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                                                                   braucht regionale schule




         Wohnortnahe Schulen
                                               für unsere Kinder
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              Das gesamte Konzept Wohnortnahe Schule
              finden Sie auch unter www.bllv.de/wohnortnahe-schule
                                                                                                                   05   Warum wir wohnortnahe Schulen brauchen
              Sie können diese Broschüre kostenlos beim BLLV anfordern.

                                                                                                                   08   Bayern – das Ende der wohnortnahen Schule?
              Bayerischer Lehrer- und Lehrerinnenverband e.V.
              Bavariaring 37, 80336 München
              Tel. 089 721001-45, Fax 089 721001-37
              bllv@bllv.de, www.bllv.de
                                                                                                                   12   Gegen Auslese – für mehr gemeinsames Lernen

                                                                                                                   16   Gemeinden brauchen individuelle Lösungen

                                                                                                                   20   Erfahrungen, Beispiele, Reflexionen

                                                                                                                   38   Schritte zur Sicherung einer Schule am Ort




                                                  Text: DR. FRITZ SCHÄFFER, DR. GERD HÜFNER
                                                  Visuelles Konzept und Layout: SONIA HAUPTMANN, grafik1@bllv.de
                                                  Fotos: JAN ROEDER, foto@janroeder.de
                                                  Druck: OrtmannTeam, www.OrtmannTeam.de




  2                                                                                                                                                                   3
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                                                                                Der BLLV ist der Überzeugung: Wohnortnähe ist ein Qualitätsmerkmal eines erfolgreichen
                                                                                Schulsystems. Wohnortnahe Schulen stellen für Kinder, Eltern, Familien und für die Kommu-
                                                                                nen ein Stück Lebensqualität dar. Ist es nicht trostlos, wenn morgens die Jugend eines Ortes
                                                                                in Bussen zehn, fünfzehn Kilometer und noch weiter transportiert werden muss? Ist es nicht
                                                                                eine Verschwendung, wenn Kinder und Jugendliche im Jahr mehr als 300 Stunden in Schul-
                                                                                bussen vergeuden?

                                                                                Das Schulsterben ist weniger demografisch bedingt als hausgemacht. Andere Flächenstaa-
                                                                                ten machen es uns längst vor: Es gibt als Alternativen wohnortnahe Schulangebote, die at-
                                                                                traktiv sind und mit Erfolg arbeiten. Schleswig-Holstein, Thüringen, Sachsen und Nord-
                                                                                rhein-Westfalen zum Beispiel machen positive Erfahrungen mit einem zweigliedrigen Schul-
                                                                                system, in unserem Nachbarland Baden-Württemberg können Gemeinden sich für die Ge-
                                                                                meinschaftsschule entscheiden. Hohe Akzeptanz bei Eltern, Kinder ohne Übertrittsstress,
                                                                                zufriedene Kommunen und ein effizienter Einsatz von Steuergeldern im Interesse besserer
                                                                                Bildung sind die Folge.

                                                                                Noch ist es möglich, einen neuen pragmatischen Kurs in der bayerischen Schulpolitik einzu-
                                                                                schlagen. Wir haben zahlreiche Rückmeldungen, dass die Hauptschule durch Namens-
                                                                                wechsel und Schulverbünde in den Augen der Eltern nicht aufgewertet wird. Manchmal hat
                                                                                man den Eindruck, diese Reformen sind aus der Zeit gefallen und versuchen ein Strukturmo-
                                                                                dell gegen alle Erfahrungen durchzusetzen. Extreme demografische Entwicklungen führen
                                                                                bereits heute in einigen Kreisen zu langen Fahrtwegen zu den Bildungsangeboten. Die Über-
                                                                                trittsquote steigt weiter und die Schulschließungen gehen trotz der Schulverbünde unge-
                                                                                bremst weiter. Zugleich steigt der Stress in den Grundschulen, die immer stärker zur
                                                                                Rennstrecke für die weiterführenden Schularten pervertiert werden.

                                                                                Der BLLV hat deshalb bereits vor vier Jahren sein Konzept der Regionalen Schulentwicklung
                                                                                (RSE) vorgelegt, nach dem regional passgenaue Lösungen durch die Integration bisher streng
                                                                                getrennter Bildungsgänge möglich werden. Verheerend ist die Weigerung des Kultusminis-
                                                                                teriums, Modellversuche für attraktive wohnortnahe Schulen zuzulassen, für Schulen, in denen
                                                                                jenseits der starren Trennung der Schularten, jenseits von Auslese und Einsortierung länger
                                                                                gemeinsam gelernt werden kann. Denn nur praktische Beispiele könnten Lösungsmöglich-
                                                                                keiten eröffnen. Während Schulversuche zu vielfältigen Themen genehmigt werden, verwei-
                                                                                gert das Kultusministerium gegen den Willen der örtlichen Eltern, Lehrer und Kommunal-
                                                                                politiker solche zukunftsfähigen Lösungen mit wenig überzeugenden Schlagworten. Wir brau-
                                                                                chen aber Pragmatismus und Bürgernähe statt Ideologie und Zentralismus.




                                                                                Klaus Wenzel                      Dr. Fritz Schäffer
                                                                                Präsident des BLLV                Leiter der Abteilung Schul- und Bildungspolitik


  4                                                                                                                                                                            5
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                                                                                  „Wenn ich nachmittags mit meinen Freundinnen
                                                                                   spielen will, dann mag ich selber zu Fuß hingehen
                                                                                   und nicht, dass mich die Mama oder der Papa mit
                                                                                   dem Auto fährt und wieder holen muss. Und die
                                                                                   sind dann auch immer ganz genervt, wenn sie mich
                                                                                   in der Gegend rumfahren müssen.“




       „Ich möchte, dass meine Schulfreundinnen
                                                                    aus meinem Dorf kommen.“                      Marie, 8, Schülerin




                                                                                                                                        7
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      Bayern – das Ende der wohnortnahen Schule?                                                                          Szenario 1: Fortschreibung des dreigliedrigen Schulsystems 1.075 Hauptschulen in Bayern 2009

                                                                                                                                                                                                                             25                 3
                                                                                                                                                                                                          67
                                                                                                                                                                                 199                                                           173
                                                                                                                                                                                                                              261
                                                                                                                                                                                                         353
              Seit 2001 wurden in Bayern 540 Teilhauptschulen und 107 ehemals voll ausgebaute Hauptschulen
                                                                                                                                                                                 422                                                           387
              geschlossen. Für das Schuljahr 2009/10 weist die Statistik noch 1.075 Hauptschulen in Bayern aus.
                                                                                                                                                                                                                              393
              Allerdings konnten 107 davon schon nicht mehr auf allen fünf Jahrgangsstufen eine Klasse anbieten.
              Demografischer Rückgang und vermehrte Übertritte in Realschulen und Gymnasien werden weitere                                                                                               408
              Schulschließungen bewirken.
                                                                                                                                                                                 363                                                           512
                                                                                                                                                                                                                              396
              Der BLLV hat deshalb die Studie „Die Zukunft der wohnortnahen Schule in Bayern“ erstellt. Sie                                                                                               247
              untersucht, was im Freistaat mit Schulstandorten geschieht, wenn am                                                                                                 91
                                                                                                                                                                                2009                     2015                2020              2030
              • dreigliedrigen Schulsystem festgehalten wird (Szenario 1) oder
              • Mittel-, Real- und Wirtschaftsschulen zu einer Schulart zusammengeführt werden (Szenario 2) oder
              • alle Kinder eine gemeinsame Schule vor Ort besuchen (Szenario 3).
                                                                                                                          Szenario 2: Zweigliedriges Schulsystem Haupt- und Realschüler besuchen gemeinsam diese 1.075 Schulen
              Diese drei Szenarien wurden auf der Basis amtlicher Daten für sämtliche Schulstandorte in allen
              25 kreisfreien Städten und 71 Landkreisen in Bayern durchgespielt.

              Das Ergebnis:                                                                                                                                                                                470                403              424
              Sollte am dreigliedrigen Schulsystem festgehalten werden, können 2015 an rund 250 Schulen (23 %)                                                                   602
              keine siebten und achten Klassen mehr gebildet werden. Diese Schulen sind akut von Schließung
              bedroht. 2020 wird die Zahl auf knapp 400 (37 %) anwachsen und 2030 mehr als 500 betragen
              (48 %). Besonders stark betroffen sind die kleinen Schulen im ländlichen Raum.                                                                                                                                  405              396
                                                                                                                                                                                                           412
                                                                                                                                                                                 367
              In Oberbayern ist die Situation noch relativ günstig: dort sind bis 2020 von 311 ehemaligen Haupt-
              schulen 93 gefährdet (30 %). Dramatisch Formen nehmen die drohenden Schulschließungen bis 2020                                                                                              144                 215              200
                                                                                                                                                                                      74
              in der Oberpfalz mit 51 Schulen (45 %), in Unterfranken mit 63 Schulen (47 %) und in Oberfranken mit                                                              32                        49                  52                55
              50 Schulen (50 %) an. In Oberfranken sind bis 2030 dann über zwei Drittel der heutigen Schulstand-                                                                2009                     2015                2020              2030
              orte gefährdet. Von ehemals 101 Hauptschulen bleiben 2030 noch 31 Schulen übrig, die mindestens
              eine 7. Klasse bilden können. Acht davon liegen in den vier kreisfreien Städten. Auf die neun Landkreise,
              in denen 2009 noch 84 Hauptschulen bestanden, kämen dann noch gerade 23 Schulen, also im
              Schnitt etwa zweieinhalb je Landkreis.                                                                      Szenario 3: Gemeinschaftsschule Alle bayerischen Schüler besuchen gemeinsam diese 1.075 Schulen

              Die Studie zeigt aber auch auf, dass diese Entwicklung nicht notwendig so verlaufen muss. In einem
              zweigliedrigen System, wie es die CDU in ihrem Leitantrag vorschlägt (Szenario 2), würden nur rund
              50 Schulen zu wenige Schüler für eine Klasse pro Jahrgangsstufe aufweisen. Über 800 Schulen könn-
              ten auch 2030 noch mit mindestens zwei Parallelklassen geführt werden.
                                                                                                                                                                                                          758                 715              749
                                                                                                                                                                                 865
              Würde eine gemeinsame Schule für alle Schüler nach der Grundschule eingerichtet (Szenario 3),
              wären nur 24 der Haupt-/Mittelschulen gefährdet. Mehr als 1.000 Schulen könnten trotz des demo-
              grafischen Schülerrückgangs mit mindestens zwei Parallelklassen bestehen.
                                                                                                                                                                                                          251                 281              257
              Nähere Informationen können auf der BLLV Homepage www.bllv.de eingesehen werden.                                                                                   157
              Eine Druckfassung kann bestellt werden beim BLLV, Bavariaring 37, 80336 München.                                                                                     38                      43                   55                45
                                                                                                                                                                                15                     23                    24               24
                                                                                                                                                                                2009                    2015                 2020              2030



                                                                                                                                                                               zu wenige Schüler für eine Klasse   1 zügig          2 zügig    > = 3 zügig




  8                                                                                                                                                                                                                                                          9
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              „Für meine Mannschaft braucht's Spieler, auf die
               Verlass ist. Die müssen regelmäßig und selbststän-
               dig herkommen können. Wenn zu viele den ganzen
               Tag in der Stadt sind, weil sie da auf die Schule
               gehen, dann kommen die irgendwann gar nicht
               mehr. Und dann kann ich zusperren.“




          „Ich will, dass alle ohne Stress ins Training
                                                                              kommen können.“   Thomas, 25, Fußballtrainer




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       Gegen Auslese – für mehr gemeinsames Lernen

       Individuelle Förderung statt Auslese
                                                                                                                              für das spätere Lernen der Kinder. Je weniger Auslese in der Grundschule, desto mehr Kinder können
              Jedes Kind hat ein Recht darauf, dass es in der Schule in seinen Stärken und Schwächen angenommen               weniger beschädigt und mit mehr Lernfreude ihren Bildungsweg fortsetzen. Wegen des Übertrittsdrucks
              und seine individuelle Persönlichkeit berücksichtigt wird. Unterricht und Lernprozesse müssen auf die           erhalten immer mehr Kinder bereits in der Grundschule Nachhilfeunterricht. Dieser nimmt den Kindern
              Lernvoraussetzungen des einzelnen Kindes abgestimmt sein. Die bloße Zuweisung zu drei Schularten                notwendige Freizeit zu Erholung und freiem Spiel. Und Nachhilfe ist teuer. Kinder aus armen Familien
              mit unterschiedlichen Anforderungsniveaus nach der Grundschule bietet eine solche Individualisierung            werden dadurch benachteiligt, die soziale Auslese verstärkt.
              nicht. Kernaufgabe der Schule ist es, die unterschiedlichen Talente und Potentiale der Kinder zu
              fördern, und nicht, sie nach einer vermeintlich mit der Geburt festgelegten und unveränderlichen Be-
              gabung zu sortieren. Tatsächlich ist die Auslese auch nicht „begabungsgerecht“. Ziffernnoten in den       Lernen ist ein aktiver Prozess
              drei Fächern Deutsch, Mathematik und Heimat- und Sachunterricht, die über die Auslese entscheiden,
              spiegeln nicht die Vielfalt möglicher Fähigkeiten und Talente einer Schülerin oder eines Schülers.              Es hängt zum großen Teil von Art und Qualität des Lernangebotes und dem Lernklima in einer Klasse
              Musische und kommunikative Fähigkeiten, soziale und emotionale Kompetenzen spielen bei der Über-                ab, ob Schülerinnen und Schüler auch persönliche Fähigkeiten entwickeln, die immer wichtiger werden:
              trittsentscheidung kaum eine Rolle. Sie geraten zwangsläufig zum Beiwerk schulischen Lernens.                   Sich ausdrücken können, Handlungen planen und ausführen, begründet Entscheidungen treffen,
                                                                                                                              Verantwortung übernehmen, Konflikte lösen. Lernen ist ein Vorgang aktiver Aneignung. Lernformen, die
              Für die Lernbiografie eines Kindes sind sie aber von herausragender Bedeutung. Weder kann der                   Selbsttätigkeit und Selbstständigkeit unterstützen, die handlungsorientiert sind und Schülern die Erfah-
              aktuelle Leistungsstand einer Schülerin oder eines Schülers sicher diagnostiziert, noch die Entwicklung         rung vermitteln, dass sie etwas bewirken können, fördern Lernmotivation und Lernerfolg. Dabei muss
              der zukünftigen Lernfähigkeit zuverlässig prognostiziert werden. Dies zeigt sich an den Ergebnissen der         das Lernangebot an den unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen anknüpfen. Dies ist unter in-
              Auslese: Ein Drittel der in die 5. Klasse an den Gymnasien Eingeschulten muss in Bayern vor dem                 dividueller Förderung zur verstehen, nicht Nachhilfe oder Einzelunterricht.
              Erreichen des Abiturs die Schule wieder verlassen. Und mehr als zehn Prozent erreichen über den
              wesentlich schwierigeren Weg der Fach- und Berufsoberschulen die Hochschulreife, obwohl ihnen
              dies in der Grundschule nicht zugetraut wurde. Darüber hinaus ist die Zuweisung zu Gymnasien,             Lernen erfolgt gemeinsam
              Realschulen und Haupt- bzw. Mittelschulen, obwohl auf Noten gestützt, in hohem Maße eine soziale
              Auslese. In keinem Land sind die Bildungschancen sozial ungleicher verteilt als in Deutschland.                 Das Lernen vom Lehrer ist nur ein Teil schulischen Lernens. Schüler lernen auch sehr viel von ihren
                                                                                                                              Mitschülern. Die Lernforschung hat nachgewiesen, dass schwache Schülerinnen und Schüler in hetero-
                                                                                                                              genen Lerngruppen besser lernen und gute Schüler nicht schlechter werden, als in vermeintlich homo-
                                                                                                                              genen Klassen. Schwächere Schüler orientieren sich an den besseren und bessere Schüler können
       Auslese schadet Lernen                                                                                                 schwächeren helfen, wobei auch sie durch aktives Erklären ihre Kenntnisse und Kompetenzen vertiefen
                                                                                                                              und erweitern. Lernen geschieht im Kontext sozialer Beziehungen. Diese tragen in großem Umfang zu
              Die derzeitige Noten- und Auslesepraxis verführt die Schülerinnen und Schüler dazu, sich kurzfristig            Lernerfolgen bei. Wenn aber Kinder auf unterschiedliche Schularten verteilt werden, wechseln sie Schule,
              Faktenwissen anzueignen, das bei Prüfungen abgefragt und danach schnell wieder vergessen wird. Es               Lehrkräfte sowie die Bezugsgruppe Klasse. Gemeinsames Lernen vor Ort dagegen gewährleistet
              ist dies das Gegenteil eines Lernens aus Interesse an den schulischen Themen und Inhalten und das               Kontinuität und Vertrauen. Es fördert soziale Integration und hilft, schulfeindliche Jugendkulturen zu
              Gegenteil eines vernetzten und nachhaltigen Lernens. Damit Schule wirklich Sinn macht, sollten Schü-            verhindern. Unterschiede des familiären Hintergrunds der Schüler ermöglicht ihnen einen Blick über die
              lerinnen und Schüler ihr Wissen anwenden, damit Probleme lösen und dabei mit anderen zusammen-                  Kultur der eigenen Familie hinaus.
              arbeiten können, kurz: nutzbare Kompetenzen erwerben. Ein bloßes Lernen für gute Noten gibt ihnen
              keine Zeit und keinen Raum zu experimentieren, Fehler zu machen und zu korrigieren, Umwege im
              Begreifen zu gehen. Aber nur so lernen Kinder wirklich effektiv und nachhaltig. Nur wenn Leistungs-
              feststellung nicht für ein Aussortieren benutzt wird, kann sie echte Rückmeldung an Schüler und           Lernen ist ein individueller Prozess
              Eltern sein über den Stand der Kenntnisse, und Hinweise geben für nächste Lernschritte. Nur dann
              geben sie echte Perpektiven für das weitere Leben.                                                              „Es gibt keine wissenschaftlich begründete Typologisierung, die eine Zuordnung von Heranwachsenden
                                                                                                                              zu einem ganz bestimmten Lernumfeld (Gymnasium, Real- oder Hauptschule) nahe legt. Schüler bringen
              Die Entscheidung über die Schullaufbahn nach der 4. Klasse führt bei vielen Grundschülern zu enor-              ein unterschiedliches Potenzial mit in die Schule, das sich nicht in Schubladen packen lässt. Um jeden
              mem Leistungsdruck und einer ungesunden Lernatmosphäre in den Klassen. Der Übertrittsdruck                      Schüler »begabungsgerecht« zu fördern, erweist sich die Gliederung des Schulsystems als untaugliches
              erzeugt Versagensängste und beeinträchtigt das Selbstwertgefühl. Emotionale Stabilität und Lernmo-              Instrument. Die Aufgabe der Lehrer muss vor allem darin bestehen, unterschiedliche Lernangebote
              tivation der Kinder sinken dramatisch. Kreatives, ergebnisoffenes Lernen, das Entwickeln von Selbst-            innerhalb einer Lerngruppe bereitzustellen, damit jeder Schüler entsprechend seinen Voraussetzungen
              vertrauen, all das wird massiv beeinträchtigt. Misserfolge und Frustrationen haben fatale Folgen                optimal lernen kann.“ Prof. Dr. Elsbeth Stern Lernpsychologin an der ETH Zürich


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              „Es ist echt schlimm: Schon in der dritten Klasse
               wird gepaukt ohne Ende, es geht nur noch drum,
               wer schafft's aufs Gymnasium oder wenigstens auf
               die Realschule. Spaß macht das keinen. Und
               dieser Stress macht uns alle ganz fertig.“




                    „Ich will, dass mein Kind den Übertritt
                                gelassen nehmen kann“                         Petra, 36, Mutter




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       Gemeinden brauchen individuelle Lösungen

       Das Aus der Schulen auf dem Land
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              Dem ländlichen Raum in Bayern droht die schulische Verödung: Bis 2030 brechen fast die Hälfte aller
              derzeitigen Mittelschulstandorte weg. Gründe sind die demografische Entwicklung und das Schul-                Mögen sich mittlerweile das gesamte Ausland und auch alle anderen deutschen Bundesländer vom drei-
              wahlverhalten. Wenn das Kultusministerium keine Alternativen zulässt, wird eine zentralisierte Schul-         gliedrigen Schulsystem verabschiedet haben – in Bayern hält man unbeirrbar fest daran. Gerechtfertigt
              struktur und damit eine erhebliche Schwächung des ländlichen Raumes die Folge sein.                           wird dies durch die Ideologie von der Begabungsgerechtigkeit der Schularten und der Überlegenheit
                                                                                                                            homogener Lerngruppen, auch wenn dies wissenschaftlich nicht haltbar ist. Eine solche Pädagogik
              Noch sind vor allem Haupt- und Mittelschulen von Schulschließung bedroht. Doch die demografische              ersetzt Individualisierung durch Gruppierung. Der einzelne Schüler wird nur mangelhaft gefördert. Die
              Entwicklung wird dazu führen, dass in weniger als zwei Jahrzehnten alle Schularten vor der gleichen           hohe Zahl von Wiederholern und Schulabbrechern belegen dies. Die saarländische Ministerpräsidentin
              Problematik stehen: Der Schülerrückgang wird manchen Neu- und Anbau von Realschulen, selbst von               Kramp-Karrenbauer (CDU) stellt nüchtern fest: «Der Kampf um das alte dreigliedrige Schulsystem ist ein
              Gymnasien, zur Investitionsruine werden lassen, noch ehe die Schulden dafür abbezahlt sind.                   Kampf von gestern. Er geht an der Wirklichkeit vorbei».

              Ohne Schulen sind Gemeinden für die Neuansiedlung von jungen Familien wenig attraktiv. Wirt-                  Warum also lässt die bayerische Bildungspolitik nicht ab von der Anmaßung, sie allein kenne die Antwort,
              schaftsbetriebe und junge Leute wandern ab, wenn sie am Ort keine Ausbildungs- und Arbeitsplätze              mit der sie ihre Bürger zwangsbeglücken muss? Statt sich in ideologischen Grabenkämpfen um zentra-
              mehr finden. Zudem verliert die Gemeinde mit der Schule einen bedeutsamen kulturellen Bezugspunkt.            listische Lösungen zu verbeißen, sollte sie besser Eltern und Lehrern endlich die Wahlfreiheit geben, wie
              Wenn Schüler den Heimatort morgens verlassen und meist erst am späten Nachmittag zurückkehren,                sie Schule gestalten wollen. Sie kennen am besten die Verhältnisse an Ort und Stelle. Wenn Gemein-
              lässt ihr Engagement in örtlichen Vereinen, im gemeindlichen und kirchlichen Leben zwangsläufig nach.         den gemeinsam mit Lehrern und Eltern zu dem Schluss kommen, dass die Mittelschule keine Zukunft hat,
              Schließlich bürdet jeder verlorene Schulstandort den Gemeinden zusätzliche Kosten durch Gast-                 weil Standorte nicht mehr zu halten sind, dann sollen sie andere Wege einschlagen dürfen.
              schulbeiträge und Schülerbeförderung auf. Gleichzeitig werden leer stehende, oft erst vor kurzem re-
              novierte Schulgebäude zu Investitionsruinen.
                                                                                                                      Konsens gegen das Dogma
       Mittelschulen können Schulsterben nicht aufhalten                                                                    Die bayerischen Schulstrukturen sind verhärtet wie Beton. Sie aufzubrechen kann nur in einem längeren
                                                                                                                            Prozess gelingen, der alle Beteiligten mitnimmt und auf Konsens setzt. Die neuen Regierungen in Nord-
              Auch die Einführung von Mittelschulen und Schulverbünden kann ein weiteres Schulsterben nicht auf-            rhein-Westfalen und Baden-Württemberg haben die Zeichen der Zeit erkannt. Dort werden die alten
              halten. Sie haben keinen Einfluss auf die Schulwahl von Eltern. Durch die Umetikettierung von Haupt-          Strukturen überwunden – ohne die Schulen, die Eltern oder die Gemeinden zu überfordern. Dort ist zu
              in Mittelschulen wurde jedenfalls kein einziger zusätzlicher Schüler gewonnen. Eltern bevorzugen nach         besichtigen, wie organische Schulentwicklung aussieht: Die Bildungspolitik stülpt nicht einfach in ge-
              wie vor den Mittleren Schulabschluss an der Realschule, der mehr Möglichkeiten bei der Wahl aner-             setzgeberischer Selbstherrlichkeit allen ein einheitliches Schulmodell über, sondern hilft den Schulen,
              kannter Berufsausbildungen bietet. Es geht nicht um die Rettung bestimmter Schularten. Es geht um             die das wünschen, vor Ort bei der Einführung passgenauer Lösungen. So könnte es auch in Bayern ge-
              die Stärkung aller bayerischen Gemeinden. Sie müssen vital bleiben und sind auf das Angebot hoch-             schehen. Die Betroffenen vor Ort sollen entscheiden, welche Schule sie haben wollen – jenseits der
              wertiger und wohnortnaher Schulabschlüsse angewiesen.                                                         Strukturfrage. Dazu aber müssten noch mehr Menschen den Mut entwickeln, das Dogma von der Drei-
                                                                                                                            gliedrigkeit in Frage zu stellen. Die Schulentwicklung muss von ihnen eingefordert und am besten bereits
              Die Erkenntnis, dass etwas geschehen muss, breitet sich immer weiter aus. Auch in Bayern suchen               tatkräftig begonnen werden.
              immer mehr Bürgermeister, Schulleiter, Kollegien und Eltern händeringend nach Lösungen, wie sie
              weiter ein attraktives und wohnortnahes Schulangebot in der Sekundarstufe organisieren können. Die
              Schulen, die betroffenen Gemeinden, die dort lebenden Eltern und Schüler brauchen eine pragmati-
              sche Antwort auf die Herausforderung rückläufiger Schülerzahlen an der Schule ihrer Gemeinde. Ihnen
              ist durch ideologischen Streit und politischen Stillstand nicht geholfen.




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                                                                               halt anderswo sind. Und dann kommt keiner mehr
                                                                               hierher zum Einkaufen und ich steh in einem leeren
                                                                               Laden. Da bricht nicht nur der Umsatz weg, das ist
                                                                               auch traurig, weil ein Stück Leben verloren geht.“




       „Ich will, dass uns unsere treue Kundschaft
                                      bleibt“                                                                 Hannelore, 56, Krämerin




                                                                                                                                        19
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       Erfahrungen, Beispiele, Reflexionen
       Bestehende bzw. von der Landesregierung angestrebte Schulstruktur in den Bundesländern                                                            NRW-Kultusministerin Sylvia Löhrmann (Die Grünen) über einen
                                                                                                                                                         anderen Weg, Schulstrukturen zu reformieren
                                                                                                                                                         Frau Löhrmann, warum setzt Ihre Regierung auf die Sekundarschule?
                                                                                                                                                         Die Sekundarschule ist die Antwort auf zwei Entwicklungen: Zum einen auf die zurückgehenden Schü-
                                                                                                                                                         lerzahlen und die Tatsache, dass manchmal auch die letzte weiterführende Schule vor Ort gefährdet
                                                                                                                                                         ist. Zum anderen hat sich das Verhalten der Eltern bei der Wahl der weiterführenden Schule verändert:
                                              Schleswig-Holstein                                                                                         Sie wollen eine Schule für ihre Kinder, die die Option auch auf das Abitur länger offen hält.
                              Hamburg
                                                                                                                                                         Wie wollen Sie diese Schulart durchsetzen?
                                                                       Mecklenburg-Vorpommern
                                                                                                                                                         Wir setzen auf eine innovative Schulentwicklung von unten. In Ascheberg im Münsterland haben wir
                                                                                                                                                         den ersten Antrag einer Gemeinde auf Gründung einer solchen Schule genehmigt. Mittlerweile wer-
                                                                                                                                                         den insgesamt zwölf Sekundarschulen als Modellschulen geführt. Die Schulträger, aber auch die Schu-
             Bremen
                                                                                                                                                         len selbst, sagen: Wir wollen uns verändern. Eine Strukturveränderung allein reicht aber nicht aus.
                                            Niedersachsen                                                           Berlin                               Deshalb begleiten wir die Schulen bei diesem Versuch. Sie bekommen auf die gesamte Dauer des
                                                                                                                                                         Modellversuchs von sechs Jahren eine halbe Stelle und ein zusätzliches Fortbildungsbudget. Diese
                                                                                                                                                         Kombination, äußere und innere Reformprozesse gemeinsam anzugehen, kommt gut an.
                                                                                            Brandenburg

                                                                    Sachsen-Anhalt                                                                       Der bayerische Kultusminister spricht beharrlich von „Einheitsschulen“.
                                                                                                                                                         Wer den Begriff „Einheitsschule“ verwendet, will ideologisch motivierte Kämpfe führen, will innovative
                      Nordrhein-Westfalen
                                                                                                                                                         Schulentwicklungsprozesse verhindern. Wer die Sekundarschule blockiert, stellt die Schulform über
                                                                                          Sachsen                                                        das Interesse der Kinder. Die Bewegung hin zur Zweigliedrigkeit ist aber bundesweit nicht mehr auf-
                                                                                                                                                         zuhalten.
                                                               Thüringen
                                            Hessen



                 Rheinland-Pfalz




                 Saarland

                                                                          Bayern
                                     Baden-Württemberg




                                Dreigliedrigkeit: Haupt-/Mittelschule + Realschule + Gymnasium

                                Zweigliedrigkeit: gemeinsame Haupt- und Mittelschule bis Jgst. 10 + Gymnasium
                                Integrierte Mehrgliedrigkeit: Hauptschule + Realschule (teils mit gym. Oberstufe oder Gemeinschaftsschule) + Gymnasium
                                Zweigliedrigkeit: gemeinsame Schule bis Jgst. 13 + Gymnasium



  20                                                                                                                                                                                                                                                              21
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       NRW – Pionierschule im Münsterland macht pädagogische Innovation

              Die Profilschule Ascheberg im Münsterland (NRW) hat zu Beginn des Schuljahres 2011/2012 für elf            tenzraster entwickelt. Wir haben auch das Institut Beatenberg angeschaut, die Urmutter aller Kompetenz-
              Jahre ihren Betrieb als Modellschule aufgenommen. Die Nachfrage der Eltern war so groß, dass eine          raster-Schulen. Auch mit unserer benachbarten Modellschule in Rheinsberg pflegen wir einen regen Aus-
              fünfte Eingangsklasse gebildet werden musste und nunmehr 125 Schüler die münsterländische Schule           tausch. Eine SchiLF etwa haben wir zum Thema Lernberichte organisiert. Es gibt eine Portfoliogruppe. Der
              besuchen.                                                                                                  Profilunterricht wird gerade ausgeweitet. Bisher gab es in Sprachen, MINT und Musik zwei Stunden Pro-
                                                                                                                         filunterricht pro Woche, in der 6. Jahrgangsstufe kommt dann Theater und darstellendes Gestalten dazu.
              Es handelt sich um eine gebundene Ganztagesschule der Sekundarstufe I (Jahrgangsstufen fünf bis
              zehn) mit maximal 25 Kindern pro Klasse, die in der Regel gemeinsam unterrichtet werden. Allerdings        Eine Mutter war mit auf Exkursikon? Bei Ihrem Schulversuch scheint ein vertrauensvolles
              findet in der Unterstufe (Klassen 5 bis 8) eine stundenweise Aufteilung nach begabungsgerechten            Verhältnis zu den Eltern eine wichtige Rolle zu spielen.
              Profilangeboten (MINT, Musik, Sprache) statt. In der Mittelstufe (Klassen 9 und 10) werden die Fächer      Die Eltern sind in der sogenannten Schulpflegeschaft organisiert. Sie können als Experten auftreten,
              Deutsch und Englisch sowie Mathematik und Naturwissenschaften in zwei Leistungsstufen unterrich-           einer kann zum Beispiel seine Fertigkeiten als Malermeister einbringen. Andere übernehmen Lesepa-
              tet. Dem eigenen Leitbild zufolge begreift die Schule die Unterschiede zwischen den Kindern „als Be-       tenschaften. Manche gestalten die einstündige Mittagspause mit Basteln.
              reicherung“. Es gibt kein Sitzenbleiben, stattdessen reagiere die Schule „flexibel mit individueller
              Förderung auf drohende Leistungsschwierigkeiten“. Zum pädagogischen Leitbild gehört das Prinzip            Das hört sich nach ungewöhnlich großer Kooperationsbereitschaft an.
              einer „Team-Schule“, die Lehrkräfte verstehen sich als „Lernbegleiter“ und „Lernberater“. Außer Zif-       Allen Eltern ist bewusst, dass ihre Kinder an einer besonderen Schule sind. Man muss aber nach wie vor
              fernnoten dienen der Leistungskontrolle auch „Lernentwicklungsberichte“ und „Portfolios“. Es sind alle     Überzeugungsarbeit leisten.
              bisherigen Abschlüsse bis zur mittleren Reife möglich, mindestens 60 Prozent der Schüler sollen
              jedoch in ein Gymnasium wechseln können und das Abitur erreichen.                                          Inwiefern?
                                                                                                                         Beispiel Leistungskontrollen. Früher hieß es: Nächste Woche ist dann und dann Klausur. Bei uns gibt es
                                                                                                                         einen Arbeitsplan und die Schüler melden sich selbst zur Leistungsprüfung.
                                                                                                                         Es sind natürlich nie alle gleich weit.
              Schulleiterin Sylvia Reimann-Perez über erste Erfahrungen
              mit der Gemeinschaftsschule Ascheberg                                                                      Wie organisieren Sie dann die Proben?
                                                                                                                         Notfalls schreiben auch mal nur fünf Schüler eine Prüfung, oder sogar einer allein. Wir schauen uns alles
              BLLV: Frau Reimann-Perez, zur Eröffnung der Gemeinschaftsschule Ascheberg mussten                          ganz individuell an. So übertragen wir auch Verantwortung auf die Kinder. Aber das alles den Eltern zu
              Sie eine ehemalige Hauptschule umstrukturieren und selbst das Personal einstellen. Eine                    erklären, ist schon schwer.
              anspruchsvolle Aufgabe für eine Leiterin – aber auch für ein Team.
              Wir sind 14 Lehrkräfte aus allen Schulformen, inklusive Förderbereich. Keiner kommt aus dem reform-        Und die Kinder?
              pädagogischen Bereich. Alle erarbeiten sich alles. Das ist in der Tat ganz schön anspruchsvoll. Zum        Die gehen sehr gut damit um. Manche muss man anhalten zu arbeiten. Andere machen sich fast selbst
              Beispiel die Deutschlehrer: Die erarbeiten gemeinsam einen Plan für ein halbes Jahr – den Unterricht,      zu viel Druck.
              die Arbeitsblätter, die Prüfungen. Jeder übernimmt einen Themenkreis wie Sachtexte oder Märchen.

              Wird bei Ihnen nicht nach dem Fachlehrerprinzip unterrichtet?
              Jede Lehrkraft unterrichtet, wie die Gymnasiallehrer unter uns, zwei Fakultas. Wir sind aber auch Be-
              gleiter in offeneren Lernformen. Da sind die SEGEL-Stunden, in denen selbstgesteuertes Lernen statt-
              findet oder der Projektunterricht. Als Klassenlehrer arbeitet man sowieso immer im Team, da sind immer
              zwei zusammen.

              Das bedeutet für die meisten der Lehrkräfte sicher eine große Umstellung.
              Die Bereitschaft, sich fortzubilden und selbst zu lernen, ist groß. Das halbe Team und eine Mutter waren
              zum Beispiel zu Gast in der Hamburger Max-Brauer-Schule. Mit deren Hilfe haben wir unsere Kompe-




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                                                                               hier zur Schule gegangen bin. Aber ich weiß noch
                                                                               gut, wie schön es war, dass die Schule gleich um
                                                                               die Ecke war und sich alle gut ausgekannt haben.
                                                                               Für die Kinder heute ist auch so schon alles
                                                                               anonym, die tun mir wirklich leid.“




     „Ich will, dass für meine Enkel die Schule
      zum Dorf gehört – wie für mich damals“                                                                          Irmgard, 78, Oma




                                                                                                                                         25
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       Baden Württemberg – Schulreform von unten

              Das Ziel der grün-roten Landesregierung in Baden-Württemberg ist nach den Worten von Kultusmi-           Ein solches Konzept stellt ganz neue Anforderungen an die Lehrerprofessionalität. Welche Leh-
              nisterin Gabriele Warminski-Leitheußers, „dass die einzelnen Kinder und Jugendlichen so gut wie mög-     rer sollen da unterrichten?
              lich gefördert werden und so lange wie möglich gemeinsam lernen können.“ Um dieses Ziel umsetzen         In der pädagogischen Arbeitsgruppe hatten wir Lehrer aller Schularten und es sollen auch Lehrer aller
              zu können, sieht ein von ihr vorgelegter Gesetzentwurf die Einführung von Gemeinschaftsschulen vor.      Schularten, von Grund-, Haupt-, Werkrealschule, Realschule und Gymnasium, aber eben auch Förder-
              Am 30. Mai 2011 entschied sich die Kommune Ravensburg einstimmig für das Konzept einer „Inklusi-         schullehrer arbeiten. Natürlich gibt es bei manchen Lehrern Verunsicherung, aber es gibt auch ein gro-
              ven Modellschule", in der Kinder der Jahrgangsstufen eins bis zehn unterrichtet werden sollen. Ra-       ßes Interesse. Alle Lehrkräfte an dieser Modellschule werden über schulbezogene Stellenausschrei-
              vensburg ist damit die erste Gemeinde, die einen Antrag für eine solche Modellschule eingereicht hat.    bungen akquiriert, sie werden also freiwillig dort arbeiten.
              Von den 150 bis 200 Schulen, die bisher Interesse bekundet haben, sollen 34 im Schuljahr 2012/2013
              starten. Die Gemeinschaftsschule umfasst mindestens die Klassen 5 bis 10. Daran schließt sich            Gemeinschaftsschule ist ja gerade für den ländlichen Raum, der vom demografischen Rückgang
              entweder an der Schule selbst oder an einem kooperierenden Gymnasium eine gymnasiale Oberstufe           betroffen ist, eine Möglichkeit, wohnortnah attraktive Abschlüsse bis hin zum Abitur zu erreichen.
              an, die bis zum Abitur führt. Außerdem soll es – wie in Ravensburg – auch Gemeinschaftsschulen ab        Ist das auch ein Anliegen, das mit der Einführung einer Gemeinschaftsschule verfolgt wird?
              der 1. Klasse geben. Der Unterschiedlichkeit der Schüler will man durch eine Individualisierung des      Das ist das Hauptanliegen. Wenn kleine Schulen weiter existieren können, dann ist das ein Gewinn so-
              Unterrichts gerecht werden. Hierzu werden alle Gemeinschaftsschulen als Ganztagsschulen geführt,         wohl für die Schüler als auch für die Gemeinden. Im anderen Fall, dazu hat auch die Werkrealschule bei-
              pro Jahrgang werden 60 zusätzliche Stellen bereitgestellt.                                               getragen, wird eine Hauptschule nach der anderen geschlossen. … der ländliche Raum verödet … Und
                                                                                                                       die Kinder fahren in die nächstgelegenen Städte, tragen ihr Geld dort ins Kino, sind dort in den Vereinen,
                                                                                                                       haben ihre Freunde und ihren kulturellen Mittelpunkt dort und nicht mehr in ihren Herkunftsgemeinden.

                                                                                                                       Wie stehen die Eltern heute zum Gemeinschaftsschul-Modell?
              Hauptschulleiter Rudolf Bosch über das Vorbild-Projekt                                                   Wir haben mit großem Aufwand einen Elternfragebogen entwickelt, die Tendenz ist klar: Die Eltern be-
              Gemeinschaftsschule Baden-Württemberg                                                                    grüßen den Gedanken des längeren gemeinsamen Lernens, vor allem den Gedanken, dass die Stadt Ra-
                                                                                                                       vensburg so etwas installiert. Und es kommt sehr differenziert zum Ausdruck, dass man mit vielen
              Herr Bosch, Sie und ein paar Mitstreiter hatten schon lange vor dem Regierungswechsel in                 Zuständen an den jetzigen Schulen nicht zufrieden ist.
              ihrem Bundesland die Schulpolitik offen herausgefordert. In welche Richtung sollte sie sich
              denn damals verändern?
              Weg vom selektiven System, hin zu einem integrativen Schulsystem, das allen Kindern eine Schul-
              laufbahn ohne Brüche und ohne Beschämung ermöglicht. Dazu gehören neue Unterrichtsformen, eine
              neue Unterrichtskultur aber eben auch eine neue Struktur.

              Und wie sieht das pädagogische Konzept nun, nachdem der Traum realisiert werden kann, aus?
              Eine Gemeinschaftsschule soll eine inklusive, gebundene Ganztagsschule sein, von Klasse eins bis
              Klasse zehn, mit enger Verknüpfung in Richtung Vorschule. Schüler werden in allen Leistungsniveaus
              unterrichtet, alle Schularten sollten abgebildet sein. Es soll keine Jahrgangsklassen mehr geben son-
              dern jahrgangsübergreifenden Unterricht in insgesamt vier Stufen. Klasse eins bis sechs dreistufig und
              zweistufig von sieben bis zehn. Man unterrichtet in Lehrerteams, Individualisierung ist das oberste
              Prinzip. In einem gebundenen Ganztagsschulbetrieb soll die Schule bestimmte Profilsäulen ausbilden,
              musisch, naturwissenschaftlich und im Bereich der Berufswegefindung.




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              „Die Jugendlichen aus unserer Schule, die sich für
              Autos interessieren, machen gerne ein Praktikum in
               meinem Betrieb. Die kenne ich dann schon ganz gut
               und weiß, wen ich einstellen kann. Bei Jugendlichen,
               die irgendwo auf die Schule gehen, läuft das
               schon mal schief.“




                     „Ich will wissen, wen ich ausbilde“                      Christian, 46, Kfz-Meister




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       Schleswig-Holstein – Wie eine Gemeinschaftsschule zum Erfolgsmodell wird

              Ein Tisch ist gedeckt. Laura, Merrit und Mads sitzen um ihn herum. Kenja tritt heran. „What would you like    Überforderung und Frustration sind die absolute Ausnahme. Die Fokussierung auf Schwächen wird ver-
              to drink?", fragt die Schülerin. Die Klasse 7c der Handewitter Gemeinschaftsschule übt sich im Eng-           mieden. „Jedes Kind hat irgendwo Stärken", weiß Dr. Hans-Werner Johannsen. „Wenn man da an-
              lisch-Unterricht an einem Rollenspiel. Das Klassenzimmer hat sich in ein Restaurant verwandelt. Kenja ist     setzt, wirkt sich das irgendwann auch auf die Schwächen positiv aus und die Lust am Lernen wird
              die Kellnerin, die anderen die Gäste. Schon in den letzten Tagen haben sie Vokabeln gelernt, Speisekarten     erhalten und wieder geweckt." Häufig wird die Partnerarbeit praktiziert. „Davon profitieren beide Sei-
              verfasst, sich mit Hilfe des Internets vorbereitet und sogar ein Video gedreht. Nun testen die Schüler ihre   ten", erläutert Anke Lache. „Die Leistungsschwächeren lernen von den Leistungsstärkeren. Bei denen
              Kenntnisse in kleinen Dialogen. „Manche gehen dabei richtig auf", erzählt Pädagogin Anke Lache. „Bei          wiederum festigt sich durch das Erklären das Gelernte." Ein Sonderraum steht für die Gruppenarbeit
              Praktikanten machen wir schon einmal den Test und lassen sie raten, welche der Schüler eine Realschul-        bereit. Die Klassenarbeiten haben unterschiedliche Schwierigkeitsstufen – je nach Leistungsstand.
              Empfehlung haben oder einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Oft liegen sie daneben."                        „Häufiger kommen Schüler zu uns und möchten auch den schweren Test lösen", berichtet Daniela
                                                                                                                            Schneider.
              Es mag merkwürdig klingen, dass Jugendliche, die auch das Gymnasium besuchen könnten, und klassi-
              sche Hauptschüler Tischnachbarn sind – im schleswig-holsteinischen Handewitt ist das Schulalltag.             Es gibt andere Fächer als früher. Verbraucher-Bildung, Weltkunde oder Naturwissenschaft. Sport kann
              2007 startete nur fünf Kilometer südlich der Grenze zu Dänemark eine der ersten sieben Gemein-                ab der siebten Klasse als vierstündiges Wahlpflichtfach gewählt werden, ebenso Französisch, Dänisch
              schaftsschulen im Land. Das „längere gemeinsame Lernen" wird seitdem intensiv gelebt.                         oder Technik. Das Wochenpensum liegt bei 30 Stunden in den Jahrgangsstufen fünf und sechs sowie
                                                                                                                            32 Stunden in den Jahrgangsstufen sieben bis zehn. Viele Schüler bleiben über Mittag. Es gibt eine
              Daniela Schneider, die zusammen mit Anke Lache (Realschullehrerin) das Klassenlehrer-Team der 7c bil-         Mensa, die täglich rund 200 Essen kocht. Danach beginnt das Kursprogramm der Offenen Ganz-
              det, hatte den Auftakt vor über vier Jahren verpasst. Die studierte Hauptschul-Pädagogin war schwan-          tagsschule mit ihren rund 50 Angeboten. Sie ist freiwillig für die Schüler, aber Pflicht für eine neue Ge-
              ger, pausierte zwei Jahre. Als sie wieder in Handewitt anfing, hatte sie das Gefühl, an „eine ganz neue       meinschaftsschule in Schleswig-Holstein.
              Schule zu kommen". Die Gemeinde investierte einen zweistelligen Millionenbetrag in die Infrastruktur.
              Das Leitbild der Schule, die Philosophie des Lernens und die Unterrichts-Inhalte wurden modifiziert – und     Ein wichtiges Element der neuen Schulform ist das kompetenzaufbauende Lernen („Kaul"). Eine Stunde
              auch die Motivation der Schüler hat sich verändert. „Es herrscht eine ganz andere Lust am Lernen als frü-     in der Woche tagt der Klassenrat, spricht Probleme und Ideen an. An der Wand hängen die Leitlinien:
              her an der Hauptschule", sagt Daniela Schneider.                                                              „Ich bin höflich und respektvoll" und „Ich verletzte niemanden". Bei größeren Störungen unterstützen
                                                                                                                            zwei Schulsozialarbeiter. Eine andere Schulstunde ist der Methodik-Lehre gewidmet: Was für ein Lern-
              Der Schulstandort Handewitt hat sich gemausert. Die alte Hauptschule drohte auszubluten. Heute zählt          typ bin ich? Wie erstelle ich ein Referat? Wie lerne ich effektiv Vokabeln? Wie packe ich meinen Ran-
              die Gemeinschaftsschule, an die drei Grundschulen und ein Förderzentrum für Lernbehinderte ange-              zen? Häufig wird mit dem Computer gearbeitet. Es gibt einen Informatik-Raum und zwei „mobile
              schlossen sind, knapp 1.000 Schüler. Die Jahrgänge fünf bis acht sind fünfzügig. Und eine Klasse pro          Klassenräume" mit jeweils 15 Notebooks. Jedes der 35 Klassenzimmer hat ein Aktiv-Board mit Inter-
              Altersstufe ist so etwas wie die „Gemeinschaftsschule plus": eine Integrationsklasse. In der 7c sitzen        net-Anschluss.
              unter den 19 Schülern – die normale Frequenz ist 25 – auch sechs, bei denen ein sonderpädagogischer
              Förderbedarf attestiert wurde. Ohne spezielle Unterstützung wären sie früher in die „Sonderschule"            Noten sind hingegen Mangelware. Berichtszeugnisse dominieren den Großteil der Schulzeit. Unter
              abgerutscht. In Handewitt wird aber alles dafür getan, dass sie in gut zwei Jahren einen normalen Haupt-      dem Strich stehen aber Abschluss und Durchschnitts-Note. Am Ende des ersten Halbjahres in Jahr-
              schulabschluss schaffen werden. Die „Inklusion" ist ganz im Norden der Republik kein Fremdwort,               gangsstufe acht gibt es erstmals eine Schulabschluss-Prognose, die danach jedes Halbjahr überprüft
              sondern bereits fester Bestandteil des Konzepts.                                                              wird. Nach Klasse neun erfolgt der Haupt-, nach Klasse zehn der Realschul-Abschluss. Das Abitur ist
                                                                                                                            Handewitt noch nicht möglich. Der Aufbau einer gymnasialen Oberstufe ist aber beantragt.
              „Wir sind weg vom Stempel oder einem Gutachten mit IQ-Test", betont Schulleiter Dr. Hans-Werner Jo-
              hannsen. Anstelle eines formellen Verfahrens sind ein individueller Lernplan und eine besondere Be-           Die Gemeinschaftsschule ist noch zu jung, um handfeste Rückschlüsse auf das Bildungsniveau vor-
              treuung, in die nach Möglichkeit die Eltern eingebunden sind, getreten. Unter der Lehrerschaft besteht        nehmen zu können. Das Handewitter Kollegium registriert aber bereits erste Trends. „Es gibt mehr
              ein Grundkonsens, der skandinavisch angehaucht ist. Die Eckpfeiler: längeres gemeinsames Lernen, ge-          Hauptschüler, die sich gut entwickeln, und für einen Realschul-Abschluss in Frage kommen", sind sich
              genseitiges Helfen und weniger Druck. „Bei uns wird niemand abgelehnt und niemand abgeschult", er-            Daniela Schneider und Anke Lache sicher. Dr. Hans-Werner Johannsen glaubt: „Die Zahl der Bildungs-
              klärt Dr. Hans-Werner Johannsen.                                                                              Verlierer nimmt ab. Mehr Jugendliche schaffen einen Abschluss."

              Im Schul-Alltag heißt das: Es wird nicht nach Leistungsstand oder Begabungen sortiert. Alle sitzen ge-
              meinsam in einem Klassenraum. Eine innere Differenzierung gibt es aber schon. Es gibt Wahl- und Pflicht-
              aufgaben, die zwar die gleichen Themen berühren, sich aber auf unterschiedlichem Niveau bewegen.


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              „Den Führerschein hab' ich noch nicht, und wenn
               ich nicht hier im Ort meine Mittlere Reife machen
               kann, dann sitz' ich verdammt viel im Bus oder schlag
               die Zeit tot, weil ich doch oft noch am Nachmittag
               Stunden hab'. Da würde ich lieber mit meinen
               Kumpels aus dem Dorf kicken.“




                                    „Ich will Mittlere Reife machen – hier
                                                              bei uns“        Thilo, 16, Schüler




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       Bayern – eine Gemeinde macht sich auf den Weg

              Die Gemeinden Frammersbach und Margetshöchheim haben eines gemein: Immer weniger                          gesamte System überdacht werden. Wenn Schüler wohnortnah unterrichtet werden sollen, müssen wir
              Schüler besuchen die örtlichen Mittelschulen. Das ist längst Normalität in Unterfranken.                  weg von den Vorgaben dieses Schulsystems“. Heute sagt Brohm lapidar: „Als guter Demokrat
              Allerdings könnte die Art, damit umzugehen, Schule machen.                                                akzeptiere ich die Ablehnung unseres Antrags – aber wir werden wieder einen Antrag stellen.“

              Bereits 2009 schlugen sie Alarm. Frammersbacher und Margetshöchheimer beantragten jeweils, eine           Beharrlichkeit ist auch eine Eigenschaft seines Amtskollegen Peter Franz aus Frammersbach, einer
              Modellschule gründen zu dürfen, die eine um zwei Jahre verlängerte Grundschulzeit vorsieht, die zur       4.700-Seelen-Gemeinde im Landkreis Main-Spessart. Obwohl sie zunächst Standort eines Haupt-
              regulären Mittleren Reife führt, und die als Ganztagesschule ein neues pädagogisches Konzept mit sich     schulverbandes wurde und Schüler aus zwei weiteren Ortschaften aufnehmen konnte, ließ sich die
              bringen würde. Beide Anträge lehnte das Kultusministerium rundweg ab, doch aufgeben kommt für die         Hauptschule nicht mehr halten. Seit dem laufenden Schuljahr fahren die Kinder der örtlichen Grund-
              beiden Gemeinden nicht in Frage. Sie halten ihre Pläne in petto, um vielleicht schon bald vom schulpo-    schule ins zwölf Kilometer entfernte Lohr, Standort eines Mittelschulverbandes. In Franz' Augen ist für
              litischen Tauwetter zu profitieren, das derzeit den gesamten Rest von Deutschland erfasst.                diese Entwicklung nicht so sehr das Schrumpfen der Bevölkerungszahlen in seiner Gemeinde verant-
                                                                                                                        wortlich (minus 1 Prozent), sondern die sechsstufige Realschule und die steigenden Übertrittsquoten.
              Eine Lösung muss dringend gefunden werden, denn der Münchener Federstrich durch die Modellschul-
              rechnung und der Verweis auf Mittelschulverbände hat kein Problem wirklich gelöst. Zwar wurden die        In besseren Zeiten beherbergte die Grund- und Hauptschule fast 700 Schüler und lieferte den
              Einzugskreise nominell erweitert, damit aber haben sich erstens die Fahrtzeiten vieler Kinder erheblich   Betrieben der Gegend „sehr fleißige, gut ausgebildete und engagierte Mitarbeiter“. Nun aber leiden
              verlängert, zum anderen sind die Übertrittsquoten auf Realschule und Gymnasium derart hoch, dass die      Franz zufolge sowohl „Einzelhandel, Dienstleister und Vereine unter dieser Situation“. Und auch die Ge-
              Zahlen der Mittelschüler in beiden Gemeinden trotz allem auf niedrigem Niveau stagnieren. „Es geht        meinde selbst leidet: Wie in Margetshöchheim hat sie als Schulträger ein weitläufiges und aufwändig
              längst nicht mehr darum, die Hauptschule zu erhalten“, sagt Waldemar Brohm, Bürgermeister von Mar-        renoviertes Gebäude zu unterhalten – ohne mit sicheren Mitteln kalkulieren zu können. Das kommt
              getshöchheim und Vorsitzender des Schulverbandes, „es geht um den Erhalt des Standorts“. Durch die        Franz umso bitterer an, als die nächstgelegene Realschule in Lohr vor lauter Andrang Klassen ausla-
              Verbandlösungen werde nur „das Sterben verlängert“.                                                       gern muss – während bei ihm Räume leer stehen.

              In Brohms Gemeinde gibt es nur noch wenig mehr als 100 Hauptschüler, ein einzügiger Schulbetrieb          Der Antrag für eine Modellschule wurde 2009 ebenso kategorisch abgelehnt wie der in Margets-
              kann gerade noch aufrechterhalten werden. An einen M-Zug ist unter diesen Umständen freilich längst       höchheim, doch die Pläne liegen weiterhin bereit für bessere Zeiten. Sie sehen einen Modellversuch
              nicht mehr zu denken. Dabei lesen sich die Zahlen für den Schulverband, zu dem die Gemeinden Erla-        vor in Kooperation mit der Realschule und einem eigenen pädagogischen Konzept in mehr Eigenver-
              brunn, Leinach, Margetshöchheim und Zell gehören, gar nicht mal so schlecht. Im Einzugsbereich woh-       antwortung. Gymnasiasten könnten nach wie vor bereits nach der vierten Klasse die Schule verlassen,
              nen etwa 12.500 Menschen. Rund 440 Grundschüler verteilen sich auf die Volksschule Margetshöchheim        Hauptschüler und vermeintliche Realschüler würden in einer zweijährigen Orientierungsstufe gemein-
              mit der Außenstelle Erlabrunn, die Grundschule Leinach und die Grundschule Zell am Main. Doch die         sam unterrichtet werden, in den Hauptfächern möglicherweise modularisiert. Nach der sechsten Klasse
              Übertrittsquote nach der vierten Jahrgangsstufe auf Realschule und Gymnasium ist nach Auskunft von        würden sich einige Schüler für den parallel laufenden Realschulzweig empfehlen. Den Unterricht
              Brohm auf derzeit 85 Prozent gestiegen. Nach der sechsten, siebten oder spätestens achten Jahr-           würden bis zum Abschluss Realschullehrer übernehmen.
              gangsstufe wechseln zudem immer mehr Schüler auf Wirtschaftsschulen. Und es lockt die Montessori-
              Schule in Zell, die neben dem Qualifizierenden Hauptschulschluss und dem Mittleren Abschluss auch         Weil all das im Ganztagsbetrieb organisiert werden soll, haben Vereine bereits ihre Unterstützung im
              einen Fachoberschul-Zweig anbietet.                                                                       sportlichen und musischen Bereich zugesagt. Im modularisierten Ganztagesunterricht können alle
                                                                                                                        Schüler in Stütz- und Förderkursen Schwächen abbauen und Stärken ausbauen. Nach einer zwei- oder
              Der Schulverbandsvorsitzende Brohm sorgt sich also offensichtlich nicht grundlos. Leerstehende            dreijährigen Entwicklungsphase würde sich entscheiden, wer in welchem Fach eine Realschulprüfung
              Klassenzimmer oder gar Schulgebäude, in die Jahre zuvor noch viel Geld investiert wurde, ärgern den       schreibt. Teilzertifikate oder Portfolios sollen neben dem Abschlusszeugnis aussagekräftige, alternative
              Kommunalpolitiker schon sehr, was ihn aber richtig wütend macht, ist die mit dem drohenden Verlust des    Abschlüsse darstellen, die die Leistung eines Schülers in einzelnen Fächern unterstreichen und die
              Hauptschulstandortes einhergehende Entfremdung der Jugendlichen im sozialen Gefüge der Dörfer. Die        bei einer Bewerbung von großem Nutzen sein können.
              Vereine würden heute schon über Nachwuchsprobleme und die mangelhafte Bindung der Kinder und
              Jugendlichen an örtliche Gemeinschaft klagen.                                                             Kurzum: Das Konzept wäre nicht nur geeignet, eine Schule zu retten. Es würde einem Teil der Schüler
                                                                                                                        und Eltern den Übertrittsdruck nehmen. Franz ist sicher: „Schule muss sich den veränderten Voraus-
              Günter Stock, Brohms Amtsvorgänger, und seine Kollegen stellten schon im Mai 2008 fest: „Weil in-         setzungen anpassen.“
              nerhalb des dreigliedrigen Schulsystems keine befriedigenden Lösungen gefunden werden, muss das



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                                                                               damit die Leut' nicht wegziehen. Und dazu gehören
                                                                               halt auch gute Perspektiven für die Kinder. Wenn
                                                                               die hier nicht nur den Hauptschulabschluss erreichen
                                                                               können, dann bleiben die Familien im Ort. Sonst
                                                                               stirbt erst die Schule und dann das Dorf.“




     „Ich will, dass unser Ort eine Zukunft hat“                                                                      Max, 47, Bürgermeister




                                                                                                                                           37
RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1       14.08.2012     9:40 Uhr    Seite 38




       Schritte zur Sicherung einer Schule am Ort

       Ausgangspunkt ist eine Initiativgruppe von Interessierten und Betroffenen                               Befragung, Beschlussfassung, Beantragung
              Ziel: Einrichtung einer passgenauen und standortsicheren Schule am Ort                                 Ziel: Sicherung der Akzeptanz des Schulprojekts und Genehmigung durch die Schulbehörde

              • Analyse der örtlichen Schulsituation (Geburtenentwicklung, Übertritte, räumliches Schulnetz)         • Sicherung der Akzeptanz der geplanten Schule durch Befragung der Grundschuleltern
              • Erstellung von Eckpfeilern eines Schulentwicklungsplans (mögliche Abschlüsse, Überlegungen           • Gemeinderatsbeschluss zur Unterstützung der Schule
                zu Organisation und ggf. Kooperation von Schulstandorten)                                            • Beantragung der Schule als Schulversuch beim Kultusministerium durch die Gemeinde
              • Vorgespräche zur Gewinnung von Unterstützern (Bürgermeister, Gemeinderäte,
                Schulleitung, Lehrer, Elternbeirat, Eltern, Verbände, Vereine, lokale Wirtschaft)


                                                                                                               Umsetzungsplanung des Schulkonzepts durch die Schule
       Erarbeitung eines pädagogischen Rahmenkonzepts der Schule                                                     Ziel: Projektpläne in einzelnen Handlungsschritten zu Aufbau und Ausgestaltung der Schule

                                                                                                                     • Konkretisierung der pädagogischen Grundsätze, organisatorischen Strukturen und Differenzierungs-
              Ziel: Entwicklung von mehrheitsfähigen Grundvorstellungen einer zukünftigen Schule durch                 formen (ggf. mit externer Unterstützung)
              Interessierte unter Beteiligung von Lehrerkollegium, Elternbeirat, ggf. externer Experten              • Beschaffung der erforderlichen finanziellen, materiellen und personellen Ressourcen

              • Formulierung der Grundstrukturen der Schule (Formen der Differenzierung, Raumbestand
                und -bedarf, Lehrereinsatz)
              • Entwurf pädagogischer Grundgedanken (Eckpunkte eines Schulprogramms)
              • Schrittweise Konkretisierung des Schulkonzepts                                                       Weitere Informationen zur wohnortnahen Schule (pädagogische und organisatorische Konzepte von rea-
                                                                                                                     lisierten Schulen) und Instrumente zur Vorbereitung und Umsetzung (z. B. einschlägige Elternfragebogen)
                                                                                                                     finden Sie unter www.regionale-schulentwicklung.bllv.de

                                                                                                                     Mit den Experten des BLLV können konkrete Konzepte und Vorgehensweisen vor Ort besprochen
       Präsentation des Konzepts in der Öffentlichkeit                                                               werden, um ein wohnortnahes, den lokalen Verhältnissen angemessenes Schulangebot zu finden.
                                                                                                                     Ansprechpartner können Sie anfordern unter schulpolitik (at) bllv.de
              Ziel: Breite Information und Diskussion der Entwürfe zur Schaffung von
              Akzeptanz und Unterstützung; kommunaler Konsens z. B. durch
              • Information der Eltern (Zeitungsartikel, persönliche Gespräche, Infobriefe,
                Veranstaltungen, Aktionen)
              • Gewinnung von Zustimmung von Bürgermeistern, Landrat, Gemeinderäten, Schulverwaltung
              • gemeinsamen Besuch von ähnlichen Schulmodellen




  38                                                                                                                                                                                                                           39
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                                           www.bllv.de/wohnortnahe-schule




                    Für eine längere gemeinsame Schule


  40

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Wohnortnahe Schule

  • 1. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:39 Uhr Seite 1 Unserort braucht regionale schule Wohnortnahe Schulen für unsere Kinder
  • 2. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:39 Uhr Seite 2 Das gesamte Konzept Wohnortnahe Schule finden Sie auch unter www.bllv.de/wohnortnahe-schule 05 Warum wir wohnortnahe Schulen brauchen Sie können diese Broschüre kostenlos beim BLLV anfordern. 08 Bayern – das Ende der wohnortnahen Schule? Bayerischer Lehrer- und Lehrerinnenverband e.V. Bavariaring 37, 80336 München Tel. 089 721001-45, Fax 089 721001-37 bllv@bllv.de, www.bllv.de 12 Gegen Auslese – für mehr gemeinsames Lernen 16 Gemeinden brauchen individuelle Lösungen 20 Erfahrungen, Beispiele, Reflexionen 38 Schritte zur Sicherung einer Schule am Ort Text: DR. FRITZ SCHÄFFER, DR. GERD HÜFNER Visuelles Konzept und Layout: SONIA HAUPTMANN, grafik1@bllv.de Fotos: JAN ROEDER, foto@janroeder.de Druck: OrtmannTeam, www.OrtmannTeam.de 2 3
  • 3. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:39 Uhr Seite 4 Warum wir wohnortnahe Schulen brauchen Der BLLV ist der Überzeugung: Wohnortnähe ist ein Qualitätsmerkmal eines erfolgreichen Schulsystems. Wohnortnahe Schulen stellen für Kinder, Eltern, Familien und für die Kommu- nen ein Stück Lebensqualität dar. Ist es nicht trostlos, wenn morgens die Jugend eines Ortes in Bussen zehn, fünfzehn Kilometer und noch weiter transportiert werden muss? Ist es nicht eine Verschwendung, wenn Kinder und Jugendliche im Jahr mehr als 300 Stunden in Schul- bussen vergeuden? Das Schulsterben ist weniger demografisch bedingt als hausgemacht. Andere Flächenstaa- ten machen es uns längst vor: Es gibt als Alternativen wohnortnahe Schulangebote, die at- traktiv sind und mit Erfolg arbeiten. Schleswig-Holstein, Thüringen, Sachsen und Nord- rhein-Westfalen zum Beispiel machen positive Erfahrungen mit einem zweigliedrigen Schul- system, in unserem Nachbarland Baden-Württemberg können Gemeinden sich für die Ge- meinschaftsschule entscheiden. Hohe Akzeptanz bei Eltern, Kinder ohne Übertrittsstress, zufriedene Kommunen und ein effizienter Einsatz von Steuergeldern im Interesse besserer Bildung sind die Folge. Noch ist es möglich, einen neuen pragmatischen Kurs in der bayerischen Schulpolitik einzu- schlagen. Wir haben zahlreiche Rückmeldungen, dass die Hauptschule durch Namens- wechsel und Schulverbünde in den Augen der Eltern nicht aufgewertet wird. Manchmal hat man den Eindruck, diese Reformen sind aus der Zeit gefallen und versuchen ein Strukturmo- dell gegen alle Erfahrungen durchzusetzen. Extreme demografische Entwicklungen führen bereits heute in einigen Kreisen zu langen Fahrtwegen zu den Bildungsangeboten. Die Über- trittsquote steigt weiter und die Schulschließungen gehen trotz der Schulverbünde unge- bremst weiter. Zugleich steigt der Stress in den Grundschulen, die immer stärker zur Rennstrecke für die weiterführenden Schularten pervertiert werden. Der BLLV hat deshalb bereits vor vier Jahren sein Konzept der Regionalen Schulentwicklung (RSE) vorgelegt, nach dem regional passgenaue Lösungen durch die Integration bisher streng getrennter Bildungsgänge möglich werden. Verheerend ist die Weigerung des Kultusminis- teriums, Modellversuche für attraktive wohnortnahe Schulen zuzulassen, für Schulen, in denen jenseits der starren Trennung der Schularten, jenseits von Auslese und Einsortierung länger gemeinsam gelernt werden kann. Denn nur praktische Beispiele könnten Lösungsmöglich- keiten eröffnen. Während Schulversuche zu vielfältigen Themen genehmigt werden, verwei- gert das Kultusministerium gegen den Willen der örtlichen Eltern, Lehrer und Kommunal- politiker solche zukunftsfähigen Lösungen mit wenig überzeugenden Schlagworten. Wir brau- chen aber Pragmatismus und Bürgernähe statt Ideologie und Zentralismus. Klaus Wenzel Dr. Fritz Schäffer Präsident des BLLV Leiter der Abteilung Schul- und Bildungspolitik 4 5
  • 4. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:39 Uhr Seite 6 „Wenn ich nachmittags mit meinen Freundinnen spielen will, dann mag ich selber zu Fuß hingehen und nicht, dass mich die Mama oder der Papa mit dem Auto fährt und wieder holen muss. Und die sind dann auch immer ganz genervt, wenn sie mich in der Gegend rumfahren müssen.“ „Ich möchte, dass meine Schulfreundinnen aus meinem Dorf kommen.“ Marie, 8, Schülerin 7
  • 5. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:39 Uhr Seite 8 Bayern – das Ende der wohnortnahen Schule? Szenario 1: Fortschreibung des dreigliedrigen Schulsystems 1.075 Hauptschulen in Bayern 2009 25 3 67 199 173 261 353 Seit 2001 wurden in Bayern 540 Teilhauptschulen und 107 ehemals voll ausgebaute Hauptschulen 422 387 geschlossen. Für das Schuljahr 2009/10 weist die Statistik noch 1.075 Hauptschulen in Bayern aus. 393 Allerdings konnten 107 davon schon nicht mehr auf allen fünf Jahrgangsstufen eine Klasse anbieten. Demografischer Rückgang und vermehrte Übertritte in Realschulen und Gymnasien werden weitere 408 Schulschließungen bewirken. 363 512 396 Der BLLV hat deshalb die Studie „Die Zukunft der wohnortnahen Schule in Bayern“ erstellt. Sie 247 untersucht, was im Freistaat mit Schulstandorten geschieht, wenn am 91 2009 2015 2020 2030 • dreigliedrigen Schulsystem festgehalten wird (Szenario 1) oder • Mittel-, Real- und Wirtschaftsschulen zu einer Schulart zusammengeführt werden (Szenario 2) oder • alle Kinder eine gemeinsame Schule vor Ort besuchen (Szenario 3). Szenario 2: Zweigliedriges Schulsystem Haupt- und Realschüler besuchen gemeinsam diese 1.075 Schulen Diese drei Szenarien wurden auf der Basis amtlicher Daten für sämtliche Schulstandorte in allen 25 kreisfreien Städten und 71 Landkreisen in Bayern durchgespielt. Das Ergebnis: 470 403 424 Sollte am dreigliedrigen Schulsystem festgehalten werden, können 2015 an rund 250 Schulen (23 %) 602 keine siebten und achten Klassen mehr gebildet werden. Diese Schulen sind akut von Schließung bedroht. 2020 wird die Zahl auf knapp 400 (37 %) anwachsen und 2030 mehr als 500 betragen (48 %). Besonders stark betroffen sind die kleinen Schulen im ländlichen Raum. 405 396 412 367 In Oberbayern ist die Situation noch relativ günstig: dort sind bis 2020 von 311 ehemaligen Haupt- schulen 93 gefährdet (30 %). Dramatisch Formen nehmen die drohenden Schulschließungen bis 2020 144 215 200 74 in der Oberpfalz mit 51 Schulen (45 %), in Unterfranken mit 63 Schulen (47 %) und in Oberfranken mit 32 49 52 55 50 Schulen (50 %) an. In Oberfranken sind bis 2030 dann über zwei Drittel der heutigen Schulstand- 2009 2015 2020 2030 orte gefährdet. Von ehemals 101 Hauptschulen bleiben 2030 noch 31 Schulen übrig, die mindestens eine 7. Klasse bilden können. Acht davon liegen in den vier kreisfreien Städten. Auf die neun Landkreise, in denen 2009 noch 84 Hauptschulen bestanden, kämen dann noch gerade 23 Schulen, also im Schnitt etwa zweieinhalb je Landkreis. Szenario 3: Gemeinschaftsschule Alle bayerischen Schüler besuchen gemeinsam diese 1.075 Schulen Die Studie zeigt aber auch auf, dass diese Entwicklung nicht notwendig so verlaufen muss. In einem zweigliedrigen System, wie es die CDU in ihrem Leitantrag vorschlägt (Szenario 2), würden nur rund 50 Schulen zu wenige Schüler für eine Klasse pro Jahrgangsstufe aufweisen. Über 800 Schulen könn- ten auch 2030 noch mit mindestens zwei Parallelklassen geführt werden. 758 715 749 865 Würde eine gemeinsame Schule für alle Schüler nach der Grundschule eingerichtet (Szenario 3), wären nur 24 der Haupt-/Mittelschulen gefährdet. Mehr als 1.000 Schulen könnten trotz des demo- grafischen Schülerrückgangs mit mindestens zwei Parallelklassen bestehen. 251 281 257 Nähere Informationen können auf der BLLV Homepage www.bllv.de eingesehen werden. 157 Eine Druckfassung kann bestellt werden beim BLLV, Bavariaring 37, 80336 München. 38 43 55 45 15 23 24 24 2009 2015 2020 2030 zu wenige Schüler für eine Klasse 1 zügig 2 zügig > = 3 zügig 8 9
  • 6. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:39 Uhr Seite 10 „Für meine Mannschaft braucht's Spieler, auf die Verlass ist. Die müssen regelmäßig und selbststän- dig herkommen können. Wenn zu viele den ganzen Tag in der Stadt sind, weil sie da auf die Schule gehen, dann kommen die irgendwann gar nicht mehr. Und dann kann ich zusperren.“ „Ich will, dass alle ohne Stress ins Training kommen können.“ Thomas, 25, Fußballtrainer 10
  • 7. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:39 Uhr Seite 12 Gegen Auslese – für mehr gemeinsames Lernen Individuelle Förderung statt Auslese für das spätere Lernen der Kinder. Je weniger Auslese in der Grundschule, desto mehr Kinder können Jedes Kind hat ein Recht darauf, dass es in der Schule in seinen Stärken und Schwächen angenommen weniger beschädigt und mit mehr Lernfreude ihren Bildungsweg fortsetzen. Wegen des Übertrittsdrucks und seine individuelle Persönlichkeit berücksichtigt wird. Unterricht und Lernprozesse müssen auf die erhalten immer mehr Kinder bereits in der Grundschule Nachhilfeunterricht. Dieser nimmt den Kindern Lernvoraussetzungen des einzelnen Kindes abgestimmt sein. Die bloße Zuweisung zu drei Schularten notwendige Freizeit zu Erholung und freiem Spiel. Und Nachhilfe ist teuer. Kinder aus armen Familien mit unterschiedlichen Anforderungsniveaus nach der Grundschule bietet eine solche Individualisierung werden dadurch benachteiligt, die soziale Auslese verstärkt. nicht. Kernaufgabe der Schule ist es, die unterschiedlichen Talente und Potentiale der Kinder zu fördern, und nicht, sie nach einer vermeintlich mit der Geburt festgelegten und unveränderlichen Be- gabung zu sortieren. Tatsächlich ist die Auslese auch nicht „begabungsgerecht“. Ziffernnoten in den Lernen ist ein aktiver Prozess drei Fächern Deutsch, Mathematik und Heimat- und Sachunterricht, die über die Auslese entscheiden, spiegeln nicht die Vielfalt möglicher Fähigkeiten und Talente einer Schülerin oder eines Schülers. Es hängt zum großen Teil von Art und Qualität des Lernangebotes und dem Lernklima in einer Klasse Musische und kommunikative Fähigkeiten, soziale und emotionale Kompetenzen spielen bei der Über- ab, ob Schülerinnen und Schüler auch persönliche Fähigkeiten entwickeln, die immer wichtiger werden: trittsentscheidung kaum eine Rolle. Sie geraten zwangsläufig zum Beiwerk schulischen Lernens. Sich ausdrücken können, Handlungen planen und ausführen, begründet Entscheidungen treffen, Verantwortung übernehmen, Konflikte lösen. Lernen ist ein Vorgang aktiver Aneignung. Lernformen, die Für die Lernbiografie eines Kindes sind sie aber von herausragender Bedeutung. Weder kann der Selbsttätigkeit und Selbstständigkeit unterstützen, die handlungsorientiert sind und Schülern die Erfah- aktuelle Leistungsstand einer Schülerin oder eines Schülers sicher diagnostiziert, noch die Entwicklung rung vermitteln, dass sie etwas bewirken können, fördern Lernmotivation und Lernerfolg. Dabei muss der zukünftigen Lernfähigkeit zuverlässig prognostiziert werden. Dies zeigt sich an den Ergebnissen der das Lernangebot an den unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen anknüpfen. Dies ist unter in- Auslese: Ein Drittel der in die 5. Klasse an den Gymnasien Eingeschulten muss in Bayern vor dem dividueller Förderung zur verstehen, nicht Nachhilfe oder Einzelunterricht. Erreichen des Abiturs die Schule wieder verlassen. Und mehr als zehn Prozent erreichen über den wesentlich schwierigeren Weg der Fach- und Berufsoberschulen die Hochschulreife, obwohl ihnen dies in der Grundschule nicht zugetraut wurde. Darüber hinaus ist die Zuweisung zu Gymnasien, Lernen erfolgt gemeinsam Realschulen und Haupt- bzw. Mittelschulen, obwohl auf Noten gestützt, in hohem Maße eine soziale Auslese. In keinem Land sind die Bildungschancen sozial ungleicher verteilt als in Deutschland. Das Lernen vom Lehrer ist nur ein Teil schulischen Lernens. Schüler lernen auch sehr viel von ihren Mitschülern. Die Lernforschung hat nachgewiesen, dass schwache Schülerinnen und Schüler in hetero- genen Lerngruppen besser lernen und gute Schüler nicht schlechter werden, als in vermeintlich homo- genen Klassen. Schwächere Schüler orientieren sich an den besseren und bessere Schüler können Auslese schadet Lernen schwächeren helfen, wobei auch sie durch aktives Erklären ihre Kenntnisse und Kompetenzen vertiefen und erweitern. Lernen geschieht im Kontext sozialer Beziehungen. Diese tragen in großem Umfang zu Die derzeitige Noten- und Auslesepraxis verführt die Schülerinnen und Schüler dazu, sich kurzfristig Lernerfolgen bei. Wenn aber Kinder auf unterschiedliche Schularten verteilt werden, wechseln sie Schule, Faktenwissen anzueignen, das bei Prüfungen abgefragt und danach schnell wieder vergessen wird. Es Lehrkräfte sowie die Bezugsgruppe Klasse. Gemeinsames Lernen vor Ort dagegen gewährleistet ist dies das Gegenteil eines Lernens aus Interesse an den schulischen Themen und Inhalten und das Kontinuität und Vertrauen. Es fördert soziale Integration und hilft, schulfeindliche Jugendkulturen zu Gegenteil eines vernetzten und nachhaltigen Lernens. Damit Schule wirklich Sinn macht, sollten Schü- verhindern. Unterschiede des familiären Hintergrunds der Schüler ermöglicht ihnen einen Blick über die lerinnen und Schüler ihr Wissen anwenden, damit Probleme lösen und dabei mit anderen zusammen- Kultur der eigenen Familie hinaus. arbeiten können, kurz: nutzbare Kompetenzen erwerben. Ein bloßes Lernen für gute Noten gibt ihnen keine Zeit und keinen Raum zu experimentieren, Fehler zu machen und zu korrigieren, Umwege im Begreifen zu gehen. Aber nur so lernen Kinder wirklich effektiv und nachhaltig. Nur wenn Leistungs- feststellung nicht für ein Aussortieren benutzt wird, kann sie echte Rückmeldung an Schüler und Lernen ist ein individueller Prozess Eltern sein über den Stand der Kenntnisse, und Hinweise geben für nächste Lernschritte. Nur dann geben sie echte Perpektiven für das weitere Leben. „Es gibt keine wissenschaftlich begründete Typologisierung, die eine Zuordnung von Heranwachsenden zu einem ganz bestimmten Lernumfeld (Gymnasium, Real- oder Hauptschule) nahe legt. Schüler bringen Die Entscheidung über die Schullaufbahn nach der 4. Klasse führt bei vielen Grundschülern zu enor- ein unterschiedliches Potenzial mit in die Schule, das sich nicht in Schubladen packen lässt. Um jeden mem Leistungsdruck und einer ungesunden Lernatmosphäre in den Klassen. Der Übertrittsdruck Schüler »begabungsgerecht« zu fördern, erweist sich die Gliederung des Schulsystems als untaugliches erzeugt Versagensängste und beeinträchtigt das Selbstwertgefühl. Emotionale Stabilität und Lernmo- Instrument. Die Aufgabe der Lehrer muss vor allem darin bestehen, unterschiedliche Lernangebote tivation der Kinder sinken dramatisch. Kreatives, ergebnisoffenes Lernen, das Entwickeln von Selbst- innerhalb einer Lerngruppe bereitzustellen, damit jeder Schüler entsprechend seinen Voraussetzungen vertrauen, all das wird massiv beeinträchtigt. Misserfolge und Frustrationen haben fatale Folgen optimal lernen kann.“ Prof. Dr. Elsbeth Stern Lernpsychologin an der ETH Zürich 12 13
  • 8. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:39 Uhr Seite 14 „Es ist echt schlimm: Schon in der dritten Klasse wird gepaukt ohne Ende, es geht nur noch drum, wer schafft's aufs Gymnasium oder wenigstens auf die Realschule. Spaß macht das keinen. Und dieser Stress macht uns alle ganz fertig.“ „Ich will, dass mein Kind den Übertritt gelassen nehmen kann“ Petra, 36, Mutter 14
  • 9. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:39 Uhr Seite 16 Gemeinden brauchen individuelle Lösungen Das Aus der Schulen auf dem Land Individualisierung statt Gruppierung Dem ländlichen Raum in Bayern droht die schulische Verödung: Bis 2030 brechen fast die Hälfte aller derzeitigen Mittelschulstandorte weg. Gründe sind die demografische Entwicklung und das Schul- Mögen sich mittlerweile das gesamte Ausland und auch alle anderen deutschen Bundesländer vom drei- wahlverhalten. Wenn das Kultusministerium keine Alternativen zulässt, wird eine zentralisierte Schul- gliedrigen Schulsystem verabschiedet haben – in Bayern hält man unbeirrbar fest daran. Gerechtfertigt struktur und damit eine erhebliche Schwächung des ländlichen Raumes die Folge sein. wird dies durch die Ideologie von der Begabungsgerechtigkeit der Schularten und der Überlegenheit homogener Lerngruppen, auch wenn dies wissenschaftlich nicht haltbar ist. Eine solche Pädagogik Noch sind vor allem Haupt- und Mittelschulen von Schulschließung bedroht. Doch die demografische ersetzt Individualisierung durch Gruppierung. Der einzelne Schüler wird nur mangelhaft gefördert. Die Entwicklung wird dazu führen, dass in weniger als zwei Jahrzehnten alle Schularten vor der gleichen hohe Zahl von Wiederholern und Schulabbrechern belegen dies. Die saarländische Ministerpräsidentin Problematik stehen: Der Schülerrückgang wird manchen Neu- und Anbau von Realschulen, selbst von Kramp-Karrenbauer (CDU) stellt nüchtern fest: «Der Kampf um das alte dreigliedrige Schulsystem ist ein Gymnasien, zur Investitionsruine werden lassen, noch ehe die Schulden dafür abbezahlt sind. Kampf von gestern. Er geht an der Wirklichkeit vorbei». Ohne Schulen sind Gemeinden für die Neuansiedlung von jungen Familien wenig attraktiv. Wirt- Warum also lässt die bayerische Bildungspolitik nicht ab von der Anmaßung, sie allein kenne die Antwort, schaftsbetriebe und junge Leute wandern ab, wenn sie am Ort keine Ausbildungs- und Arbeitsplätze mit der sie ihre Bürger zwangsbeglücken muss? Statt sich in ideologischen Grabenkämpfen um zentra- mehr finden. Zudem verliert die Gemeinde mit der Schule einen bedeutsamen kulturellen Bezugspunkt. listische Lösungen zu verbeißen, sollte sie besser Eltern und Lehrern endlich die Wahlfreiheit geben, wie Wenn Schüler den Heimatort morgens verlassen und meist erst am späten Nachmittag zurückkehren, sie Schule gestalten wollen. Sie kennen am besten die Verhältnisse an Ort und Stelle. Wenn Gemein- lässt ihr Engagement in örtlichen Vereinen, im gemeindlichen und kirchlichen Leben zwangsläufig nach. den gemeinsam mit Lehrern und Eltern zu dem Schluss kommen, dass die Mittelschule keine Zukunft hat, Schließlich bürdet jeder verlorene Schulstandort den Gemeinden zusätzliche Kosten durch Gast- weil Standorte nicht mehr zu halten sind, dann sollen sie andere Wege einschlagen dürfen. schulbeiträge und Schülerbeförderung auf. Gleichzeitig werden leer stehende, oft erst vor kurzem re- novierte Schulgebäude zu Investitionsruinen. Konsens gegen das Dogma Mittelschulen können Schulsterben nicht aufhalten Die bayerischen Schulstrukturen sind verhärtet wie Beton. Sie aufzubrechen kann nur in einem längeren Prozess gelingen, der alle Beteiligten mitnimmt und auf Konsens setzt. Die neuen Regierungen in Nord- Auch die Einführung von Mittelschulen und Schulverbünden kann ein weiteres Schulsterben nicht auf- rhein-Westfalen und Baden-Württemberg haben die Zeichen der Zeit erkannt. Dort werden die alten halten. Sie haben keinen Einfluss auf die Schulwahl von Eltern. Durch die Umetikettierung von Haupt- Strukturen überwunden – ohne die Schulen, die Eltern oder die Gemeinden zu überfordern. Dort ist zu in Mittelschulen wurde jedenfalls kein einziger zusätzlicher Schüler gewonnen. Eltern bevorzugen nach besichtigen, wie organische Schulentwicklung aussieht: Die Bildungspolitik stülpt nicht einfach in ge- wie vor den Mittleren Schulabschluss an der Realschule, der mehr Möglichkeiten bei der Wahl aner- setzgeberischer Selbstherrlichkeit allen ein einheitliches Schulmodell über, sondern hilft den Schulen, kannter Berufsausbildungen bietet. Es geht nicht um die Rettung bestimmter Schularten. Es geht um die das wünschen, vor Ort bei der Einführung passgenauer Lösungen. So könnte es auch in Bayern ge- die Stärkung aller bayerischen Gemeinden. Sie müssen vital bleiben und sind auf das Angebot hoch- schehen. Die Betroffenen vor Ort sollen entscheiden, welche Schule sie haben wollen – jenseits der wertiger und wohnortnaher Schulabschlüsse angewiesen. Strukturfrage. Dazu aber müssten noch mehr Menschen den Mut entwickeln, das Dogma von der Drei- gliedrigkeit in Frage zu stellen. Die Schulentwicklung muss von ihnen eingefordert und am besten bereits Die Erkenntnis, dass etwas geschehen muss, breitet sich immer weiter aus. Auch in Bayern suchen tatkräftig begonnen werden. immer mehr Bürgermeister, Schulleiter, Kollegien und Eltern händeringend nach Lösungen, wie sie weiter ein attraktives und wohnortnahes Schulangebot in der Sekundarstufe organisieren können. Die Schulen, die betroffenen Gemeinden, die dort lebenden Eltern und Schüler brauchen eine pragmati- sche Antwort auf die Herausforderung rückläufiger Schülerzahlen an der Schule ihrer Gemeinde. Ihnen ist durch ideologischen Streit und politischen Stillstand nicht geholfen. 16 17
  • 10. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:40 Uhr Seite 18 „Die Familien ziehen weg, wenn die Schulen halt anderswo sind. Und dann kommt keiner mehr hierher zum Einkaufen und ich steh in einem leeren Laden. Da bricht nicht nur der Umsatz weg, das ist auch traurig, weil ein Stück Leben verloren geht.“ „Ich will, dass uns unsere treue Kundschaft bleibt“ Hannelore, 56, Krämerin 19
  • 11. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:40 Uhr Seite 20 Erfahrungen, Beispiele, Reflexionen Bestehende bzw. von der Landesregierung angestrebte Schulstruktur in den Bundesländern NRW-Kultusministerin Sylvia Löhrmann (Die Grünen) über einen anderen Weg, Schulstrukturen zu reformieren Frau Löhrmann, warum setzt Ihre Regierung auf die Sekundarschule? Die Sekundarschule ist die Antwort auf zwei Entwicklungen: Zum einen auf die zurückgehenden Schü- lerzahlen und die Tatsache, dass manchmal auch die letzte weiterführende Schule vor Ort gefährdet ist. Zum anderen hat sich das Verhalten der Eltern bei der Wahl der weiterführenden Schule verändert: Schleswig-Holstein Sie wollen eine Schule für ihre Kinder, die die Option auch auf das Abitur länger offen hält. Hamburg Wie wollen Sie diese Schulart durchsetzen? Mecklenburg-Vorpommern Wir setzen auf eine innovative Schulentwicklung von unten. In Ascheberg im Münsterland haben wir den ersten Antrag einer Gemeinde auf Gründung einer solchen Schule genehmigt. Mittlerweile wer- den insgesamt zwölf Sekundarschulen als Modellschulen geführt. Die Schulträger, aber auch die Schu- Bremen len selbst, sagen: Wir wollen uns verändern. Eine Strukturveränderung allein reicht aber nicht aus. Niedersachsen Berlin Deshalb begleiten wir die Schulen bei diesem Versuch. Sie bekommen auf die gesamte Dauer des Modellversuchs von sechs Jahren eine halbe Stelle und ein zusätzliches Fortbildungsbudget. Diese Kombination, äußere und innere Reformprozesse gemeinsam anzugehen, kommt gut an. Brandenburg Sachsen-Anhalt Der bayerische Kultusminister spricht beharrlich von „Einheitsschulen“. Wer den Begriff „Einheitsschule“ verwendet, will ideologisch motivierte Kämpfe führen, will innovative Nordrhein-Westfalen Schulentwicklungsprozesse verhindern. Wer die Sekundarschule blockiert, stellt die Schulform über Sachsen das Interesse der Kinder. Die Bewegung hin zur Zweigliedrigkeit ist aber bundesweit nicht mehr auf- zuhalten. Thüringen Hessen Rheinland-Pfalz Saarland Bayern Baden-Württemberg Dreigliedrigkeit: Haupt-/Mittelschule + Realschule + Gymnasium Zweigliedrigkeit: gemeinsame Haupt- und Mittelschule bis Jgst. 10 + Gymnasium Integrierte Mehrgliedrigkeit: Hauptschule + Realschule (teils mit gym. Oberstufe oder Gemeinschaftsschule) + Gymnasium Zweigliedrigkeit: gemeinsame Schule bis Jgst. 13 + Gymnasium 20 21
  • 12. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:40 Uhr Seite 22 NRW – Pionierschule im Münsterland macht pädagogische Innovation Die Profilschule Ascheberg im Münsterland (NRW) hat zu Beginn des Schuljahres 2011/2012 für elf tenzraster entwickelt. Wir haben auch das Institut Beatenberg angeschaut, die Urmutter aller Kompetenz- Jahre ihren Betrieb als Modellschule aufgenommen. Die Nachfrage der Eltern war so groß, dass eine raster-Schulen. Auch mit unserer benachbarten Modellschule in Rheinsberg pflegen wir einen regen Aus- fünfte Eingangsklasse gebildet werden musste und nunmehr 125 Schüler die münsterländische Schule tausch. Eine SchiLF etwa haben wir zum Thema Lernberichte organisiert. Es gibt eine Portfoliogruppe. Der besuchen. Profilunterricht wird gerade ausgeweitet. Bisher gab es in Sprachen, MINT und Musik zwei Stunden Pro- filunterricht pro Woche, in der 6. Jahrgangsstufe kommt dann Theater und darstellendes Gestalten dazu. Es handelt sich um eine gebundene Ganztagesschule der Sekundarstufe I (Jahrgangsstufen fünf bis zehn) mit maximal 25 Kindern pro Klasse, die in der Regel gemeinsam unterrichtet werden. Allerdings Eine Mutter war mit auf Exkursikon? Bei Ihrem Schulversuch scheint ein vertrauensvolles findet in der Unterstufe (Klassen 5 bis 8) eine stundenweise Aufteilung nach begabungsgerechten Verhältnis zu den Eltern eine wichtige Rolle zu spielen. Profilangeboten (MINT, Musik, Sprache) statt. In der Mittelstufe (Klassen 9 und 10) werden die Fächer Die Eltern sind in der sogenannten Schulpflegeschaft organisiert. Sie können als Experten auftreten, Deutsch und Englisch sowie Mathematik und Naturwissenschaften in zwei Leistungsstufen unterrich- einer kann zum Beispiel seine Fertigkeiten als Malermeister einbringen. Andere übernehmen Lesepa- tet. Dem eigenen Leitbild zufolge begreift die Schule die Unterschiede zwischen den Kindern „als Be- tenschaften. Manche gestalten die einstündige Mittagspause mit Basteln. reicherung“. Es gibt kein Sitzenbleiben, stattdessen reagiere die Schule „flexibel mit individueller Förderung auf drohende Leistungsschwierigkeiten“. Zum pädagogischen Leitbild gehört das Prinzip Das hört sich nach ungewöhnlich großer Kooperationsbereitschaft an. einer „Team-Schule“, die Lehrkräfte verstehen sich als „Lernbegleiter“ und „Lernberater“. Außer Zif- Allen Eltern ist bewusst, dass ihre Kinder an einer besonderen Schule sind. Man muss aber nach wie vor fernnoten dienen der Leistungskontrolle auch „Lernentwicklungsberichte“ und „Portfolios“. Es sind alle Überzeugungsarbeit leisten. bisherigen Abschlüsse bis zur mittleren Reife möglich, mindestens 60 Prozent der Schüler sollen jedoch in ein Gymnasium wechseln können und das Abitur erreichen. Inwiefern? Beispiel Leistungskontrollen. Früher hieß es: Nächste Woche ist dann und dann Klausur. Bei uns gibt es einen Arbeitsplan und die Schüler melden sich selbst zur Leistungsprüfung. Es sind natürlich nie alle gleich weit. Schulleiterin Sylvia Reimann-Perez über erste Erfahrungen mit der Gemeinschaftsschule Ascheberg Wie organisieren Sie dann die Proben? Notfalls schreiben auch mal nur fünf Schüler eine Prüfung, oder sogar einer allein. Wir schauen uns alles BLLV: Frau Reimann-Perez, zur Eröffnung der Gemeinschaftsschule Ascheberg mussten ganz individuell an. So übertragen wir auch Verantwortung auf die Kinder. Aber das alles den Eltern zu Sie eine ehemalige Hauptschule umstrukturieren und selbst das Personal einstellen. Eine erklären, ist schon schwer. anspruchsvolle Aufgabe für eine Leiterin – aber auch für ein Team. Wir sind 14 Lehrkräfte aus allen Schulformen, inklusive Förderbereich. Keiner kommt aus dem reform- Und die Kinder? pädagogischen Bereich. Alle erarbeiten sich alles. Das ist in der Tat ganz schön anspruchsvoll. Zum Die gehen sehr gut damit um. Manche muss man anhalten zu arbeiten. Andere machen sich fast selbst Beispiel die Deutschlehrer: Die erarbeiten gemeinsam einen Plan für ein halbes Jahr – den Unterricht, zu viel Druck. die Arbeitsblätter, die Prüfungen. Jeder übernimmt einen Themenkreis wie Sachtexte oder Märchen. Wird bei Ihnen nicht nach dem Fachlehrerprinzip unterrichtet? Jede Lehrkraft unterrichtet, wie die Gymnasiallehrer unter uns, zwei Fakultas. Wir sind aber auch Be- gleiter in offeneren Lernformen. Da sind die SEGEL-Stunden, in denen selbstgesteuertes Lernen statt- findet oder der Projektunterricht. Als Klassenlehrer arbeitet man sowieso immer im Team, da sind immer zwei zusammen. Das bedeutet für die meisten der Lehrkräfte sicher eine große Umstellung. Die Bereitschaft, sich fortzubilden und selbst zu lernen, ist groß. Das halbe Team und eine Mutter waren zum Beispiel zu Gast in der Hamburger Max-Brauer-Schule. Mit deren Hilfe haben wir unsere Kompe- 22 23
  • 13. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:40 Uhr Seite 24 „Es ist schon eine ganze Zeit her, dass ich genau hier zur Schule gegangen bin. Aber ich weiß noch gut, wie schön es war, dass die Schule gleich um die Ecke war und sich alle gut ausgekannt haben. Für die Kinder heute ist auch so schon alles anonym, die tun mir wirklich leid.“ „Ich will, dass für meine Enkel die Schule zum Dorf gehört – wie für mich damals“ Irmgard, 78, Oma 25
  • 14. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:40 Uhr Seite 26 Baden Württemberg – Schulreform von unten Das Ziel der grün-roten Landesregierung in Baden-Württemberg ist nach den Worten von Kultusmi- Ein solches Konzept stellt ganz neue Anforderungen an die Lehrerprofessionalität. Welche Leh- nisterin Gabriele Warminski-Leitheußers, „dass die einzelnen Kinder und Jugendlichen so gut wie mög- rer sollen da unterrichten? lich gefördert werden und so lange wie möglich gemeinsam lernen können.“ Um dieses Ziel umsetzen In der pädagogischen Arbeitsgruppe hatten wir Lehrer aller Schularten und es sollen auch Lehrer aller zu können, sieht ein von ihr vorgelegter Gesetzentwurf die Einführung von Gemeinschaftsschulen vor. Schularten, von Grund-, Haupt-, Werkrealschule, Realschule und Gymnasium, aber eben auch Förder- Am 30. Mai 2011 entschied sich die Kommune Ravensburg einstimmig für das Konzept einer „Inklusi- schullehrer arbeiten. Natürlich gibt es bei manchen Lehrern Verunsicherung, aber es gibt auch ein gro- ven Modellschule", in der Kinder der Jahrgangsstufen eins bis zehn unterrichtet werden sollen. Ra- ßes Interesse. Alle Lehrkräfte an dieser Modellschule werden über schulbezogene Stellenausschrei- vensburg ist damit die erste Gemeinde, die einen Antrag für eine solche Modellschule eingereicht hat. bungen akquiriert, sie werden also freiwillig dort arbeiten. Von den 150 bis 200 Schulen, die bisher Interesse bekundet haben, sollen 34 im Schuljahr 2012/2013 starten. Die Gemeinschaftsschule umfasst mindestens die Klassen 5 bis 10. Daran schließt sich Gemeinschaftsschule ist ja gerade für den ländlichen Raum, der vom demografischen Rückgang entweder an der Schule selbst oder an einem kooperierenden Gymnasium eine gymnasiale Oberstufe betroffen ist, eine Möglichkeit, wohnortnah attraktive Abschlüsse bis hin zum Abitur zu erreichen. an, die bis zum Abitur führt. Außerdem soll es – wie in Ravensburg – auch Gemeinschaftsschulen ab Ist das auch ein Anliegen, das mit der Einführung einer Gemeinschaftsschule verfolgt wird? der 1. Klasse geben. Der Unterschiedlichkeit der Schüler will man durch eine Individualisierung des Das ist das Hauptanliegen. Wenn kleine Schulen weiter existieren können, dann ist das ein Gewinn so- Unterrichts gerecht werden. Hierzu werden alle Gemeinschaftsschulen als Ganztagsschulen geführt, wohl für die Schüler als auch für die Gemeinden. Im anderen Fall, dazu hat auch die Werkrealschule bei- pro Jahrgang werden 60 zusätzliche Stellen bereitgestellt. getragen, wird eine Hauptschule nach der anderen geschlossen. … der ländliche Raum verödet … Und die Kinder fahren in die nächstgelegenen Städte, tragen ihr Geld dort ins Kino, sind dort in den Vereinen, haben ihre Freunde und ihren kulturellen Mittelpunkt dort und nicht mehr in ihren Herkunftsgemeinden. Wie stehen die Eltern heute zum Gemeinschaftsschul-Modell? Hauptschulleiter Rudolf Bosch über das Vorbild-Projekt Wir haben mit großem Aufwand einen Elternfragebogen entwickelt, die Tendenz ist klar: Die Eltern be- Gemeinschaftsschule Baden-Württemberg grüßen den Gedanken des längeren gemeinsamen Lernens, vor allem den Gedanken, dass die Stadt Ra- vensburg so etwas installiert. Und es kommt sehr differenziert zum Ausdruck, dass man mit vielen Herr Bosch, Sie und ein paar Mitstreiter hatten schon lange vor dem Regierungswechsel in Zuständen an den jetzigen Schulen nicht zufrieden ist. ihrem Bundesland die Schulpolitik offen herausgefordert. In welche Richtung sollte sie sich denn damals verändern? Weg vom selektiven System, hin zu einem integrativen Schulsystem, das allen Kindern eine Schul- laufbahn ohne Brüche und ohne Beschämung ermöglicht. Dazu gehören neue Unterrichtsformen, eine neue Unterrichtskultur aber eben auch eine neue Struktur. Und wie sieht das pädagogische Konzept nun, nachdem der Traum realisiert werden kann, aus? Eine Gemeinschaftsschule soll eine inklusive, gebundene Ganztagsschule sein, von Klasse eins bis Klasse zehn, mit enger Verknüpfung in Richtung Vorschule. Schüler werden in allen Leistungsniveaus unterrichtet, alle Schularten sollten abgebildet sein. Es soll keine Jahrgangsklassen mehr geben son- dern jahrgangsübergreifenden Unterricht in insgesamt vier Stufen. Klasse eins bis sechs dreistufig und zweistufig von sieben bis zehn. Man unterrichtet in Lehrerteams, Individualisierung ist das oberste Prinzip. In einem gebundenen Ganztagsschulbetrieb soll die Schule bestimmte Profilsäulen ausbilden, musisch, naturwissenschaftlich und im Bereich der Berufswegefindung. 26 27
  • 15. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:40 Uhr Seite 28 „Die Jugendlichen aus unserer Schule, die sich für Autos interessieren, machen gerne ein Praktikum in meinem Betrieb. Die kenne ich dann schon ganz gut und weiß, wen ich einstellen kann. Bei Jugendlichen, die irgendwo auf die Schule gehen, läuft das schon mal schief.“ „Ich will wissen, wen ich ausbilde“ Christian, 46, Kfz-Meister 28
  • 16. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:40 Uhr Seite 30 Schleswig-Holstein – Wie eine Gemeinschaftsschule zum Erfolgsmodell wird Ein Tisch ist gedeckt. Laura, Merrit und Mads sitzen um ihn herum. Kenja tritt heran. „What would you like Überforderung und Frustration sind die absolute Ausnahme. Die Fokussierung auf Schwächen wird ver- to drink?", fragt die Schülerin. Die Klasse 7c der Handewitter Gemeinschaftsschule übt sich im Eng- mieden. „Jedes Kind hat irgendwo Stärken", weiß Dr. Hans-Werner Johannsen. „Wenn man da an- lisch-Unterricht an einem Rollenspiel. Das Klassenzimmer hat sich in ein Restaurant verwandelt. Kenja ist setzt, wirkt sich das irgendwann auch auf die Schwächen positiv aus und die Lust am Lernen wird die Kellnerin, die anderen die Gäste. Schon in den letzten Tagen haben sie Vokabeln gelernt, Speisekarten erhalten und wieder geweckt." Häufig wird die Partnerarbeit praktiziert. „Davon profitieren beide Sei- verfasst, sich mit Hilfe des Internets vorbereitet und sogar ein Video gedreht. Nun testen die Schüler ihre ten", erläutert Anke Lache. „Die Leistungsschwächeren lernen von den Leistungsstärkeren. Bei denen Kenntnisse in kleinen Dialogen. „Manche gehen dabei richtig auf", erzählt Pädagogin Anke Lache. „Bei wiederum festigt sich durch das Erklären das Gelernte." Ein Sonderraum steht für die Gruppenarbeit Praktikanten machen wir schon einmal den Test und lassen sie raten, welche der Schüler eine Realschul- bereit. Die Klassenarbeiten haben unterschiedliche Schwierigkeitsstufen – je nach Leistungsstand. Empfehlung haben oder einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Oft liegen sie daneben." „Häufiger kommen Schüler zu uns und möchten auch den schweren Test lösen", berichtet Daniela Schneider. Es mag merkwürdig klingen, dass Jugendliche, die auch das Gymnasium besuchen könnten, und klassi- sche Hauptschüler Tischnachbarn sind – im schleswig-holsteinischen Handewitt ist das Schulalltag. Es gibt andere Fächer als früher. Verbraucher-Bildung, Weltkunde oder Naturwissenschaft. Sport kann 2007 startete nur fünf Kilometer südlich der Grenze zu Dänemark eine der ersten sieben Gemein- ab der siebten Klasse als vierstündiges Wahlpflichtfach gewählt werden, ebenso Französisch, Dänisch schaftsschulen im Land. Das „längere gemeinsame Lernen" wird seitdem intensiv gelebt. oder Technik. Das Wochenpensum liegt bei 30 Stunden in den Jahrgangsstufen fünf und sechs sowie 32 Stunden in den Jahrgangsstufen sieben bis zehn. Viele Schüler bleiben über Mittag. Es gibt eine Daniela Schneider, die zusammen mit Anke Lache (Realschullehrerin) das Klassenlehrer-Team der 7c bil- Mensa, die täglich rund 200 Essen kocht. Danach beginnt das Kursprogramm der Offenen Ganz- det, hatte den Auftakt vor über vier Jahren verpasst. Die studierte Hauptschul-Pädagogin war schwan- tagsschule mit ihren rund 50 Angeboten. Sie ist freiwillig für die Schüler, aber Pflicht für eine neue Ge- ger, pausierte zwei Jahre. Als sie wieder in Handewitt anfing, hatte sie das Gefühl, an „eine ganz neue meinschaftsschule in Schleswig-Holstein. Schule zu kommen". Die Gemeinde investierte einen zweistelligen Millionenbetrag in die Infrastruktur. Das Leitbild der Schule, die Philosophie des Lernens und die Unterrichts-Inhalte wurden modifiziert – und Ein wichtiges Element der neuen Schulform ist das kompetenzaufbauende Lernen („Kaul"). Eine Stunde auch die Motivation der Schüler hat sich verändert. „Es herrscht eine ganz andere Lust am Lernen als frü- in der Woche tagt der Klassenrat, spricht Probleme und Ideen an. An der Wand hängen die Leitlinien: her an der Hauptschule", sagt Daniela Schneider. „Ich bin höflich und respektvoll" und „Ich verletzte niemanden". Bei größeren Störungen unterstützen zwei Schulsozialarbeiter. Eine andere Schulstunde ist der Methodik-Lehre gewidmet: Was für ein Lern- Der Schulstandort Handewitt hat sich gemausert. Die alte Hauptschule drohte auszubluten. Heute zählt typ bin ich? Wie erstelle ich ein Referat? Wie lerne ich effektiv Vokabeln? Wie packe ich meinen Ran- die Gemeinschaftsschule, an die drei Grundschulen und ein Förderzentrum für Lernbehinderte ange- zen? Häufig wird mit dem Computer gearbeitet. Es gibt einen Informatik-Raum und zwei „mobile schlossen sind, knapp 1.000 Schüler. Die Jahrgänge fünf bis acht sind fünfzügig. Und eine Klasse pro Klassenräume" mit jeweils 15 Notebooks. Jedes der 35 Klassenzimmer hat ein Aktiv-Board mit Inter- Altersstufe ist so etwas wie die „Gemeinschaftsschule plus": eine Integrationsklasse. In der 7c sitzen net-Anschluss. unter den 19 Schülern – die normale Frequenz ist 25 – auch sechs, bei denen ein sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert wurde. Ohne spezielle Unterstützung wären sie früher in die „Sonderschule" Noten sind hingegen Mangelware. Berichtszeugnisse dominieren den Großteil der Schulzeit. Unter abgerutscht. In Handewitt wird aber alles dafür getan, dass sie in gut zwei Jahren einen normalen Haupt- dem Strich stehen aber Abschluss und Durchschnitts-Note. Am Ende des ersten Halbjahres in Jahr- schulabschluss schaffen werden. Die „Inklusion" ist ganz im Norden der Republik kein Fremdwort, gangsstufe acht gibt es erstmals eine Schulabschluss-Prognose, die danach jedes Halbjahr überprüft sondern bereits fester Bestandteil des Konzepts. wird. Nach Klasse neun erfolgt der Haupt-, nach Klasse zehn der Realschul-Abschluss. Das Abitur ist Handewitt noch nicht möglich. Der Aufbau einer gymnasialen Oberstufe ist aber beantragt. „Wir sind weg vom Stempel oder einem Gutachten mit IQ-Test", betont Schulleiter Dr. Hans-Werner Jo- hannsen. Anstelle eines formellen Verfahrens sind ein individueller Lernplan und eine besondere Be- Die Gemeinschaftsschule ist noch zu jung, um handfeste Rückschlüsse auf das Bildungsniveau vor- treuung, in die nach Möglichkeit die Eltern eingebunden sind, getreten. Unter der Lehrerschaft besteht nehmen zu können. Das Handewitter Kollegium registriert aber bereits erste Trends. „Es gibt mehr ein Grundkonsens, der skandinavisch angehaucht ist. Die Eckpfeiler: längeres gemeinsames Lernen, ge- Hauptschüler, die sich gut entwickeln, und für einen Realschul-Abschluss in Frage kommen", sind sich genseitiges Helfen und weniger Druck. „Bei uns wird niemand abgelehnt und niemand abgeschult", er- Daniela Schneider und Anke Lache sicher. Dr. Hans-Werner Johannsen glaubt: „Die Zahl der Bildungs- klärt Dr. Hans-Werner Johannsen. Verlierer nimmt ab. Mehr Jugendliche schaffen einen Abschluss." Im Schul-Alltag heißt das: Es wird nicht nach Leistungsstand oder Begabungen sortiert. Alle sitzen ge- meinsam in einem Klassenraum. Eine innere Differenzierung gibt es aber schon. Es gibt Wahl- und Pflicht- aufgaben, die zwar die gleichen Themen berühren, sich aber auf unterschiedlichem Niveau bewegen. 30 31
  • 17. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:40 Uhr Seite 32 „Den Führerschein hab' ich noch nicht, und wenn ich nicht hier im Ort meine Mittlere Reife machen kann, dann sitz' ich verdammt viel im Bus oder schlag die Zeit tot, weil ich doch oft noch am Nachmittag Stunden hab'. Da würde ich lieber mit meinen Kumpels aus dem Dorf kicken.“ „Ich will Mittlere Reife machen – hier bei uns“ Thilo, 16, Schüler 32
  • 18. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:40 Uhr Seite 34 Bayern – eine Gemeinde macht sich auf den Weg Die Gemeinden Frammersbach und Margetshöchheim haben eines gemein: Immer weniger gesamte System überdacht werden. Wenn Schüler wohnortnah unterrichtet werden sollen, müssen wir Schüler besuchen die örtlichen Mittelschulen. Das ist längst Normalität in Unterfranken. weg von den Vorgaben dieses Schulsystems“. Heute sagt Brohm lapidar: „Als guter Demokrat Allerdings könnte die Art, damit umzugehen, Schule machen. akzeptiere ich die Ablehnung unseres Antrags – aber wir werden wieder einen Antrag stellen.“ Bereits 2009 schlugen sie Alarm. Frammersbacher und Margetshöchheimer beantragten jeweils, eine Beharrlichkeit ist auch eine Eigenschaft seines Amtskollegen Peter Franz aus Frammersbach, einer Modellschule gründen zu dürfen, die eine um zwei Jahre verlängerte Grundschulzeit vorsieht, die zur 4.700-Seelen-Gemeinde im Landkreis Main-Spessart. Obwohl sie zunächst Standort eines Haupt- regulären Mittleren Reife führt, und die als Ganztagesschule ein neues pädagogisches Konzept mit sich schulverbandes wurde und Schüler aus zwei weiteren Ortschaften aufnehmen konnte, ließ sich die bringen würde. Beide Anträge lehnte das Kultusministerium rundweg ab, doch aufgeben kommt für die Hauptschule nicht mehr halten. Seit dem laufenden Schuljahr fahren die Kinder der örtlichen Grund- beiden Gemeinden nicht in Frage. Sie halten ihre Pläne in petto, um vielleicht schon bald vom schulpo- schule ins zwölf Kilometer entfernte Lohr, Standort eines Mittelschulverbandes. In Franz' Augen ist für litischen Tauwetter zu profitieren, das derzeit den gesamten Rest von Deutschland erfasst. diese Entwicklung nicht so sehr das Schrumpfen der Bevölkerungszahlen in seiner Gemeinde verant- wortlich (minus 1 Prozent), sondern die sechsstufige Realschule und die steigenden Übertrittsquoten. Eine Lösung muss dringend gefunden werden, denn der Münchener Federstrich durch die Modellschul- rechnung und der Verweis auf Mittelschulverbände hat kein Problem wirklich gelöst. Zwar wurden die In besseren Zeiten beherbergte die Grund- und Hauptschule fast 700 Schüler und lieferte den Einzugskreise nominell erweitert, damit aber haben sich erstens die Fahrtzeiten vieler Kinder erheblich Betrieben der Gegend „sehr fleißige, gut ausgebildete und engagierte Mitarbeiter“. Nun aber leiden verlängert, zum anderen sind die Übertrittsquoten auf Realschule und Gymnasium derart hoch, dass die Franz zufolge sowohl „Einzelhandel, Dienstleister und Vereine unter dieser Situation“. Und auch die Ge- Zahlen der Mittelschüler in beiden Gemeinden trotz allem auf niedrigem Niveau stagnieren. „Es geht meinde selbst leidet: Wie in Margetshöchheim hat sie als Schulträger ein weitläufiges und aufwändig längst nicht mehr darum, die Hauptschule zu erhalten“, sagt Waldemar Brohm, Bürgermeister von Mar- renoviertes Gebäude zu unterhalten – ohne mit sicheren Mitteln kalkulieren zu können. Das kommt getshöchheim und Vorsitzender des Schulverbandes, „es geht um den Erhalt des Standorts“. Durch die Franz umso bitterer an, als die nächstgelegene Realschule in Lohr vor lauter Andrang Klassen ausla- Verbandlösungen werde nur „das Sterben verlängert“. gern muss – während bei ihm Räume leer stehen. In Brohms Gemeinde gibt es nur noch wenig mehr als 100 Hauptschüler, ein einzügiger Schulbetrieb Der Antrag für eine Modellschule wurde 2009 ebenso kategorisch abgelehnt wie der in Margets- kann gerade noch aufrechterhalten werden. An einen M-Zug ist unter diesen Umständen freilich längst höchheim, doch die Pläne liegen weiterhin bereit für bessere Zeiten. Sie sehen einen Modellversuch nicht mehr zu denken. Dabei lesen sich die Zahlen für den Schulverband, zu dem die Gemeinden Erla- vor in Kooperation mit der Realschule und einem eigenen pädagogischen Konzept in mehr Eigenver- brunn, Leinach, Margetshöchheim und Zell gehören, gar nicht mal so schlecht. Im Einzugsbereich woh- antwortung. Gymnasiasten könnten nach wie vor bereits nach der vierten Klasse die Schule verlassen, nen etwa 12.500 Menschen. Rund 440 Grundschüler verteilen sich auf die Volksschule Margetshöchheim Hauptschüler und vermeintliche Realschüler würden in einer zweijährigen Orientierungsstufe gemein- mit der Außenstelle Erlabrunn, die Grundschule Leinach und die Grundschule Zell am Main. Doch die sam unterrichtet werden, in den Hauptfächern möglicherweise modularisiert. Nach der sechsten Klasse Übertrittsquote nach der vierten Jahrgangsstufe auf Realschule und Gymnasium ist nach Auskunft von würden sich einige Schüler für den parallel laufenden Realschulzweig empfehlen. Den Unterricht Brohm auf derzeit 85 Prozent gestiegen. Nach der sechsten, siebten oder spätestens achten Jahr- würden bis zum Abschluss Realschullehrer übernehmen. gangsstufe wechseln zudem immer mehr Schüler auf Wirtschaftsschulen. Und es lockt die Montessori- Schule in Zell, die neben dem Qualifizierenden Hauptschulschluss und dem Mittleren Abschluss auch Weil all das im Ganztagsbetrieb organisiert werden soll, haben Vereine bereits ihre Unterstützung im einen Fachoberschul-Zweig anbietet. sportlichen und musischen Bereich zugesagt. Im modularisierten Ganztagesunterricht können alle Schüler in Stütz- und Förderkursen Schwächen abbauen und Stärken ausbauen. Nach einer zwei- oder Der Schulverbandsvorsitzende Brohm sorgt sich also offensichtlich nicht grundlos. Leerstehende dreijährigen Entwicklungsphase würde sich entscheiden, wer in welchem Fach eine Realschulprüfung Klassenzimmer oder gar Schulgebäude, in die Jahre zuvor noch viel Geld investiert wurde, ärgern den schreibt. Teilzertifikate oder Portfolios sollen neben dem Abschlusszeugnis aussagekräftige, alternative Kommunalpolitiker schon sehr, was ihn aber richtig wütend macht, ist die mit dem drohenden Verlust des Abschlüsse darstellen, die die Leistung eines Schülers in einzelnen Fächern unterstreichen und die Hauptschulstandortes einhergehende Entfremdung der Jugendlichen im sozialen Gefüge der Dörfer. Die bei einer Bewerbung von großem Nutzen sein können. Vereine würden heute schon über Nachwuchsprobleme und die mangelhafte Bindung der Kinder und Jugendlichen an örtliche Gemeinschaft klagen. Kurzum: Das Konzept wäre nicht nur geeignet, eine Schule zu retten. Es würde einem Teil der Schüler und Eltern den Übertrittsdruck nehmen. Franz ist sicher: „Schule muss sich den veränderten Voraus- Günter Stock, Brohms Amtsvorgänger, und seine Kollegen stellten schon im Mai 2008 fest: „Weil in- setzungen anpassen.“ nerhalb des dreigliedrigen Schulsystems keine befriedigenden Lösungen gefunden werden, muss das 34 35
  • 19. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:40 Uhr Seite 36 „Das Dorf muss eine gute Lebensqualität bieten, damit die Leut' nicht wegziehen. Und dazu gehören halt auch gute Perspektiven für die Kinder. Wenn die hier nicht nur den Hauptschulabschluss erreichen können, dann bleiben die Familien im Ort. Sonst stirbt erst die Schule und dann das Dorf.“ „Ich will, dass unser Ort eine Zukunft hat“ Max, 47, Bürgermeister 37
  • 20. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:40 Uhr Seite 38 Schritte zur Sicherung einer Schule am Ort Ausgangspunkt ist eine Initiativgruppe von Interessierten und Betroffenen Befragung, Beschlussfassung, Beantragung Ziel: Einrichtung einer passgenauen und standortsicheren Schule am Ort Ziel: Sicherung der Akzeptanz des Schulprojekts und Genehmigung durch die Schulbehörde • Analyse der örtlichen Schulsituation (Geburtenentwicklung, Übertritte, räumliches Schulnetz) • Sicherung der Akzeptanz der geplanten Schule durch Befragung der Grundschuleltern • Erstellung von Eckpfeilern eines Schulentwicklungsplans (mögliche Abschlüsse, Überlegungen • Gemeinderatsbeschluss zur Unterstützung der Schule zu Organisation und ggf. Kooperation von Schulstandorten) • Beantragung der Schule als Schulversuch beim Kultusministerium durch die Gemeinde • Vorgespräche zur Gewinnung von Unterstützern (Bürgermeister, Gemeinderäte, Schulleitung, Lehrer, Elternbeirat, Eltern, Verbände, Vereine, lokale Wirtschaft) Umsetzungsplanung des Schulkonzepts durch die Schule Erarbeitung eines pädagogischen Rahmenkonzepts der Schule Ziel: Projektpläne in einzelnen Handlungsschritten zu Aufbau und Ausgestaltung der Schule • Konkretisierung der pädagogischen Grundsätze, organisatorischen Strukturen und Differenzierungs- Ziel: Entwicklung von mehrheitsfähigen Grundvorstellungen einer zukünftigen Schule durch formen (ggf. mit externer Unterstützung) Interessierte unter Beteiligung von Lehrerkollegium, Elternbeirat, ggf. externer Experten • Beschaffung der erforderlichen finanziellen, materiellen und personellen Ressourcen • Formulierung der Grundstrukturen der Schule (Formen der Differenzierung, Raumbestand und -bedarf, Lehrereinsatz) • Entwurf pädagogischer Grundgedanken (Eckpunkte eines Schulprogramms) • Schrittweise Konkretisierung des Schulkonzepts Weitere Informationen zur wohnortnahen Schule (pädagogische und organisatorische Konzepte von rea- lisierten Schulen) und Instrumente zur Vorbereitung und Umsetzung (z. B. einschlägige Elternfragebogen) finden Sie unter www.regionale-schulentwicklung.bllv.de Mit den Experten des BLLV können konkrete Konzepte und Vorgehensweisen vor Ort besprochen Präsentation des Konzepts in der Öffentlichkeit werden, um ein wohnortnahes, den lokalen Verhältnissen angemessenes Schulangebot zu finden. Ansprechpartner können Sie anfordern unter schulpolitik (at) bllv.de Ziel: Breite Information und Diskussion der Entwürfe zur Schaffung von Akzeptanz und Unterstützung; kommunaler Konsens z. B. durch • Information der Eltern (Zeitungsartikel, persönliche Gespräche, Infobriefe, Veranstaltungen, Aktionen) • Gewinnung von Zustimmung von Bürgermeistern, Landrat, Gemeinderäten, Schulverwaltung • gemeinsamen Besuch von ähnlichen Schulmodellen 38 39
  • 21. RSE_Brosch_prod_Neuauflage:GYM_Mantel_V1 14.08.2012 9:40 Uhr Seite 40 www.bllv.de/wohnortnahe-schule Für eine längere gemeinsame Schule 40