturwissenschaften, für die er
wechselseitige Unabhängigkeit fordert.
Wenn nun die Theologie, sich nur mit den höchsten göttlichen Problemen
beschäftigend, aus Würde auf ihrem königlichen Thron verbleibt, der ihr vermöge ihrer
hohen Autorität zukommt, und nicht zu den niedrigen Wissenschaften herabsteigt,
vielmehr dieselben, als die Seligkeit nicht betreffend, unbeachtet läßt, so sollten auch
nicht die Professoren der Theologie sich die Autorität anmaßen, Dekrete und
Verordnungen in Fächern zu erlassen, die sie nicht betrieben und studiert haben. Denn
dies wäre, als wenn ein absoluter Fürst, welcher weiß, daß er frei befehlen und sich
Gehorsam verschaffen kann, ohne Arzt oder Architekt zu sein, verlangen würde, daß
man nach seinen Anordnungen sich kurieren oder Gebäude aufführen solle, bei
größter Lebensgefahr für die armen Kranken und offenbarem Ruin der Baulichkeiten.2
Die Theologen warnte er, sich voreilig festzulegen:
Sehet vorerst zu, die Beweisgründe des Kopernikus und seiner Anhänger zu
widerlegen und überlaßt die Sorge, sie als ketzerisch oder irrig zu verdammen,
denjenigen, welchen dies zukommt; aber hoffet nicht, bei den ebenso bedächtigen als
einsichtsvollen Kirchenvätern und in der absoluten Weisheit desjenigen, der nicht irren
kann, jene hastigen Entscheidungen zu finden, zu welchen Ihr Euch, von persönlichen
Interessen und Leidenschaften getrieben, würdet hinreißen lassen. Denn es ist zwar
unzweifelhaft, daß bezüglich dieser wie anderer ähnlicher Behauptungen, welche nicht
1 Antonio Favaro (Hg.), Le Opere di Galileo Galilei, Bd. V, S. 279-288; zitiert nach Karl von Gebler,
Galileo Galilei und die römische Curie. Nach den authentischen Quellen, hg. v. G. Peers, Essen
(erstmals erschienen als Die Acten des Galilei'schen Processes, Stuttgart 1877), S. 36.
2 Op. II, S. 26-64; zitiert nach Karl von Gebler, Galileo Galilei und die römische Curie. Nach den
authentischen Quellen, hg. v. G. Peers, Essen, S. 47.
2. gerade de fide sind, Seine Heiligkeit der Papst stets die unbedingte Gewalt hat, sie
gutzuheißen oder zu verdammen; aber es steht nicht in der Macht irgendeines
menschlichen Wesens zu bewirken, daß sie wahr oder falsch würden und anders, als
sie ihrer Natur nach de facto sind.3
Als 1623 der Galilei freundschaftlich zugewandte Maffeo Barberini als Papst Urban
VIII. den Heiligen Stuhl betrat, veröffentlichte Galilei unter dem Titel Il Saggiatore in
Rom eine Streitschrift gegen den Jesuitenpater Orazio Grassi, der sich unter dem
Pseudonym Lotario Sarsi Sigenzano 1619 zur Natur und dem Ort von Kometen
geäußert hatte (Libra astronomica et philosophica). Obwohl Galilei weitgehend die
pythagoreische Meinung vertrat, die Kometen seien eine Erscheinung, die unterhalb
des Mondes durch materielle Ausdünstungen der Erde zustande käme, enthält die
Schrift bedeutende methodologischen Bemerkungen. U.a. greift er das Bild vom
’Buch der Natur’ auf:
Die Philosophie ist in dem großen Buche geschrieben, das offen vor unseren Augen
liegt. Ich meine das Universum. Wir vermögen es jedoch erst zu lesen, wenn wir die
Sprache gelernt haben und mit den Zeichen vertraut sind, in denen es geschrieben ist.
Es ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, und seine Zeichen sind Dreiecke,
Kreise und andere geometrische Figuren. Ohne deren Kenntnis ist es unmöglich, auch
nur ein einziges Wort zu verstehen.4
3 Op. II, S. 26-64; zitiert nach Karl von Gebler, Galileo Galilei und die römische Curie. Nach den
authentischen Quellen, S. 49f. Ähnlich in Lettera a Christina di Lorena – Brief an Christine von
Lothringen. Italienisch – Deutsch, hg. v. Michael Titzmann und Thomas Steinhauser, Passau 2008,
S. 171f.
4 Zitiert nach Jürgen Mittelstraß, Galilei als Methodologe, Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, Bd.
18 (1995), S. 16.