Meine neue Kolumne: «Strandpflege an der Côte d’Azur»
Die Côte d’ Azur ist im September am schönsten – aber auch ihre Strände leiden unter der Rücksichtslosigkeit der Menschen. Das regt mich auf, ich muss etwas tun.
1. STRANDPFLEGE
AN DER CÔTE D’AZUR
Ich weiss, man hält mich für verrückt. Aber ich kann
nicht anders, kann mich nicht davon abhalten: Ob an
der Küste von Malabar oder am Golf von Saint-Tropez, ich sammle
den Müll, der an den Strand gespült wird.
Gegenüber fliegt ein Helikopter über den Golf. Ich schaue ihm nach. Wohin
fliegt er? Welchen VIP setzt er in welcher Villa ab? Sie alle sind umgeben
von majestätischen Schirmpinien, von Lavendel und Rosmarin gesäumten
Alleen, die von aufmerksamen Gärtnern perfekt gepflegt werden. Aber der
Helikopter landet nicht. Er fliegt über eine grosse Jacht, die hier, einige
hundert Meter vom Hafen von Saint-Tropez entfernt, vor Anker liegt. Er
schwebt einige Minuten über dem Schiff, macht offensichtlich eine
Lieferung. Champagner? Kaviar? Lebensmittel, die Tausende von
Kilometern zurückgelegt haben. Vielleicht auch Miraval-Rosés, Fisch, Feigen
und Pfirsiche aus der Provence?
2. GENÜGSAMKEIT
UND RESPEKT?
Gestern wurde erstmals «la journée de la sobriété» (der Tag der
Genügsamkeit) begangen. Passend zu den Nachrichten. Genügsamkeit wird
täglich von Milliarden von Menschen aus Not gelebt. Ein exotisches Wort
für eine wohlhabende Minderheit, für die Genügsamkeit bedeutet, statt
mit dem SUV mit dem Sportcoupé in Saint-Tropez zum Markt zu fahren.
Wie jeden Tag gehe ich den Strand entlang, sammle Zigarettenstummel
und Plastikteile ein, die für die Meeresfauna gefährlich oder sogar tödlich
sind, und wühle in den Bündeln von Posidonia-Seegras, die die
morgendliche Flut zurückgelassen hat.
Drei Frauen, deren Haut von monatelangem Aufenthalt in der
provenzalischen Sonne schwarz geworden ist, beobachten mich.
Wahrscheinlich halten sie mich für eine Verrückte. Aber wer ist verrückter?
Diejenige, die ihre Zigarettenstummel im feinen Sand entsorgt, ohne sich
die Mühe zu geben, von ihrem kleinen Klappsitz aufzustehen und zum
Mülleimer ganz in der Nähe zu gehen? Oder diejenige, die
Zigarettenstummel und Plastikteile einsammelt, um die Tierwelt zu
schützen? Ich weiss, mein Beitrag ist nur ein kleiner Tropfen Empathie für
die Sache der Meereslebewesen in einem Ozean aus menschlichem Abfall.
Aber ich kann nicht anders.
DAS REGT MICH AUF,
ICH MUSS ETWAS TUN
Warum bloss kommt das braungebrannte Damentrio, nicht auf die Idee,
etwas Abfall vom Strand einzusammeln? «Ihrem» Strand, den sie jeden Tag
besuchen. Stattdessen sitzen sie gackernd auf ihren Klappstühlen unter den
Eukalyptusbäumen, rufen «pioupiou, pioupiou» und füttern die Möwen.
Jetzt lassen sie sich von den Wellen schaukeln und klammern sich an ihre
Schaumstoff-«Pool Noodle» aus Ethylen-Vinylacetat-Copolymer. Während
ich die drei beobachte, fällt mir ein grosses rotes Plastikteil auf, das aus
dem Sand ragt. Ich gehe hin, hebe es hoch und entsorge es im Kübel. Eine
der drei Frauen wirft mir einen mitleidigen Blick zu.
Ja, ich bin verrückt, aber ich kann nicht anders.
Plan-de-la-Tour, im September 2022