Yotin Tiewtrakul: Spiritualität der Exilanten versus monastische Spiritualität
1. ex_tempore
spiritualität der exilanten versus monastische spiritualität
von yotin tiewtrakul
mit dem emergenten dialog ist auch ein interesse für monastische spiritualität entstanden. was aber
kommt danach? „danach“ heisst: wenn die phase des spielens und nach-spielens vorbei ist? jemand,
der sich damit auseinandersetzen musste, war madeleine delbrêl (1904-1964), die nach einer
kehrtwendung in ihrem leben (von einer nihilistisch-kompromisslosen atheistin zu einer von gott
überwältigten sozialarbeiterin) zu etwas gerufen wurde, was es nicht gab und vielleicht auch nie geben
wird: weder konnte sie eine ganz normale gemeinde-christin sein, aber – das war ihr erster gedanke
nach der lebenswende – innerlich wurde ihr auch der eintritt in eine ordensgemeinschaft verwehrt (sie
wollte karmelitin werden).
mit zwei anderen frauen beginnt sie nach langem suchen und überlegen das experiment, klösterliches
leben im urbanen kontext zu gestalten. und das geht so richtig schief. schnell wurde klar, wie künstlich
und unnatürlich das war. warum funktioniert klösterliche spiritualität im urbanem kontext nicht?
ich möchte einen text von madeleine delbrêl vorlesen, in welchem einige dichotomien deutlich werden.
es hat sich eingebürgert bei madeleine von ihrer „fahrradspiritualität“ zu sprechen.
„Immer weiter!“ sagst du zu uns
in allen Kurven des Evangelium.
Um die Richtung auf dich zu behalten,
müssen wir immer weitergehen,
selbst wenn unsere Trägheit verweilen möchte.
Du hast dir für uns
ein seltsames Gleichgewicht ausgedacht,
ein Gleichgewicht,
in das man nicht hineinkommt
und das man nicht halten kann,
es sei denn in der Bewegung,
im schwungvollen Voran.
Es ist wie mit einem Fahrrad,
das sich nur aufrecht hält, wenn es fährt;
ein Fahrrad, das schief an der Wand lehnt,
bis man sich darauf schwingt
und auf der Straße davonbraust.
Die Zeit, in der wir leben,
ist gezeichnet von einem allgemeinen,
schwindelerregenden Ungleichgewicht.
Sobald wir uns hinsetzen, dies zu betrachten,
kippt es und entgleitet es uns.
Wir können uns nur aufrecht halten,
wenn wir weitergehen,
wenn wir uns hineingeben
in den Schwung der Liebe.
Alle Heiligen, die uns als Vorbilder gegeben sind,
oder zumindest viele davon,
lebten nicht ohne „Versicherung“,
einer Art „geistlichen Krankenkasse“,
die sie schützte
gegen Gefahren und Krankheit,
und die sogar ihre geistlichen Kinder mit einbezog.
Sie hatten feste Gebetszeiten,
bestimmte Bußübungen
2. eine ganze Sammlung von Ratschlägen und Verboten.
Aber für uns
spielt das Abenteuer deiner Gnade
in einer Zeit, die fast aus der Bahn gerät
in ihrem Drang nach Freiheit.
Uns willst du keine Landkarte geben.
Unser Weg führt durch die Nacht.
Wohin wir zu gehen haben,
erhellt sich Stück für Stück
wie durch die Lampe eines Signals.
Oft ist das einzige, was sich sicher einstellt,
eine regelmäßige Müdigkeit aufgrund
derselben Arbeit, die jeden Tag zu leisten ist,
desselben Haushalts, der wieder zu bewältigen ist,
derselben Fehler, die wir bekämpfen,
derselben Dummheiten, die wir unterlassen wollen.
Aber außerhalb dieser Gewissheit
ist alles übrige deiner Phantasie überlassen, o Gott,
die es sich bei uns gemütlich macht. 1
die dichotomien benenne ich schon einmal:
> ungleichgewicht versus rhythmus
> geschwindigkeit versus verlangsamung
> risiko versus sicherheit
> banalität versus liturgie
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>> ungleichgewicht versus rhythmus
mönchische kultur lebt vom rhythmus und zwar von einem gleich bleibendem rhythmus (musikalisch
müsste man eigentlich von einem metrum sprechen). der tag ist klar gegliedert, es ist fest gelegt, wann
etwas passiert oder wann etwas getan werden soll: beten, arbeiten, essen, lesen, sich ausruhen,
schlafen etc. und nicht nur der tag ist klar gegliedert, gegliedert und geregelt ist auch die woche (sieben
tage, mit der sonntagsfeier beginnend), geregelt ist auch der monat, geregelt ist das jahr (kirchenjahr).
ähnliches gilt übrigens auch für andere kategorien, z.b. für den raum. wir haben eben ja zeit-beispiele
gehabt. aber auch der raum ist in monastischer kultur geregelt: es gibt die kirche, den chorraum, das
tabernakel, das refektorium, das dormitorium, die küche, die waschküche usw. usf.
extra claustrum – ausserhalb der mauern gibt es in unserem städtischen lebensraum aber keine
regelmässigkeiten. madeleine benutzt das bild eines fahrrads, ein alltagsgegenstand, ein übliches und
erschwingliches verkehrsmittel in ihrer zeit, um das zu verdeutlichen: unser leben verläuft nicht in
einem regelmässigen metrum, sondern navigiert von kurve zu kurve, unser alltag wechselt zwischen
den extremen von totalem stress im büro bis zu ungeduldiger langeweile in der u-bahn.
>> geschwindigkeit versus verlangsamung
monastischer kultur ist auf verlangsamung angelegt: bei der schriftbetrachtung, der lectio divina etwa,
erfordert die phase der ruminatio, des wiederkäuens, dass man bei einem wort oder einem satz
verweilt und ihn immer und immer wieder in den mund nimmt. oder bei der psalmenrezitation ist es
die mediatio, die kleine pause zwischen zwei verszeilen, die eingehalten werden muss: ein psalm kann
nicht einfach so runtergerasselt werden.
extra claustrum – ausserhalb der mauern in unserem städtischen lebensraum ist aber alles auf
geschwindigkeit angelegt. auch hier greift das bild des fahrrads. madeleine sagt:
1 Aus: Madeleine Delbrêl, Gott einen Ort sichern. Texte - Gedichte - Gebete. Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet
von Annette Schleinzer, Ostfildern (Schwabenverlag) 2003, 2. Auflage, Seite 156-157.
3. Die Zeit, in der wir leben,
ist gezeichnet von einem allgemeinen,
schwindelerregenden Ungleichgewicht.
Sobald wir uns hinsetzen, dies zu betrachten,
kippt es und entgleitet es uns.
die geschwindigkeit unseres lebens, lässt sich also nicht einmal reflektieren. wollen wir sie begreifen,
müssen wir mitlaufen und mitfahren in diesem strudel.
>> risiko versus sicherheit
madeleine vergleicht den geregelten rhythmus von arbeitszeiten und gebetszeiten im kloster mit der
sicherheit einer versicherung oder einer krankenkasse. das heisst: unsere monastischen vorbilder
hatten und haben nicht hinterfragte fertige wörter mit denen sie beten konnten, aufgaben, die sie
selbstverständlich erledigten usw.
extra claustrum – ausserhalb der mauern in unserem städtischen kontext und im zeitalter des
individualismus gibt es solche sicherheiten von aussen nicht. jeder mensch muss für sich selbst das
risiko des eigenen lebens eingehen.
>> banalität versus liturgie
was aber finden wir exilanten? müdigkeit, alltägliche mühevolle arbeit im beruf, alltägliche mühe im
privatleben, unzufriedenheiten mit unserer eigenen persönlichkeit. deshalb habe ich diese dichotomie
„banalität versus liturgie“ genannt. uns exilanten ist keine landkarte gegeben, unser weg führt durch
die nacht, wie madeleine sagt. dies müssen wir anerkennen, auch wenn wir uns eigentlich erfahrungen
wünschen, die uns über unseren alltag hinausheben, wie z.b. eine monastische liturgie mit ihren
zeichen und symbolen und der schönheit des gesanges usw. usf.
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der grundcharakter der spiritualität, die in diesem text skizziert ist, lässt sich meiner meinung nach
zusammenfassen in dem begriff der improvisation. improvisieren bedeutet aus dem stegreif, aus der
situation heraus eine gestalt zu formen. man kann dazu auch sagen „ex tempore“, das bedeutet: „aus
dem stegreif heraus“.
mit diesem begriff verbindet sich aber auch eine wichtige these, die ich bedenkenswert finde. die
aufgezeigten dichotomien zwischen laien-kultur und mönchs-kultur sollen uns nicht dahin führen, die
monastische kultur überhaupt nicht zur kenntnis zu nehmen. wer meint, ohne übung, ohne formung
aufs fahrrad steigen zu können, will ex nihilo, aus dem nichts, seine spiritualität erschaffen, so bleibt
aber der ignorant isoliert nur bei sich selbst.
ex tempore, aus dem stegreif etwas gestalten kann man nur, wenn man die elemente beherrscht und
mit ihnen jonglieren kann. die spiritualltät der exilanten, die madeleine delbrêl skizziert, ist keine (!)
spiritualität von laien, von normalen gemeinde-christen. es ist eine spiritualität, die durch eine
monastische schulung gegangen ist. mehr als nur von ihr inspiriert, hat sich der exilant in der strenge
und eintönigkeit monastischer kultur schleifen lassen. rausgeschmissen aus dem paradies der liturgie
singt er nun die lieder nomadischer existenz, aber mit dem sehnsuchts-timbre, dass irgendwo heimat
gewesen ist und vielleicht einmal wieder sein wird. die intensität dieser spiritualität ist die gleiche,
aber ihre formung ist grundverschieden.
für diejenigen, die sich also nun für monastische spiritualität interessieren, sei gesagt: vertieft euch,
geht darin auf, tut so, als sei es die einzige art und weise der heiligkeit. spielt nicht nur damit,
schmückt euch nicht nur mit mittelatlerlichem flair und archaischen geraune. aber seid bereit, das
alles wieder hinter euch zu lassen, wenn der meister euch zurück auf die bühne ruft und der vorhang
aufgeht für euer ex tempore-spiel.
(4. mai 2009)
für annette schleinzer, andrea und katrin