Ce diaporama a bien été signalé.
Le téléchargement de votre SlideShare est en cours. ×

Sinnlichkeit Des Habens

Publicité
Publicité
Publicité
Publicité
Publicité
Publicité
Publicité
Publicité
Publicité
Publicité
Publicité
Publicité
SV
Alexander Kluge
Sinnlichkeit des Habens

  Geschichten für
 Marx-Interessierte I




       Suhrkamp
Erste Auflage 2008
                     dieser Zusammenstellung
            Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008
      ...
Publicité
Publicité
Publicité
Publicité
Publicité
Publicité
Publicité
Chargement dans…3
×

Consultez-les par la suite

1 sur 36 Publicité

Plus De Contenu Connexe

Plus récents (20)

Publicité

Sinnlichkeit Des Habens

  1. 1. SV
  2. 2. Alexander Kluge Sinnlichkeit des Habens Geschichten für Marx-Interessierte I Suhrkamp
  3. 3. Erste Auflage 2008  dieser Zusammenstellung Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008 Quellennachweise am Ende des Dokuments Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Memminger MedienCentrum AG
  4. 4. Inhalt Ursprüngliches Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Die Verstopfung des Kriegsbildes durch Grundstücke und Zäune . . . 9 »Sinnlichkeit des Habens«. Die ganze Gerda muß es nicht sein . . . . . 10 »Sagt: Da bin ich wieder, hergekommen aus weiter Welt.« . . . . . . . . 12 Hänschen Albertis verstreute Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Heiner Müller und »Die Gestalt des Arbeiters« . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Neue Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Sibirische Zeitreserve ................................. 22 Hinweise eines Leiters des Kassenwesens in Stuttgart. Was ist Geld? . . 25 Kälte ist keine Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Die Heimat liegt da, wo meine Produktionsstätte ist, wo meine Arbeit liegt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 »Ad unum omnes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
  5. 5. 7 Ursprüngliches Eigentum Die eine Mutter in der Wohngemeinschaft säugte ihr fünfmonatiges Kind. Die dreizehnmonatige Tochter der anderen Mutter, sie saßen alle an einem Tisch, auf dem makrobiotische Kost aufgestellt war, schrie, da sie auf das ruhig an der Brust der anderen Mutter saugende Mit-Kind sah. Die beiden Brüste der eigenen Mutter standen zu ihrer Verfügung. Sie brauchte sich nur hinzuwen- den, der Pullover wurde hochgezogen, und ein Busen fiel ihr quasi in den Mund. Zum Grundbesitz der Dreizehnmonatigen gehörten aber auch die zwei Brüste der anderen Frau. Die Mütter tauschten sich für die Kinder gewöhnlich aus. Miriams, der drei- zehnmonatigen Tochter, Grundstück reichte, Halbmeter für Halbmeter be- krabbelt, von Schulter und Brust der einen Mutter bis zur äußeren Brust und Schulter der anderen, gleich wo sie in dem geräumigen Wohnstall dieser Ge- meinschaft sich aufhielten. So kroch Miriam von der Mutter weg, von beiden Müttern mit Spott und Blik- ken begleitet, griff mit ihren Armen in Richtung des konkurrierenden Babys, beabsichtigte, es fortzudrängen, weinte und schrie. Wechseln wir, sagte Anne. Sie gab ihr Fünfmonatiges an die gute Freundin, die es anlegte. Das Kind ließ sich durch das kurze Hinüberwechseln nicht aus sei- nem Konzept bringen. Jetzt war auch Miriam froh. Sie konnte sich ihres be- drohten Grundbesitzes vergewissern und langte, während sie bedächtig saugte, mit ausgestreckter Hand, ein Zeigefinger im Mund, in die Richtung der anderen Mutter-Person, dies alles war ganz ihres. Bis ein Seitenblick ihr den Verrat am anderen Ende ihres Paradieses zeigte: Dort lag das Kleinkind, wurde von Urmutter angelächelt. Nervös wendete die Dreizehnmonatige sich zum Gefecht, rückte vom Schoß, ließ sich zu den Beinen der Mutter führen, wollte die Rechtsordnung wiederherstellen, d. h. das andere Kind aus der Armbeuge, von der Brust wegstoßen. Die mütterlichen Freundinnen, weit entfernt, diesen rabiaten Willen zu bre- chen oder zu manipulieren, was in ihrer Macht gestanden hätte (sie waren keine königlichen Herren oder Justitiare), ließen allerdings auch nicht ab, das Fünfmonatige gemeinschaftlich zu befriedigen. Also wechselten sie das Kind wiederum aus. Kurze Siegesphase für Miriam. Danach nahm die aufmerksame Miriam die Fremdbebauung ihres eingezäunten Geländes, ihrer gedachten Vorräte, erneut wahr, lehnte konsequent die Brust vor ihr ab, sah zur anderen Seite hin, wim- merte, Rücken am warmen Bauch ihrer größeren Mutter, betastet durch deren Hand. Eigentlich hätte sie sich so einrichten können für den Nachmittag. Ein
  6. 6. 8 Ursprüngliches Eigentum Spaziergang im Wald stand in Aussicht. Sie konnte aber die fremde Benutzung ihres Eigentums nicht dulden, mußte unter Hingabe jeder Glückseligkeit zum Kampf schreiten. Dieses Leiden ist notwendig, sagte die Mutter Miriams. Ja, antwortete die Freundin ruhig. Du kannst jetzt gar nichts machen. Das Leiden muß sie aus- halten.
  7. 7. 9 Die Verstopfung des Kriegsbilds durch Grundstücke und Zäune Ich kann Ihnen nicht das Eigentum abräumen, antwortete der Minister, nur damit Sie Ihre Übungen machen können. Der Nato-Oberkommandierende in seiner frisch gebügelten Feldbluse und der Schirmmütze legte dem Politiker eine Karte des Bundesgebiets vor. Hier, sagte er, haben Sie eine Landkarte der BRD, in die alle Privatgrundstücke, die wir als Truppe in Friedenszeiten nicht betreten dürfen, eingetragen sind, und diese kleinen gelben Tupfen hier sind unsere Zonen, in denen wir uns aufstellen oder üben dürfen. Das ganze Gebiet ist durch Grundbesitz so vollgestellt, daß an eine Verteidigung nur im Kriegs- fall zu denken ist. Da dieser Kriegsfall aber aus wenigen Stunden oder Minuten besteht und wir die Soldaten erst hier und hier (zeigt auf der Karte die wesent- lichsten Verteidigungsräume) hineinstellen müßten, damit sie jetzt auf irgend- welchen, im Kriegsfall selbstverständlich konfiszierten Privatböden richtig stehen, kann ich Ihnen versichern, daß wir mit gar nichts drohen sollten.
  8. 8. 10 »Sinnlichkeit des Habens«. Die ganze Gerda muß es nicht sein Er verfügte seit 8 Wochen über eine Errungenschaft. Er hatte eine attraktive Persönlichkeit, Gerda, in sein Quartier aufgenommen. Oft wunderte er sich über ihre Vorteile. Ihre Brüste, als er sie kennenlernte, sahen genauso aus wie die des Titelblattmodells der Quick. Das sprach für »Temperament«. Recht eindeutig meinte sie, daß er gut rieche, roch auch praktisch an seiner Haut, sei- nem Mund, seinen Haaren, Ohren, dieser Geruch sei »männlich«. An anderer Stelle erwähnte sie, daß Männer stinken. Klar war das nicht. Wie sie ihre Klei- der und Sachen bescheiden in einer Ecke deponierte, so daß in seinen Räumen keine Unordnung entstand, gefiel ihm. An sich hatte er keinen Bedarf an einer ganzen Frau dieses Kalibers. Er hätte ja auch in einem Restaurant nicht 1 Ente, 1 Reh, 1 Gans mit Klößen und Kraut, sondern nur 1⁄4 Ente, 1 Gänsekeule oder ein Stückchen Brust oder eine Portion Rehrücken bestellt. An dem Einbringsel Gerda hätten 5-6 Freunde von ihm mitknabbern können. Er wollte ihr das aber nicht vorschlagen, da er fürchtete, sie zu beleidigen. »Ich muß mich am Riemen reißen«, sagte er. Oft wünschte er, sie wäre still, wenn sie auf ihn einredete. Er versuchte es mit einer gedanklichen Nothilfe. Er stellte sich intensiv vor, er wäre allein, überhaupt niemand redete mit ihm seit einem 3⁄4 Jahr, es ist kalt, zugig, keine Hautwärme in der Nähe, ein Geschlechtsdruck packt ihn, daß er mit einem Fernglas die Parks durchstreift, ob nicht in der Ferne irgendwelche Mädchenröcke zu erspähen sind. Das war vorstellbar, wenn auch zu seinen Lebzeiten nicht vorgekommen. Schlußfolgerung dieser Bestimmungen sollte sein: Wie glücklich bin ich, diese aparte Erscheinung Gerda jetzt in meiner Griffweite zu haben. Während er sich so zu konzentrieren versuchte, redete sie ihn an; was ihn störte. Er konnte nicht gleichzeitig seinen Appetit anstacheln und ihr zuhö- ren. Sich etwas, was er hat, dadurch wertvoller zu machen, daß er sich vor- stellt, daß er es nicht hat, war z. B. möglich bei Eßwaren. Die Vorstellung, intensiv eingebildet, daß die Brotrationen auf 180 g gesetzt sind, das sind knapp 11⁄2 Scheiben, oder angesichts eines saftigen Steaks, daß dieses Steak für einen Soldaten bei Tula im Winter 1941 unerreichbar ist, hatte ihn wie- derholt zum Mehressen veranlaßt. Er hatte aufgegessen, so als ob das wirk- lich morgen sonniges Wetter bringt. Selbstverständlich glaubt er nicht an Kindermärchen. Dagegen in bezug auf Gerda gerät er rasch ins Träumen. Ihm schien in seiner besonderen Lage eine komplette Vereinsamung verlok-
  9. 9. »Sinnlichkeit des Habens«. Die ganze Gerda muß es nicht sein 11 kend. Er konnte ja nur vom Moment her und nicht in den Formen der Vor- ratsbildung empfinden.
  10. 10. 12 »Sagt: Da bin ich wieder, hergekommen aus weiter Welt.« Es war unsinnig, schlecht abstrakt, gewissermaßen mit Gewalt die Brücke zur Arbeiterklasse zu suchen, nur weil Hofmann, unterstützt von H. H. Holz und Bärmann in der Diskussion am Vorabend in der zentralen Fehlerquelle der Ak- tionen des Frankfurter SDS »mit dem Stock herumstocherte«. Der sichere Tod der Bewegung konnte auf zweierlei Art stattfinden: 1. Wenn wir als »Schau- spieler unserer oder fremder Ideale« antreten, 2. wenn wir, wie Habermas vor- schlägt, eine Phase »Trocken-Rudern« einlegen, d. h. die Aktionen anhalten und uns bis an die Zähne mit Vorbereitungen bewaffnen. Seminarform, das ist der Tod der Bewegung. Das bedeutete, da ja die fehlende Verbindung der arbeitenden Gruppen zur Arbeiterklasse beweisbar war, daß ein riskanter Schlag gemacht werden mußte. Krahl überredete eine starke Gruppe, R., als sein Leibwächter, Knei- pendurchzüge in Bornheim durchzuführen. Hier redete er nicht anders, was die Anlehnung an klassische Textstellen, Fremdworte oder eigentümliche Wendungen von Marx oder der großen Philo- sophie betrifft, als er im Umkreis des Studentenhauses am Beethovenplatz ge- sprochen hätte: sehr ruhig. Die Arbeitergenossen sahen auf die Krahlsche Zunge, seine Körperbewegungen, den Eifer. Also einerseits: daß er mehr redete als sie oder seine Begleiter. Andererseits: daß er mit ihnen zu tun haben wollte und schon zu tun hatte. Das mußte an- dere Gründe haben als betuppen wollen – sonst hätte er sie bestochen, z. B. »vertrauter« geredet. Die schnellen Reden waren ihnen aber nicht vertraut. Auch nicht die Sachgebiete, denn Krahl skizzierte in lang hingelegten Anako- luthen (d. h. abgebrochenen Sätzen) die Verteidigungszonen der NS-konstitu- ierten Gesellschaft: 1. die Polizeiketten, die auf dem Messegelände zu sehen sind, 2. die Justiz, die sich einmauert, 3. Werkschutz, Nicht-Öffentlichkeit der Betriebe, 4. die inneren Wahrnehmungsverbote, die entfremdete Leugnung der eigenen Erfahrung, dann wäre sie aber durch doppeltes Lügen schon wieder umkehrbar und zerfiele in Wahrheit. Gleich darauf Biafra, wozu die Analyse noch fehlt, die örtlichen Verbindungen zwischen Rüsselsheim und den Höch- ster Betrieben, Beispiele aus Vietnam und aus Paris im Vorjahr, Senghor aus Senegal, die Situation auf der Buchmesse, sowie in rascher Fahrt: »daß kultur- revolutionäre Aufklärung Gegensätze aktualisiert, damit sie ausgetragen wer- den können, damit überhaupt die wesentlichen Konflikte dieser Gesellschaft wieder begriffen werden können«. Das war für die Arbeiter-Genossen zunächst »ungewohnt«. Hätten sie aber,
  11. 11. »Sagt: Da bin ich wieder, hergekommen aus weiter Welt.« 13 hier in der Kneipe, für 3-4 Stunden, ihre ganze Existenz versammeln oder auch nur plötzlich handeln können, so wäre es zum Austausch gekommen. Sie nah- men diesen Mann mit seinem Gefolge als exotisches Tier, ein Zoo-Wesen. Das gab es also, hatte eventuell mit ihnen etwas zu tun. Das wurde nicht negativ aufgenommen. Die Schwierigkeit war, daß Krahl sein gesamtes Dasein (mit ei- niger Gewalt) hierher gezerrt hatte – sie aber konnten nicht mittun, da Teile ih- res Daseins in Betrieben, Wohnungen (wie gesagt: zum Teil in früheren Zeiten) versammelt waren, sie hier nur mit Teilkräften saßen. Sie hätten sich so nach einer Weile in Krahls Wort-Kolonnen gern eingereiht, durch langsames Hin- und Herüberschütten der Worte sich in den fremden Rhythmus eingepaßt. So aber mußten sie ihr Erinnerungsvermögen aktivieren, auswendig lernen (dafür floß es zu schnell), wenn sie das Gesagte (in ihrer Version) in die anderen Pra- xisbereiche hinüberbringen wollten. Sie hatten insofern, obwohl sie sich mo- mentan nicht sichtbar anstrengten, während Krahl sich mit äußerster Anstren- gung plagte (fühlte sich aber auf der Hauptstraße), beträchtliche Mehrarbeit zu leisten, wenn dies zu einer Kommunikation mit ihnen als Ganzem führen sollte. Die Informationswege verteilten sich dann über Tage. Sie wollten nicht jeden Abend so geschubst werden, aber als Ausnahme war es möglich, sagten sie. Daraus lernte wiederum Krahl, ebenso einige seiner Mitarbeiter, während es so aussah, als seien sie mit Draufzureden, sog. Agitation, völlig beschäftigt, re- gistrierten sie doch auf zweitem, drittem, viertem Gleis. Während R., der auf das Haupt seines Königs sah, soviel kleiner als er, an »der Diskussion« eigent- lich nicht teilnahm. Er prüfte nur, aus den Gesichtern der Freunde, welche kri- tischen Einwände über den Gesprächsverlauf und Krahls Dominanz später im Gruppengespräch kommen würden.1 Die Treffen in Frankfurt-Nord dauerten nicht ein halbes Jahr, sondern eine Woche. Die Gewohnheit, zu frühabendlicher Stunde in die Kneipen von Born- heim zu ziehen, wurde durch Notstandsaktionen, erotische Privaterlebnisse beschnitten. Es war keine Zeit da. Die Kneipenbesuche verspäteten sich, jetzt 1 Harte Diskussion. Krahl wird gerupft, weil ja dieses »Vorgehen« der Genossen gegenüber den Arbeiter-Genossen Ausbeutung sein kann. »Die sind die Versuchskaninchen, die von uns studiert werden, daß wir sie nicht mit Heftzwecken an die Wand annageln, fehlt noch.« Wolff, der jüngere Bruder, wollte einwenden: Immer eure Hemmungen. Die Genos- sen duldeten aber keine Abspeisung. Wenn es Ausbeutung war, mußte es unterlassen wer- den. Aber wie sollen wir dann – oder sie – lernen oder konferieren oder irgend etwas mit- einander zu tun haben? Nein, die Genossen antworteten rigide: Wenn es Ausbeutung ist, nicht. Dann definieren wir es eben nicht als Ausbeutung, sondern z. B. als Überbeutung oder Auseinanderbeutung oder Miteinanderbeutung usf. Offner Hohn. Die Diskussion er- hitzt sich. Zuletzt nannte Krahl, nur noch von R. und dem jüngeren Wolff unterstützt, die Mehrheit der Genossen »Hilfsbremser«.
  12. 12. 14 »Sagt: Da bin ich wieder, hergekommen aus weiter Welt.« war die Mehrzahl der Arbeiter-Genossen schon gegangen. Die Studenten-Ge- nossen, in vergeblichen Aktionen, die auch zum Teil unvorbereitet waren, ver- schlissen, befanden sich nunmehr ebenfalls in der Lage der Arbeiter-Genossen, brachten nur Teile ihres Daseins in die Kneipen, andere hingen regressiv in der Kinderzeit oder an verschiedenen Orten der Stadt (insbesondere Justizge- bäude Hammelsgasse). Man mußte mit einem großen Schlag versuchen, die Einheit des Handelns nicht nur zur Arbeiterklasse hin, sondern auch zu sich selbst als Person herzustellen. Machen Sie das mal als 5,30-m-Hochsprung- Spezialist, im Sprung den Höhersprung zu erzwingen. Nun zwangen ja nicht sie, sondern sie, eine Minderheit, wurde gezwungen.
  13. 13. 15 Hänschen Albertis verstreute Sinne Hänschen Alberti war Werkzeugmaschinenbauer. Ein Teil seiner Arbeitskraft, seines Lernfleißes, steckte in Geräten der Kriegsindustrie 1943/45, z. B.: Erfah- rung im improvisierten Aufbau nach Zerbombung von Werkshallen. Es war jeweils so: Besichtigung durch Luftgau, Partei, Werksleitung. Aber im Gefolge dieser Pulks: Albertis Arbeitstruppe: Metzner, Schäfer, Pfeiffer, Peter Kühne usw. Berechneten die Besichtiger, wann die Wiederaufnahme der Kugellager- produktion in Aussicht genommen werden kann, z. B.: in sechs Wochen, dann war nach Albertis Erfahrung schon nach zwei Wochen etwas zu machen. Das war seine Bemühung. Danach zog er 1946 nach Norddeutschland an die Küste. Ein Automobilwerk brauchte Zulieferungen, Werkzeuge, dann aber auch eigene Herstellung dieser Werkzeuge und Zulieferteile. Er entwickelte das tatkräftig. Später wurde das Werk aus Bankgründen geschlossen, verschrottet. Es waren aber 12 Jahre (1957!) von Albertis Arbeitskraft in Erfahrungen hier angelegt, wurden in die Winde zerstreut. Andere Automobilwerke arbeiteten bereits mit standardi- sierten Werkzeugen oder Bändern. Nichts zu tun für Alberti. Er bewarb sich bei Messerschmitt-Bölkow-Blohm, und es war ein glücklicher Umstand, daß hier Werkstattarbeit benötigt wurde. Subtile Einzelfertigung für Satellitenteile, aber auch klassische Arbeit, z. B. eine besonders sichere Achter- bahn, für das Oktoberfest – 5 Jahre Alberti, alles Einzelwerke, nichts was die Standardisierung wegnahm. Doch eines der Projekte lief aus Förderungsgrün- den aus, Albertis Platz wurde eingespart. Er mußte die 5 Jahre zurücklassen, wurde im Baumaschinen-Sektor gebraucht, lernte also um. Nunmehr öfter schon müde. Er ließ sich überreden, aufzusteigen. Abteilung Öffentlichkeit und Werbung, konnte hier seine Hände nicht gebrauchen, wohl aber Kenntnisse. Das emp- fand er als »Entfernung vom Gerät«. Es gehörten Ostreisen dazu. Die Firma verkaufte wissenschaftlich-technische Kenntnisse in fremde Länder. Wer war das denn überhaupt hier? Alberti? Oder befindet er sich mit den verlorenen Zeitstücken irgendwo in der Vergangenheit? Verkauf der Firmen-Kenntnisse sah Alberti sowieso als Landesverrat2. Zurückgekehrt in die »Heimat«, saß dort ein Nachfolger, einer seiner »Schüler«. 2 Er begegnet der Technik der Nachrichtendienste. Er ist kontaktfreudig. Bei Überprüfung einer Montage in einem Balkan-Staat lernt er einen dort einheimischen Kollegen kennen, der ihm eine junge Frau vermittelt, Vera. Er sieht sie, erinnert sich an etwas. Der Kollege lädt in seine Wohnung ein, hat seinerseits eine Einheimische mitgebracht. Getränke stehen auf dem Tisch, Alberti sitzt tief in seinem Sessel, wechselt auf das Sofa.
  14. 14. 16 Hänschen Albertis verstreute Sinne Jetzt Textilforschung in Wuppertal. Aber die Großfirma, die in mehreren Län- dern Sitze hatte, zu der das technische Institut, an dem er »forschte«, gehörte, befand sich in einer Unglückssträhne, er übersah das nicht. Was aber hätte er denn gespart, wenn er auf die Zeitgeschichte noch besser achtete? Er konnte ja seine Arbeit nur »ausgeben«, nicht »für sich behalten«. Das Unglück in der Textilmaschinen-Forschung war, daß frühere Konzernlei- tungen im Überschwang der 50er Jahre ihr Wissen über die seidenähnlichen Kunststoffprodukte, aus denen rasch Kleiderfetzchen oder Hemden in Massen hergestellt werden konnten, in noch fernere Gebiete, als es der Baumaschinen- Sektor tat, veräußerten – Südamerika, Hongkong, Indonesien usf. Sie verlie- ßen sich auf Qualitätsproduktion, glaubten die Minderware aus der Dritten Welt nicht fürchten zu müssen. Niemand aber wollte mehr teure Qualitätspro- dukte. Es war auch nicht sicher, ob die Qualitätsvorstellung mehr als eine Ein- bildung war. Die Maschinenforschung, an die sich Alberti gewöhnt hatte, wurde eingestellt. Er hatte sich aber während der Kämpfe im Betriebsrat bewährt, in die Indu- striegewerkschaft Chemie – Ortsverwaltung Wuppertal – hineingearbeitet. Also wurde er Schreibtisch-Unternehmer. Das soll der Könner Hänschen Al- berti aus dem Jahre 44 sein? Das lag zurück. In manchen Kneipen war’s noch Alberti. Siegen konnte er so nicht. Er hatte den Eindruck, seinen dicken Hintern verbergen zu müssen, der sich nach oben zu »abschottete«. Das schob er aufs Älterwerden. Sicher war, daß er in diesem Apparat nicht eingespart wurde. Aber er fühlte sich durch die vor- angegangene Zeit »auseinandergenommen«, als wären es herumliegende Stücke von Maschinenteilen, die weder zum Maschinentyp A noch zu dem Modell B oder auch nur halb zu irgend etwas Passendem sich zusammensetzen »Sitzt unten in Meeresgründen bei seiner schönen Wasserfee. Die Jahre kommen und schwinden.« (Bl. 3 d. A.): »Es kommt, nach Alkoholgenuß, zu einer Orgie.« Was ist eine Orgie? »Über- mäßiges Streben nach Geschlechtsgenuß.« Alberti konnte aber gar nicht »streben«, da er nur halb bei Bewußtsein war, eher träumte er. Tage später legte ihm die Polizei eine Anzeige wegen grober Unzucht vor, als Beweis eine Reihe von Fotos. Ein Beamter in Zivil droht eine Freiheitsstrafe an, weist darauf hin, daß dieses »Kompromat« (= kompromittierendes Material) seiner Firma und Ehefrau zugäng- lich gemacht werde, es sei denn, daß sich Alberti zur »Mitarbeit« verpflichtet. Eine Ehefrau hatte Alberti nicht. Wie er feststellte, war der »Kollege« plötzlich »verreist«, die Frauen waren verschwunden. An der Tat-Wohnung hing ein anderes Namensschild. Umgeben von Erscheinungen, an denen er gerade versucht hatte, zu lernen, sich umzustel- len (eventuell hätte er in diesem fremden Land seine Heimat aufgeschlagen, brauchbar war sein Wissen hier), wollte Alberti nicht zum Verräter an seiner Firma werden. Saß also Haft- zeit ab, bis die Nachrichtendienstler ihr Interesse aufgaben.
  15. 15. Hänschen Albertis verstreute Sinne 17 ließen. Er machte Sport. Manchmal mit halbem Herzen, manchmal ergriff es ihn. Dann bildete sich am Hals und oberen Rücken ein Muskelpaket, das die Blutzufuhr zum Hirn abschnürte. Ein Unnütziger muß sich sichern. Aber doch nicht durch Muskeln! Er hätte sich gern darüber ausgestöhnt. Die Kameraden, mit denen er verbunden war, lagen verstreut, »angeheftet an Zeiten und Orte«, an denen er seine Arbeitskraft gelassen hatte. Mit einer Werkzeug-Maschine durfte keiner so umgehen. Die wäre hin. Bloß nicht nach- geben, sagte er sich.
  16. 16. 18 Heiner Müller und »Die Gestalt des Arbeiters« Herakles, sagt Heiner Müller, verkörpert in den Mythen als erster die »Gestalt des Arbeiters«. In einer von Göttern auferlegten Verwirrung tötet er »das Lieb- ste, das er hat«, darunter seine Kinder, seine Frau, zündet das Haus an. Gei- stesabwesend verhält er sich zerstörerisch »auf entsetzliche Weise«. Daraufhin verdingt er sich bei dem Tyrannen Eurystheus, der ihn – um Hera- kles als Arbeiter zu verschrotten, d. h. Nutzen zu ziehen, eigentlich aber: um ihn zu vernichten – mit zwölf Aufträgen versieht, die sämtlich auf etwas Un- mögliches gerichtet sind, wie Eurystheus meint. Herakles aber zerteilt diese Unmöglichkeiten in Einzelschritte, panzert sich gegen Zweifel und Schmerz und vollbringt diese »Werke«. Er fügt, sagt Heiner Müller, eine uns unbe- kannte dreizehnte Leistung hinzu. Es geht um eine ins Unendliche gerichtete, die Gegenstände verändernde Tä- tigkeit, einschließlich des Tötens und Beseitigens, um die Gestalt einer »leben- digen Maschine«; zuletzt ist sie gefangen in einem giftgetränkten Netz, das das Innere verbrennt. Aus Furcht vor Strafe wagt es keiner, dem Befehl des Hera- kles zu folgen, den Scheiterhaufen anzuzünden, auf den er sich gesetzt hat. Wer hat sich das, fragt Heiner Müller, ausgedacht, eine Erzählung, die lange vor der Zeit handelt, in der Prometheus an die Felsen des Kaukasus gekettet wurde? Als Kind aber wurde dieser Herakles, Sohn des Zeus und der Alkmene, an die Brust der schlafenden Muttergöttin Hera gelegt. Entweder weil er des Saugens müde war und Reste der Milch beim Absetzen verspritzte oder weil die betro- gene Göttin aus ihrem Schlaf erwachte, den Säugling von ihrer Brust riß und dadurch Milch verschüttete, entstand der Riesenbogen der Milchstraße, die wegen dieser Geschichte in der Winternacht ihren Namen trägt. Die Erforschung des Kerns der Milchstraße ist jedoch ein Arbeitsbereich der Astronomie. Inge Werdeloff hat vor kurzem auf dem Kongreß der »Gesell- schaft für Astrophysik« in Aspen/USA in Erfahrung gebracht, daß sich im tie- fen Inneren der Milchstraße eine GRAVITATIONSFALLE befindet, welche die kreisenden Spiralarme und die oberhalb des Halo sich formierenden Wol- ken aus schweren Neutrinos zu ihren Bewegungen veranlaßt. Eine gigantische, organische Konstruktion, sagt Dr. Inge Werdeloff, und keineswegs eine »Him- melsmaschine«. Jede mechanische Deutung dieser Himmelsarbeit, sagt sie, sei abwegig. Sie habe das in kompetenten Vorträgen so gehört. Aus eigener Forschung weiß Dr. rer. nat. Werdeloff (aber was heißt eigen, wenn zu einem Forschungsergebnis 100 der seltenen Astronomiegeister zu- sammenwirken müssen), daß die gewaltigen Gravitationsmassierungen, die
  17. 17. Heiner Müller und »Die Gestalt des Arbeiters« 19 wir Gravitationsfalle nennen, weil sie sozusagen als »Geiz des Weltalls« alle Materie und Energie in sich hineinziehen, wiederum aus Durchlässigkeiten be- stehen. Die Quantenmechanik beweist das. So zeigt dieser Geiz, sagt Dr. Wer- deloff, alle Zeichen einer »abstrakten Genußsucht«; aus allen Poren gibt die Gravitationsfalle Substanz nach außen. So daß immer erneut Universen ent- stehen müssen, parallele Welten, die gemeinsam die Läßlichkeit der Natur (Goethe) zeigen. So zeigt das »Weltall als Gestalt des Arbeiters« überhaupt keine Tendenz, sich von einem Anfang in ein Unendliches oder auf ein Ende hin zu bewegen, sondern es gliedert sich in Vielfalt und Einfachheit, so daß im- mer eine Gegenbewegung, eine Gegenwelt die Erscheinung begleitet. Deshalb trägt der tief frustrierte Herakles die Säulen der Welt auf seinen Schultern, die doch seit kurzem eingestürzt sein müßten. Und deshalb warten die Toten, die zur ersten Jahrtausendwende den Einsturz der Welt bei Aachen erwarteten, immer noch vergeblich. Es ist kein Stillstand, der das Ende der Arbeiten ver- hindert, die durch unverschuldete Schuld motorisiert wurden. ich: Das habe ich nicht verstanden. müller: Es bezieht sich nur auf Herakles als »Gestalt des Arbeiters«. ich: Denn im Kosmos kann man nicht von Schuld sprechen? müller: Es sei denn, im Sinne einer Bilanz. ich: Und die gibt es nicht, weil man Quanten nicht zusammenrechnen kann? müller: Davon verstehe ich nichts. Wenn du dich aber einmal einer solchen dunklen Wand, die alles an sich zieht, näherst, einer gewaltigen Schranke der Dunkelheit, so wirst du einen Blitz sehen, der dem Ungeheuer ent- weicht. Das ist verboten, aber es geschieht. ich: Das würde ich aber nicht »sehen«? Weil ich entweder in der Welt der Gravitationsfalle oder in der Welt des Blitzes beobachte? Niemand sieht diese Arbeit? müller: Dann sieht man auch nicht, woran Herakles gesaugt hat und was ihm die Sinne so verwirrte, daß er »das Liebste, was er hat«, zerstörte. ich: Nein, beides gleichzeitig sieht man nicht. müller: Aber man weiß, daß man falsch beobachtet hat, wenn es nur eins gibt.
  18. 18. 20 Neue Zeit Alle Menschen sind (nach der Revolution) gleich. Aber das Zeitgefühl, in dem sich ein Mensch bewegt, ist nicht gleich. Genosse Bogdanski brauchte nur die Wasserhähne, die technischen Intarsien in einem Hotel in Lemberg (Lwow) anzusehen, um in Sehnsucht zu erstarren. Diese Wasserhähne waren noch von in Wien ausgebildeten Klempnern oder Zulieferer-Firmen angebracht worden. Bogdanski wollte hineilen in die nächstgelegene Staatsbibliothek, in ein Stun- denhotel, wo ein Liebesverhältnis einen Nachmittag und nicht 17 Jahre dau- ert. Dieses Zeitgefühl ist der Behälter des Lebens und wirkt wie eine Droge. Bogdanski war von Lemberg weit genug entfernt. Er war verantwortlich für die Umerziehung verwahrloster Jugendlicher, Mitglieder eingefangener Ju- gendbanden. Die Partei arbeitet an einer Veränderung des Zeitgefühls. Die Er- ziehung einzelner Jugendlicher aus Jugendbanden funktioniert noch langsa- mer, als das Korn wächst. In einer Lehranalyse des Weisen aus Wien steckte die Beschleunigung von ei- ner Million Jahren. Die Geschichtszeiten potenzieren einander, wenn sie sich berühren. So funktioniert die Seele. In den Artikeln der ROTEN FAHNE und in den Glossen der Leipziger Volkszeitung war die ganze Zeit seit Spartakus enthalten. Was für ein Flugwesen! Was für ein Drache! In einem Cafe in Berlin-Mitte reden sich die Genossen heiß über den mittel- ´ deutschen Aufstand. Vorbereitet wurde dieser Aufstand in der Zeit der frühen industriellen Revolution. Was heißt das? Er ist viel früher vorbereitet in den Bauernkriegen. Während wir reden, rückt der entscheidende Moment des Aufstands näher. Minuten der revolutionären Verschwörung entsprachen zehn Jahren des Lebens zuvor. Gierig, sagt einer, ist die neue Zeit. Die »verbrecherischen Jugendlichen« liegen in einer Scheune in 200 Meter Entfernung von der Kate, in der Bogdanski seine Notizen schreibt. Notizen schreiben verbindet ihn, mangels Telegraf, mit allen Horizonten. Er muß Rus- sisch nachlernen; an sich müßte er darüber hinaus dialektsicher sprechen kön- nen. Seine Rotarmisten bewachen das Lager der jungen entwaffneten Bandi- ten. Sie antworten, wenn er sie in seinem angelernten Russisch anspricht. Es bleibt, der eigenen Truppe gegenüber, eine Verhörsituation. Er hat den Eindruck, daß sich die »jugendlichen Verbrecher« überhaupt nicht ändern. Von Lernen oder Umerziehung kann man nicht sprechen. Sie lernen zu schauspielern, d. h., sie drücken ihren Willen aus, wenn sie etwas wollen. Da- gegen spürt er in sich selbst eine Veränderung: Sein Wunsch, von hier wegzu- kommen, wird unendlich groß. Er möchte eine Aufgabe haben, die sich rasch und nach den Standards westlicher Städte realisieren läßt. Die Theorie geht
  19. 19. Neue Zeit 21 dahin, daß die kollektive Arbeit die jungen Verwahrlosten bessert. Man könne sie, heißt es (das kann sieben bis zwölf Jahre dauern), zu Sowjetmenschen ma- chen, vielleicht zu einem besonders vitalen Typ, da ja die verbrecherische Ener- gie (einige sind Mörder) im materialistischen Sinne eine Zusatzkraft darstellt, die sich, umgeformt, in Leistung ausdrückt. Wäre nur nicht die unheimliche ZEITDAUER der Umformung.
  20. 20. 22 Sibirische Zeitreserve In der Zeit, in der der Genosse Andropow, der stets in seiner Gesundheit gefähr- det, deshalb unbeweglich und nicht reisefreudig war, den KGB führte und sich auf die Stellung des Generalsekretärs der Partei vorbereitete, gab es in einer der Hauptabteilungen des russischen Geheimdienstes den kirgisischen Obristen Lermontow, zu dessen Ahnen heidnische Priester (sibirische Animisten) zähl- ten. Er legte während der Dienststunden (in einer so riesigen, weltweit orga- nisierten Behörde rinnen gewaltige Zeitmengen, sie rinnen langsamer als irgendwo sonst in der Welt vor den Fenstern des hochragenden Betonhauses dahin) eine Sammlung historischer Skizzen an. Eine Reihe dieser Skizzen be- faßten sich mit der »Lähmung im entscheidenden Moment«. Es ist eine seltsame Tatsache, daß die großen Täter der Weltgeschichte oft eine Lähmung ergreift, und zwar in entscheidenden Momenten. Es wäre doktrinär zu sagen, sagt Lermontow, daß es keine Götter gibt. Offenbar treten sie als Be- stärkung oder als Lähmung in Erscheinung. Wollen Sie, fragte Lermontow zu- hörende Genossen, ernsthaft eine Erkältung dafür verantwortlich machen, daß Napoleon in Waterloo nicht die Umfassungsschlacht schlägt, die ihm die Generale anraten und die den sicheren Erfolg garantiert? Wollen Sie die Fehl- leistung aus einer Erkältung erklären? Nein, aus dem Unglauben des Kaisers an die eigene Mission, antwortet einer der gelehrten geheimdienstlichen Assistenten, der sich täglich bildete (sie alle bildeten sich in diesen Jahren für die Perestroika, deren Kommen sie ahnten, ohne daß irgendeiner wußte, welche Bezeichnung die neue Freiheit haben würde). Das bestreite ich, erwiderte Lermontow. Die Gottheit, die ihn lähmt, ist die- selbe, die als Blitz zwischen die Trojaner und die Griechen fuhr, Athene, die die Sinne aller verwirrte. Sie lähmte die Einsicht des Trojaners, der seinen Pfeil auf Menelaos abschoß; und sie lähmte den Flug jenes Pfeiles, so daß er den Grie- chen nur leicht verwundete. Der göttliche Eingriff reichte aus, um den kurzen Frieden zwischen Trojanern und den Griechen zugrunde zu richten. So gezielt vermögen nur die Götter zu agieren, die in den alltäglichen Kausalnexus des Lebens eindringen und dort ihre Verheerung anrichten. Wenn Sie so etwas auf Schnupfenviren oder mangelnden Nachtschlaf zurückführen, erscheint mir das doktrinär.3 3 Lermontow bezieht sich auf folgenden Vorfall: Nach vergeblicher Belagerung Trojas ha- ben Griechen und Trojaner einen Waffenstillstand geschlossen. Dies geschah auf Ratschlag der Mehrheit der Götter. Helena soll an ihren Gatten Menelaos herausgegeben werden. Da aber sabotiert eine Untergöttin, nämlich Athene, diesen Friedensschluß. Sie gibt durch
  21. 21. Sibirische Zeitreserve 23 Das sagen Sie als Materialist? Genau das sage ich, antwortete Lermontow. Ein Materialist ist nie doktrinär. Er schließt ohne Grund keine Krafteinwirkung in der Welt als unmöglich aus. Vor allem dann nicht, wenn sie sich unserer Beobachtung öffnet. Nehmen Sie die eigentümliche Lähmung Hitlers, seine Blendung (im Moment des Fiaskos der Front vor Moskau). Im Dezember 1941: »wie schneeblind«. Er erklärt den USA den Krieg. Das müßte er nach den Verträgen nicht. Er besiegelt das Ende des Deutschen Reichs. Wie wollen Sie so etwas erklären? Wenn nicht Götter die Hand führen? Genauso die Lähmung Robespierres im Moment des Ther- midors. Ebenso die merkwürdige »Erkältung« Trotzkis in der Krise vor Lenins Tod. Warum fährt er im entscheidenden Moment in den Kaukasus? Es kostet ihn die Macht. Ich habe hier eine Sammlung von 12 000 markanten Beispielen. Wollen Sie das in den Wind schlagen? Ich wundere mich sehr, antwortete der Vorgesetzte von Lermontow, der zu der Runde hinzugekommen war. Womit beschäftigen Sie sich, Genosse? Das damals intakte Imperium verfügte über alle Zeitreserven Sibiriens. Und damit über Gedankenreserven. Ein Panzerschrank des Seelenlebens. In den Bunkern des KGB sammelten sich akademische Eliten des Landes in lebhafter Wechselwirkung zu den Eliten der Akademie der Wissenschaften, die in privi- legierten Zentren an den Flüssen Sibiriens ihre Sitze errichtet hatten.4 An diese Sammlung Lermontows wurde ich (letzter Assistent Gorbatschows) erinnert, als ich die Lähmung des Präsidenten beobachtete. Sie brach aus nach der Rückkehr von der Konferenz in Madrid. Wir gingen dort betteln. Nie wie- der war er der, der er gewesen war. Ein launischer, mittelmeerischer Gott aus alter Zeit, der seitlich von Athene Troja zugrunde richten half, war in ihn ge- drungen (wie es Viren, Insektenstiche, Gifte, schwere Enttäuschungen vermö- gen). So saß er in seiner Kammer, tatenlos. Während die »Buschräuber von Minsk« ihr Komplott schmiedeten, das Gemeinwesen enteigneten. Hätte er sie verhaften sollen als Hochverräter? Er besaß die Vollmacht. göttlichen Druck einem Gefolgsmann des Paris (derzeitigem »Besitzer« der Helena) den Willen ein, Menelaos durch Pfeilschuß zu töten. Sie mildert diesen göttlichen Einfluß (so daß Menelaos nur verletzt wird), weil der tückische Pfeil bereits als ZEICHEN ausreicht, den Waffenstillstand zu zerstören. 4 Akademgorodok bei Nowosibirsk umfaßt 60 000 Planstellen. Der hoch subventionierte Wissenschaftsort ist global mit den Netzen der internationalen Forschung verbunden; in Akademgorodok selbst gibt es keine äußerliche Ablenkung. Gerade, daß im Winter ein drei Meter hoher Hügel die Schlittenfahrt zuläßt. Eine Wanderung nach Norden, Osten, Westen oder Süden hätte kein benennbares Ziel. Im Herbst Nebelwände, im Winter Schneestarre. Im Sommer Mangel an Kühlung, keine Zwischenjahreszeiten. Wie die Kargheit eines mittelal- terlichen Klosters umgibt den Denkenden eine pure Reserve an Lebenszeit.
  22. 22. 24 Sibirische Zeitreserve Oberst Lermontow trugen wir kurz nach der Havarie von Tschernobyl zu Grabe. Er hatte sich, »von allen Göttern verlassen«, erschossen.
  23. 23. 25 Hinweise eines Leiters des Kassenwesens in Stuttgart Was ist Geld? Der Leiter der Reichsbank-Hauptstelle Stuttgart hat in München mit dem Auto 10 Millionen Reichs-Mark in Scheinen abgeholt und davon 1 Million Mark im amerikanisch besetzten Göppingen abgegeben. Den Rest hat er am 6. Juni 1945 nach Stuttgart gebracht. Der für die Bankaufsicht zuständige fran- zösische Kommandant, dessen Agenten ihm das Fehlen einer Million gegen- über der Münchner Ausgabebescheinigung vorrechneten, klärte den Bank- präsidenten darüber auf, daß er keine Scheine in Göppingen hätte abgeben dürfen. Der Bankpräsident erlitt einen Schlaganfall und starb. Es kam darauf an, sagte der Leiter des Kassenwesens in Stuttgart, der auf diese Weise seinen Herrn verlor, eine im April 1945 (also als Angelegenheit der Reichsregierung) angerichtete Fehldisposition auszugleichen. Während sich ein Zustrom von gedachtem Geld, d. h. Überweisungsaufträge, Verlagerung von Konten, in und um Stuttgart konzentrierten, gelangte die Masse an Geld- scheinen aus den Ost- und Nordbereichen des Reichs nur bis München. Soll- ten wir jetzt, fragt der Leiter des Kassenwesens, auf Zettel zurückgreifen, auf die wir mit den noch vorhandenen Schreibmaschinen Zahlen hätten tippen können, die, unter der Autorität unserer Bank, Zahlungsmittel hätten sein können? Wir hätten auch Scheine markieren und in sechsfachem Wert ausgeben kön- nen. In einer Spielkartenfabrik entdeckte ich 900 000 Satz Skat-Karten. Wir hätten diese ziemlich fälschungssicheren Dokumente in den Geldverkehr ein- führen können. Die Karten schienen uns aber zu schade, der Rückgriff zu un- gewöhnlich. Nachträglich bedaure ich die Entscheidung, da sie das Leben mei- nes Vorgesetzten erhalten hätte. Ich muß in diesem Zusammenhang erläutern, wieso Geld nichts mit den Schei- nen der Reichsbank zu tun hat. Das tatsächlich umlaufende Geld ist der gute Wille in Stuttgart und Umgebung, notdürftig ergänzt durch dort noch herum- liegende Wertstücke in Reichs- und Privatbesitz. Es ist die Vorstellung, daß un- ser »zerstörtes« Gemeinwesen, da es zu jeder Zeit unterhalb der Zerstörung und Besetzung existierte, notfalls auf sich selbst und seine inneren Werte einen Tauschverkehr stützen kann. Dies kann so lange geschehen, als eine hinrei- chende Zahl von Menschen die Vertretungsmacht der Banken für diesen selber schwer faßbaren »guten Willen im Werte des Gemeinwesens« anerkennt. So lange sind wir in der Lage, aufgrund irgendwelcher Zettel, Marken, Blech-
  24. 24. 26 Hinweise eines Leiters des Kassenwesens in Stuttgart stücke, Eisenstangen, sofern die fälschungssicher sind und Ziffern aufnehmen können, einen Geldwert darzustellen. Wir können auch Walnüsse, Schrauben einer bestimmten unverwechselbaren Fertigung oder Nickelspangen zu Geld deklarieren, immer vorausgesetzt, daß wir vergleichbare Zahlstücke nicht of- fen irgendwo herumliegen lassen, so daß der Erwerb dieser Recheneinheiten nicht durch Finden, sondern durch Austausch von Leistungen zu gefestigtem guten Willen gemacht werden kann. Gras also ist kein Geldmittel, da überall abzurupfen, auch nicht Wasser, wohl aber schweres Wasser, da nicht überall erhältlich, usf. Dieser grundsätzlichen Erwägung folgte mein Vorgesetzter, obwohl ich sie ihm vortrug, nicht, da er eine Lücke im Denken der Besatzungsmacht erspäht zu haben glaubte: Auf den Scheinen, die jedoch nur in München erhältlich wa- ren, war »Reichs-Mark« nicht überdruckt, und in irgendeiner Weise gedachte mein Chef, Dr. Schirrmeister, den Reichsgedanken und den Geldgedanken da- durch in Verbindung zu halten, daß er auf seiner Extratour mit seinem privat geretteten PKW Vorräte an Geldscheinen aus München nach Stuttgart schaffte. Er hing an dem Grundgedanken der Renten-Mark, die eine Schatzan- weisung auf sämtliche deutschen Grundstücke aus dem Jahre 1923 darstellte, ohne zu berücksichtigen, daß diese Grundstücke gerade durch die Zerstörung der Städte einen erhöhten Wert erhalten, da jetzt nicht alte Gebäude diesen Grund blockierten, sondern, für den Fachmann deutlich absehbar, auf dem Grundriß des alten Eigentums eine prächtige deutsche Fülle von Modernitäten errichtet werden konnte. Einfacher gesagt: Das Geld war eigentlich mehr wert, nur dachte niemand daran. Soweit der Gedanke meines toten Chefs. Er wollte die Besatzungsmächte betuppen, indem er die traditionellen Scheine im Ver- kehr hielt. Ich erwiderte ihm, daß in Deutschland auf Reichsgebiet produzierte Eisenstan- gen, die sich querlöten ließen, so daß entfernt der Eindruck eines Eisernen Kreu- zes entstand, ein noch besseres Zeichen für den Fortbestand des Reichsgedan- kens sein könnten, dieses Geld zudem auf Grund der natürlichen Schwere und Kompaktheit – für die Besatzungsmächte nicht lesbar – von sich aus den Gedan- ken transportierte. Wir hatten ein Lager von 16 Millionen Kurzstangen greif- bar, die wir mit erhitzten Hammerstempeln noch hätten stempeln können; es war möglich, auf der Unterseite eine Karte Deutschlands in den Grenzen von 1937 aufzustempeln. Dieses viel bessere Geld hielt mein Präsident nicht für an- nehmbar, da dann jede Bezirksbank auf die Idee kommen konnte, jeweils ein anderes deutsches Geld in Umlauf zu setzen. Er sagte: Lieber Scherer, ebenso- gut könnten Sie auch Kühe, Schafe oder Schweine stempeln, und ungestem- pelte Schweine wären kein Geld. Dieses Geld bewege sich dann von selbst, und das widerspräche dem Geldbegriff. So fuhr er los in seinen Tod.
  25. 25. Hinweise eines Leiters des Kassenwesens in Stuttgart 27 Noch kurz vor seinem Ableben fühlte er sich glücklich darüber, daß die ameri- kanische Besatzungsbehörde (Göppingen) ihm eine Million Mark in seinen subversiven Scheinen abzunehmen bereit war und so, unfreiwillig, den Wert des Reichs verbreitete. Er hätte ihnen gern auch zwei Millionen Reichs-Mark in Scheinen angedreht, mehr als zehn Millionen in Scheinen paßten aber nicht in sein Auto. Die Scheine hatten den Wert einer Propaganda-Broschüre. Man versteht es, wenn man berücksichtigt, daß eine Bank nach Ansicht meines Chefs der Werthortung dient, und dies bezieht sich nicht auf Geld, für das ich etwas kaufe oder das ich spare, sondern auf ein jedes Wertstück, das sich zen- tral verwaltet. So ist der Gedanke des Dienstes zentralisierter guter Wille. Die Menschen zahlen ihren Reichsglauben ein und erhalten in Teilstücken Aktio- nen des Gemeinwesens zurück. So sind sie fähig, gemeinsam zu handeln, also das Gegenteil dessen zu tun, was die Besatzungsmächte durch Zerstückelung des Reichs bewirken wollten. Der elegante französische Offizier, ein Oberstleutnant der Fremdenlegion, ließ das Büro meines erschöpften Chefs durch eine Wache besetzen. Mein Chef war die Nacht durchgefahren, wollte sich auf der Couch seines Chefzimmers einige Stündchen niederlegen und das Blut, das ihm in die Beine gerutscht war, wieder bis zur Stirn heben. Sie haben eine Million an eine fremde Macht ausgeliefert und somit meinem Befehlsbereich entzogen, eröffnete der Oberstleutnant das Verhör. – Wieso an eine fremde Macht? – An den Kommandanten der Streitkräfte der Vereinigten Staaten in Göppin- gen. Diese Summe ist von Ihnen persönlich zurückzuerstatten. Mein Chef hielt dem entgegen, daß es ganz gleich sei, ob er für zehn Millionen Reichs-Mark Anweisungen oder für neun Millionen Mark Anrechtsscheine auf Wert und Produkt von Stuttgart und Umgebung, also dieses französisch kontrollierten Befehlsbereichs, herangebracht hätte, da in jedem Fall die Zahl dieser Symbol-Scheine den objektiven Wert des besetzten Bereichs nicht ver- mehre. Das verstand der französische Offizier nicht. Sie sehen, sagte mein Chef, die Mark-Scheine nur unter dem Gesichtspunkt des Wegnehmens. Das ist eine Ehrverletzung, erwiderte der Offizier. Ich habe nicht die Absicht, auch nur einen dieser Scheine zu stehlen. Ich verhafte Sie. Ich sagte, erwiderte mein Chef, wegnehmen, nicht stehlen. Sie können ja Scheine für Ihre Regierung beschlagnahmen. Dies aber hätte keinen wirkli- chen Wert. Wieso ist das Geld, fragte, im Moment besänftigt, der Offizier zurück, unter
  26. 26. 28 Hinweise eines Leiters des Kassenwesens in Stuttgart dem Gesichtspunkt, daß einer es wegnimmt, also stiehlt, etwas Wirkliches, un- ter dem Gesichtspunkt, daß einer es zirkulieren läßt oder beschlagnahmt, aber nichts Wirkliches? Es ist ein Anrechts-Schein auf ein Gesamtprodukt. Geld hat einen Zeiger, der nach außen zeigt. Der Offizier besah einen neuen Schein (noch unter der Reichsregierung ge- druckt). – Ich sehe keine Zeiger. – Das ist aber die Wirkung des Geldes. – Sie haben einen Knall! – Ich habe keinen Knall, sondern Finanzwissenschaften studiert. Mein verstorbener Chef ist einer der herausragenden Geldwerttheoretiker unserer Reichsbank. Er hatte Kopf und Fingerspitzen voll analytischer Vor- stellungen davon, was im Bank- und Geldwesen in Wahrheit geschieht. Er verachtete den Offizier (nicht als Mensch, sondern als Fachmann), dessen Bil- dungsmangel offensichtlich war. Rechnete einer es aus, so bestand sein Macht- verhältnis aus zwei Unteroffizieren und acht Soldaten. Mein Chef verachtete auch die armseligen Theoriegebäude der französischen Merkantilisten des 17. Jahrhunderts. Sie hätten keine Tiefe, da ihnen der Reichsgedanke fehlte. Der Franzose wiederum hielt Schirrmeister für einen Nationalisten, der mit der amerikanischen Besatzungsmacht konspiriert hatte. Nehmen Sie, nehmen Sie, rief mein Chef mit puterrotem Kopf (das Blut schwappte auf Grund der Erregung von den Beinen in den Kopf, weil die Ver- rechnung versagte), greifen Sie sich ein oder zwei Millionen von diesen Schei- nen, wir halten denselben Geldverkehr mit den restlichen sieben Millionen Mark in Scheinen im gleichen Fluß wie mit neun, nur dürfen Sie Ihre zwei Mil- lionen nicht in Umlauf bringen. Sie müssen sie horten. – Ich beabsichtige nicht, Geld zu horten. – Sie haben hier acht Soldaten. Die können mühelos zwei Millionen in Schei- nen tragen. Stehlen Sie es für sich oder Ihre Regierung, nur bringen Sie es nicht in Umlauf. Der französische Offizier hielt meinen erregten Chef für unverständig, durch die gehetzte Autofahrt überreizt. Er ging davon aus, daß durch Aushändigung von einer Million Mark in Scheinen die konkurrierende Besatzungsmacht in Göppingen einen Vorteil in den Händen hätte. Er wollte sich ja nicht persön- lich Geldvorteile beschaffen, sondern die Interessen seines Befehlsbereichs wahren.
  27. 27. Hinweise eines Leiters des Kassenwesens in Stuttgart 29 Der Schlaganfall des Chefs: Er sackte auf seinem Sitz zusammen, die rechte Gesichtshälfte bewegungslos, eine Minute später, während die französischen Soldaten ihn aufzurichten versuchten, der Offizier schickte nach Sanitätern, befiel ihn ein weiterer Schlagfluß, der ihn tötete. Ich deute diesen Tod als einen abrupten Zusammenbruch des Zahlungsverkehrs, wie er in einem älter ge- wordenen Körper stattfindet. Zellen, Blutkreislauf, Hirn, innere Organe, wie sie sich in einer geordneten Zusammenfassung zunächst (nach der Nachtfahrt und der Aufregung, zehn Millionen Reichs-Mark in Scheinen überfallfrei durch das besetzte Gebiet zu schmuggeln) im Chefsessel gruppierten, verstän- digen sich durch winzige Signale innerhalb von Tausendstel von Sekunden, vergewissern sich ihrer wechselseitigen Übereinstimmung. Viele Ärzte überse- hen dies, nicht aber der Bankfachmann. Persönlich bin ich der Meinung – Teilstück meiner geldwerttheoretischen Überzeugung –, daß Kalium-Ionen, wie sie durch Bananen in den Körper ge- langen, diese Verständigung ermöglichen. Es findet also, ähnlich wie in einem Geldverkehr durch Vorzeigen von Geldstücken und -scheinen (so wie deren Wechsel in Kleingeld usf.) eine partikulare und zugleich vollständige »funkeri- sche« Resonanz statt. Person, Körper und Geist machen ein Gesuch, auf Grund dessen sie zueinander finden, ähnlich übrigens wie Insektenvölker, weshalb wir das im Kassenwesen summieren nennen. Nun hat ein Mensch eine bestimmte Währung seiner Signale. Sie war, da mein Chef die letzte Banane im Jahr 1938 zu sich genommen hatte, unzulänglich be- vorratet. Er hatte zwar Nachschub an Scheinen für den Stuttgarter Bezirk her- angeschafft, aber dabei die letzten Reserven seiner innerkörperlichen Signal- Scheine aufgeopfert, ähnlich starrsinnig wie gegenüber den Bargeld-Ersätzen, die ich ihm vorgeschlagen hatte. Man kann nämlich durch einfache Wäh- rungsreform die gewöhnlichen körperlichen Wertmarken der inneren Verstän- digung durch ganz andere ersetzen, da alle zellulären Transaktionen ähnlich lernfähig sind, nehme ich an, wie die Stuttgarter Bevölkerung. Irritiert durch die Konkurrenz zwischen Machtverkehr (2 Unteroffiziere und 8 Soldaten in seinem Chefzimmer) und Geldverkehr (»wird jetzt in Reichsbank-Noten oder in Form von Bajonetten gezählt?«) war der Chef, der in letzter Minute den sel- tenen Fall eines Bankrotts durch Mangel an Scheinen in seinem Körperinneren spürte, einer Art erregtem Selbstzweifel verfallen; auf Grund eines inneren Starrseins oder organischen Konservatismus brach die Verständigung (wir sprechen von Organermüdung) für einen Augenblick zusammen: mit tödli- chem Ausgang. Es ist also unrichtig, den französischen Besatzungsoffizier für diesen Tod ver- antwortlich zu machen, wie es Stuttgarter Bekanntenkreise taten. Dieser Oberstleutnant hatte weder die Macht, den Tod meines Chefs zu bewirken
  28. 28. 30 Hinweise eines Leiters des Kassenwesens in Stuttgart noch ihn zu verhindern. Ein Kollaps entsteht nicht aus der Drohung mit Ver- haftung oder wegen der drohenden persönlichen Haftung für eine Million Reichs-Mark, wenn beides nur durch Vorzeigen von Bajonetten erzwungen wird. Vielmehr ist mein Chef sein eigener Gegner gewesen, insofern, als er auf Reichs-Mark-Scheine vertraute, allen Übergängen auf bessere Geldsorten da- gegen mißtraute, bis in das Körpergeld hinein. Dr. med. Schikkele, dem ich diesen geldwerttheoretischen Gedanken zu dem tragischen Todesfall vortrug, hielt ihn für medizinisch unzutreffend. Nun hat er dieses Gebiet auch nicht studiert.
  29. 29. 31 Kälte ist keine Energie Kälte ist keine Energie und kann deshalb auch nicht zurückgestrahlt wer- den . . . Das war interessanter, als sie gedacht hatte, denn sie war hier nur her- eingeschneit, weil es für den Englisch-Kurs der Volkshochschule, ein Stock- werk tiefer, zu spät war. Sie hatte die S-Bahn um eine Viertelminute verpaßt, 10 Sekunden früher, und sie hätte sich noch durch die automatische Tür hin- eingezwängt. Dann wollte sie nicht durch die Tür hinter dem Vortragenden in den Unterrichtssaal eintreten und (auf englisch oder deutsch?) eine Entschul- digung murmeln, sich zu einen Platz durchzwängen, alle Augen auf sich ge- richtet, auf ihr Gesäß, ihren Hals. Deshalb war sie panikartig ein Stockwerk höher in den Saal 109 geeilt, der frontal zum Vortragenden betreten werden kann. Sie saß unauffällig auf einem der Plätze neben der Tür und dachte hin- sichtlich der Kälte, welche nicht die Kraft hat zurückzustrahlen, ja überhaupt keine Kraft, sondern ein Zustand ist, an das Unvermögen Achims, zu bemer- ken, wann sie ihm kalt oder erhitzt gegenüberstand. Er war nicht in der Lage, irgend etwas, was er empfing, zurückzustrahlen. In Florenz aber, in einem der lebendigsten Jahrhunderte der Stadt, bauten Ge- lehrte (Rhetoriker) vor dem Herzog, einem der Medici-Bankiers, eine Reihe von Geräten auf: einen Eisblock (wie Achim, müde), verbunden mit einem Spiegel; der Strahl oder die Reflexion des Eises sollte eine heiße Suppe in einem Topf kühlen. Dieses Experiment (an einem Frühlingstag) gelang nicht sofort eindeutig, da die Suppe an der Luft auch ohne Einwirkung der Eisstrahlen kühlte. Irgendwie wurde dann aber bewiesen, daß Eis nicht strahlt, während ein neben dem Eisblock befestigtes Licht (als Wärmequelle), auf komplizierte Weise gespiegelt, nicht mechanisch, Pünktchen für Pünktchen, aber doch, wie man heute weiß, in Intervallen an bestimmten erogenen Stellen der Materie die Kraft, die in ihm steckt, weitergibt, bis nichts mehr übrig ist. Es wurde eine schöne Dreiviertelstunde, für den Kurs hatte Gerda nicht bezahlt. Sie be- schloß, sich von Achim dringlich zu trennen, führte den Beschluß am Abend aber nicht aus, weil sie noch in Eile war.
  30. 30. 32 Abb.: Sanitätshund im Winterkrieg. Er kommt aus Modena. Mit Schlitten. Die Heimat liegt da, wo meine Produktionsstätte ist, wo meine Arbeit liegt Am 6. Dezember 1941 stand die 1. Kompanie des Infanterie-Regiments 284, 96. Infanterie-Division, bei Tichwin. Sie ließ sich dann zurücktreiben bis zu den Wolchow-Sümpfen. Am 21. Dezember 1941 wurden einige besonders be- währte Unterführer und Mannschaften ausgewählt, die zum Weihnachtsur- laub in die Heimat fahren durften. Obergefreiter Eilers fuhr 3 Tage und Nächte zu seiner Garnisonsstadt; einen weiteren halben Tag wurde er in der Quarantänestation an der Grenze zum Reichsgebiet aufgehalten. Um 17 Uhr an Heiligabend traf er bei seiner Familie ein, seiner hochschwangeren Frau Elisabeth, deren Eltern, einigen Vettern und Schwägerinnen. Es wurde Kaffee, Likör, Kuchen gereicht. Die Kinder wurden um 18 Uhr beschenkt und eine Stunde später ins Bett gebracht. Nachbarn er- schienen. Eilers aß Fisch, Kotelett, Wurst, Nachtisch. Es wurde Wein ausgege- ben. Um 2 Uhr lag er mit seiner Frau im Bett, das ihm ungewohnt war. Er schwitzte unter dem Federbett. Er bemühte sich, vorsichtig zu sein, den Zustand seiner Elisabeth zu berücksichtigen. »Es hatte alles keinen richtigen Zweck.« Am nächsten Tag folgte ein Frühschoppen im »Hacker« mit Skatrunde. Eilers schlief um 17 Uhr ein und wachte erst am 2. Feiertag um 14 Uhr wieder auf. Frühstück im Bett. Ein Spaziergang, um den Körper zu »entschlacken«. Es gehen die Tage bis zum 2. Januar rasch hin. Dem Sinn dieser Freizeit ist
  31. 31. Die Heimat liegt da, wo meine Produktionsstätte ist, wo meine Arbeit liegt 33 nicht recht beizukommen. Der Körper stabilisiert sich nicht, wenn eine Fest- runde auf die andere folgt, keine Werktage. Das Leben in diesem kleinen Ort hat für Individuen keinen Sinn. Das fällt einem Frontkämpfer auf, der doch für sein momentanes Verhalten an der Front jeweils Zwecke angeben kann, so wie der Gegner nach Zwecken vorgeht, die sich an der Vereitelung unserer Zwecke messen. Einen halben Tag lang, 29. Dezember, arbeitet sich Eilers einmal gründlich aus, indem er für den Schrotthändler Kraux einen Holzverschlag zimmert, in den dieser Vorräte einschließen kann. Eilers erhält dafür 2 Dauer- würste und ein Fläschchen, das er zur Front mitnehmen will, so wie er von der Front ein besonderes Urlaubspaket mit Freßsachen nach Hause brachte. Faßt man es zusammen, so hat er je ein Paket einmal hin- und hertransportiert. Am 2. Januar Abschied auf dem Bahnhof. »Komm gut wieder. Schreib öfters. Wir sorgen uns sonst so sehr. Denn man tau. Mein lieber Junge.« Die hoch- schwangere Elisabeth, die in der ganzen Zeit, nach Eilers’ Eindruck, oft ge- träumt hat, »ich habe sie eigentlich nur beim Brüten gestört«, hängt an Eilers Hals und weint. Eilers küßt sie und steigt ein. Mit 1700 anderen Rückurlaubern fährt er 3 Tage und Nächte. Als der 4. Tag graut, liegt draußen metertief Schnee, »dehnen sich Felder und Wälder, glit- zern zugefrorene Sümpfe, geht eine leuchtend rote Sonne am Horizont auf, 40° unter Null«. Dies liest er in einem Kriegsheft. Ein Blick nach draußen lehrt, daß dies ungefähr zutrifft. Die Rückkehrer »liegen im Skat«. In den Abteilen herrscht »Bullenhitze«. Nach einstündiger Fahrt in einem LKW, von den Bahngleisen fort, die mit der Heimat verbinden, dann ein Fußmarsch von 2 Stunden, ist Eilers wieder unter seinen Leuten. Die taktischen Zeichen an den Wegesstrecken, die Ortsschilder sind ihm bekannt. Endlich die heimatliche Stellung, an der er selbst im Dezem- ber gebaut hat und die sie bei seiner Abfahrt etwa 6 Tage besetzt hielten. Eilers liefert die 2 Würste und die Flasche an die Kameraden ab. Sie sitzen ge- meinsam am Bolleröfchen. Wenig später Alarm. Sowjetische Truppen greifen über ein offenes Schneefeld an. Das war Unsinn, weil sie so in das flankierende MG-Feuer der schräg seitlich vorgestaffelten Nachbarkompanie gerieten. Was bezwecken sie mit diesem Angriff? fragt Gefreiter Berger. Eilers hat keine Zeit, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Er gibt seine Feuerbefehle und bemüht sich, im rechten Augenblick Deckung zu nehmen. Der Angriff wird zweckmä- ßig und kooperativ abgewehrt. Meine Heimat ist da, würde Eilers sagen, wenn er überhaupt darüber reden würde, wo ich den persönlichen Eindruck habe, daß alles Sinn und Zweck hat und die Zusammenarbeit klappt. Das kann ich vom gewesenen Weihnachts- fest nicht sagen. Dagegen muß ich es hinsichtlich der Stellung, die wir hier »um jeden Preis« halten, behaupten. Ich hätte sonst überhaupt nichts übrig.
  32. 32. 34 Die Heimat liegt da, wo meine Produktionsstätte ist, wo meine Arbeit liegt Nirgendwo an der deutschen Ostfront wurden die Divisionen so durcheinan- dergeworfen wie jetzt am Wolchow. Vereinzelung aber bedeutet, verschlissen zu werden. Pausenlos wurden Telefongespräche aus Dringlichkeitsgründen unterbrochen. Hiergegen arbeitete die Produktionsgruppe Eilers nach Sinn und Zweck an.
  33. 33. 35 »Ad unum omnes« Ad unum omnes! sagte Studiendirektor Hauptmann a. D. Haul, unter Bezug- nahme auf Bellum Gallicum, S. 312. Dort wird von zwei umzingelten Legionen berichtet, die von Galliern niedergemacht wurden. Zweifelhaft bleibt, erör- terte Haul, ob hier Cäsar noch 1 Soldat übrigblieb, der nämlich die Unglücks- nachricht überbrachte, oder ob sie alle, d. h. mit Ausschluß eines einzelnen, d. h. mit keinem überlebten und sozusagen nur gefunden wurden, wie sie dage- legen haben. Dies läßt sich aus dem Text nicht schlüssig entnehmen. Wörtlich heißt, schreibt Haul, »ad unum omnes«: »bis auf einen alle«. Heißt das, ein- schließlich dieses letzten einen alle? Oder war die Zählung ungenau und einer blieb ungezählt? Haul – der einer war, Individuum – konnte sich eigentlich überhaupt nur einen vorstellen, über dessen Tod er trauern würde, dann aber, wenn dieser Trauerfall im Felde einträte, wäre er eben schon als Zeuge nicht mehr da, um zu trauern. Insofern interessierte ihn die genaue Übersetzung sehr, so als wäre dies seine Chance, unter der er in den Kriegsdienst eintreten würde, daß ad unum omnes nicht das Verlöschen aller wäre, sondern aller ex- klusive eines Boten der Unglücksnachricht, z. B. eines Altphilologen, der noch in Worte fassen könnte, was geschehen war; wenn auch im Grunde des Her- zens trauerlos, weil selber unbetroffen, und insofern nicht der rechte Bote oder Wortemacher. Die Schüler der Obersekunda wußten schon, wann Anzeichen darauf deuteten, daß Haul auf sein Thema zurückkäme: Alle ohne den einzel- nen einen – als die hoffentlich korrekte Übersetzung der Zweifelsstelle, noch Honig saugend aus dem Unfall aller übrigen. Zu dem Stichwort »Bis zum letz- ten Mann und zur letzten Patrone in St. kämpfen« sagte der Major i. G. v. Zit- zewitz: Mein Führer, die Soldaten in St. können gar nicht bis zur letzten Pa- trone kämpfen, da sie diese nicht mehr haben.
  34. 34. 36 Quellenverzeichnis Die in dieser Auswahl abgedruckten Geschichten sind den folgenden im Suhr- kamp Verlag erschienenen Büchern von Alexander Kluge entnommen (dem Doppelpunkt nach der Quellenangabe folgt die Seitenzahl des Textbeginns in der vorliegenden Zusammenstellung): Chronik der Gefühle, Band I: Basisgeschichten, Frankfurt am Main 2000: 18, 20, 22, 25, 31, 32, 35, 36. Chronik der Gefühle, Band II: Lebensläufe, Frankfurt am Main 2000: 7, 9, 10, 12, 15.

×