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Die theoretischc Entwicklung, die die lu·itische Gesellschaftstheorie im
Ausgang vom ursprünglichen Ansat7 Horkheimers übcr dic Geschichts-
philosophie Adornos und die Machtanalyse Foucaults bis hin zur Kon-
zeption von Habermas genommcn hat, wird von Axel Honneth in der
Weise argumentativ rekonstruiert, dafi sich Schritt für Schritt der Blick
auf eine soúale Lcbenspraxis erOffnet, in der heute eine Kritik gesell-
schaftlichcr Herrschaft seiner Überzeugung nach noch cinmal ihre Mag-
sti:ibc reflexiv zu verankern vermag.
Axel Honneth, geb. 1949 in Esscn, ist seit 1996 Professor für Sozialphi-
losophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universitat Frankfurt und seit
2001 geschaftsführcndcr Direktor des Instituts für Sozialforschung an
der Universitiit Frankfurt.
Von Axcl Honneth sind im Suhrkamp Verlag zulctzt crschicncn:
Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontro-
verse (zus. mit Nancy Fraser stw 1460); Das Andere der Gerechtigkeit.
Aufsdtze zur praktischen Philosophie (stw 1491); Unsichtbarkeit. Stationen
einer Theorie der Intersubjektivitdt (stw 1616); VerdingLichung. Eine
anerkennungstheoretische Studie (2005); Pathologien der Vernunft. Ge-
schichte und Gegenwart der Kritischen Theorie (stw 1835).
Axel Honneth
Kritik der Macht
Reflexionsstufen einer
kritischen Gesellschaftstheorie
Mit einem N achwort zur
Taschenbuchausgabe
SBD-FFLCH-USP
IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII
357469
Suhrkamp
DEDALUS • Acervo - FFLCH
1111111111li~Ili/111111111111111111111111111111Ili
20900112329
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutschc Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschcn Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet übcr
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 738
Erste Auflage 1989
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1986
Suhrkamp Taschenbuch Verlag
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durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
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Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim
Printed in Germany
Umschlag nach Entwürfen voo
Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
ISBN 978-3-518-28338-7
4 5 6 7 8 9 - lJ I2 n IO 09 08
Inhalt
Vorwort 7
Erster Teil
DAS UNVERMÓGEN ZUR GESELLSCHAFTSANALYSE
APORIEN DER KRITISCHEN THEORIE 9
r. Horkheimers ursprüngliche Idee. Das soziologische Defizit
der Kritischen Theorie r2
2. Die geschichtsphilosophische Wende der Dialektik
der Aufklàrung: Eine Kritik der Naturbeherrschung 43
3. Adornos Theorie der Gesellschaft:
Die endgültige Verdrangung des Sozialen 70
Zweiter Teil
Drn WIEDERENTDECKUNG DES SOZIALEN
FoucAULT UND HABERMAS I 13
4. Foucaults historische Diskursanalyse. Die Paradoxien einer
semiologisch ansetzenden Wissensgeschichte 12 r
5. Von der Diskursanalyse zur Machttheorie:
Der Kampf als Paradigma des Sozialen 168
6. Foucaults Theorie der Gesellschaft: Eine systemtheoretische
AuflOsung der Dialektik der Aufkldrung 196
7. Habermas' erkenntnisanthropologischer Ansatz:
Die Lebre von den Erkenntnisinteressen 22 5
8. Zwei konkurrierende Konstruktionen der Gattungsgeschichte:
Die Verstandigung als Paradigma des Sozialen 265
9. Habermas' Theorie der Gesellschaft: Eine kommunikations-
theoretische Transformatio"n der Dialektik
der Aufkldrung 307
Anmerkungen 335
Literatur 367
Nachwort (1988) 380
Register 407
Vorwort
In dieser Untersuchung unternehme ich den theoriegeschichtlich
angelegten Versuch einer Klarung von Schlüsselproblemen der
kritischen Gesellschaftstheorie. Auf der ersten Ebene einer Theo-
riegeschichte lasse ich mich von der Überzeugung leiten, da:B die
beiden seit den siebziger Jahren einflu:Breichsten Neuansiitze ei-
ner kritischen GeseHschaftstheorie, namlich die Theorie von Mi-
chel Foucault einerseits, diejenige von Jürgen Habermas anderer-
seits, als konkurrierende Fortführungen einer durch die Kritische
Theorie eri::iffneten Fragestellung zu interpretieren sind: sowohl
die Machttheorie, die Foucault in Form von historischen Unter-
suchungen begründet hat, als auch die Gesellschaftstheorie, die
Habermas auf dem Weg der Grundlegung einer Theorie des kom-
munikativen Handelns emwickelt hat, kOnnen als Versuche ver-
standen werden, den von Adorno und Horkheimer analysierten
Prozeil einer Dialektik der Aufkldrung in neuer Weise zu deuten.
Wenn die Geschichre der kritischen Gesellschafrsrheorie umer
diesem Gesichrspunkt rekonstruiert wird, so erweist sich die
Machttheorie Foucaulrs als eine systemrheoretische, die Haber-
massche Gesellschaftstheorie als eine kommunikationstheoreti-
sche AuílOsung der Aporien, in die Adorno und Horkheimer mit
ihrer geschichtsphilosophischen Analyse des Zivilisationsprozes-
ses geführt haben.
Folgt die Untersuchung also historisch der Denkbewegung, die
von den frühen Aufsitzen Horkheimers über die Geschichrsphi-
losophie Adornos bis schlieBlich zu den auseinanderstrebenden
Theorien von Foucault und Habermas führt, so ergibt sich ihr
systematischer Gesichtspunkt aus der Frage nach den theore-
tischen Modellen, mit deren Hilfe in jenen Theorien die Bildung
und Behauptung sozialer Macht erfafü wird. Auf der zweiten
Ebene einer Kldrung von zentralen Problemen einer kritischen
Gesellschaftstheorie serze ich mich daher mit den von Adorno,
Foucault und Habermas entwickelten Ansiitzen auseinander, die
Verfassung gegenwirtiger Gesellschaften als Verhiiltnisse sozialer
Herrschaft zu kritisieren. Dem Zweck einer solchen Auseinan-
dersetzung dient der Versuch, an den vorgesrellren Positionen die
7
r
l
Handlungskonzepte herauszuarbeiten, die der Analyse der Inte-
gration von Gesellschaften und damit der Ausübung von Macht
jeweils zugrnndeliegen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich zu-
niichst, daE Adorno an der Aufgabe einer Gesellschaftsanalyse
überhaupt scheitern muíhe, weil er zeitlebens einem totalisierten
Modell der Naturbeherrschung verhaftet blieb und dementspre-
chend das >}Soziale« an Gesellschaften nicht zu erfassen ver-
mochte (Kap. 3). Foucault und Habermas hingegen erschlieBen
den der Tradition der Kritischen Theorie fremdgebliebenen Pha-
nomenbereich des Sozialen voo extrem entgegengesetzten Seiten
aus: Foucault im handlungstheoretischen Paradigma des >>Kamp-
fes« (Kap. 5), Habermas in demjenigen der )>Verstandigung«
(Kap. 7). Aus einer kritischen Analyse der Schwierigkeiten, in die
diese beiden Ansiitze auf unterschiedlichem Reflexionsniveau je-
weils führen, sollen sich irnplizit die Richtlinien ergeben, denen
eine »Kritik der Macht<< heute zu folgen hiitte. Insofern vollzieht
der, der die Denkbewegung von Adorno über Foucault bis Ha-
bermas verfolgt, die Stufen einer Reflexion nach, in der sich die
kategorialen Priimissen einer kritischen Gesellschaftstheorie
schrittweise klfren.
Die Kapitel 1-6 dieser Arbeit wurden im Frühjahr 1983 vom
Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften der Freien
Universitiit Berlin als Dissertation angenommen, Birgit Mahn-
kopf und Hans Joas babe ich für stiindige Diskussionsbereitschaft
und Hilfestellung, Urs Jaeggi für die zum rechten Zeitpunkt de-
monstrierte Ungeduld zu da'nken.
Erster Teil
Das Unvermiigen zur Gesellschaftsanalyse
Aporien der Kritischen Theorie
1
l;i
Vor nunmehr fünfzig Jahren entstand, unter der konzeptuellen
Autoritiit eines einzelnen Mannes und als das Werk eines Kreises
von Wissenschaftlern, eine Theorie, die sich von Anbeginn an als
eine Fortsetzung der Marxschen Intentionen unter historisch ge-
wandelten Bedingungen verstand. Die mit der Amrittsrede Max
Horkheimers am Institut für Sozialforschung auf den Plan getre-
tene und spiiter vor allem durch die Schriften Adornos repriisen-
tierte Kritische Theorie gilt seither vielen als das Musterbeispiel
einer Theorie, in der sich die Absicht einer philosophisch geleite-
ten Zeitdiagnose mit dem Untemehmen einer empirisch fundier-
ten Gesellschaftsanalyse verknüpft. Ich müchte in einem ersten
Schritt den Versuch unternehmen, die theoretischen Grundan-
nahmen der Kritischen Theorie herauszuarbeiten, die jener bis
heute vorbildhaften Intention von Beginn an im Wege standen;
dabei folge ich den Entwicklungsschritten des von Adorno und
Horkheimer zurückgelegten Denkweges, indem ich zun3.chst die
programmatischen Frühschriften Horkheimers (Kap. 1), darauf~
hin die gemeinsam verfafüe Dialektik der Aufkldrung (Kap. 2)
und schliefüich die gesellschaftstheoretischen Sp3.tschriften Ador-
nos (Kap. 3) untersuche.
II
'
í
1
1. Horkheimers ursprüngliche Idee
Das soziologische Defizit der Kritischen Theorie
In dem Aufsatz »Traditionelle und kritische Theorie«, der im
6. Jahrgang der Zeitschriftfür Sozialforschung (1937) erschien, hat
Max Horkheimer den theoretischen Anspruch und den politi-
schen Stellenwert einer kritischen Gesellschaftstheorie zusam-
menzufassen versucht1; sein Beitrag, geschrieben im amerikani-
schen Exil, formuliert das Selbstverstandnis des Frankfurter
Instituts für Sozialforschung der dreifüger Jahre. Horkheimer
verfolgt das Ziel, die bandlungspraktischen Wurzeln des neuzeit-
lichen Wissenschaftsmodells bloBzulegen, um in dem transparent
gewordenen Praxiszusammenhang die kritische Theorie als den
selbstbewufüen Ausdruck politisch-sozialer Emanzipationspro-
zesse begründen zu künnen.
Das neuzeitliche Wissenschaftsmodell, das ihm als »traditionell«
gilt, führt Horkheimer sich anhand der Methodenreflexion Des-
cartes vor Augen. Die Aufgabe wissenschaftlicher Theorien wird
hier in der Sammlung deduktiv gewonnener Aussagen gesehen,
die auf die empirisch beobachtbare Wirklichkeit hypothetisch ap-
pliziert werden; in dem Mage, in dem die experimentell kontrol-
lierte Wirklichkeitsbeobachtung Einzelaussagen des in sich wi-
derspruchsfrei angelegten Aussagensystems besti:itigt, wachst der
Erklirungswert der Theorie. Die Wahrheit einer wissenschafdi-
chen Theorie ist mit der prognostischen Erklarungskraft ihres
Aussagengefüges identisch. Horkheimer interessiert sich nun
nicht für die wissenschaftstheoretischen Korrekturen und Diffe-
renzierungen, durch die das Ideal eines einheitlichen Wissen-
schaftsmodells nach Descartes fortentwickelt worden ist; die
Differenz zwischen deduktiver und induktiver Gewinnung allge-
meiner Aussagen, an der sich die klassischen Schulen der Er-
kenntnistheorie scheiden, oder auch die Differenz zwischen
empirisch-experimenteller und phi:inomenologisch-inruitiver
Wirklichkeitsbeobachtung, die bis in Horkheimers Gegenwart
hinein wissenschaftstheoretische Richtungen voneinander ab-
grenzt, ist ihm sekundar. Ihn interessiert vielmehr das grundle-
gende Modell, in dem die N euzeit sich das Verhiiltnis von
12
wissenschafdicher Theorie und Realit:it denkt; an dieser Verhalt-
nisbestimmung bemifü sich für Horkheimer die Eigenart traditio-
neller Theorie:
»Immer steht auf der einen Seite das gedanklich formulierte Wissen, auf
der andem ein Sachverhalt, unter der es befafh werden soll, und dieses
Befassen, dieses Herstellen der Bezíehung zwischen der bloBen Wahr-
nehmung oder Konstatierung des Sachverhalts und der begrifflichen
Ordnung unseres Wissens heiBt seine theoretische Erklarung.«~
Die blog :iuBerliche Applikation eines wie auch immer gewonne-
nen Aussagensystems auf einen naturalen Vorgang oder ein histo-
risches Ereignis soll erlauben, den empirischen Sachverhalt
dadurch, daB er Glied einer Aussagenreihe wird, zu erkliiren; auf
diese Weise lassen sich in dem Umfang, in dem immer weitere
Realiti:itsausschnitte in dem Netz hypothetischer Sitze eingefan-
gen werden, schliefüich natürliche und soziale Prozesse im gan-
zen theoretisch prognostizieren und kontrollieren. An dieser
Funktion traditionell konzipierter Theorien, ihrer F:ihigkeit also
zur Prognose, Kontrolle und schliefüich auch Steuerung realer
Vorg:inge, liest Horkheimer den Konstitutionszusammenhang
neuzeitlicher Wissenschaft ab:
»Sowohl die Handhabung der physischen Natur wie auch diejenige be-
stimmter i::ikonomíscher und sozialer Mechanismen erfordert eíne For-
mung des Wissensmaterials, wie sie in einem Ordnungsgefüge von
Hypothcsen gegeben ist.«3
Die Kontrollfunktion, die eine wissenschaftliche Theorie über-
nehmen kann, die empirische Sachverhalte in einem allgemeinen
Aussagensystem zu erkliiren und zu prognostizieren versucht,
verr:it ihre Herkunft: sie ist Teil des praktischen Reproduktions-
prozesses, in dem sich die menschliche Gattung durch wach-
sende Kontrolle über ihre natürliche Umwelt und ihre eigene
soziale Welt am Leben erhi:ilt. Horkheimer stützt sich implizit auf
eine geschichtsphilosophische Grundannahme, wenn er darlegt,
wie die Leistungen gesellschaftlicher Arbeit den Emanzipations-
prozeg ermüglicht haben, der die Menschenwelt aus der bedrük-
kenden Übermacht der Natur befreit und in den Zustand einer
die Natur beherrschenden und sich an ihr zunehmend bereichern-
den Zivilisation geführt hat. Für diesen Konstitutionszusammen-
hang von Theorie bleibt aber - und das ist der Horkheimer
IJ
interessierende Gesichtspunkt ~ die traditionelle Theorie blind;
sie hat sich, obwohl sie ,,ein Moment bei der Selbsterhaltung, der
fortwahrenden Reproduktion des Bestehenden« ist4, fiktiv von
allen gesellschaftlichen Produktionsvorgiingen abgeschnitten: die
traditionelle Theorie begreift sich in einem folgenreichen Mi:Gver-
stiindnis als »reine« Theorie. Daher kann ihr Horkheimer, in
einer an den frühen Marx erinnernden Weise, vorrechnen, wie
nicht nur ihr spezifischer Gegenstand, sondem selbst die Art und
Weise ihres Wirklichkeitskontakts durch den jeweiligen Stand der
sozialen Produktivkriifte, der angesammelten Kontrollerfolge
~ber natürliche und gesellschaftliche Prozesse also, priiformiert
1st:
»Was wir in der Umgebung wahrnehmen, die Stadte, D6rfer, Fclder und
Walder tragen den Stempel der Bearbeitung an sich. Die Menschen sind
nicht bloG in der Kleidung und im Auftreten, in ihrer Gestalt und Ge-
fühlsweise ein Resultat der Geschichte, sondem auch die Art, wie sie
sehen und h6ren, ist von dem gesellschafdichen LebensprozeB, wie er in
den Jahrtausenden sich entwickelt hat, nicht abzul6sen. Die Tatsachen,
welche die Sinne uns zuführen, sínd in doppelter Weise gescllschaftlich
póformicrt: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen
Gegenstandes und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden
Organs.« 1
Das erkennende Subjekt und der zu erkennende Gegenstand sind
vorweg schon gemeinsam durch den Proze:G gesellschaftlicher
Naturbearbeitung bestimmt, als dessen Produkt Horkheimer die
Gattungsgeschichte im ganzen ansieht. Die Selbsttauschung je-
doch, in der die neuzeitliche Wissenschaft von aller Bindung an
eben diesen ArbeitsprozeE sich frei weiE, erkliirt Horkheimer aus
einer zweiten geschichtsphilosophischen Grundannahme, die er
eher beilaufig in seinen Aufsatz einbringt: der den sozialen Le-
benszusammenhang hervorbringende ProduktionsprozeE ist in
der bisherigen Geschichte der Gattung ais synthetisierende, ko-
operative Leistung aller Arbeitssubjekte selbst noch nicht durch-
schaut. Bislang bringt der gezielt auf Naturbeherrschung ange-
legte Produktionsproze:G zwar den historischen Fortschritt
hervor, die menschlichen Handlungssubjekte aber wissen um ihre
gemeinsamen Konstitutionsleistungen nicht; diese Unbewufüheit
setzt sich im Selbstverstiindnis traditioneller Theorie bloB fort.
Die neuzeitliche Wissenschaft wei:G ebensowenig, wie die
menschliche Gattung sich ihrer geschichtsbildenden Produk-
tionstii.tigkeit schon bewufü ist, um den geschichdichen Konsti-
tutionszusammenhang, dem sie durch alle ihre Erkenntnisleistun-
gen hindurch angehürt.
Horkheimer analogisiert, um seinen geschichtsphilosophischen
Gedankengang zu veranschaulichen, die noch nicht gewufhen
synthetisierenden Arbeitsleistungen, die die menschliche Gattung
durch aUe bisherige Geschichte hindurch immer schon vollbracht
hat, mit den Synthesisleistungen des transzendentalen Ichs der
Erkenntnistheorie Kants; diese Analogie legt freilich die ge-
schichtsidealistische Fiktion, in die Horkheimers Konstruktion
eines einheitlichen Gattungssubjekts führt6, erst recht frei:
»Die inneren Schwierigkeiten, mit denen die h6chsten Begriffe der kan-
tischen Philosophie, vor aliem das Ich der transzendentalen Subjektivitat,
die reine oder ursprüngliche Apperzeption, das Bewufhsein an sich be-
haftet sind, zeugen von der Tiefe und Aufrichtigkeit seines Denkens. Der
Doppelcharakter dieser kantischen Begriffe, die einerseits die h6chste
Einheit und Zielrichtung, andererseits etwas Dunkles, BewuBtloses, Un-
durchsichtiges bezeichnen, trifft genau die widerspruchsvolle Form der
menschlichen Aktivitit in der neueren Zeit. Das Zusammenwirken der
Menschen in der Gesellschaft ist die Existenzweise ihrer Vernunft, so
wenden sie ihre Kófte an und bestitigen ihr Wesen. Zugleich jedoch ist
dieser ProzeB mitsamt seinen Resultaten ihnen selbst emfremdet, er-
scheint ihnen mit all seiner Verschwendung von Arbeitskraft und Men-
schenleben, mit seinen Kriegszustanden und dem ganzen sinnlosen Elend
als unab.inderliche Naturgewalt, ais übermenschliches SchicksaL ln
Kants theoretischer Philosophie, in seiner Analyse der Erkenntnis ist
dieser Widerspruch aufbewahrt.« 7
Horkheimer benutzt das erkenntnistheoretische Denkmodell
Kants, um eine geschichtsphilosophische Konstruktion zu ver-
deutlichen: so wie Kant die Welt der Gegenstande müglicher
Erfahrung auf die strukturgebenden Leistungen eines transzen-
dentalen Subjekts zurückführt, so ist die soziale Welt als noch
nicht gewufües Produkt der menschlichen Naturbearbeitung zu
betrachten. Die transzendentalphilosophische Redeweise, die
diese materialistische Lesart der Erkenntnistheorie Kants auf-
zwingt, verlangt den Singular, den Horkheimer verwendet, um
die menschlichen Arbeitsleistungen gebündelt als »die(( Aktivitit
der Gattung zu charakterisieren; ihr mu:G er all die ordnungsstif-
l 5
tenden Leisrnngen zutrauen, mit denen Kant das transzendentale
Ich ausstattet. Dann stellt die menschliche Gattung als singulares
Subjekt der Geschichte schon immer und stfodig perfekter die
soziale Welt her, um deren Konstitution sie aber bis in die Ge-
genwart hinein nicht weifi; diese Bewufü1osigkeit der Gattung als
Subjekt ist letzte U rsache für die katastrophale Blindheit des bis-
herigen Geschichtsverlaufs. Die neuzeitliche Vissenschaft ist
selbst noch einmal unbewu:Btes Moment dieser immerwahrend
produktiven, aber bislang blinden Selbsterhaltung. Über ihre
Stellung k.18.rt die traditionelle Theorie freilich erst die materiali-
stische Deutung auf, die sie auf die Arbeitspraxis zurückführt, aus
der sie entwachsen und an die sie methodologisch gebunden
bleibt; auf dem Weg dieser Interpretation erhalt sie schlieElich
ihre »positive gesellschaftliche Funktion«8
, n2m1ich die der ratio-
nalen Naturbeherrschung, zurück.
Der geschichtsphilosophische Deutungsrahmen, in dem Hork-
heimer das Selbstmiilverstandnis der traditionellen Theorie auf-
zuk!Jren versucht, traut dem historischen Zuwachs an Produktiv-
kraften, ao rationalen Mitteln der Naturbeherrschung, unzwei-
deutig em befreiendes, geradezu fortschrittsgarantierendes
Potential zu; seine Konstruktion, die direkt dem »Enti.ul1erungs-
modell« der Arbeit entlebnt scheint, das Marx der Kapitalismus-
kritik seiner Frühschriften zugrundelegt9, begreift den zivilisato-
rischen Gang der Geschichte als den Prozeil einer schrittweisen
Vervollkommnung der menschlichen N aturbeherrschung, von
deren geglückter Nutzung die Gattung nur die Unkennmis über
die eigene Geschichtsmâchtigkeit trennt. Es ist diese Interpreta-
tionsversion des Widerspruchs zwischen den Produktivkriften
und den Produktionsverhaltnissen, in der die Produktivkr2fte als
befreiendes Potential, deren planungslose Organisation im Kapi-
talismus jedoch nur ais Ausdruck der menschlichen Selbsttau-
schung gelten, die nun Horkheimers Versuch einer Grundlegung
der kritischen Gesellschaftstheorie bestimmt.
Die erste Eigenart einer kritischen Theorie kann Horkheimer zu-
nichst ohne Probleme ex negativo, nlmlich aus der Vermeidung
des Grundfehlers der traditionellen Theorie herleiten.. Wâhrend
diese sich dadurch, dail sie ihre Verfahrensweise allein nach er-
kenntnisimmanenten Kriterien zu begründen künnen glaubt, von
ihrer eigenen handlungspraktischen Herkunft entfremdet hat,
16
halt sich Theorie im Sinne der Kritik ihren Konstiturionszusam-
menhang standig bewuBt. Die Selbsterkennmis, zu der die mate-
rialistische Deutung die traditionelle Theorie von auBen gleich-
sam erst bewegen muil, ist erste Aufgabe und innerstes Prinzip
einer kritischen Theorie: in ungefahrer Wiederholung der Formel
Karl Korschs, derzufolge der historische Materialismus sich auch
immer auf sich selbst anwenden künnen lassen muil, spricht
Horkheimer an einer Stelle seines Aufsatzes davon, da6 der »Ein-
fluil der gesellschaftlichen Entwicklung auf die Struktur der
Theorie . zu ihrem eigenen Lehrbestand« ro gehürt. Wie aber
kann Horkheimer nun den sozialen Praxiszusammenhang, an
dem sich ais ihren Konstitutionsgrund kritische Theorie selbstre-
flexiv gebunden weiil, kategorial niher bestimmen, wenn seine
geschichtsphilosophische Eingangsüberlegung doch alie soziale
Praxis auf die Arbeitstâtigkeit der menschlichen Gattung redu-
ziert? ln der Beantwortung dieser Frage zeigt sich eine erste
Ambivalenz, zu der Horkheimer in der Einlosung der Ansprü-
che, die er an eine kritische Gesellschaftstheorie richtet, durch
seine Geschichtsphilosophie gezwungen ist.
Einerseits bindet Horkheimer die kritische Theorie konsequent
an dieselbe TJtigkeitsweise der menschlichen Gattung zurück,
aus der ihrem eigenen Selbstverstiindnis zum Trotz auch die tra-
ditionelle Theorie hervorgegangen sein soll. Beide Theorietypen
wà:ren dann gleichermaBen unselbstfodige Ausdrucksformen des
zivilisatorischen Prozesses der Narnrbeherrschung; in die kriti-
sche Theorie jedoch wfre ein realitã:tsüberschie~endes, über die
immanenten Entwicklungspotentiale der Produktivkri.fte aufge-
klirtes Wissen eingelassen. Diese Interpretation legt Horkheimer
überall dort nahe, wo er von einer dem Arbeitsprozeil innewoh-
nenden Tendenz auf »Erhaltung, Steigerung und Entfaltung des
menschlichen Lebens«u spricht; das Bewuiltsein dieser immanen-
ten Entwicklungsrichtung ist dann die kritische Theorie selbst:
»Indem nun in der neueren Geschichte von jedem Individuum gefordert
ist, da-B es die Zwecke des Ganzen zu seinen eigenen mache und seine
eigenen im Ganzen wiedererkenne, besteht die MOglichkeit, da-B die ohne
bestimmte Theorie und als Resultate bestimmter Krafte eingeschlagene
Richmng des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses, an deren Wendepunk-
ten zuweilen die Verzweiflung der Massen den Ausschlag gab, ins
Bewuíhsein aufgenommen und zum Ziel gemacht wird. Das Denken
17
spinnt dies nicht aus sich heraus, es kommt v.ielmehr i.iber seine eigene
Funkrion ins klare.«12
Dieser Gedankengang ist in dem geschichtsphilosophischen
Denkrahmen, den Horkheimer vorschlagt, auf den ersten Blick
schlüssig: wenn der Gang der Menschheitsgeschichte im ganzen
als ein ProzeB der stufenweisen Vervollkommnung der Naturbe-
herrschung begriffen werden kann, dann stellt jede Gesellschaft,
deren organisatorische Verfassung die den Produktivkriiften ein-
sitzenden Freiheitsmüglichkeiten bremst oder nicht voll aus-
schüpft, einen Zustand nur partiell realisierter Vernunft dar; zu
vollkommener Vernunft, die »identisch mit der Beherrschung der
Natur in und auBer uns« durch freien EntschluB wafe1
3, geleitet
sie erst ein Wissen, das, weil es sich in die Fortschrittsentwicklung
der menschlichen N aturbearbeitung hineinversetzt sieht, über die
gegenwartssprengenden Potentiale der Produktivktafte aufzukla-
ren vermag - in diesem Sinn spricht Horkheimer davon, daB »die
Idee einer vernünftigen, der Allgemeinheit entsprechenden gesell-
schaftlichen Organisation . . der menschlichen Arbeit irnmanent
ist«. 1
4 Die Logik dieser Argumentation laBt nun allerdings unklar,
wie eine kritische Theorie dieses Zuschnitts, also als imellektuelle
Verlingerung des Arbeitsprozesses zweiter Stufe, von der metho-
dologisch andersartigen Struktur sein soll, die eine Kritik der
existierenden Gesellschaft soll tragen künnen. Wenn Horkhei-
mers Rückführung der traditionellen Theorie auf die in die
Arbeitshandlung eingelassenen Erkenntnisleistungen in sich trif-
tig sein soll, dann eignet sich das von diesem Theorietyp bereit-
gestellte Wissen prinzipiell nur zur Erklarung und Prognose
empirischer Vorgi:inge; es enthi:ilt in sich nicht das Reflexionsmo-
ment, das nütig ware, um eine existierende Sozialordnung auf die
Spielriiume hin zu hinterfragen, die sie der Entfaltung der Pro-
duktivkrifte gewiihrt. Diese methodische Lücke kann auch ein
hüherstufiges Wissen, ein Wissen um die Richtung der verwissen-
schaftlichten Naturbeherrschung, nicht füllen: denn selbst eine
sich auf den gesellschaftlichen Arbeitsprozeg bewufü rückbezie-
hende Theorie, die statt der faktischen Naturvorgiinge die imma-
nente Entwicklungslogik gesellschaftlicher Arbeitsvollzüge zum
Gegenstand hiitte, künnte diese zwar fiktiv in die Zukunft hinein-
projizieren, sie aber nicht wiederum zum MaBstab einer Kritik
des sozialen Lebenszusammenhangs machen - denn dazu be-
18
dürfte eine solche Theorie allein schon des geschichtsphilosophi-
schen Wissens, das Horkheimer seiner eigenen Argumentation
zugrundelegen muB, um eine Gesellschaft an ihrer entwicklungs-
bremsenden Organisation der Arbeit zu kritisieren. Horkheimer
sieht den Selbstwiderspruch, in die diese Imerpretation des so-
zialen Konstitutionszusammenhangs kritischer Theorie hinein-
führen würde, offenbar selbst:
»Ein Verhalten, das, auf diese Emanzipation gerichtet, die Ver::inderung
des Ganzcn zum Ziel hat, mag sích wohl der theoretischcn Arbeit bedie-
nen, wie sie sich innerhalb der Ordnungen in der bestehenden Wirklich-
keit vollzieht. Es entbehrt jedoch des pragmacischen Charaktcrs, der sich
aus dem traditiooellcn Dcnken ais eincr gesel!schaftlich nützlichen Be~
rufsarbeit ergibt.«15
Das traditionelle Denken stellt eine intellektuell objektivierte
Form des in dem gattungsgeschichtlichen ProzeB der Naturbe-
herrschung angesammelten Wissens dar; es besitzt pragmatischen
Charakter, weil es wissenschaftliche Aufgaben, die die Repro-
duktion einer etablierten Produktionsordnung aufgibt, durch den
Entwurf eines Aussagensysterns lüst, das faktische Naturvor-
ginge zu erkhren und zu prognostizieren erlaubt. Theorien
dieses Typs flieBen ebenso, wie sie aus der praktischen Auseinan-
dersetzung des Menschen mit der N atur hervorgehen, auch wie-
der als optimierendes Kontrollwissen in den ProzeB gesellschaft-
licher Naturbeherrschung zurück. Auch eine hüherstufige
Reflexion derselben handlungspraktischen Herkunft, die die im-
manente Entwicklungsdynamik des gesellschaftlichen Arbeits-
prozesses selbst sich zu Bewufüsein führt, kann diesen Verwen-
dungsrahmen nicht sprengen; sie vermag, gerade in Konsequenz
der Argumentation Horkheimers, nur ein technisches Wissen zu
liefern, das bestenfalls die zukünftigen Anwendungsbedingungen
hochentwickelter Produktivkrafte zu antizipieren, nicht jedoch
deren gegenwirtige Organisationsweise zu kritisieren zul:ifü. Die
wissenschaftliche Perfektionierung der Naturbeherrschung führt
in sich nicht zu dem »vernünftigen Entschlu!1«, der dadurch, daB
er das emanzipative Potential der Produktivkrifte der bewufüen
Kontrolle der Produzenten unterstellt, die menschliche Selbsttiu~
schung durchstüfü. Daher bringt Horkheimer neben dieser er-
sten, unzureichenden Version noch eine zweite Interpretation des
sozialen Konstitutionszusammenhangs einer kritischen Theorie
19
ins Spiel; in dieser Version wei:6 sich die kritische Theorie nicht
als immanenten Bestandteil des Entwicklungsprozesses der
menschlichen Arbeit, sondem als theoretische Ausdrucksform
eines vorwissenschaftlichen )>kritischen Verhaltens«. Dieser
Verhaltenstyp ist nicht >)pragmarisch«, wie die Arbeitstatigkeit, in
den SelbsterhaltungsprozeJ3 der Gesellschaft eingebam, sondem
distanziert auf das Ganze des sozialen Lebenszusammenhangs
bezogen:
,,Es gibt nun ein menschliches Verhalten, das die Gesellschaft selbst zu
seinem Gegenstand hat. Es ist nicht nur darauf gerichtet, irgendwelche
MiBstlnde abzustellen; diese erscheinen ihm vielmehr ais notwendig mit
der ganzen Einrichrung des Gesellschaftsbaus verknüpft. Wenngleich es
aus der gesellschaftlichen Struktur hervorgeht, so ist es doch wcdcr seiner
bewufüen Absicht noch seiner objektiven Bedeutung nach darauf bezo-
gen, daB irgend etwas in dieser Struktur besser funktioniere. Die Kate-
gorien des Besseren, Nützlichen, Zweckmafügen, Produktiven, Wertvol-
len, wie sie in dieser Ordnung gelten, sind ihm vielmehr selbst verdi:i.chtig
und keineswcgs auBerwissenschafdiche Voraussetzungen, mit denen es
nichts zu schaffen hat.«'6
Es ist dieser Gedankengang, der Horkheimer nun nicht nur zu
einer andersartigen Bestimmung der sozialen Konstitutionsbe-
~ingunge~ kritischer Theorie, sondem auch zur Herausarbeitung
1hrer zwetten theoretischen Eigenart leitet. Zunachst stellt die zi-
tierte Überlegung eine Weise menschlichen Verhaltens vor, die
nicht die Natur, sondem die »Gesellschaft selbst« zu ihrem Ge-
genstand hat; gemeim ist damit hier nicht eine Verlangerung der
Naturbeherrschung in das Innere des gesellschaftlichen Lebens-
zusammenhangs hinein als Sozialkontrolle, sondem ein über die
sozial etablierte Funktionsordnung hinausweisendes Verhalten.
Horkheimer schwebt ganz offensichtlich ein Typ von praktisch-
gesellschaftsverandernder T2.tigkeit vor Augen, an die eine kriti-
sche Theorie der Gesellschaft sich zurückgebunden wissen kann.
Dieses Argument, das auf eine Dimension sozialer Kampfe direkt
Bezug nimmt, hat freilich in dem geschichtsphilosophischen
Denkrahmen, den Horkheimer bisher zugrundelegt, systematisch
keinen Raum: solange dieser niimlich den Gang der Menschheits-
geschichte auf den naturwüchsigen Entfaltungsprozefl der Natur-
beherrschung red1:1ziert, kann er eine andersartige Form sozialer
Praxis, die statt auf produktive, standig erweiterte Selbsterhaltung
20
auf eine neue Organisationsweise gesellschaftlicher Selbsterhal-
mng abzielt, kategorial nicht fassen. Hierin wiederholt sich für
Horkheimer nur ein begriffliches Dilemma des frühen Mar:x; des-
sen Feuerbach-Thesen begreifen im vagen Oberbegriff der ,,Pra-
xis« den geschichtlichen LebensprozeB der Gatmng erkenntnis-
theoretisch und geschichtsphilosophisch als naturumarbeitende,
produktive Tatigkeit, ohne dadurch dem Begriff der ,,praktisch-
kritischen Tatigkeit«, in dem der gleiche Text unzweideutig eine
politisch-emanzipatorische Ver3nderungspraxis bezeichnet, im
kategorialen Rahmen eigentlich noch einen Ort zu gewahren. 1
1
Klarer kann daher der Gedankengang, den Horkheimer sich mit
dem Begriff des »kritischen Verhaltens« erõffnet, erst dann wer-
den, wenn er ihn bis an die Stelle weiterverfolgt hat, die nun die
zweite methodische Eigenart einer kritischen Gesellschaftstheorie
herausarbeitet.
Die methodologische Abgrenzung der kritischen Theorie von der
traditionellen Theorie setzt Horkheimer in einer Überlegung
fort, die die unterschiedliche An und Weise, in der sich in den
beiden Theorietypen jeweils das Erkennmissubjekt auf das Un-
tersuchungsobjekt bezieht, zu bestimmen versucht. ln der natur-
umarbeitenden Tã:tigkeit, als deren theoretisch objektivierte
Ausdrucksform die traditionelle Theorie gelten darf, bezieht das
handelnde Subjekt sich auf ein natürliches Geschehen, das eine
praxisunabhiingige Realitiit darstellt; zwar nimmt der Mensch
manipulativ Eingriffe in dieses Naturgeschehen vor, aber doch
nur so, daB er sich eine subjekttranszendente Gesetzmafügkeit
zunutze macht. Das Experiment repr3sentien auf dem Niveau
wissenschaftlicher Theorien diese naturumarbeitende Tarigkeit;
ebenso wie dort das Handlungssubjekt nimmt das Erkenntnis-
subjekt im wissenschaftlichen Experiment, in dem es zum
Zwecke eines »Anschauungsunterrichts« künstlich Reaktions-
prozesse der Natur erzeugt, auf eine sich auch nach dem experi-
mentellen Eingriff gleichbleibende Wirklichkeit Bezug. Daher ist
die wissenschaftliche Erkenntnis im Falle traditioneller Theorien
dem Untersuchungsgegenstand selber auBerlich. Dieses Verhiilt-
nis zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt mufl sich
freilich, sobald es sich um eine kritische Gesellschaftstheorie han-
delt, wandeln. Horkheimer zeigt auf, wie nun, da die Theorie die
)>Gesellschaft selbst« in der Absicht der Kritik zum Gegenstand
21
hat, das »kritische Verhalten«, ais dessen irnellektuell objektivier-
ten Ausdruck sie sich begreíft, selbst Teil des umersuchten
Realiti:itszusarnmenhangs ist; mithin sind Subjekt und Objekt der
kritischen Theorie sich nicht in derselben Weise auBerlich wie im
Falle traditioneller Theorien:
»Die Sache, mit deres der Fachwissenschaftler (der tradítionellen Theo-
rie, A. H.) zu tun hat, wird von seiner eigenen Theorie überhaupt nicht
berührt. Subjekt und Objekt sind streng getrennt, auch wenn es sich
zeigen sollte, dali in einem spiiteren Zeitpunkt das objektive Geschehen
durch menschlichen Zugriff beeinflufü wird; dieser ist in der Wissen-
schaft ebcnso als Faktum zu betrachten. Das gegenstandliche Gcschehen
ist der Theorie transzendent, und die Unabhiingigkeit von ihr gehürt zu
seiner Notwendigkeit: der Betrachter als solcher kann nichts daran iin-
dern. Zur Entwicklung der Gesellschaft gehbrt aber das bewufüe kriti-
schc Verhalten mit hinzu. Die Konstruktion des Geschichtsverlaufs ais
notwcndigen Produkts eines 0konomíschen Mechanismus enthalt zu-
gleich den selbst aus ihm hcrvorgehenden Protest gegen diese Ordnung
und die Idee der Selbstbestimmung des menschlichen Geschlechts, das
heifü eines Zustands, in dem seine Taten nicht mehr aus einem Mecha-
nismus, sondem aus seinen Entscheidungen flief;en ... Den Gcgenstand
der Theorie von ihr getrenm zu denken, verfiilscht das Bild und führt
zum Quietismus oder Konformismus. Jeder ihrer Teile setzt die Existenz
von Kritik und Kampf gegen das Bestehende in der von ihr selbst be-
stimmten Richtung voraus.« 18
Horkheimer schlieíh an die zweite Interpretationsversion, in der
er die kritische Gesellschaftstheorie als wissenschaftliche Objek-
tivationsform einer praktisch-kritischen Tatigkeit faBt, an und
erweitert síe sogleich: denn die Theorie ist nun nicht mehr nur das
intellektuelle Produkt einer auBertheoretischen Veri:inderungs-
praxis, sondem bestimmt zudem permanent auch deren Richtung
mit. Daraus zieht Horkheimer an dieser Stelle den SchluE: nur
weil die kritische Theorie auf dieselbe soziale Praxis, durch die sie
sich hervorgebracht weig, sti:indig auch handlungsorientierend
einwirkt, ist sie ein praluisch-veri:inderndes Moment in der gesell-
schaftlichen Wirklichkeit, die sie als Theorie untersucht. Das
gewandelte Verhiltnis von Subjekt und Objekt markiert eine
zweite methodische Eigenart kritischer Gesellschaftstheorie;
diese hat nunrnehr der traditionellen Theorie nicht mehr allein das
Wissen um die praktischen Bedingungen ihrer eigenen Entste-
hung voraus, sondem zugleich die kontrollierte Selbstanwendung
als handlungsleitendes Wissen im politischen Praxiszusammen-
hang der Gegenwan. Dadurch, daB die Theorie sich ihren histo-
rischen Konstitutionszusammenhang bewu:Bt zu machen und
ihren politischen Verwendungszusammenhang vorwegzunehmen
versucht, ist sie potentiell, wie Horkheirner noch .im Jahre r937 in
der Begrifflichkeit des linkshegelianischen Marxisrnus der zwan-
ziger Jahre schreibt, das >)Selbstbewuíhsein der Subjekte einer
groBen geschichtlichen Umwi:ilzung((. )9 Diese Formulierung, die
unzweideutig die kritische Theorie in einer Dimension des so-
zialen Kampfes - und eben nicht der gesellschaftlichen Naturbe-
herrschung - verankert, streicht das Miflverh:iltnis, das zwischen
erkenntnistheoretischer_Bestimmung und zugrundegelegter Ge-
schichtsphilosophie besteht, drastisch heraus. Horkheimer
nimmt für die Analyse des praktischen Konstitutionszusammen-
hanges der kritischen Theorie einen Begriff von sozialer Praxis in
Anspruch, der umfassender ist als derjenige, den sein geschichts-
philosophisches Modell zula-Bt. Die Herausbildung und Entwick-
lung menschlicher Gesellschaften wird auf der Ebene der Ge-
schichtsphilosophie, die den Rahmen für die Ideologiekritik der
traditionellen Theorie abgibt, auf den ProzeB der menschlichen
Narnrbeherrschung allein zurückgeführt; die naturaneignende
Arbeitst:itigkeit stellt die Dimension dar, in der sich die Mensch-
heitsgeschichte entlang einer Linie wachsenden Reichtums be-
wegt; die Naturwüchsigkeit dieses Fortschrittsprozesses wird
erst in dem historischen Augenblick aufgesprengt, in dem die
Gattung sich in ihrer produktiven Titigkeit, .in der sie den so-
zialen Lebenszusarnmenhang immer schon erzeugt, auch wieder-
erkennt. Auf der Ebene der methodologischen Selbstreflexion der
kritischen Theorie jedoch rechnet Horkheimer in seiner zweiten
Interpretationsversion mit einer Dimension praktisch-kr.itischer
Titigkeit; die soziokulturelle Entwicklung bewegt sich in den
Bahnen der gesellschaftlichen Produktion und des sozialen
Kampfes zugleich. Dieser Kampf ist zwar an den wirtschaftlichen
Prozefl der Produktivkraftentwicklung rückvermittelt, da der ihn
anleitende »Protest((, wie Horkhe.imer unklar formuliert, aus dem
)>0konomischen Mechanismus(( hervorgehr20
; die Struktur der
Handlung hingegen, die dem sozialen Kampf zugrundeliegt, ist
von einer anderen Art als die der naturaneignenden Arbeitstatig-
keit.
23
wahrend in der gesellschaftlicben Arbeit die menschliche Gat-
tung im MaEe der praktischen Bezwingung von Naturprozessen
ihr soziales Leben erhalt und erweitert, stellt das kritische Verhal-
ten eine existierende Organisationsweise dieses Prozesses gesell-
schafdicher Selbsterhalrung gerade in Frage. Der Arbeistatigkeit
entspricht die AuEerlichkeit einer objektiv vorgegebenen Natur-
macht; von ihr emanzipiert sich der Mensch durch ein technisches
Wissen, das die praktischen Erfolge in der zweckgerichteten Ma-
nipu.1ation des Naturgeschehens sammelt. Der praktisch-kriti-
schen Tatigkeit entspricht die Geschichtlichkeit eines sozial
hergestellten Produktionsverhiilmisses; dieses beruht, solange
»die materielle und ideologische Macht zur Aufrechterhaltung
von Privilegien funktioniert«2
1, auf Gewalt und Unterdrückung;
von diesem sozialen Gewaltverhiiltnis befreit ein kritisches Wis-
sen, das in der )>Verschiirfung des Kampfes~,n sein Ziel hat.
Bezieht die gesellschaftliche Arbeit ihren Amrieb also aus einem
objektiven Überlebensdruck, so entwachsen die Motive der prak-
tisch-kritischen Tatigkeit der subjektiven Erfahrung einer >>herr-
schenden Ungerechtigkeit«2
 die mit einer gegebenen Verteilung
der gesellschaftlichen Arbeit auf soziale Klassen strukturell ver-
knüpft ist; daher rechnet Horkheimer die naturumwandelnde
Arbeitstiitigkeit, die das soziokulturelle Überleben überhaupt si-
chert, der menschlichen Gattung insgesamt als real gewordenes
Transzendentalsubjekt zu, w::ihrend er die kritische Praxis des
sozialen Kampfes aHein den Teilgruppen eines sozialen Lebens-
zusammenhangs zurechnet, die vom Privileg der Aneignung des
gesellschaftlichen Reichtums ausgeschlossen sind.
Die Einschriinkung des Subjekts kritischen Verhaltens auf ein-
zelne Gruppen oder Klassen zeigt an, dlli der soziale Kampf,
anders als die der Gattung objektiv aufgezwungene Naturbear-
beitung, in einen ProzeB der erfahrungsvermittelten Imerpreta-
tion der historischen Situation eingebettet ist; nur ein solcher
Handlungsrahmen, in dem die Tiitigkeiten der Subjekte nicht
durch eine allen gemeinsame, unter dem Selbsterhaltungszwang
vereinheitlichte Sichtweise, sondem von divergierenden, n::imlich
erfahrungsgepriigten Sichtweisen angetrieben werden, kann er-
kliiren, warum Horkheimer der praktisch-kritischen Tiitigkeit als
Handlungstriiger nur Teilgruppen der menschlichen Gattung
korrespondieren laBt. ln dieser Dimension gesellschaftlicher Pra-
xis, des sozialen Kampfes also, treten sich panikulare Realitats-
deutungen, die Ausdrucksformen konfligierender Interessenla-
gen sind, gegenüber, um über die Gerechtigkeit eines gesellschaft-
lichen Produktionsverhiiltnisses zu streiten. Deshalb begreift
Horkheimer den praktischen Anwendungsrahmen der kritischen
Theorie als den ProzeB einer dialogisch an die unterdrückte
Klasse rückvermittelten Interpretation der gesellschaftlichen
Wirklichkeit im Lichte erfahrenen Unrechts:
» Wird jedoch der Theoretiker und seine ihm spezifische Aktivitat mit der
beherrschten Klasse als dynamische Einheit gesehen, ~o daB seine Dar-
stellung der gesellschafdichen Widersprüche nicht bloB als ein Ausdruck
der konkreten historischen Situation, sondem ebensosehr als stimulieren-
der, verandernder Faktor in ihr erscheint, dann tritt die Funktion der
k.ritischen Theorie hervor. Der Gang der Auseinandersetzung zwischen
den fortgeschrittenen Teílen der Klasse und den Individuen, welche die
Wahrheit über sic aussprcchcn, und ferner die Auseinandersetzung zwi-
schen diesen fortgeschrittensten Teilen mitsamt ihren Theorctikern und
der übrigen Klasse ist ais ein ProzeB von Wechselwirkungen zu verstc-
hcn, bei dem das BewuBtsein mit seinen befreienden zugleich seíne
antreibenden, disziplinicrenden, gewalttãtigen Krãfte entfaltet.«24
Horkheimer hat die spezifische Struktur der sozialen Praxis, die
er mit dem Titel des >}kritischen Verhaltens{( bezeichnet, nicht
weiter aufgeklart. Zwar erüffnet der Gedanke einer dialogisch
vermittelten Anwendung kritischer Gesellschaftstheorie die Ein-
sicht in die Imerpretationsabhiingigkeit von sozialen Erfahrun-
gen; für eine begrifflich weiterreichende Abgrenzung der Katego-
rie des ,~kritischen Verhaltens« gegenüber der Kategorie der
»gesellschaftlichen Arbeit« nutzt Horkheimer dies aber nicht -
der Begriff der praktisch-kritischen Tiitigkeit bleibt theoretisch
eigentümlich konturlos. Im Gegenteil, auf der Ebene seiner ge-
schichtsphilosophischen Grundannahmen hat Horkheimer die
Dimension einer alltiiglichen Kritik, in die die Theorie sich hin-
einversetzt weiB, weil sie an dem kooperativen ProzeB einer
Interpretation der Gegenwart im Interesse an der Aufhebung er-
littenen Unrechts teilhat, restlos ausgespart. Hier ist es, als babe
die zentrale Stellung, die der Arbeicsbegriff dadurch einnehmen
kann, daB die Geschichte menschlicher Gesellschaften im ganzen
als ProzeB gesellschaftlicher Naturbeherrschung begriffen wird,
den Begriff des sozialen Kampfes einfach verdr3.ngt. Dieser kate-
25
goriale Reduktionismus hindert Horkheimer daran, die hand-
lungspraktischen Bestandteile sozialer Auseinandersetzungen
und Konflikte als solche zu erfassen; die Handlungsdimensionen
sozialer Kiimpfe nimmt er, seiner erkenntnistheoretischen Be-
stimmung der kritischen Theorie zum Trotz, ais eigenstiindige
Sphare gesellschaftlicher Reproduktion kategorial nicht ernst.
Dadurch aber begibt Horkheimer sich der MOglichkeit, die inter-
pretative Organisation sozialer Realitiit zureichend zu berück-
sichtigen; die Folge ist, wie sich zeigen wird, ein soziologisches
Defizit in der imerdisziplinaren Sozialwissenschaft, die Horkhei-
mer als Ein!Osung des Programms einer kritischen Theorie der
Gesellschaft versteht.
Die politische Orientierungslosigkeit, vor die das Institut für So-
zialforschung sich in den dreifüger Jahren gestellt sah, mag zur
begrifflichen Ambivalenz der Argumentation Horkheimers bei-
getragen haben. In diesem Fall hatte die faktische Unsicherbeit
über den politisch-praktiscben Verwendungszusammenhang der
Theorie eine geschicbtsphilosophisch angemessene Berücksichti-
gung der Dimension sozialer Kampfe geradezu verhindert; die
Sphare kritischen Verhaltens wfre, weil die Gesellschaftstheorie
ihrer für die historische Gegenwart unsicher "ist, aus dem katego-
rialen Rahmen der Interpretation von Geschichte überbaupt aus-
gespart worden. In der Tat kennzeichnet eine politische Irrita-
tion, die durchaus die Quelle einer solchen vorschnellen
Verallgemeinerung hat sein künnen, den politischen Charakter
der Schriften Horkheimers in jener Zeit. Denn diese lassen einer-
seits keinen Zweifel daran aufkommen, daB eine kritische, auf
politische Praxis abzielende Theorie der Gesellschaft unter den
Bedingungen des Kapitalismus ihren Adressaten einzig in der so-
zialen Klasse der Lohnarbeiter, dem Proletariat, zu suchen hat;
nur die proletarische Klasse ist aus sozialstrukturellen Gründen
einer theoretischen Aufklirung zuganglich und zur politischen
Umwalzung bereit. Andererseits jedoch sind in diesen Schriften,
unter dem Erfahrungsdruck von nationalsozialistischer Machter-
greifung und stalinisiertem Kommunismus, die Zweifel daran
schon erheblich gewachsen, ob unter den gewandelten Bedingun-
gen des postliberalen Kapitalismus das Proletariat tatsiichlich das
durch Unterdrückungserlebnisse und Krisenerfahrungen standig
aktualisierte Vetanderungspotential noch aufbringt, an das die
marxistische Revolutionskonzeption ihre Erwanungen knüpft.2
5
Der empirischen Beantwortung des in diesem Zwiespalt enthalte-
nen Problems dient ein Groíheil der sozialwissenschaftlichen
Theoriebildung und Forschungsarbeit des Instituts für Sozialfor-
scbung wiihrend der dreifügerJahre; ihr leitendes Motiv bildet die
Frage, »wie die psychischen Mechanismen zustandekommen,
durch die es müglich ist, daB Spanmmgen zwischen den gesel1-
schaftlichen Klassen, die auf Grund der Okonomischen Lage zu
Konflikten driingen, latent bleiben künnen.« 26
Auf die Umersu-
chung dieses Zusammenhangs ist das Programm einer interdiszi-
plinfren Sozialwissenschaft, das Horkheimer zu Beginn der
dreifüger Jahre entwirft, zugeschnitten.
Horkheimer ist sich schon in dem 1931 gehaltenen Vortrag über
die ),Gegenwirtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgabe
eines Instituts für Sozialforschung«, der seine Übernahme des
Direktorats des Frankfurter Instituts zum AnlaB hat, darüber im
klaren, daB eine kritische Theorie der Gesellschaft, die sich dem
schwierigen Anspruch einer Reflexion sowohl ihres sozialen Ent-
stehungszusammenhangs wie ihrer politischen Verwirklichungs-
müglichkeit stellt, ihre Aufgabe nur in interdisziplinafer Einstel-
lung erfüllen kann. Das Modell, das er zu diesem Zweck
pr;isentiert, ist das einer »fortwahrenden dialektischen Durch-
dringung und Entwicklung von philosophischer Theorie und
einzelwissenschaftlicher Praxis«27
; Horkheimer hat eine kritische
Theorie vor Augen, die im stiindigen Ineinander von philosophi-
scher Gegenwartsdiagnose und einzelwissenschaftlicher For-
schungsarbeit die Strukturbedingungen und Handlungsfolgen der
kapitalistischen Krise untersucht. Der im Jahr darauf in der »Zeit-
schrift für Sozialforschung,< verüffentlichte Aufsatz »Geschicbte
und Psychologie« unternimmt den Versuch, das skizzenhaft ent-
worfene Programm theoretisch zu erweitern und zu konkretisie-
ren. Das geschichtsphilosophische Denkmodell, das spiter den
Rahmen für die methodologische Positionsbestimmung kritischer
Theorie abgeben wird, findet sich hier in Gestalt einer materiali-
stischen Umdeutung der Geschichtsphilosophie Hegels; es dient
als Interpretationsfolie für die Aufgabe, die einzelwissenschaftli-
chen Disziplinen in einem sachangemessenen Theoriegefüge zu
integrieren. Horkheimer zeigt, daB die materialistische Ge-
schichtsauffassung dem Hegelschen Begriff von Geschichte zwar
verpflichtet ist, da sie die Idee eines überindividuellen, die Imen-
tionen aller Einzelsubjekte übersteigenden Handlungszusam-
menhangs aufnimmt, ihm jedoch im gleichen Maise auch entge-
gensteht, da sie statt auf die Entfaltung des absolmen Geistes den
Gang der Menschheitsgeschichte auf die Entwicklung der
menschlichen Naturbeherrschung zurückführt. Es ist dieser kri-
tisch gegen Hegel gerichtete Gedanke, der nun die für den frühen
Horkheimer charakteristische Idee eines den soziokulturellen
Fortschriü aus sich heraussetzenden Prozesses der gesellschaftli-
chen Arbeit ins Spiel bringt:
»Dic Erkenntnis der realen Zusammenhange entthront den Geist ais au-
tonom die Gcschichte gestaltende Macht und setzt die Dialektik zwi-
schen den verschiedenar.tigen in der Auseinandersetzung mit der Natur
wachsenden menschlichen Kraften und veralteten Gesellschaftsformen
als Motor der Geschichte ein. Nach ihr (der ókonomischen Ge-
schichtsauffassung, A. H.) zwingt die Erhaltung und Erneuerung des
gesellschaftlichen Lebens den Menschen jeweils eine bestimmte soziale
Gruppenordnung auf.«28
Horkheimer legt einen Prozeíl der Produktivkraftentwicklung
zugrunde, der mit jeder neuen Stufe des technischen Systems der
Naturbeherrschung auch eine neue Stufe der sozialen Organisa-
tion der gesellschaftlichen Produktion erzwingt; die Dimension
des sozialen Kampfes jedoch, die als Konstitutionsgrund kriti-
scher Theorie in der erkenntnistheoretischen Studie eine so zwie-
spaltige Rolle einnehmen wird, ist aus diesem Konzept gesell-
schaftlicher Entwicklung noch vollkommen ausgeklammert.
Naturbeherrschung, Selbsterhaltung allein in Prozessen gesell-
schafdicher Arbeit, ist die einzige Dimension, in der sich der
soziokulrurelle Fortschritt bewegt; ausdrücklich setzt Horkhei-
mer den ))LebensprozeB einer Gesellscbaft« mit der i,Auseinan-
dersetzung mit der N atur« gleich_1.
9 Dieses kategorial verengte
Geschichtsmodell, ein bestimmender Bestandteil der frühen kriti-
schen Theorie Horkheimers, bildet den theoretischen Sockel, auf
dem er das Gebiude einer interdisziplinafen Sozialwissenschaft
errichtet. Die Einzelwissenschaft, die dann die unumstrittene
Rolle einer sozialwissenschaftlichen Grundlagendisziplin erhal-
ten muB, ist die politische Ôkonomie; die ükonomischen Katego-
rien allein erfassen, weil die Zivilisationsgeschichte als der ProzeB
einer sich stufenweise von den Fesseln überalteter Produktions-
verhiiltnisse befreienden Produktivkraftentwicklung transparent
geworden ist, die objektive Struktur eines sozialen Lebenszusam-
menhangs: »Gliedert sich die Geschichte aber nach den verschie-
denen We.isen, in denen sich der LebensprozeB der menschlichen
Gesellschaft vollzieht, so sind nicht psychologische, sondem
Okonomische Kategorien historisch grundlegend.«30
ln der Kon-
sequenz dieses Arguments kann Horkheimer die Zentralkatego-
rien der Marxschen Kapitalanalyse als die sozialwissenschaftli-
chen Begriffe identifizieren, in denen die kapitalistische Form des
gattungsgeschichtlichen Prozesses der Naturbeh~:rschung zur
Bestimmung gelangt; die von Marx ausgearbeitete Okonomie er-
schlieBt, da sie den Entwicklungsstand und die Organisations-
weise des kapitalistischen Systems gesellschaftlicher Selbsterhal-
mng kategorial umfaíh, das Gesamt des die Intentionen aller
Einzelsubjekte übersteigenden Handlungszusammenhangs dieser
Epoche.
Freilich ist Horkheimer sich bewufü, daB die Okonomische Theo-
rie des Kapitalismus, die das Rückgrat der interdisziplinafen
Sozialwissenschaft bilden soll, mit ihrem Untersuchungsgegen-
stand historisch gleichsam mitwandern muB; den internen Struk-
mrwandel, den das kapitalistische System der Naturbeherrschung
seit seiner liberalen Ara vollzogen hat, muB die kritische Theorie,
will sie Ausdruck einer aktuellen Geschichtssituation sein, sach-
lich nachvollziehen. Für den Horkheimer der dreifüger Jahre,
dem als Õkonom im lnstitut für Sozialforschung Friedrich Pol-
lock zur Seite steht31, stellt sich die Aufgabe der Okonomischen
Disziplin dann darin, die aus dem Konzentrationsprozefi des Ka-
pitals heraustreibende Tendenz zur planwirtschaftlichen Organi-
sation des Kapitalismus zu untersuchen; auf dieser Linie liegen
auch die rechts- und staatstheoretischen Arbeiten Franz Neu-
manns und- Otto Kirchheimers, die die juristische und politische
Mediatisierung der kapitalistischen Krisendynamik zum Gegen-
stand haben.32 Horkheimer jedoch thematisiert die postliberale
Entwicklungssmfe der kapitalistischen Produktionsweise, die das
Steuerungsmedium des Marktes durch die Planungsorgane wirt-
schaftlicher Machteliten, die »Fabrikanten« des liberalistischen
Zeitalters durch die »Monopolist'en(( einer kapitalistischen Plan-
wirtschaft ersetzt hat33, primar als das ükonomische Strukturge- ,
foge, dessen psychische lnnenseite die zweite Teildisziplin d:: 1
~
interdisziplinaren Sozialwissenschaft, die Psychologie, zu erkla-
ren hat.
Das Argument, mit dem Horkheimer die Psychologie als die der
Okonomischen Theorie komplementã:re Teildisz.iplin einer kriti-
schen Sozialforschung vorstellt, klingt vertraut; es formuliert den
theoretischen Konsens, vor dessen gemeinsamen Hintergrund die
,<Freudsche Linke« (1Vlarcuse) in den zwanziger und dreifüger
Jahren Anstrengungen zur Integration voo historischem Materia-
lismus und psychoanalyt.ischer Theorie unternahm.34 Horkhei-
mer wendet sich gegen eine gesellschaftstheoretische Überstrapa-
zierung des in der êikonomischen Theorie vorausgesetzten
Erkliirungsmodells: eine Theorie der Gesellschaft, die von den in
der Wirtschaftstheorie hypothetisch unterstellten Handlungsmo-
tiven auf die Ebene faktischen Handelns zurückschliefü, stützt
sich implizit auf eine dem utilitaristiscben Denken verpílichtete
Trivialpsychologie, die als Motiv sozialen Handelns allein den
»wirtschaftlichen Egoismus« zulaBt; all die psychischen Motiv.e
jedoch, die über die zweckrationale Verfolgung eines privaten
Nutzens hinaus in den sozialen Handlungszusammenhang ein-
fliefien, sind in einer zur Psychologie blofi willkürlich erhobenen
Wirtschaftstheorie ausgespart. An die Stelle einer am rationalisti-
schen Handlungsmodell des Utilitarismus orientierten Trivial-
psychologie hat daher eine Psychologie zu treten, die ihren
Ausgang in der Plastizitat und Verschiebbarkeit des menschlichen
Triebpotentials nimmt; denn erst wenn wir berücksichtigen, da.G
die ein Subjekt treibenden Bedürfnisansprüche nicht nur eine un-
gewOhnliche Vielfalt aufweisen, sondem unter Frustrationsdruck
auch auf kompensatorisch errichtete Triebziele abdrJ.ngbar sind,
kOnnen wir uns sozialwissenschaftlich die Handlungsweisen all
jener sozialen Gruppen erkliiren, die ihrem rationalen Interesse
zuwider an einem gesellschaftlichen Unterdrückungsverhiiltnis
partizipieren. Deshalb mu.G sich eine kritische Theorie der Gesell-
schaft, die die Ursache für die Latenz eines von ihr selbst progno-
stizierten Klassenkonflikts zu ergründen hat, auf eine Psycholo-
gie stützen, die die theoretische Voraussetzung der zweckrationa-
len Motivierung alles menschlichen Handelns hinter sich gelassen
hat:
»Jedenfalls entspringen die Handlungen der Menschen nicht bloB ihrem
physischen Selbsterhaltungsstreben, auch nicht bloG dem unmittelbaren
]O
Geschlechtstrieb, sondem z. B. auch den Bedürfnissen nach Bctatigung
der aggressiven Krafte, ferner nach Anerkennung und Bestiitigung der
eigenen Person, nach Geborgenheit in einer Kollektivitat und anderen
Triebregungen mehr. Die moderne Psychologie (Freud) hat gezeigt, wie
sich solche Ansprüche vom Hunger dadurch unterscheiden, daB dieser
eine direktere und stetigere Befriedigung verlangt, wahrend jene weitge-
hend aufschiebbar, modellierbar und der Phamasiebefriedigung zugãng-
lich sind.«35
Das psychologische Konzept, das die soziale Integration der Sub-
jekte in eine an sich widersprüchliche Produktionsweise zu ana-
lysieren hat, muB so beschaffen sein, daB es 'das menschliche
Antriebsleben ais ein zuniichst plastisches, unter gesellschaftli-
chen Handlungserfordernissen formbares und zu psychischen
Ersatzbildungen sti:indig bereites Triebgeschehen in den Blick tre-
ten lafü. Dann wird versti:indlich, warum die Erfahrung sozialer
Abhangigkeit und Unterdrückung, noch bevor sie zur »Erkennt-
nis(( wird, durch »eine das Bewu.Gtsein verfalschende Triebmoto-
rik((36 gleichsam blockiert und verdriingt wird: die kognitive
ErschlieBung der gesellschaftlichen Realitat, die das Ich zur
Wahrnehmung des Unrechts instand setzen würde, wjrd durch
einen triebdynamischen Prozefi der Verleugnung und Verdri:in-
gung hintertrieben, der an die Stelle erfahrener Ohnmacht die
imaginiire Erfahrung von persünlicher oder kollektiver Macht
setzt; die psychischen Mittel, die diese phantastische Verkehrung
realer Herrschaft ermüglichen, sind Projektion und Identifika-
tion.
Es ist der Dualismus von realitatsgerechter Erkenntnis und irra-
tionalem Triebgeschehen, der den Ort kennzeichnet, an dem
Horkheimer sich den Einbau der Psychologie indas interdiszipli-
ni:ire Gefüge einer kritischen Sozialforschung vorstellt. Der Pro-
ze.G der kapitalistischen Naturbeherrschung, in dem Entwick-
lungsstand und Organisationsweise der gesellschaftlichen Arbeit
in ein eklatantes MiBverhaltnis geraten sind, ist mit einem ProzeB
der individuellen Bedürfnissozialisation verschri:inkt, der das An-
triebspotential der Subjekte indas etablierte Umerdrückungsver-
haltnis einpafü; dies geschieht in einem triebdynamischen Vor-
gang, der dadurch, dafi er die so,zial unerwünschten Bedürfnisan-
sprüche auf herrschaftssichernde Ziele umleitet, das Subjekt
unbewufü zu einer stiindigen Realitatsverkennung zwingt, die die
JI
Leistungen rationaler Erkenntnis untergTabt. Nur auf dem flie-
Renden Fundament dieses sich ununterbrochen wiederholenden
Triebgeschehens sitzt mithin die Okonomische Reproduktion des
kapitalistischen Systems der Naturbeherrschung auf: es sind >)die
geschichtlich gewordenen seelischen Eigenschaften, die Triebver-
anlagung«, wie Horkheimer schreibt, die >>für die Aufrechterhal-
tung überholter Produktionsverh:iltnisse und für die Festigkeit
des darauf gegründeten gesellschaftlichen Baus jeweils bestim-
mend« sind.37 Daher hat in einer interdisziplinaren Sozialwissen-
schaft, die sich die empirische Untersuchung des kapitalistischen
Krisenzusammenhangs zum Ziel setzt, der ókonomischen
Grundlagendisziplin eine psychologische Theorie zur Seite zu
treten; diese analysiert den Proze6 der individuellen Triebsozia-
lisation, durch den hindurch sich ein gesellschaftliches System der
Naturbeherrschung zur sozial akzeptierten Einheit eines Lebens-
zusammenhangs integriert.
Das theoretische Paradigma, dem Horkheimer die Erklarungs-
kraft zutraut, die an die Psychologie als sozialwissenschaftliche
Teildisziplin gestellte Aufgabe zu lOSen, bietet die Psychoanalyse;
ihre Grundvorstellung, die Strukturierung des libidinOsen Trieb-
potentials in der kindlichen Interaktion mit Mutter und Vater,
liefert mithin das zweite Theoriemodell, das komplementar neben
das geschichtsphilosophische Grundmodell der gesellschaftlichen
Arbeit tritt.
Horkheimer nimmt die Psychoanalyse in der Version auf, die ihr
die analytische Sozialpsychologie Erich Fromms gegeben hatte.
Fromm war im intellektuellen Kreis des Instituts für Sozialfor-
schung mit der Aufgabe betraut, eine an die Okonomische Aus-
gangsdisziplin nahtlos anschlieBende Psychologie auszuarbeiten;
sein Lêisungsvorschlag mufüe daher an die Überlegung anknüp-
fen, die auch Horkheimer zum Einbau einer Psychologie in die
interdisziplinfre Sozialforschung motiviert hatte:
»Aber weder der âuí3ere Machtapparat noch die rationalen lnteressen
würden ausreichen, um das Funktionieren der Gesellschaft zu garantie-
ren, wenn nicht die libidinéisen Strebungen der Menschen hinzukâmen.
Es sind die libidinéisen Krâfre der Menschen, die gleichsam den Kitt for-
mieren, ohne den die Gesellschaft nicht zusammenhielte, und die zur
Produktion der groí3en gesellschafdichen Ideologien in allen kulturellen
Sphâren beitragen.«38
32
Fromm fügt zwei aus verschiedenen Qudlen stammende Kon-
zepte ineinander, um den Prozefs der Triebsozialisation, der die
libidinósen Strebungen in das gesellschaftlich geforderte Verhal-
tensgefüge einzwingt, zu analysieren.39 Erstens geht er, wie die
marxistisch orientierten Psycboanalytiker seiner Zeit, davon aus,
daE die institutionellen Forderungen, die das kapitalistische Sy-
stem der gesellschafdichen Arbeit erhebt, dem Heranwachsenden
durch die Eltern repr2sentiert werden; daher ist die Familie das
soziale Medium, in dem die sozioókonomischen Verhaltensimpe-
rative sozialisationswirksam aufgehoben sind. Einer durch die
Lektüre der Schriften Karl Abrahams vermittelten Interpretation
der psychoanalytischen Charakterlehre Freuds entnimmt er
zweitens den Gedanken, da6 die Persõnlichkeitsstruktur eines
Menschen aus den stabilisierten Verhaltenszügen einer Stufe der
psychosexuellen Entwicklung zusammengesetzt ist; der individu-
elle Charakter ist ein Bündel von festgeklemmten Strebungen der
frühkindlichen Erotik. Beide Konzepte zusammengenommen er-
geben den Gru.ndgedanken der Sozialpsychologie Fromms: das
Erziehungsverhalten der Eltern, das den auEeren Zwang der Ge-
sellschaft innerfamilial abbildet, fixiert die psychosexuel1e Ent-
wicklung des Kindes auf der Stufe, die in das sozial geforderte
Verhaltensschema pafü; die Triebanteile dagegen, die über das in
der Familie priimiierte AuEerungsspektrum hinausstreben, wer-
den künftig sublimiert oder verdriingt ~ die libidinOsen Strebun-
gen des heranwachsenden Subjekts sind also in die gesellschaftlich
erwünschten Handlungsbahnen hineingewachsen.
Diese sozialpsychologische Konzeption, die Fromm in seinen
Aufsiitzen zu Beginn der dreiBiger Jahre noch auf klassenspezifi-
sche Persünlichkeitsstrukturen hin ausdifferenziert, bis er in der
groEangelegten Institutsuntersuchung über Autoritdt und Familie
das schichtenübergreifende Konzept des sadomasochistischen
Charakters zugrundelegt40
, hat Horkheimer vor Augen, wenn er
von der Psychologie als Teildisziplin einer kritischen Gesell-
schaftstheorie spricht. lhre Schw:ichen mu6 er zwangslaufig
adoptieren, solange er ihnen nicht in konzeptuellen Korrekturen
begegnet. Fromm l:ifü die Grundbegriffe einer psychoanalyti-
schen Persünlichkeitstheorie und die Grundbegriffe einer Okono-
mischen Gesellschaftstheorie unmittelbar ineinandergreifen; zwi-
schen beiden Begrifflichkeiten wird die Dimension sozialen
33
Handelns, an deren konkreter Realitiât sich das individuelle Trieb-
potential schrittweise formt, kategorial gleichsam zerrieben. Die
Familie, die im Bezugsrahmen der Konzeption Fromms den ge-
sellschaftlichen Kommunikationszusarnmenhang im ganzen re-
priisentiert, erscheint ais bloBe Funktion eines übergreifenden
Wirtschaftsprozesses: die Funktionsimperative der kapitalisti-
schen Õkonomie bilden sich als Verhaltenszwiânge in dem fami-
lialen Interaktionsgeschehen, mit dem das Kind zuniichst kon-
frontiert ist, einfach ab; in das Gefüge dieser durch das elterliche
Erziehungsverhalten abgesteckten Systemerfordernisse wachsen
die libidinüsen Strebungen des Heranwachsenden scheinbar rei-
bungslos hinein. Der geschlossene Funktionalismus, in dem diese
Herleitung mündet, ist der verdeckte Kern der Sozialpsychologie
Fromms; sie muB in der Nahe einer, wie Helmut Dahmer sagt,
>>Theorie der totalen Sozialisation« geraten41, weil sie weder der
individuellen Bedürfnisdisposition einen libidinOsen Überschu:B
noch dem sozialen Handeln eine sozialisatorische Eigenstiindig-
keit gegenüber den Okonomischen Systemzwangen zugesteht.
Horkheimer scheint sich dessen bewufü zu sein. Wie um dem
Okdnomischen Reduktionismus vorzubeugen, auf den eine Ge-
sellschaftstheorie festgelegt wiire, in der die Sozialpsychologie
Erich Fromms mit einer Friedrich Pollock endehnten Kapitalis-
musanalyse kurzgeschlossen ist, schaltet Horkheimer zwischen
die Sphire individueller Triebsozialisation und das übergreifende
System gesellschaftlicher Arbeit eine dritte Dimension sozialer
Reproduktion, die der Kultur. Der Begriff der )>Kultur« stellt
offenbar das kategoriale Mittel dar, mit dessen Hilfe er sich der
Gefahr zu erwehren hofft, die kritische Gesellschaftstheorie auf
dem Wege eines theoretischen Zusammenschlusses allein von
Psychoanalyse und politischer Õkonomie in einen latenten Funk-
tionalismus abgleiten zu lassen; in der schillernden Bedeutung
und in dem ambivalenten Stellenwert freilich, den dieser Begriff
im Konzept der interdiszipliniiren Sozialwissenschaft annimmt,
holt Horkheimer der kategoriale Reduktionismus seiner eigenen
Geschichtsphilosophie hinterrücks ein.
Horkheimer rechnet einerseits mit einer Sphiire kulturellen Han-
delns, die über den gesellschaftlich ausdifferenzierten Sektor der
2sthetischen oder inteliektuellen Produktion binaus den alltagli-
chen Bereich symbolischer Au:Berungen und sozialer Intetaktio-
34
nen umfa.Bt. In seiner Antrittsrede als Direktor am Institut für
Sozialforschung geht e:r davon aus, da:B die Kultur neben dem
System gesellschaftlicher Arbeit und dem Proze:B individueller
Triebsoziahsation die dritte Dimension sozialer Reproduktion
ist, auf die eine interdiszipliniire Sozialwissenschaft ihre Auf-
merksamkeit richten muB, wenn sie die Integration der Okonomi-
schen Funktionsimperative in die wie auch immer brüchige
Einheit eines Lebenszusammenhangs analysieren will; daher steht
die kritische Gesellschaftstheorie auf den drei Fundamenten der
Okonomischen, der psychologischen und der kulturtheoretischen
Disziplin:
»Nicht bloís innerhalb der Sozialphilosophie im engeren Sinn, sondem
ebenso in den Kreisen der Soziologie wie in denen der allgemeinen Phi-
losophie haben sich die Diskussionen über die Gesellschaft allmãhlich um
eine Frage kristallisiert, die nicht blofS gegenwiirtig wirksam, sondem
zugleich die aktuelle Fassung altester und wichtigster philosophischer
Problemc ist, nimlich um die Frage nach dem Zusammenhang zwischen
dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwick-
lung der Individuen und den Verinderungen auf den Kulturgebieten im
engcren Sino, zu denen nicht nur die sogenannten geistigen Gehalte der
Wissenschaft, Kunst und Religion gehi::iren, sondem auch Recht, Sitte,
Mode, Offentliche Meinung, Sport, Vergnügungsweisen, Lebenssril usf.
Der Vorsatz, die Beziehungen zwischen diesen drei Verliiufen zu erfor-
schen, ist nlchts ais cine dcrrzur Verfügung stehenden Methoden wie dem
Stand unseres Wissens angepafüere Formulierung der alten Frage nacb
dem Zusammcnhang von besonderer Existenz und allgemeiner Vernunft,
von Realitiit und Idee, von Leben und Geist, nur eben auf die neue Pro-
blemkonscellation bezogen.«4_,.
Die hier zur Geltung gebrachte Kategorie der Kultur, die an die
aus der englischen Kulturgeschichtsschreibung und Unterschich-
tensoziologie heute in die bundesrepublikanische Soziologie im-
portierte Verwendungsweise des Begriffs erinnert43 , steckt ein
Feld gesellschaftlichen Handelns ab, in dem soziale Gruppen ge-
meinsame Wertorientierungen gewinnen, in den Institutionen
ihres Alltagslebens objektivieren und in Form symbolischer Au-
flerungen tradieren. Die Dimension gesellschafdicher Reproduk-
tion, auf die Horkheimer mit Hilfe eines solchen Kulturbegriffs
also abzuzielen scheint, ist die der Erzeugung und Sicherung von
sowohl kognitiven als auch normativen Selbstverstiindlichkeiten
im Medium sozialen Handelns; diese gruppenspezifisch hervor-
35
gebrachten und kommunikativ abgestützten Orientierungsmu-
ster vermitteln, wei] in ihnen die 0konomischen Handhmgs-
zwiinge alltagspraktisch uminterpretien und daher sozialisations-
wirksam gespeichert sind, zwischen dem System der gesellschaft-
lichen Arbeit und der individuellen Motivbildung. Das natürliche
Potential der menschlichen Antriebe und der sozial verse]bstã:n-
digten Zwange der 0konomischen Reproduktion brechen sich an
dem Fundus von alltiiglichen Interpretationsleistungen, in denen
die Subjekte sich wechselseitig einer mit anderen Subjekten geteil-
ten Sozialdeutung und Wertorientierung immer erneut versichern
müssen. Erst durch den Filter dieser gemeinsamen Handlungs-
normen hindurch, die in gruppenspezifischen Auffassungen von
»Recht« und »Sitte« auf Dauer gestellt und in den habitualisierten
Ausdrucksformen der »Mode« und des »Lebensstils« symbolisch
dargestellt werden, flie.Gen die von oben vorgegebenen Hand-
lungszwiinge und die von innen driingenden Handlungsamriebe
wirksam in den Lebenszusammenhang vergesellschafteter Sub-
jekte ein. Der »Kitt« einer Gesel1schaft, der in der Redeweise
Horkheimers ihre ))auseinanderstrebenden Teile künstlich zu-
sammenhiilt«44, setzt sich dann aus den kulturell erzeugten und
standig erneuerten Handlungsorientierungen zusammen, in de-
nen soziale Gruppen die ihnen unter Bedingungen klassenspezi-
fischer Arbeitsteilung zugemuteten Aufgaben und die je individu-
ellen Bedürfnispotentiale imerpretatorisch zur Deckung gebracht
haben, Diese Schlu.Gfolgerung jedoch zieht Horkheimer nicht;
statt dessen leitet er die Kategorie der Kultur, noch bevor er sich
die handlungstheoretische Logik seiner eigenen Begriffsverwen-
dung zu BewuGtsein führt, auf ein traditionelles Begriffsgleis
zurück, das nun nicht mehr auf ein spezifisches Spektrum so-
zialen Handelns, sondem auf einen Bereich gesellschaftlich gene-
ralisierter Sozialisationsagenturen zielt. Dieser zweite Begriff von
))Kultur« ist in dem kategorialen Rahmen, den Horkheimer sei-
nem Entwurf einer interdiszipliniiren Sozialwissenschaft zugrun-
delegt, richtungweisend:
»Der Produktionsprozeís beeinfluíst díe Menschen nicht nur in der un-
vermittelten und gegenwiirtigen Gestalt, wie sie ihn bei ihrer Arbeít selbst
erleben, sondem auch, wie er in den relariv festen, das heifü sich nur
langsam umbildenden Instítutíonen wie Familie, Schule, Kirche, Kunst-
anstalten und dergleichen aufgehoben ist. Zum Verstiindnis des
Problems, warum eine Gesellschaft in einer bestimmten Weise funktio-
niert, warum sie stabil ist oder sich aufl6st, gehOrt daher die Erkenntnis
der jeweiligen pif),chischen Verfassung der Menschen in den verschiede-
nen sozialen GJ-uppen, das Wissen darum, wie sich ihr Charakter im
Zusammenhang
1
•mit allen kulcurellen Bildungsmiichten der Zeit gesraltet
hat.«45
Es ist das Bezugssystem des Kulturbegriffs und nicht allein sein
kategoriales Umfeld, das sich im Kontext dieser Argumentation
gewandelt hat. Horkheimer rechnet hier mit einer Reihe von kul-
turellen Einrichtungen, die die Verhaltensanforderungen des ge-
sellschaftlichen Produktionsprozesses in stabil institutionalisier-
ten Prozessen der Erziehung und Bildung an die Subjekte
rückvermitteln; die elterlichen Erziehungsprozeduren, die schuli-
schen Curricula oder die religiüsen Rituale sind auf alle soziale
Klassen einwirkende Medien, über die die Verhaltenszwange des
Wirtschaftssystems zwar indirekt und gebrochen, aber doch le-
benslang und unaufh.0rlich auf die individuelle Psyche ausstrah-
len. In einer derartigen Verwendungsweise nahert sich der Begriff
der Kultur, auch wenn Horkheimer strikter als seine Vorliiufer
die Eigendynamik kultureller Einrichtungen hervorhebt46
, dem
marxistischen Schliisselbegriff des )>kulturellen Überbaus« an; das
Bezugssystem namlich, das nun maGgebend ist, schneidet den
Kulturbegriff auf dauerhaft angelegte, dem alltaglichen Hand-
lungsflu.G scheinbar enthobene Institmionen zu. Nicht mehr die
kooperative Erzeugung normativer Orientierungsmuster, kultu-
relles Handeln also, sondem die sozialisierende Funktion von
Bildungseinrichtungen, die kulturelle Institution, gibt das reale
Vorbild ab, an dem dieser zweite Kulturbegriff Horkheimers sich
orientiert. Horkheimer hat den handlungstheoretischen Begriff
der Kultur, den er in seinem Antrittsvortrag im Blick zu haben
scheint, unter der Hand in den institutionstheoretischen Begriff
des ))kulturellen Apparats«47 transformiert; die Kultur tritt nun in
der eigensinnigen Gestalt organisierter LernprozesSe, die die 0ko-
nomisch erforderlichen Verhaltenszumutungen als libidin0se
Handlungsziele in der individuellen Psyche verankern, zwischen
das System der gesellschaftlichen Arbeit und das plastische Trieb-
potential des Menschen. ln so gut wie allen Texten, die Horkhei-
mer wiihrend der dreiBiger Jahre in der Zeitschrift für Sozialfor-
schung publiziert, hat dieser Begriff der kulturellen Institution
37
den Handlungsbegriff der Kulmr ersetzt; darin verschaHt sich in
dem sozialwissenschaftlichen Theorieprogramm Horkheimers
der kategoriale Reduktionismus seiner Geschichtsphilosophie
Geltung. Er kann den Begriff des kulturellen Handelns kategorial
nicht weiter verfolgen, weil sein geschichtsphilosophisches
GrundmodeH neben der gesellschaftlichen Naturbearbeitung ei-
nem anderen Typus sozialen Handelns keinen Raum lafü.
Nur eine institutionstheoretische Kategorie der Kultur, die der
sozialintegrativen Funktion p:idagogischer uri.d religiéiser Ein-
richrnngen habhaft zu werden versucht, vertriigt sich mit einer
Geschichtsvorstellung, die die zivilisatorische Entwicklung auf
den einen Prozefi der stufenweisen Erweiterung und Verfeine-
rung der menschlichen Arbeitsfahigkeiten verkürzt. In diesem
ProzeE übernimmt dann ein institutionalisiertes Gefüge kulturel-
ler Agenturen auf jeder Entwicklungsstufe erneut die Funktion,
die in der sozialen Organisation der Arbeit verlangten Hand-
lungsmotive sozialisatorisch zu wecken und das etablierte Privi-
legiengefalle ideologisch zu stützen; die Institutionen der Kultur
sind also auf das individuelle Triebpotential durchgreifende Sta-
bilisierungsfaktoren im gattungsgeschichtlichen Vervollkomm-
nungsprozeB der gesellschaftlichen Naturbeherrschung. Einen
Begriff des kulturellen Handelns jedoch, der die kooperative Ta-
tigkeit der Hervorbringung und Sicherung von gruppenspezifi-
schen Handlungsoriemierungen· benennt, darf Horkheimer in
diesem Geschichtsmodell systematisch ebensowenig dulden wie
den erkenntnistheoretisch angelegten Begriff des kritischen Ver-
haltens, weil beide durch die Rückführung alles menschlichen
Handelns auf Arbeit kategorial ausgeschlossen sind; in beiden
Begriffen zielt Horkheimer theoretisch mehr an, ais er auf ge-
schichtsphilosophischer Ebene vertreten darf. Ihm steht zwischen
dem marxistischen Modell der gesellschaftlichen Arbeit und dem
psychoanalytischen Modell der individuellen Triebsozialisation
kein drittes Theoriemodell mehr zu Verfügung, anhand dessen er
die Struktur sei es des kulturellen Handelns oder des sozialen
Kampfes kategorial entfalten kónnte. Das ist der Grund, der
Horkheimer schlieBlich zwingt, das handlungstheoretische Kon-
zept der Kultur ebenso ungenutzt zu lassen wie die Kategorie des
kritischen Verhaltens, obwohl er sie doch beide ins Spiel
bringt.
Der soziale Íampf ist, folgt man den Anregungen, die Horkhei-
mers frühe Texte selber geben, das konfliktuOse Gegenstück zum
kulturellen Handeln. In ihrem alltiglichen Hande]n haben die
Mitglieder einer sozialen Gruppe ihre positionsbedingten Interes-
sen und ihre je individuellen Bedürfnispotentiale in relativ stabi-
len Wertoriemierungen und Interpretationsmustern synthetisiert,
die es erlauben, andem institutionalisierten Handlungsgefüge ei-
ner Sozialordnung ohne psychischen Identitatsverlust aktiv zu
partizipieren; im Horizont solcher kulturellen Handlungssy-
steme, die in tradierten Interaktionsweisen und Symbolordnun-
gen eine gewisse Dauer angenommen haben, scheinen die
klassenspezifisch verteilten Belastungen auf ein biographisch er-
triigliches Ma:G reduziert und die individuellen Triebansprüche in
eine zumutbare Bedürfnisorganisation integriert. Ein gruppen-
spezifischer Orientierungshorizont, der beide Aufgaben erfüllen
soll, ist freilich, da er gleichsam tagtaglich unter den Gruppenmit-
gliedern erneuert und bestatigt werden mu:G, au:Gerst fragil; schon
unerwartbare Ereignisse und bislang nicht bekannte Informatio-
nen unterbrechen die Wiederberstellung der eingeübten Hand-
lungsorientierungen und gefahrden das brüchige Normengefüge
einer sozialen Gruppe. Das kritische Verhalten ist nun der gerich-
tete ProzeB einer kooperativen Überprüfung und Problematisie-
rung von gruppenintern eingespielten SelbstverstaDdlichkeiten; er
wird angestoEen durch interpretatorisch noch nicht abgedeckte
Erfahrungen, die das bisher akzeptierte AusmaR an sozialen Be-
lastungen und an libidinOsen Versagungen in ein neues Licht
rücken. Die Unterbrechung des kulturell abgesicherten und ge-
schützten Alltagshandelns zwingt die Gruppenmitglieder, den
tradierten Orientierungshorizont an der blofigestellten Rea!itat
zu korrigieren und zu erweitern; daher ist das kritische Verhalten
die reflexive Fortsetzung einer in ihrem Selbstverstandnis er-
schütterten Alltagskommunikation. Der soziale Kampf la:Bt sich
auf dieser Basis als die kooperative Organisation dieser alltagli-
chen Kritik begreifen: er ware der unter Bedingungen klassenspe-
zifischer Arbeitsteilung und Belastungszumutung erzwungene
Versuch sozialer Gruppen, ihren an der wiederholten Erfahrung
erlittenen Unrechts gewonnenen Handlungsnormen im Normen-
gefüge eines sozialen Lebenszusammenhangs zur Durchsetzung
zu verhelfen. Horkheimer jedoch mug auch dieses Muster kriti-
39
schen Verhaltens, weil er den. Norma]fall alltaglichen Handdns
nicht zu entschlüsseln weiB, theoretisch unbestimmt lassen. Der
Zwang seines geschichtsphilosophischen Grundmodells ist so
stark, daB er nicht umhin kann, das kulturell geleitete Alltagshan-
deln und die kritisch-praktische Tatigkeit sozialer Gruppen, noch
bevor er sie kategorial entfalten kann, in den auf gesellschaftliche
Arbeit und individuelle Triebsozialisation allein zugeschnittenen
Kategorienrahmen zurückzudtangen: zwischen dem Okonomi-
schen Imperativ der gesellschaftlichen Selbsterhaltung und der
komplementfren Aufgabe der individuellen Bedürfnissozialisa-
tion vermittelt nicht das soziale Handeln der Gesellschaftsmit-
glieder, sondem ein institutionalisierter Ring kultureller Agentu-
ren.
In der Folge dieser begrifflichen Inkonsequenz blendet Horkhei-
mer das gesamte Spektrum sozialen Alltagshandelns aus dem
Gegenstandsbereich der interdiszipliniiren Sozialwissenschaft
aus. Der soziologischen Aufgabe gegenüber, die gesellschaftliche
Realitat auf den gruppenspezifischen Erfahrungshintergrund und
den kooperativen ErzeugungsprozeB sozialer Orientierungsmu-
ster hin zu untersuchen, zeigt er sich in der Programmierung
einer kritischen Sozialforschung verschlossen; weder die kulturell
eingespielte Alltagskommunikation noch der kulturelle Dauer-
konflikt zwischen den sozialen Gruppen erhalten den Status
ernstzunehmender Gegenstandsbereiche von einzelwissenschaft-
licher Forschungsarbeit. Im Disziplinengefüge der kritischen Ge-
sellschaftstheorie Horkheimers nimmt daher die Soziologie die
marginale Stellung einer Hilfswissenschaft ein; weil sie ein eigen-
st:indiges Theoriemodell nicht besitzt, springt sie entweder der
politischen Õkonomie oder der Psychoanalyse 6106 zur Seite,
wenn die kulturelle Stabilisierung des Wirtschaftsprozesses oder
die soziale Vermitdung der Bedürfnisbildung Themen von Un-
tersuchungen werden. Um eine kategoriale Grundlegung der
Soziologie jedoch bemüht Horkheimer sich nicht; die handlungs-
theoretischen Entwürfe, in denen Max Weber auf der einen Seite,
George Herbert Mead auf der anderen Seite der Soziologie die
Gestalt einer selbst:indigen Wissenschaft zu geben versuchen,
bleiben ihm fremd. Deshalb mu6 er schliefüich doch- :ihnlich wie
Fromm, dessen Konzept er in seinen funktionalistischen Konse-
quenzen durch den Einbau einer Kulturtheorie zu korrigieren
hoffte - die /'kritische Gesellschaftstheorie sich mit dem Zusam-
menschlu6 'Von politischer Ókonomie und Psycho:malyse be-
scheiden lassen. Horkheimer ist auf den Dualismus von realitats-
gerechter Erkenntnis und irrationalem Triebgeschehen zurückge-
worfen, wenn er den ProzeB analysieren wi11, über den ein System
der N aturbeherrschung zur kollektiv akzeptierten Einheit eines
sozialen Lebenszusammenhangs sich integriert; es bleibt der epo-
chale Bruch zwischen rationaler Realitiitseinsicht und libidinéis
erzwungener Realitiitsverkennung, der über den Mechanismus
der sozialen Integration allein empirisch Auskunft gibt. Dies ist
die Grundüberlegung, die das »Autoritiit und Familie« betitelte
und von Horkheimer geleitete Forschungsprojekt über die latente
Faschismusbereitschaft der deutschen Bevülkerung triigt.
Der Gesamtbau der interdiszipliniiren Sozialwissenschaft, den
Horkheimer im Laufe der dreifüger Jabre zu entwerfen versucht,
ruht auf den beiden Fü6en der Okonomischen und der psycho-
analytischen Disziplin allein; in ihm markiert der Posten einer
Kulturtheorie blo!s den gescheiterten Versuch einer systema-
tischen Berücksichtigung sozialen Handelns. Die Kulturtheorie
freilich, die in der Arbeit des Instituts für Sozialforschung fak-
tisch zur Anwendung gelangt, stützt sich weder auf die hand-
lungstheoretische noch auf die institutionstheoretische, sondern
auf eine dritte Version des Kulturbegriffs: hier setzt sich, in einem
zweiten Reduktíonsschritt gewisserma!sen, der traditionalisti-
sche, auf 8.sthetische Produkte zugeschnittene Begriff der Kultur
erneut durch, von dem Horkheimer in seiner Begriffsverwendung
sich ursprünglich getrennt hatte. Leo Lüwenthal und Theodor
W. Adorno, d.ie in der Arbeitsteilung des Instituts für den Sektor
der Kulturtheorie zustiindig waren, nehmen in ihrer Forschung
kulturelle Vorgange in dieser eingeschri:inkten Perspektive wahr;
das Ziel ihrer Forschungsarbeit, der sich Adornos berühmt ge-
wordene Aufsatze über denJazz und den »Fetischcharakter in der
Musik(( ebenso verdanken wie LOwenthals einfluBreiche Studien
über die bürgerliche Roman- und Dramenliteratur, ist die ideolo-
giekritische Entschlüsselung des gesellschaftlichen Gehalts des
Kunstwerks. Eine materialistische Literatur- und Musiksoziolo-
gie tritt an die Stelle, die in Horkheimers Programm einer inter-
diszipliniiren Sozialwissenschaft eine Theorie der Kultur einneh-
men sollte, der die Analyse der sozialen Vermittlung von
41
Okonomischem EntwicklungsprozeB und menschlichem Trieb-
potential zur Aufgabe gestellt war. Im heimlichen Wandel des
Kulturbegriffs von einer ursprünglich handlungstheoretisch be-
absichtigten, dann institutionalistisch eingeschrankten und
schlieBlich kunsttheoretisch verwendeten Kategorie freilich kün-
digt sich der geschichtsphilosophische Y/andei schon an, den die
Kritische Theorie mit dem Ende der dreifüger Jahre im Werk
Theodor W, Adornos vollziehen wird.
2. Die geschichtsphilosophische Wende
der Dialektik der Aufkliirung:
Eine Kritik der Naturbeherrschung
Horkheimer hat den Aufsatz )>Traditionelle und kritische Theo-
rie« mit Überlegungen beschlossen, die mit dem geschichtsphilo-
" sophischen Rahmen seiner Argumentation nicht so recht in
E-inklang stehen. Das theoretische Vertrauen in das Vernunftpo-
tential der gesellschaftlichen Naturbeherrschung, das dem Auf-
satz eine zuversichtliche Grundtéinung verleiht, mufl zum Ende
einer unerwartet pessimistischen Gegenwartsdiagnose weichen,
der sich das nachliberale Stadium des Kapitalismus als ein gewan-
deltes LebensverhJ.ltnis zu erkennen gibt. Die Herausbildung
eines planwirtschaftlichen Kapitalismus, der die Okonomischen
Entscheidungsvorgange dem kapitalistischen Kleinunternehmer
entrissen und der Verwaltungsleitung der GroBunternehmen
überamwortet hat, zieht riefgreifende Verinderungen der indivi-
duellen Sozialisationsbedingungen nach sich. Der Fabrikbesitzer
verliert mit seiner Entscheidungskompetenz, aus deren Anschau-
lichkeit und Wirksamkeit seine Autoritat im Liberalkapitalismus
sich speiste, die kognitiven und moralischen Stützen seiner Iden-
titit; über die Auszehrung seiner Persünlichkeit, an deren vor-
bildhafter Erscheinung in der Familie das aufwachsende Kind
bislang ein stabiles, moralisch geleitetes Ich ausbilden konnte,
verwandelt sich allmiihlich das Individualititsgefüge der Gesamt-
gesellschaft. Horkheimer liest an der epochalen Schwichung des
autonomen Kleinunternehmers den historischen Trend eines
Endes der Persünlichkeit ab:
»Durch die Trennung voo der wirklichen Produktion und durch ihren
sinkenden EinfluG verengert sich der Horizont der bloGen Inhaber von
Besitztiteln, ihre Lebensbedingungen und ihre PersOnlichkeit werden im-
mer ungeeigneter für sozial ausschlaggebende Positionen, und schliefüich
erscheint der Anteil, den sie aus dem Eigentum noch beziehen, ohne
etvtas zu seiner Vergrõilerung wirklich leisten zu kõnnen, als gesellschaft-
lich nutzlos und moralisch zweifelhaft ... Unter den monopolkapitalisri-
rleo Ma,,,_ e, .. "",O,<""""'""º"'"ª''''".:__
Individuums zu Ende. Es hat keinen eigenen Gedanken. Der Inhalt des
Massenglaubens, an den niemand recht glaubt, ist ein unmittelbares Pro-
dukt der herrschenden Bürokratien in Wirtschaft und Staat, und seine
Anhiinger folgen insgeheim nur ihren atomisierten und daher unwahren
Interessen, sie handeln als reine Funktionen des 6konomischen Mecha-
nismus.«1
Ungeachtet aller klassenspezifischen Differenzen2
schliefü Hork-
heimer aus der wachsenden Zentralisierung von Okonomischen
Entscheidungsbefugnissen auf den PersOnlichkeitsverlust des ver-
gesellschafteten Individuums: in dem MaBe, in dem der Mono-
polisierungsprozeB des Kapitals mit dem wirtschaftlichen Frei-
heitsspielraum der Subjekte auch die Wirksamkeit der kulturellen
Einrichtungen absorbiert, geht die Verhaltenskontrolle voo der
individuel1en Gewissensinstanz unmittelbar auf die Planungsin-
stanzen gesellschaftlicher Verwaltungen über; die Subjekte kOn-
nen sich immer weniger von einem sozialisatorisch ausgebildeten
Über-Ich leiten lassen und sind daher immer direkter der Beein-
flussung durch :iuBerliche Leitbilder ausgesetzt. Den Erfahrungs-
hintergrund für diese sozialpsychologische Hypothese bildet nun
freilich nicht eigendich der wirtschaftliche KonzentrationsprozeB
selbst, sondem die weltweite Etablierung totalitiirer Staatssy-
steme. Horkheimer gewinnt das Bild einer durch Herrschaftsin-
stanzen dirigierbaren, auBengeleiteten Masse, das durch die
letzten Seiten seines programmatischen Aufsatzes hindurch-
scheint, zuniichst an der Erfahrung einer den faschistischen oder
stalinistischen Machthabern applaudierenden Publikumsmenge;
es ist das durch das Erlebnis der amerikanischen Kulturindustrie
erg:inzte Bewufüsein eines globalen, durch die unterdrückten
Subjekte mitgetragenen Herrschaftssystems, das von nun an da5
Selbstverstandnis und die Konzeption der kritischen Theori<:
priigt.
Der letzte Jahrgang der Zeitschrift für Sozialforschung, die 1941
ihr Erscheinen einstellen muB, enthiilt zwei Studien Horkhei•
mers, die dem gewandelten SelbstbewuBtsein seiner Theorie defi,
nitiv Ausdruck geben. Der Aufsatz »Art and Mass Culture<
markiert einen Wendepunkt in der Kulturtheorie Horkheimers.
»Kultur« ist nun nicht mehr der Sammelbegriff für ein institutio•
nalisiertes Gefüge von in sich eigendynamischen Sozialisations
medien. Da der kapitalistische IndustrialisierungsprozeB inzwi
44
schen in die Inneníaume der kulturellen Institutionen eingedrun-
gen ist und sie der direkten EinfluBnahme der gesellsch~.ftlichen
Verwaltungsspitzen geüffnet hat, hat der kulturelle Uberbau
seine »relative Widerstandskraft« verloren. Diese neue Stufe der
kulturellen Reproduktion halt der von nun an durch Horkheimer
verwendete Begriff der >)Massenkultur« fest: er bezeichnet den
institutionellen Komplex sowohl der mit den neuen Reproduk-
tionstechniken entstandenen Massenkunst als auch der monopo-
/Íistisch organisierten Vergnügungsindustrie, durch den die indivi-
duellen Bedürfnisse beliebig manipuliert und die handlungsleiten-
den Normen synthetisch erzeugt werden kOnnen. Die Resistenz-
kriifte aber, die Horkheimer aus den neuen Einrichtungen der
Kultur endgültig gewichen sieht, haben· sich in seinen Augen in
den Werken der modernen Kunst versammelt; der schmale Sektor
der i:isthetischen Produktion allein übernimmt in der Gegenwart
die emanzipatorische Funktion, die einst der identititsschützende
Freiraum des kulturellen Überbaus im ganzen innehatte, Daher
stellt der Begriff der ))neuen Kunst(( den zweiten Pol der umfor-
mulierten Kulmrtheorie Horkheimers dar: er kennzeichnet die
>)authentischen Kunstwerke«, ),Monumente eines einsamen und
verzweifelten Lebens, das keine Brücke zum anderen oder auch
nur zum eigenen Bewuíhsein findet((.4 Die manipulative Kultur-
industrie und das kommunikationslose Kunstwerk sind die aus-
e.inandergetretenen Seiten der zeitgenOssischen Kultur, die die
vergesellschafteten Subjekte, weil sie ihnen die persOnlichkeitsbil-
denden Ressourcen nicht mehr bereitstellen kann, den Imperati-
ven der Herrschaftsapparate ungeschützt preisgibt.
Der zweite ,))The End of Reason« betitelte Aufsatz, den Hork-
heimer im letzten Jahrgang der Zeitschrift verõffentlichte5, ent-
hãlt die Rohskizze einer Geschichtsphilosophie, die der gewan-
delten Kulturtheorie den ihr angemessenen Interpretationsrah-
men zu geben versucht. Die Kategorie der Arbeit bildet im
Begriff der Selbsterhaltung das Fundament auch dieser überarbei-
teten Geschichtsphilosophie; Horkheimer jedoch umreifh mit
ihrer Hilfe nun nicht den emanzipatorischen Gang der menschli-
chen Naturbeherrschung, sondem den Proze:B einer SelbstzerstO-
rung der Vernunft. Seine Argumentation stützt sich auf die
Überzeugung, daB das menschliche Denken von Anbeginn an im
Dienste der Selbsterhaltung des Subjekts steht. Dieser Gedanke
45
J
ist der Schlüssel zu einer Theorie der Selbstauflüsung menschli-
cher Vernunft: wei} mit der Monopolisierung aller Okonomischen
Entscheidungskompetenzen im planwirtschafdichen Kapitalis-
mus und mit der Zentralisierung aller politischen Emscheidungs-
kompetenzen unter den autoritfren Staaten der Identitiitshori-
zont der Individuen so sehr geschrumpft ist, daE er gerichtete
Interessen und normative Orientierungen schon nicht mehr aus-
zubilden zulafü, ist dem zweckrationalen Denken, das dem Men-
schen einst in der technischen Beherrschung der iiufieren und der
klugen Disziplinierung seiner inneren Natur cliente, das tiitige
Subjekt gleichsam entzogen. Die instrumentelle Vernunft, ur-
spriinglich das rationale Mittel menschlicher Natur- und Selbst-
beherrschung, hat sich in dem MaEe, in dem die Persónlichkeit
ihrer Triiger zerfa.llt, in das Mittel ))grofündustrieller Selbstbe-
hauptung«6verkehrt; diesem subjekdos gewordenen System stra-
tegischen und technischen Denkens ist der Mensch nun ohn-
m;:íchtig als Opfer seiner eigenen Vernunft unterworfen. Daher
fallt vom Verhingnis der Gegenwart aus ein Licht auf ein der
menschlichen Naturbeherrschung selbst einsitzendes Ungenü-
gen: ))Die neue, die faschistische Ordnung ist die Vernunft, in der
Vernunft selbst als Unvernunft sich enthüllt,((7
Horkheimer hat in diesem Argumentationsgang, der die Idee ei-
ner Kritik der instrumemellen Vernunft der kulturtheoretischen
Gegenwartsdiagnose zur Seite treten lafü, all die Motive schon
versammelt, die von nun an der kritischen Theorie eine veran-
derte Gestalt geben werden; es ist ein neues Stadium seines
Denkens, das Horkheimer mit den letzten Aufsatzen in der Zeit-
schrift für Sozialforschung tastend betritt.8
Der Gedanke einer
Selbstzerstürung menschlicher Vernunft, das sozialpsychologi-
sche Konzept des Persónlichkeitszerfalls, der Begriff der Massen-
kultur und das Ideal des authentischen Kunstwerks sind die
Bausteine einer Theorie der Gesellschaft, die die politische
Schlüsselerfahrung der Gleichzeitigkeit von stalinistischer und fa-
schistischer Herrschaft zu ihrem innersten Gehalt macht.
Ihr herausragender Autor freilich ist nicht Max Horkheimer, soo~
dern Theodor W. Adorno. Sein Denken ist bis in die Darstel-
lungsform hinein voo einer Geschichtserfahrung gepragt, der sich
die Gegenwart als ein soziokulturelles Verhlngnis darstellt. Der
Nervenpunkt seiner Theorie ist nicht, wie der der Kritik Hork-
i
heimers in den drei-füger Jahren, die Enttauschung von revolutio-
naren Erwartungen, sondern das Entsetzen über die katastrophi-
sche Zuspitzung des Zivilisationsprozesses. Adorno nimmt die
soziale Situation seiner Gegenwart als den Augenblick total ge-
wordener Herrschaft wahr. In den von der stalinistischen Sowjet-
union über das faschistische Deutschland bis in die staatskapita-
listische USA reichenden Ring politischer Machtsysteme ent~
/deckt er die Einheit eines einzigen Herrschaftsgeschehens; das
1
Umschlagen der sowjetrussischen Revolution in die diktatorische
Staatsbürokratie Stalins, die terroristische Etablierung von faschi-
stischen Machtapparaten in Mitteleuropa und das scheinbar un-
angefochtene Wachstum des amerikanischen Kapitalismus sind
ihm bloE unterschiedliche Entwicklungsformen eines auf den
Kulminationspunkt totaler Herrschaft zutreibenden Geschichts-
prozesses.9 Von der geschichtsphilosophischen Frage nach der
Ermóglichung dieser welthistorischen Konvergenz ist die Gesell-
schaftstheorie Adornos wie keine andere motiviert.
Adorno bewegte sich von Beginn an in anderen philosophischen
Regionen als Horkheimer; schon in den dreifüger Jahren interes-
sierten ihn die theoretischen Probleme, auf die Horkheimer erst
stieB, als er das Programm einer interdiszipliniiren Theorie der
Gesellschaft in der ursprünglichen Fassung hatte fallen lassen.
Diesem originaren Programm des Horkheimerschen Instituts für
Sozialforschung, der diszipliniir weitausholenden, praktisch
orientierten Untersuchung der Krisensituation des Gegenwarts-
kapitalismus, steht Adorno indifferent, wenn nicht gar skeptisch
gegenüber. rn Auf der Linie einer Theorie der Massenkultur dage-
gen liegen die musiksoziologischen Aufsitze, die Adorno in der
Zeitschrift für Sozialforschung verüffemlicht.11
Dort stellt er sich
die Aufgabe, die sozialintegrative Funktion der Massenkultur aus
dem Warencharakter der standardisiert hergestellten Kunstpro-
dukte zu erschlieBen; dieser Versuch einer Kritik der regressiven
Rezeptionsweise des mit bloBem Warenkonsum verschmolzenen
Kunstgenusses steht unter dem direkten EinfluB der Fetischis-
musanalyse der Marxschen Kritik der politischen Ôkonomie. Auf
der Linie einer Kritik der instrumentellen Vernunft liegen ande-
rerseits schon die philosophischen Frühschriften Adornos, die
sich zumeist den akademischen Verpflichtullgen der Hochschul-
laufbahn verdanken. 12
In ihnen umernimmt er den Versuch, das
47
rnerhodologische Instrumentarium einer die entfremdete Welt auf
die sozial bestimmenden Handiungsfigmen hin entriitselnden
Philosophie zu entwerfen; die Konzepte des geschichtlichen
B.ildes und der konfigurativen Sprache, die die Mittel einer dem
verfügenden Geist entzogenen Deutungstechnik sein sollen, sind
indirekt der hermeneutischen Methodologie Walter Benjamins
nachempfunden. 13
Beide Motivstrange also, die als Fetischismuskritik angelegte
Theorie der Massenkultur wie die Idee einer den bewuBtlosen
ProzeB der menschlichen Naturgeschichte aufschlieEenden Her-
meneutik, gewinnen in der kritischen Theorie der vierziger Jabre
die Oberhand, Obwohl sie Adorno zeitlebens dem Projekt einer
empirisch komrollierten und interdisziplinar aufgebauten Gesell-
schaftstheorie zwiespaltig gegenüberstehen lieEen, bilden sie
fortan zentrale Bestandteile des das Institut für Sozialforschung
leitenden Theoriemodells. Der Kern dieser neuen Fassung kriti-
scher Theorie ist eine Geschichtsphilosophie, mit der Adorno
sich die historische Heraufkunft totaler Herrschaft zu erklaren
hofft; sie stellt in gewisser Weise die Umkehrung der geschichts-
philosophischen Leitvorstellungen dar, die Horkheimer dem
Programmentwurf einer kritischen Gesellschaftstheorie zunã:chst
zugrundegelegt hatte.
Die Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Systemen cotalitarer
Herrschaft versteht Adorno so strikt ais den historischen Aus-
gangspunkt seiner Theorie, daB er sie zum thematischen Hori-
zont einer Konstruktion von Geschichte macht. ln der "Y/eise, in
der Marx das bloEgelegte Produktionsverhi:iltnis der kapitalisti-
schen Gesellschaftsformation als den kategorialen Schlüssel einer
Rekonstruktion der Menschheitsgeschichte begreift, deutet
Adorno das in seiner Gegenwart transparent gewordene Herr-
schaftsverhiiltnis als ein Strukturmuster, an dessen Entwicklungs-
verlauf die gehe.ime Logik des gesamten Zivilisationsprozesses
abzulesen ist: die Kritische Theorie ist nunmehr )>Theorie von der
faschistischen Gegenwart aus, in der das Verhfognis ans Licht
tritt.« 1
4 Unter dieser verzweifelten Perspektive, die Adorno, wie
sich zeigen wird, auch dann noch beibehalt, wenn die historische
Situation des deutschen Faschismus schon überwunden ist, offen-
bart sich der Fortschritt der Zivilisation als der verdeckte ProzeE
einer Rückbildung des Menschen; die soziokulturelle Evolution,
die in der Evidenz eines kumulativen Anwachsens der Produktiv-
krâfte den Eindruck kontinuier1ichen Fortschritts erweckt, ent-
puppt sich als der langgezogene Akt einer gattungsgeschichtl.i-
chen Regression. Der Titel, den Adorno diesem Prozeg von sich
aus gibt, ist der der )>rück]aufigen Anthropogenese«; er bildet das
innere Organisationsprinzip seiner Geschichtsphilosophie.1
5
Die Dialektik der Aufkldrung, die Adorno und Horkheimer zu
;Beginn der vierziger Jahre gemeinsam verfassen, steHt den Ver-
/such dar, der geschichtsphilosophischen Erfahrung der rücklaufi-
/ gen Gattungsgeschichte die unsystematische Gestalt einer Essay-
sammlung zu geben. Ihr primares Material gewinnt die Untersu-
chung an literarischen und philosophischen Werken, der
homerischen Odyssee, den Erz2hlungen de Sades und den Ab-
handlungen Kants und Nietzsches; aus diesen indirekten Zeug-
nissen der Geistesgeschichte, nicht aus den Quellen der Sozialge-
schichte, rekonstruieren Adorno und Horkheimer den Verlauf
des europaischen Zivilisationsprozesses. Der Grundbegriff, der
die Literaturinterpretationen der Untersuchung implizit leitet, ist
der der instrumemellen Rationalitat; ihm kommt die Funktion
zu, Ursprung und Dynamik des Prozesses zivilisatorischer Re-
gression zu erkliren. Seither bildet die auf objektivierendes Den-
ken eingeschrankte Kategorie der )>Rationalitat« für Adorno den
Schlüssel für eine kritische Theorie der Gesellschaft. Er gewinnt
sie mit Horkheimer in einer Generalisierung der Marxschen Ka-
pitalismuskritik, die es zulassen soll, nicht nur die Geschichte der
bürgerlich-kapitalistiscben Gesellschaft, sondern den gesamten
Zivilisationsverlauf unter der theoretischen Perspektive wachsen-
der Verdinglichung zu betrachten. Wã:hrend in der Tradition der
Marxschen Kapitalanalyse von Georg Lukács bis Alfred Sohn-
Rethel die Bewufüseinsfonnen der bürgerlichen GeseHschaft aus
den Abstraktionszwfogen des Warentauschs entwickeit werden,
unter denen die Handlungssubjekte in der reziproken Absehung
von ihren Bedürfnissen und Empfindungen sich wechselseitig zu
>)Dingen« werden'6, ist im totalisierenden Blick der Dialektik der
Aufkldrung der Warentausch nur die geschichtlich entfaltete
Handlungsfigur instrumenteller Rationalitit. Zwar ist Adorno an
einigen Stellen seines Werkes dem formgenetischen Grundgedan-
ken der Erkenntnistheorie Alfred Sohn-Rethels darin gefolgt, die
abstraktiven Leistungen des neuzeitlichen Denkens aus den kog-
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  • 1. Die theoretischc Entwicklung, die die lu·itische Gesellschaftstheorie im Ausgang vom ursprünglichen Ansat7 Horkheimers übcr dic Geschichts- philosophie Adornos und die Machtanalyse Foucaults bis hin zur Kon- zeption von Habermas genommcn hat, wird von Axel Honneth in der Weise argumentativ rekonstruiert, dafi sich Schritt für Schritt der Blick auf eine soúale Lcbenspraxis erOffnet, in der heute eine Kritik gesell- schaftlichcr Herrschaft seiner Überzeugung nach noch cinmal ihre Mag- sti:ibc reflexiv zu verankern vermag. Axel Honneth, geb. 1949 in Esscn, ist seit 1996 Professor für Sozialphi- losophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universitat Frankfurt und seit 2001 geschaftsführcndcr Direktor des Instituts für Sozialforschung an der Universitiit Frankfurt. Von Axcl Honneth sind im Suhrkamp Verlag zulctzt crschicncn: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontro- verse (zus. mit Nancy Fraser stw 1460); Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsdtze zur praktischen Philosophie (stw 1491); Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivitdt (stw 1616); VerdingLichung. Eine anerkennungstheoretische Studie (2005); Pathologien der Vernunft. Ge- schichte und Gegenwart der Kritischen Theorie (stw 1835). Axel Honneth Kritik der Macht Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie Mit einem N achwort zur Taschenbuchausgabe SBD-FFLCH-USP IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII 357469 Suhrkamp
  • 2. DEDALUS • Acervo - FFLCH 1111111111li~Ili/111111111111111111111111111111Ili 20900112329 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutschc Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschcn Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet übcr http://dnb.d-nb.de abrufbar. suhrkamp taschenbuch wissenschaft 738 Erste Auflage 1989 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1986 Suhrkamp Taschenbuch Verlag Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des õffcntlichen Vortrags sowic der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduzicrt oder unter Vcrwendung elektronischcr Systeme verarbcitet, vervielfaltigt oder vcrbreitet werden. Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen voo Willy Fleckhaus und Rolf Staudt ISBN 978-3-518-28338-7 4 5 6 7 8 9 - lJ I2 n IO 09 08 Inhalt Vorwort 7 Erster Teil DAS UNVERMÓGEN ZUR GESELLSCHAFTSANALYSE APORIEN DER KRITISCHEN THEORIE 9 r. Horkheimers ursprüngliche Idee. Das soziologische Defizit der Kritischen Theorie r2 2. Die geschichtsphilosophische Wende der Dialektik der Aufklàrung: Eine Kritik der Naturbeherrschung 43 3. Adornos Theorie der Gesellschaft: Die endgültige Verdrangung des Sozialen 70 Zweiter Teil Drn WIEDERENTDECKUNG DES SOZIALEN FoucAULT UND HABERMAS I 13 4. Foucaults historische Diskursanalyse. Die Paradoxien einer semiologisch ansetzenden Wissensgeschichte 12 r 5. Von der Diskursanalyse zur Machttheorie: Der Kampf als Paradigma des Sozialen 168 6. Foucaults Theorie der Gesellschaft: Eine systemtheoretische AuflOsung der Dialektik der Aufkldrung 196 7. Habermas' erkenntnisanthropologischer Ansatz: Die Lebre von den Erkenntnisinteressen 22 5 8. Zwei konkurrierende Konstruktionen der Gattungsgeschichte: Die Verstandigung als Paradigma des Sozialen 265 9. Habermas' Theorie der Gesellschaft: Eine kommunikations- theoretische Transformatio"n der Dialektik der Aufkldrung 307 Anmerkungen 335 Literatur 367 Nachwort (1988) 380 Register 407
  • 3. Vorwort In dieser Untersuchung unternehme ich den theoriegeschichtlich angelegten Versuch einer Klarung von Schlüsselproblemen der kritischen Gesellschaftstheorie. Auf der ersten Ebene einer Theo- riegeschichte lasse ich mich von der Überzeugung leiten, da:B die beiden seit den siebziger Jahren einflu:Breichsten Neuansiitze ei- ner kritischen GeseHschaftstheorie, namlich die Theorie von Mi- chel Foucault einerseits, diejenige von Jürgen Habermas anderer- seits, als konkurrierende Fortführungen einer durch die Kritische Theorie eri::iffneten Fragestellung zu interpretieren sind: sowohl die Machttheorie, die Foucault in Form von historischen Unter- suchungen begründet hat, als auch die Gesellschaftstheorie, die Habermas auf dem Weg der Grundlegung einer Theorie des kom- munikativen Handelns emwickelt hat, kOnnen als Versuche ver- standen werden, den von Adorno und Horkheimer analysierten Prozeil einer Dialektik der Aufkldrung in neuer Weise zu deuten. Wenn die Geschichre der kritischen Gesellschafrsrheorie umer diesem Gesichrspunkt rekonstruiert wird, so erweist sich die Machttheorie Foucaulrs als eine systemrheoretische, die Haber- massche Gesellschaftstheorie als eine kommunikationstheoreti- sche AuílOsung der Aporien, in die Adorno und Horkheimer mit ihrer geschichtsphilosophischen Analyse des Zivilisationsprozes- ses geführt haben. Folgt die Untersuchung also historisch der Denkbewegung, die von den frühen Aufsitzen Horkheimers über die Geschichrsphi- losophie Adornos bis schlieBlich zu den auseinanderstrebenden Theorien von Foucault und Habermas führt, so ergibt sich ihr systematischer Gesichtspunkt aus der Frage nach den theore- tischen Modellen, mit deren Hilfe in jenen Theorien die Bildung und Behauptung sozialer Macht erfafü wird. Auf der zweiten Ebene einer Kldrung von zentralen Problemen einer kritischen Gesellschaftstheorie serze ich mich daher mit den von Adorno, Foucault und Habermas entwickelten Ansiitzen auseinander, die Verfassung gegenwirtiger Gesellschaften als Verhiiltnisse sozialer Herrschaft zu kritisieren. Dem Zweck einer solchen Auseinan- dersetzung dient der Versuch, an den vorgesrellren Positionen die 7
  • 4. r l Handlungskonzepte herauszuarbeiten, die der Analyse der Inte- gration von Gesellschaften und damit der Ausübung von Macht jeweils zugrnndeliegen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich zu- niichst, daE Adorno an der Aufgabe einer Gesellschaftsanalyse überhaupt scheitern muíhe, weil er zeitlebens einem totalisierten Modell der Naturbeherrschung verhaftet blieb und dementspre- chend das >}Soziale« an Gesellschaften nicht zu erfassen ver- mochte (Kap. 3). Foucault und Habermas hingegen erschlieBen den der Tradition der Kritischen Theorie fremdgebliebenen Pha- nomenbereich des Sozialen voo extrem entgegengesetzten Seiten aus: Foucault im handlungstheoretischen Paradigma des >>Kamp- fes« (Kap. 5), Habermas in demjenigen der )>Verstandigung« (Kap. 7). Aus einer kritischen Analyse der Schwierigkeiten, in die diese beiden Ansiitze auf unterschiedlichem Reflexionsniveau je- weils führen, sollen sich irnplizit die Richtlinien ergeben, denen eine »Kritik der Macht<< heute zu folgen hiitte. Insofern vollzieht der, der die Denkbewegung von Adorno über Foucault bis Ha- bermas verfolgt, die Stufen einer Reflexion nach, in der sich die kategorialen Priimissen einer kritischen Gesellschaftstheorie schrittweise klfren. Die Kapitel 1-6 dieser Arbeit wurden im Frühjahr 1983 vom Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften der Freien Universitiit Berlin als Dissertation angenommen, Birgit Mahn- kopf und Hans Joas babe ich für stiindige Diskussionsbereitschaft und Hilfestellung, Urs Jaeggi für die zum rechten Zeitpunkt de- monstrierte Ungeduld zu da'nken. Erster Teil Das Unvermiigen zur Gesellschaftsanalyse Aporien der Kritischen Theorie
  • 5. 1 l;i Vor nunmehr fünfzig Jahren entstand, unter der konzeptuellen Autoritiit eines einzelnen Mannes und als das Werk eines Kreises von Wissenschaftlern, eine Theorie, die sich von Anbeginn an als eine Fortsetzung der Marxschen Intentionen unter historisch ge- wandelten Bedingungen verstand. Die mit der Amrittsrede Max Horkheimers am Institut für Sozialforschung auf den Plan getre- tene und spiiter vor allem durch die Schriften Adornos repriisen- tierte Kritische Theorie gilt seither vielen als das Musterbeispiel einer Theorie, in der sich die Absicht einer philosophisch geleite- ten Zeitdiagnose mit dem Untemehmen einer empirisch fundier- ten Gesellschaftsanalyse verknüpft. Ich müchte in einem ersten Schritt den Versuch unternehmen, die theoretischen Grundan- nahmen der Kritischen Theorie herauszuarbeiten, die jener bis heute vorbildhaften Intention von Beginn an im Wege standen; dabei folge ich den Entwicklungsschritten des von Adorno und Horkheimer zurückgelegten Denkweges, indem ich zun3.chst die programmatischen Frühschriften Horkheimers (Kap. 1), darauf~ hin die gemeinsam verfafüe Dialektik der Aufkldrung (Kap. 2) und schliefüich die gesellschaftstheoretischen Sp3.tschriften Ador- nos (Kap. 3) untersuche. II
  • 6. ' í 1 1. Horkheimers ursprüngliche Idee Das soziologische Defizit der Kritischen Theorie In dem Aufsatz »Traditionelle und kritische Theorie«, der im 6. Jahrgang der Zeitschriftfür Sozialforschung (1937) erschien, hat Max Horkheimer den theoretischen Anspruch und den politi- schen Stellenwert einer kritischen Gesellschaftstheorie zusam- menzufassen versucht1; sein Beitrag, geschrieben im amerikani- schen Exil, formuliert das Selbstverstandnis des Frankfurter Instituts für Sozialforschung der dreifüger Jahre. Horkheimer verfolgt das Ziel, die bandlungspraktischen Wurzeln des neuzeit- lichen Wissenschaftsmodells bloBzulegen, um in dem transparent gewordenen Praxiszusammenhang die kritische Theorie als den selbstbewufüen Ausdruck politisch-sozialer Emanzipationspro- zesse begründen zu künnen. Das neuzeitliche Wissenschaftsmodell, das ihm als »traditionell« gilt, führt Horkheimer sich anhand der Methodenreflexion Des- cartes vor Augen. Die Aufgabe wissenschaftlicher Theorien wird hier in der Sammlung deduktiv gewonnener Aussagen gesehen, die auf die empirisch beobachtbare Wirklichkeit hypothetisch ap- pliziert werden; in dem Mage, in dem die experimentell kontrol- lierte Wirklichkeitsbeobachtung Einzelaussagen des in sich wi- derspruchsfrei angelegten Aussagensystems besti:itigt, wachst der Erklirungswert der Theorie. Die Wahrheit einer wissenschafdi- chen Theorie ist mit der prognostischen Erklarungskraft ihres Aussagengefüges identisch. Horkheimer interessiert sich nun nicht für die wissenschaftstheoretischen Korrekturen und Diffe- renzierungen, durch die das Ideal eines einheitlichen Wissen- schaftsmodells nach Descartes fortentwickelt worden ist; die Differenz zwischen deduktiver und induktiver Gewinnung allge- meiner Aussagen, an der sich die klassischen Schulen der Er- kenntnistheorie scheiden, oder auch die Differenz zwischen empirisch-experimenteller und phi:inomenologisch-inruitiver Wirklichkeitsbeobachtung, die bis in Horkheimers Gegenwart hinein wissenschaftstheoretische Richtungen voneinander ab- grenzt, ist ihm sekundar. Ihn interessiert vielmehr das grundle- gende Modell, in dem die N euzeit sich das Verhiiltnis von 12 wissenschafdicher Theorie und Realit:it denkt; an dieser Verhalt- nisbestimmung bemifü sich für Horkheimer die Eigenart traditio- neller Theorie: »Immer steht auf der einen Seite das gedanklich formulierte Wissen, auf der andem ein Sachverhalt, unter der es befafh werden soll, und dieses Befassen, dieses Herstellen der Bezíehung zwischen der bloBen Wahr- nehmung oder Konstatierung des Sachverhalts und der begrifflichen Ordnung unseres Wissens heiBt seine theoretische Erklarung.«~ Die blog :iuBerliche Applikation eines wie auch immer gewonne- nen Aussagensystems auf einen naturalen Vorgang oder ein histo- risches Ereignis soll erlauben, den empirischen Sachverhalt dadurch, daB er Glied einer Aussagenreihe wird, zu erkliiren; auf diese Weise lassen sich in dem Umfang, in dem immer weitere Realiti:itsausschnitte in dem Netz hypothetischer Sitze eingefan- gen werden, schliefüich natürliche und soziale Prozesse im gan- zen theoretisch prognostizieren und kontrollieren. An dieser Funktion traditionell konzipierter Theorien, ihrer F:ihigkeit also zur Prognose, Kontrolle und schliefüich auch Steuerung realer Vorg:inge, liest Horkheimer den Konstitutionszusammenhang neuzeitlicher Wissenschaft ab: »Sowohl die Handhabung der physischen Natur wie auch diejenige be- stimmter i::ikonomíscher und sozialer Mechanismen erfordert eíne For- mung des Wissensmaterials, wie sie in einem Ordnungsgefüge von Hypothcsen gegeben ist.«3 Die Kontrollfunktion, die eine wissenschaftliche Theorie über- nehmen kann, die empirische Sachverhalte in einem allgemeinen Aussagensystem zu erkliiren und zu prognostizieren versucht, verr:it ihre Herkunft: sie ist Teil des praktischen Reproduktions- prozesses, in dem sich die menschliche Gattung durch wach- sende Kontrolle über ihre natürliche Umwelt und ihre eigene soziale Welt am Leben erhi:ilt. Horkheimer stützt sich implizit auf eine geschichtsphilosophische Grundannahme, wenn er darlegt, wie die Leistungen gesellschaftlicher Arbeit den Emanzipations- prozeg ermüglicht haben, der die Menschenwelt aus der bedrük- kenden Übermacht der Natur befreit und in den Zustand einer die Natur beherrschenden und sich an ihr zunehmend bereichern- den Zivilisation geführt hat. Für diesen Konstitutionszusammen- hang von Theorie bleibt aber - und das ist der Horkheimer IJ
  • 7. interessierende Gesichtspunkt ~ die traditionelle Theorie blind; sie hat sich, obwohl sie ,,ein Moment bei der Selbsterhaltung, der fortwahrenden Reproduktion des Bestehenden« ist4, fiktiv von allen gesellschaftlichen Produktionsvorgiingen abgeschnitten: die traditionelle Theorie begreift sich in einem folgenreichen Mi:Gver- stiindnis als »reine« Theorie. Daher kann ihr Horkheimer, in einer an den frühen Marx erinnernden Weise, vorrechnen, wie nicht nur ihr spezifischer Gegenstand, sondem selbst die Art und Weise ihres Wirklichkeitskontakts durch den jeweiligen Stand der sozialen Produktivkriifte, der angesammelten Kontrollerfolge ~ber natürliche und gesellschaftliche Prozesse also, priiformiert 1st: »Was wir in der Umgebung wahrnehmen, die Stadte, D6rfer, Fclder und Walder tragen den Stempel der Bearbeitung an sich. Die Menschen sind nicht bloG in der Kleidung und im Auftreten, in ihrer Gestalt und Ge- fühlsweise ein Resultat der Geschichte, sondem auch die Art, wie sie sehen und h6ren, ist von dem gesellschafdichen LebensprozeB, wie er in den Jahrtausenden sich entwickelt hat, nicht abzul6sen. Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sínd in doppelter Weise gescllschaftlich póformicrt: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstandes und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs.« 1 Das erkennende Subjekt und der zu erkennende Gegenstand sind vorweg schon gemeinsam durch den Proze:G gesellschaftlicher Naturbearbeitung bestimmt, als dessen Produkt Horkheimer die Gattungsgeschichte im ganzen ansieht. Die Selbsttauschung je- doch, in der die neuzeitliche Wissenschaft von aller Bindung an eben diesen ArbeitsprozeE sich frei weiE, erkliirt Horkheimer aus einer zweiten geschichtsphilosophischen Grundannahme, die er eher beilaufig in seinen Aufsatz einbringt: der den sozialen Le- benszusammenhang hervorbringende ProduktionsprozeE ist in der bisherigen Geschichte der Gattung ais synthetisierende, ko- operative Leistung aller Arbeitssubjekte selbst noch nicht durch- schaut. Bislang bringt der gezielt auf Naturbeherrschung ange- legte Produktionsproze:G zwar den historischen Fortschritt hervor, die menschlichen Handlungssubjekte aber wissen um ihre gemeinsamen Konstitutionsleistungen nicht; diese Unbewufüheit setzt sich im Selbstverstiindnis traditioneller Theorie bloB fort. Die neuzeitliche Wissenschaft wei:G ebensowenig, wie die menschliche Gattung sich ihrer geschichtsbildenden Produk- tionstii.tigkeit schon bewufü ist, um den geschichdichen Konsti- tutionszusammenhang, dem sie durch alle ihre Erkenntnisleistun- gen hindurch angehürt. Horkheimer analogisiert, um seinen geschichtsphilosophischen Gedankengang zu veranschaulichen, die noch nicht gewufhen synthetisierenden Arbeitsleistungen, die die menschliche Gattung durch aUe bisherige Geschichte hindurch immer schon vollbracht hat, mit den Synthesisleistungen des transzendentalen Ichs der Erkenntnistheorie Kants; diese Analogie legt freilich die ge- schichtsidealistische Fiktion, in die Horkheimers Konstruktion eines einheitlichen Gattungssubjekts führt6, erst recht frei: »Die inneren Schwierigkeiten, mit denen die h6chsten Begriffe der kan- tischen Philosophie, vor aliem das Ich der transzendentalen Subjektivitat, die reine oder ursprüngliche Apperzeption, das Bewufhsein an sich be- haftet sind, zeugen von der Tiefe und Aufrichtigkeit seines Denkens. Der Doppelcharakter dieser kantischen Begriffe, die einerseits die h6chste Einheit und Zielrichtung, andererseits etwas Dunkles, BewuBtloses, Un- durchsichtiges bezeichnen, trifft genau die widerspruchsvolle Form der menschlichen Aktivitit in der neueren Zeit. Das Zusammenwirken der Menschen in der Gesellschaft ist die Existenzweise ihrer Vernunft, so wenden sie ihre Kófte an und bestitigen ihr Wesen. Zugleich jedoch ist dieser ProzeB mitsamt seinen Resultaten ihnen selbst emfremdet, er- scheint ihnen mit all seiner Verschwendung von Arbeitskraft und Men- schenleben, mit seinen Kriegszustanden und dem ganzen sinnlosen Elend als unab.inderliche Naturgewalt, ais übermenschliches SchicksaL ln Kants theoretischer Philosophie, in seiner Analyse der Erkenntnis ist dieser Widerspruch aufbewahrt.« 7 Horkheimer benutzt das erkenntnistheoretische Denkmodell Kants, um eine geschichtsphilosophische Konstruktion zu ver- deutlichen: so wie Kant die Welt der Gegenstande müglicher Erfahrung auf die strukturgebenden Leistungen eines transzen- dentalen Subjekts zurückführt, so ist die soziale Welt als noch nicht gewufües Produkt der menschlichen Naturbearbeitung zu betrachten. Die transzendentalphilosophische Redeweise, die diese materialistische Lesart der Erkenntnistheorie Kants auf- zwingt, verlangt den Singular, den Horkheimer verwendet, um die menschlichen Arbeitsleistungen gebündelt als »die(( Aktivitit der Gattung zu charakterisieren; ihr mu:G er all die ordnungsstif- l 5
  • 8. tenden Leisrnngen zutrauen, mit denen Kant das transzendentale Ich ausstattet. Dann stellt die menschliche Gattung als singulares Subjekt der Geschichte schon immer und stfodig perfekter die soziale Welt her, um deren Konstitution sie aber bis in die Ge- genwart hinein nicht weifi; diese Bewufü1osigkeit der Gattung als Subjekt ist letzte U rsache für die katastrophale Blindheit des bis- herigen Geschichtsverlaufs. Die neuzeitliche Vissenschaft ist selbst noch einmal unbewu:Btes Moment dieser immerwahrend produktiven, aber bislang blinden Selbsterhaltung. Über ihre Stellung k.18.rt die traditionelle Theorie freilich erst die materiali- stische Deutung auf, die sie auf die Arbeitspraxis zurückführt, aus der sie entwachsen und an die sie methodologisch gebunden bleibt; auf dem Weg dieser Interpretation erhalt sie schlieElich ihre »positive gesellschaftliche Funktion«8 , n2m1ich die der ratio- nalen Naturbeherrschung, zurück. Der geschichtsphilosophische Deutungsrahmen, in dem Hork- heimer das Selbstmiilverstandnis der traditionellen Theorie auf- zuk!Jren versucht, traut dem historischen Zuwachs an Produktiv- kraften, ao rationalen Mitteln der Naturbeherrschung, unzwei- deutig em befreiendes, geradezu fortschrittsgarantierendes Potential zu; seine Konstruktion, die direkt dem »Enti.ul1erungs- modell« der Arbeit entlebnt scheint, das Marx der Kapitalismus- kritik seiner Frühschriften zugrundelegt9, begreift den zivilisato- rischen Gang der Geschichte als den Prozeil einer schrittweisen Vervollkommnung der menschlichen N aturbeherrschung, von deren geglückter Nutzung die Gattung nur die Unkennmis über die eigene Geschichtsmâchtigkeit trennt. Es ist diese Interpreta- tionsversion des Widerspruchs zwischen den Produktivkriften und den Produktionsverhaltnissen, in der die Produktivkr2fte als befreiendes Potential, deren planungslose Organisation im Kapi- talismus jedoch nur ais Ausdruck der menschlichen Selbsttau- schung gelten, die nun Horkheimers Versuch einer Grundlegung der kritischen Gesellschaftstheorie bestimmt. Die erste Eigenart einer kritischen Theorie kann Horkheimer zu- nichst ohne Probleme ex negativo, nlmlich aus der Vermeidung des Grundfehlers der traditionellen Theorie herleiten.. Wâhrend diese sich dadurch, dail sie ihre Verfahrensweise allein nach er- kenntnisimmanenten Kriterien zu begründen künnen glaubt, von ihrer eigenen handlungspraktischen Herkunft entfremdet hat, 16 halt sich Theorie im Sinne der Kritik ihren Konstiturionszusam- menhang standig bewuBt. Die Selbsterkennmis, zu der die mate- rialistische Deutung die traditionelle Theorie von auBen gleich- sam erst bewegen muil, ist erste Aufgabe und innerstes Prinzip einer kritischen Theorie: in ungefahrer Wiederholung der Formel Karl Korschs, derzufolge der historische Materialismus sich auch immer auf sich selbst anwenden künnen lassen muil, spricht Horkheimer an einer Stelle seines Aufsatzes davon, da6 der »Ein- fluil der gesellschaftlichen Entwicklung auf die Struktur der Theorie . zu ihrem eigenen Lehrbestand« ro gehürt. Wie aber kann Horkheimer nun den sozialen Praxiszusammenhang, an dem sich ais ihren Konstitutionsgrund kritische Theorie selbstre- flexiv gebunden weiil, kategorial niher bestimmen, wenn seine geschichtsphilosophische Eingangsüberlegung doch alie soziale Praxis auf die Arbeitstâtigkeit der menschlichen Gattung redu- ziert? ln der Beantwortung dieser Frage zeigt sich eine erste Ambivalenz, zu der Horkheimer in der Einlosung der Ansprü- che, die er an eine kritische Gesellschaftstheorie richtet, durch seine Geschichtsphilosophie gezwungen ist. Einerseits bindet Horkheimer die kritische Theorie konsequent an dieselbe TJtigkeitsweise der menschlichen Gattung zurück, aus der ihrem eigenen Selbstverstiindnis zum Trotz auch die tra- ditionelle Theorie hervorgegangen sein soll. Beide Theorietypen wà:ren dann gleichermaBen unselbstfodige Ausdrucksformen des zivilisatorischen Prozesses der Narnrbeherrschung; in die kriti- sche Theorie jedoch wfre ein realitã:tsüberschie~endes, über die immanenten Entwicklungspotentiale der Produktivkri.fte aufge- klirtes Wissen eingelassen. Diese Interpretation legt Horkheimer überall dort nahe, wo er von einer dem Arbeitsprozeil innewoh- nenden Tendenz auf »Erhaltung, Steigerung und Entfaltung des menschlichen Lebens«u spricht; das Bewuiltsein dieser immanen- ten Entwicklungsrichtung ist dann die kritische Theorie selbst: »Indem nun in der neueren Geschichte von jedem Individuum gefordert ist, da-B es die Zwecke des Ganzen zu seinen eigenen mache und seine eigenen im Ganzen wiedererkenne, besteht die MOglichkeit, da-B die ohne bestimmte Theorie und als Resultate bestimmter Krafte eingeschlagene Richmng des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses, an deren Wendepunk- ten zuweilen die Verzweiflung der Massen den Ausschlag gab, ins Bewuíhsein aufgenommen und zum Ziel gemacht wird. Das Denken 17
  • 9. spinnt dies nicht aus sich heraus, es kommt v.ielmehr i.iber seine eigene Funkrion ins klare.«12 Dieser Gedankengang ist in dem geschichtsphilosophischen Denkrahmen, den Horkheimer vorschlagt, auf den ersten Blick schlüssig: wenn der Gang der Menschheitsgeschichte im ganzen als ein ProzeB der stufenweisen Vervollkommnung der Naturbe- herrschung begriffen werden kann, dann stellt jede Gesellschaft, deren organisatorische Verfassung die den Produktivkriiften ein- sitzenden Freiheitsmüglichkeiten bremst oder nicht voll aus- schüpft, einen Zustand nur partiell realisierter Vernunft dar; zu vollkommener Vernunft, die »identisch mit der Beherrschung der Natur in und auBer uns« durch freien EntschluB wafe1 3, geleitet sie erst ein Wissen, das, weil es sich in die Fortschrittsentwicklung der menschlichen N aturbearbeitung hineinversetzt sieht, über die gegenwartssprengenden Potentiale der Produktivktafte aufzukla- ren vermag - in diesem Sinn spricht Horkheimer davon, daB »die Idee einer vernünftigen, der Allgemeinheit entsprechenden gesell- schaftlichen Organisation . . der menschlichen Arbeit irnmanent ist«. 1 4 Die Logik dieser Argumentation laBt nun allerdings unklar, wie eine kritische Theorie dieses Zuschnitts, also als imellektuelle Verlingerung des Arbeitsprozesses zweiter Stufe, von der metho- dologisch andersartigen Struktur sein soll, die eine Kritik der existierenden Gesellschaft soll tragen künnen. Wenn Horkhei- mers Rückführung der traditionellen Theorie auf die in die Arbeitshandlung eingelassenen Erkenntnisleistungen in sich trif- tig sein soll, dann eignet sich das von diesem Theorietyp bereit- gestellte Wissen prinzipiell nur zur Erklarung und Prognose empirischer Vorgi:inge; es enthi:ilt in sich nicht das Reflexionsmo- ment, das nütig ware, um eine existierende Sozialordnung auf die Spielriiume hin zu hinterfragen, die sie der Entfaltung der Pro- duktivkrifte gewiihrt. Diese methodische Lücke kann auch ein hüherstufiges Wissen, ein Wissen um die Richtung der verwissen- schaftlichten Naturbeherrschung, nicht füllen: denn selbst eine sich auf den gesellschaftlichen Arbeitsprozeg bewufü rückbezie- hende Theorie, die statt der faktischen Naturvorgiinge die imma- nente Entwicklungslogik gesellschaftlicher Arbeitsvollzüge zum Gegenstand hiitte, künnte diese zwar fiktiv in die Zukunft hinein- projizieren, sie aber nicht wiederum zum MaBstab einer Kritik des sozialen Lebenszusammenhangs machen - denn dazu be- 18 dürfte eine solche Theorie allein schon des geschichtsphilosophi- schen Wissens, das Horkheimer seiner eigenen Argumentation zugrundelegen muB, um eine Gesellschaft an ihrer entwicklungs- bremsenden Organisation der Arbeit zu kritisieren. Horkheimer sieht den Selbstwiderspruch, in die diese Imerpretation des so- zialen Konstitutionszusammenhangs kritischer Theorie hinein- führen würde, offenbar selbst: »Ein Verhalten, das, auf diese Emanzipation gerichtet, die Ver::inderung des Ganzcn zum Ziel hat, mag sích wohl der theoretischcn Arbeit bedie- nen, wie sie sich innerhalb der Ordnungen in der bestehenden Wirklich- keit vollzieht. Es entbehrt jedoch des pragmacischen Charaktcrs, der sich aus dem traditiooellcn Dcnken ais eincr gesel!schaftlich nützlichen Be~ rufsarbeit ergibt.«15 Das traditionelle Denken stellt eine intellektuell objektivierte Form des in dem gattungsgeschichtlichen ProzeB der Naturbe- herrschung angesammelten Wissens dar; es besitzt pragmatischen Charakter, weil es wissenschaftliche Aufgaben, die die Repro- duktion einer etablierten Produktionsordnung aufgibt, durch den Entwurf eines Aussagensysterns lüst, das faktische Naturvor- ginge zu erkhren und zu prognostizieren erlaubt. Theorien dieses Typs flieBen ebenso, wie sie aus der praktischen Auseinan- dersetzung des Menschen mit der N atur hervorgehen, auch wie- der als optimierendes Kontrollwissen in den ProzeB gesellschaft- licher Naturbeherrschung zurück. Auch eine hüherstufige Reflexion derselben handlungspraktischen Herkunft, die die im- manente Entwicklungsdynamik des gesellschaftlichen Arbeits- prozesses selbst sich zu Bewufüsein führt, kann diesen Verwen- dungsrahmen nicht sprengen; sie vermag, gerade in Konsequenz der Argumentation Horkheimers, nur ein technisches Wissen zu liefern, das bestenfalls die zukünftigen Anwendungsbedingungen hochentwickelter Produktivkrafte zu antizipieren, nicht jedoch deren gegenwirtige Organisationsweise zu kritisieren zul:ifü. Die wissenschaftliche Perfektionierung der Naturbeherrschung führt in sich nicht zu dem »vernünftigen Entschlu!1«, der dadurch, daB er das emanzipative Potential der Produktivkrifte der bewufüen Kontrolle der Produzenten unterstellt, die menschliche Selbsttiu~ schung durchstüfü. Daher bringt Horkheimer neben dieser er- sten, unzureichenden Version noch eine zweite Interpretation des sozialen Konstitutionszusammenhangs einer kritischen Theorie 19
  • 10. ins Spiel; in dieser Version wei:6 sich die kritische Theorie nicht als immanenten Bestandteil des Entwicklungsprozesses der menschlichen Arbeit, sondem als theoretische Ausdrucksform eines vorwissenschaftlichen )>kritischen Verhaltens«. Dieser Verhaltenstyp ist nicht >)pragmarisch«, wie die Arbeitstatigkeit, in den SelbsterhaltungsprozeJ3 der Gesellschaft eingebam, sondem distanziert auf das Ganze des sozialen Lebenszusammenhangs bezogen: ,,Es gibt nun ein menschliches Verhalten, das die Gesellschaft selbst zu seinem Gegenstand hat. Es ist nicht nur darauf gerichtet, irgendwelche MiBstlnde abzustellen; diese erscheinen ihm vielmehr ais notwendig mit der ganzen Einrichrung des Gesellschaftsbaus verknüpft. Wenngleich es aus der gesellschaftlichen Struktur hervorgeht, so ist es doch wcdcr seiner bewufüen Absicht noch seiner objektiven Bedeutung nach darauf bezo- gen, daB irgend etwas in dieser Struktur besser funktioniere. Die Kate- gorien des Besseren, Nützlichen, Zweckmafügen, Produktiven, Wertvol- len, wie sie in dieser Ordnung gelten, sind ihm vielmehr selbst verdi:i.chtig und keineswcgs auBerwissenschafdiche Voraussetzungen, mit denen es nichts zu schaffen hat.«'6 Es ist dieser Gedankengang, der Horkheimer nun nicht nur zu einer andersartigen Bestimmung der sozialen Konstitutionsbe- ~ingunge~ kritischer Theorie, sondem auch zur Herausarbeitung 1hrer zwetten theoretischen Eigenart leitet. Zunachst stellt die zi- tierte Überlegung eine Weise menschlichen Verhaltens vor, die nicht die Natur, sondem die »Gesellschaft selbst« zu ihrem Ge- genstand hat; gemeim ist damit hier nicht eine Verlangerung der Naturbeherrschung in das Innere des gesellschaftlichen Lebens- zusammenhangs hinein als Sozialkontrolle, sondem ein über die sozial etablierte Funktionsordnung hinausweisendes Verhalten. Horkheimer schwebt ganz offensichtlich ein Typ von praktisch- gesellschaftsverandernder T2.tigkeit vor Augen, an die eine kriti- sche Theorie der Gesellschaft sich zurückgebunden wissen kann. Dieses Argument, das auf eine Dimension sozialer Kampfe direkt Bezug nimmt, hat freilich in dem geschichtsphilosophischen Denkrahmen, den Horkheimer bisher zugrundelegt, systematisch keinen Raum: solange dieser niimlich den Gang der Menschheits- geschichte auf den naturwüchsigen Entfaltungsprozefl der Natur- beherrschung red1:1ziert, kann er eine andersartige Form sozialer Praxis, die statt auf produktive, standig erweiterte Selbsterhaltung 20 auf eine neue Organisationsweise gesellschaftlicher Selbsterhal- mng abzielt, kategorial nicht fassen. Hierin wiederholt sich für Horkheimer nur ein begriffliches Dilemma des frühen Mar:x; des- sen Feuerbach-Thesen begreifen im vagen Oberbegriff der ,,Pra- xis« den geschichtlichen LebensprozeB der Gatmng erkenntnis- theoretisch und geschichtsphilosophisch als naturumarbeitende, produktive Tatigkeit, ohne dadurch dem Begriff der ,,praktisch- kritischen Tatigkeit«, in dem der gleiche Text unzweideutig eine politisch-emanzipatorische Ver3nderungspraxis bezeichnet, im kategorialen Rahmen eigentlich noch einen Ort zu gewahren. 1 1 Klarer kann daher der Gedankengang, den Horkheimer sich mit dem Begriff des »kritischen Verhaltens« erõffnet, erst dann wer- den, wenn er ihn bis an die Stelle weiterverfolgt hat, die nun die zweite methodische Eigenart einer kritischen Gesellschaftstheorie herausarbeitet. Die methodologische Abgrenzung der kritischen Theorie von der traditionellen Theorie setzt Horkheimer in einer Überlegung fort, die die unterschiedliche An und Weise, in der sich in den beiden Theorietypen jeweils das Erkennmissubjekt auf das Un- tersuchungsobjekt bezieht, zu bestimmen versucht. ln der natur- umarbeitenden Tã:tigkeit, als deren theoretisch objektivierte Ausdrucksform die traditionelle Theorie gelten darf, bezieht das handelnde Subjekt sich auf ein natürliches Geschehen, das eine praxisunabhiingige Realitiit darstellt; zwar nimmt der Mensch manipulativ Eingriffe in dieses Naturgeschehen vor, aber doch nur so, daB er sich eine subjekttranszendente Gesetzmafügkeit zunutze macht. Das Experiment repr3sentien auf dem Niveau wissenschaftlicher Theorien diese naturumarbeitende Tarigkeit; ebenso wie dort das Handlungssubjekt nimmt das Erkenntnis- subjekt im wissenschaftlichen Experiment, in dem es zum Zwecke eines »Anschauungsunterrichts« künstlich Reaktions- prozesse der Natur erzeugt, auf eine sich auch nach dem experi- mentellen Eingriff gleichbleibende Wirklichkeit Bezug. Daher ist die wissenschaftliche Erkenntnis im Falle traditioneller Theorien dem Untersuchungsgegenstand selber auBerlich. Dieses Verhiilt- nis zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt mufl sich freilich, sobald es sich um eine kritische Gesellschaftstheorie han- delt, wandeln. Horkheimer zeigt auf, wie nun, da die Theorie die )>Gesellschaft selbst« in der Absicht der Kritik zum Gegenstand 21
  • 11. hat, das »kritische Verhalten«, ais dessen irnellektuell objektivier- ten Ausdruck sie sich begreíft, selbst Teil des umersuchten Realiti:itszusarnmenhangs ist; mithin sind Subjekt und Objekt der kritischen Theorie sich nicht in derselben Weise auBerlich wie im Falle traditioneller Theorien: »Die Sache, mit deres der Fachwissenschaftler (der tradítionellen Theo- rie, A. H.) zu tun hat, wird von seiner eigenen Theorie überhaupt nicht berührt. Subjekt und Objekt sind streng getrennt, auch wenn es sich zeigen sollte, dali in einem spiiteren Zeitpunkt das objektive Geschehen durch menschlichen Zugriff beeinflufü wird; dieser ist in der Wissen- schaft ebcnso als Faktum zu betrachten. Das gegenstandliche Gcschehen ist der Theorie transzendent, und die Unabhiingigkeit von ihr gehürt zu seiner Notwendigkeit: der Betrachter als solcher kann nichts daran iin- dern. Zur Entwicklung der Gesellschaft gehbrt aber das bewufüe kriti- schc Verhalten mit hinzu. Die Konstruktion des Geschichtsverlaufs ais notwcndigen Produkts eines 0konomíschen Mechanismus enthalt zu- gleich den selbst aus ihm hcrvorgehenden Protest gegen diese Ordnung und die Idee der Selbstbestimmung des menschlichen Geschlechts, das heifü eines Zustands, in dem seine Taten nicht mehr aus einem Mecha- nismus, sondem aus seinen Entscheidungen flief;en ... Den Gcgenstand der Theorie von ihr getrenm zu denken, verfiilscht das Bild und führt zum Quietismus oder Konformismus. Jeder ihrer Teile setzt die Existenz von Kritik und Kampf gegen das Bestehende in der von ihr selbst be- stimmten Richtung voraus.« 18 Horkheimer schlieíh an die zweite Interpretationsversion, in der er die kritische Gesellschaftstheorie als wissenschaftliche Objek- tivationsform einer praktisch-kritischen Tatigkeit faBt, an und erweitert síe sogleich: denn die Theorie ist nun nicht mehr nur das intellektuelle Produkt einer auBertheoretischen Veri:inderungs- praxis, sondem bestimmt zudem permanent auch deren Richtung mit. Daraus zieht Horkheimer an dieser Stelle den SchluE: nur weil die kritische Theorie auf dieselbe soziale Praxis, durch die sie sich hervorgebracht weig, sti:indig auch handlungsorientierend einwirkt, ist sie ein praluisch-veri:inderndes Moment in der gesell- schaftlichen Wirklichkeit, die sie als Theorie untersucht. Das gewandelte Verhiltnis von Subjekt und Objekt markiert eine zweite methodische Eigenart kritischer Gesellschaftstheorie; diese hat nunrnehr der traditionellen Theorie nicht mehr allein das Wissen um die praktischen Bedingungen ihrer eigenen Entste- hung voraus, sondem zugleich die kontrollierte Selbstanwendung als handlungsleitendes Wissen im politischen Praxiszusammen- hang der Gegenwan. Dadurch, daB die Theorie sich ihren histo- rischen Konstitutionszusammenhang bewu:Bt zu machen und ihren politischen Verwendungszusammenhang vorwegzunehmen versucht, ist sie potentiell, wie Horkheirner noch .im Jahre r937 in der Begrifflichkeit des linkshegelianischen Marxisrnus der zwan- ziger Jahre schreibt, das >)Selbstbewuíhsein der Subjekte einer groBen geschichtlichen Umwi:ilzung((. )9 Diese Formulierung, die unzweideutig die kritische Theorie in einer Dimension des so- zialen Kampfes - und eben nicht der gesellschaftlichen Naturbe- herrschung - verankert, streicht das Miflverh:iltnis, das zwischen erkenntnistheoretischer_Bestimmung und zugrundegelegter Ge- schichtsphilosophie besteht, drastisch heraus. Horkheimer nimmt für die Analyse des praktischen Konstitutionszusammen- hanges der kritischen Theorie einen Begriff von sozialer Praxis in Anspruch, der umfassender ist als derjenige, den sein geschichts- philosophisches Modell zula-Bt. Die Herausbildung und Entwick- lung menschlicher Gesellschaften wird auf der Ebene der Ge- schichtsphilosophie, die den Rahmen für die Ideologiekritik der traditionellen Theorie abgibt, auf den ProzeB der menschlichen Narnrbeherrschung allein zurückgeführt; die naturaneignende Arbeitst:itigkeit stellt die Dimension dar, in der sich die Mensch- heitsgeschichte entlang einer Linie wachsenden Reichtums be- wegt; die Naturwüchsigkeit dieses Fortschrittsprozesses wird erst in dem historischen Augenblick aufgesprengt, in dem die Gattung sich in ihrer produktiven Titigkeit, .in der sie den so- zialen Lebenszusarnmenhang immer schon erzeugt, auch wieder- erkennt. Auf der Ebene der methodologischen Selbstreflexion der kritischen Theorie jedoch rechnet Horkheimer in seiner zweiten Interpretationsversion mit einer Dimension praktisch-kr.itischer Titigkeit; die soziokulturelle Entwicklung bewegt sich in den Bahnen der gesellschaftlichen Produktion und des sozialen Kampfes zugleich. Dieser Kampf ist zwar an den wirtschaftlichen Prozefl der Produktivkraftentwicklung rückvermittelt, da der ihn anleitende »Protest((, wie Horkhe.imer unklar formuliert, aus dem )>0konomischen Mechanismus(( hervorgehr20 ; die Struktur der Handlung hingegen, die dem sozialen Kampf zugrundeliegt, ist von einer anderen Art als die der naturaneignenden Arbeitstatig- keit. 23
  • 12. wahrend in der gesellschaftlicben Arbeit die menschliche Gat- tung im MaEe der praktischen Bezwingung von Naturprozessen ihr soziales Leben erhalt und erweitert, stellt das kritische Verhal- ten eine existierende Organisationsweise dieses Prozesses gesell- schafdicher Selbsterhalrung gerade in Frage. Der Arbeistatigkeit entspricht die AuEerlichkeit einer objektiv vorgegebenen Natur- macht; von ihr emanzipiert sich der Mensch durch ein technisches Wissen, das die praktischen Erfolge in der zweckgerichteten Ma- nipu.1ation des Naturgeschehens sammelt. Der praktisch-kriti- schen Tatigkeit entspricht die Geschichtlichkeit eines sozial hergestellten Produktionsverhiilmisses; dieses beruht, solange »die materielle und ideologische Macht zur Aufrechterhaltung von Privilegien funktioniert«2 1, auf Gewalt und Unterdrückung; von diesem sozialen Gewaltverhiiltnis befreit ein kritisches Wis- sen, das in der )>Verschiirfung des Kampfes~,n sein Ziel hat. Bezieht die gesellschaftliche Arbeit ihren Amrieb also aus einem objektiven Überlebensdruck, so entwachsen die Motive der prak- tisch-kritischen Tatigkeit der subjektiven Erfahrung einer >>herr- schenden Ungerechtigkeit«2 die mit einer gegebenen Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit auf soziale Klassen strukturell ver- knüpft ist; daher rechnet Horkheimer die naturumwandelnde Arbeitstiitigkeit, die das soziokulturelle Überleben überhaupt si- chert, der menschlichen Gattung insgesamt als real gewordenes Transzendentalsubjekt zu, w::ihrend er die kritische Praxis des sozialen Kampfes aHein den Teilgruppen eines sozialen Lebens- zusammenhangs zurechnet, die vom Privileg der Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums ausgeschlossen sind. Die Einschriinkung des Subjekts kritischen Verhaltens auf ein- zelne Gruppen oder Klassen zeigt an, dlli der soziale Kampf, anders als die der Gattung objektiv aufgezwungene Naturbear- beitung, in einen ProzeB der erfahrungsvermittelten Imerpreta- tion der historischen Situation eingebettet ist; nur ein solcher Handlungsrahmen, in dem die Tiitigkeiten der Subjekte nicht durch eine allen gemeinsame, unter dem Selbsterhaltungszwang vereinheitlichte Sichtweise, sondem von divergierenden, n::imlich erfahrungsgepriigten Sichtweisen angetrieben werden, kann er- kliiren, warum Horkheimer der praktisch-kritischen Tiitigkeit als Handlungstriiger nur Teilgruppen der menschlichen Gattung korrespondieren laBt. ln dieser Dimension gesellschaftlicher Pra- xis, des sozialen Kampfes also, treten sich panikulare Realitats- deutungen, die Ausdrucksformen konfligierender Interessenla- gen sind, gegenüber, um über die Gerechtigkeit eines gesellschaft- lichen Produktionsverhiiltnisses zu streiten. Deshalb begreift Horkheimer den praktischen Anwendungsrahmen der kritischen Theorie als den ProzeB einer dialogisch an die unterdrückte Klasse rückvermittelten Interpretation der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Lichte erfahrenen Unrechts: » Wird jedoch der Theoretiker und seine ihm spezifische Aktivitat mit der beherrschten Klasse als dynamische Einheit gesehen, ~o daB seine Dar- stellung der gesellschafdichen Widersprüche nicht bloB als ein Ausdruck der konkreten historischen Situation, sondem ebensosehr als stimulieren- der, verandernder Faktor in ihr erscheint, dann tritt die Funktion der k.ritischen Theorie hervor. Der Gang der Auseinandersetzung zwischen den fortgeschrittenen Teílen der Klasse und den Individuen, welche die Wahrheit über sic aussprcchcn, und ferner die Auseinandersetzung zwi- schen diesen fortgeschrittensten Teilen mitsamt ihren Theorctikern und der übrigen Klasse ist ais ein ProzeB von Wechselwirkungen zu verstc- hcn, bei dem das BewuBtsein mit seinen befreienden zugleich seíne antreibenden, disziplinicrenden, gewalttãtigen Krãfte entfaltet.«24 Horkheimer hat die spezifische Struktur der sozialen Praxis, die er mit dem Titel des >}kritischen Verhaltens{( bezeichnet, nicht weiter aufgeklart. Zwar erüffnet der Gedanke einer dialogisch vermittelten Anwendung kritischer Gesellschaftstheorie die Ein- sicht in die Imerpretationsabhiingigkeit von sozialen Erfahrun- gen; für eine begrifflich weiterreichende Abgrenzung der Katego- rie des ,~kritischen Verhaltens« gegenüber der Kategorie der »gesellschaftlichen Arbeit« nutzt Horkheimer dies aber nicht - der Begriff der praktisch-kritischen Tiitigkeit bleibt theoretisch eigentümlich konturlos. Im Gegenteil, auf der Ebene seiner ge- schichtsphilosophischen Grundannahmen hat Horkheimer die Dimension einer alltiiglichen Kritik, in die die Theorie sich hin- einversetzt weiB, weil sie an dem kooperativen ProzeB einer Interpretation der Gegenwart im Interesse an der Aufhebung er- littenen Unrechts teilhat, restlos ausgespart. Hier ist es, als babe die zentrale Stellung, die der Arbeicsbegriff dadurch einnehmen kann, daB die Geschichte menschlicher Gesellschaften im ganzen als ProzeB gesellschaftlicher Naturbeherrschung begriffen wird, den Begriff des sozialen Kampfes einfach verdr3.ngt. Dieser kate- 25
  • 13. goriale Reduktionismus hindert Horkheimer daran, die hand- lungspraktischen Bestandteile sozialer Auseinandersetzungen und Konflikte als solche zu erfassen; die Handlungsdimensionen sozialer Kiimpfe nimmt er, seiner erkenntnistheoretischen Be- stimmung der kritischen Theorie zum Trotz, ais eigenstiindige Sphare gesellschaftlicher Reproduktion kategorial nicht ernst. Dadurch aber begibt Horkheimer sich der MOglichkeit, die inter- pretative Organisation sozialer Realitiit zureichend zu berück- sichtigen; die Folge ist, wie sich zeigen wird, ein soziologisches Defizit in der imerdisziplinaren Sozialwissenschaft, die Horkhei- mer als Ein!Osung des Programms einer kritischen Theorie der Gesellschaft versteht. Die politische Orientierungslosigkeit, vor die das Institut für So- zialforschung sich in den dreifüger Jahren gestellt sah, mag zur begrifflichen Ambivalenz der Argumentation Horkheimers bei- getragen haben. In diesem Fall hatte die faktische Unsicherbeit über den politisch-praktiscben Verwendungszusammenhang der Theorie eine geschicbtsphilosophisch angemessene Berücksichti- gung der Dimension sozialer Kampfe geradezu verhindert; die Sphare kritischen Verhaltens wfre, weil die Gesellschaftstheorie ihrer für die historische Gegenwart unsicher "ist, aus dem katego- rialen Rahmen der Interpretation von Geschichte überbaupt aus- gespart worden. In der Tat kennzeichnet eine politische Irrita- tion, die durchaus die Quelle einer solchen vorschnellen Verallgemeinerung hat sein künnen, den politischen Charakter der Schriften Horkheimers in jener Zeit. Denn diese lassen einer- seits keinen Zweifel daran aufkommen, daB eine kritische, auf politische Praxis abzielende Theorie der Gesellschaft unter den Bedingungen des Kapitalismus ihren Adressaten einzig in der so- zialen Klasse der Lohnarbeiter, dem Proletariat, zu suchen hat; nur die proletarische Klasse ist aus sozialstrukturellen Gründen einer theoretischen Aufklirung zuganglich und zur politischen Umwalzung bereit. Andererseits jedoch sind in diesen Schriften, unter dem Erfahrungsdruck von nationalsozialistischer Machter- greifung und stalinisiertem Kommunismus, die Zweifel daran schon erheblich gewachsen, ob unter den gewandelten Bedingun- gen des postliberalen Kapitalismus das Proletariat tatsiichlich das durch Unterdrückungserlebnisse und Krisenerfahrungen standig aktualisierte Vetanderungspotential noch aufbringt, an das die marxistische Revolutionskonzeption ihre Erwanungen knüpft.2 5 Der empirischen Beantwortung des in diesem Zwiespalt enthalte- nen Problems dient ein Groíheil der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung und Forschungsarbeit des Instituts für Sozialfor- scbung wiihrend der dreifügerJahre; ihr leitendes Motiv bildet die Frage, »wie die psychischen Mechanismen zustandekommen, durch die es müglich ist, daB Spanmmgen zwischen den gesel1- schaftlichen Klassen, die auf Grund der Okonomischen Lage zu Konflikten driingen, latent bleiben künnen.« 26 Auf die Umersu- chung dieses Zusammenhangs ist das Programm einer interdiszi- plinfren Sozialwissenschaft, das Horkheimer zu Beginn der dreifüger Jahre entwirft, zugeschnitten. Horkheimer ist sich schon in dem 1931 gehaltenen Vortrag über die ),Gegenwirtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgabe eines Instituts für Sozialforschung«, der seine Übernahme des Direktorats des Frankfurter Instituts zum AnlaB hat, darüber im klaren, daB eine kritische Theorie der Gesellschaft, die sich dem schwierigen Anspruch einer Reflexion sowohl ihres sozialen Ent- stehungszusammenhangs wie ihrer politischen Verwirklichungs- müglichkeit stellt, ihre Aufgabe nur in interdisziplinafer Einstel- lung erfüllen kann. Das Modell, das er zu diesem Zweck pr;isentiert, ist das einer »fortwahrenden dialektischen Durch- dringung und Entwicklung von philosophischer Theorie und einzelwissenschaftlicher Praxis«27 ; Horkheimer hat eine kritische Theorie vor Augen, die im stiindigen Ineinander von philosophi- scher Gegenwartsdiagnose und einzelwissenschaftlicher For- schungsarbeit die Strukturbedingungen und Handlungsfolgen der kapitalistischen Krise untersucht. Der im Jahr darauf in der »Zeit- schrift für Sozialforschung,< verüffentlichte Aufsatz »Geschicbte und Psychologie« unternimmt den Versuch, das skizzenhaft ent- worfene Programm theoretisch zu erweitern und zu konkretisie- ren. Das geschichtsphilosophische Denkmodell, das spiter den Rahmen für die methodologische Positionsbestimmung kritischer Theorie abgeben wird, findet sich hier in Gestalt einer materiali- stischen Umdeutung der Geschichtsphilosophie Hegels; es dient als Interpretationsfolie für die Aufgabe, die einzelwissenschaftli- chen Disziplinen in einem sachangemessenen Theoriegefüge zu integrieren. Horkheimer zeigt, daB die materialistische Ge- schichtsauffassung dem Hegelschen Begriff von Geschichte zwar
  • 14. verpflichtet ist, da sie die Idee eines überindividuellen, die Imen- tionen aller Einzelsubjekte übersteigenden Handlungszusam- menhangs aufnimmt, ihm jedoch im gleichen Maise auch entge- gensteht, da sie statt auf die Entfaltung des absolmen Geistes den Gang der Menschheitsgeschichte auf die Entwicklung der menschlichen Naturbeherrschung zurückführt. Es ist dieser kri- tisch gegen Hegel gerichtete Gedanke, der nun die für den frühen Horkheimer charakteristische Idee eines den soziokulturellen Fortschriü aus sich heraussetzenden Prozesses der gesellschaftli- chen Arbeit ins Spiel bringt: »Dic Erkenntnis der realen Zusammenhange entthront den Geist ais au- tonom die Gcschichte gestaltende Macht und setzt die Dialektik zwi- schen den verschiedenar.tigen in der Auseinandersetzung mit der Natur wachsenden menschlichen Kraften und veralteten Gesellschaftsformen als Motor der Geschichte ein. Nach ihr (der ókonomischen Ge- schichtsauffassung, A. H.) zwingt die Erhaltung und Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens den Menschen jeweils eine bestimmte soziale Gruppenordnung auf.«28 Horkheimer legt einen Prozeíl der Produktivkraftentwicklung zugrunde, der mit jeder neuen Stufe des technischen Systems der Naturbeherrschung auch eine neue Stufe der sozialen Organisa- tion der gesellschaftlichen Produktion erzwingt; die Dimension des sozialen Kampfes jedoch, die als Konstitutionsgrund kriti- scher Theorie in der erkenntnistheoretischen Studie eine so zwie- spaltige Rolle einnehmen wird, ist aus diesem Konzept gesell- schaftlicher Entwicklung noch vollkommen ausgeklammert. Naturbeherrschung, Selbsterhaltung allein in Prozessen gesell- schafdicher Arbeit, ist die einzige Dimension, in der sich der soziokulrurelle Fortschritt bewegt; ausdrücklich setzt Horkhei- mer den ))LebensprozeB einer Gesellscbaft« mit der i,Auseinan- dersetzung mit der N atur« gleich_1. 9 Dieses kategorial verengte Geschichtsmodell, ein bestimmender Bestandteil der frühen kriti- schen Theorie Horkheimers, bildet den theoretischen Sockel, auf dem er das Gebiude einer interdisziplinafen Sozialwissenschaft errichtet. Die Einzelwissenschaft, die dann die unumstrittene Rolle einer sozialwissenschaftlichen Grundlagendisziplin erhal- ten muB, ist die politische Ôkonomie; die ükonomischen Katego- rien allein erfassen, weil die Zivilisationsgeschichte als der ProzeB einer sich stufenweise von den Fesseln überalteter Produktions- verhiiltnisse befreienden Produktivkraftentwicklung transparent geworden ist, die objektive Struktur eines sozialen Lebenszusam- menhangs: »Gliedert sich die Geschichte aber nach den verschie- denen We.isen, in denen sich der LebensprozeB der menschlichen Gesellschaft vollzieht, so sind nicht psychologische, sondem Okonomische Kategorien historisch grundlegend.«30 ln der Kon- sequenz dieses Arguments kann Horkheimer die Zentralkatego- rien der Marxschen Kapitalanalyse als die sozialwissenschaftli- chen Begriffe identifizieren, in denen die kapitalistische Form des gattungsgeschichtlichen Prozesses der Naturbeh~:rschung zur Bestimmung gelangt; die von Marx ausgearbeitete Okonomie er- schlieBt, da sie den Entwicklungsstand und die Organisations- weise des kapitalistischen Systems gesellschaftlicher Selbsterhal- mng kategorial umfaíh, das Gesamt des die Intentionen aller Einzelsubjekte übersteigenden Handlungszusammenhangs dieser Epoche. Freilich ist Horkheimer sich bewufü, daB die Okonomische Theo- rie des Kapitalismus, die das Rückgrat der interdisziplinafen Sozialwissenschaft bilden soll, mit ihrem Untersuchungsgegen- stand historisch gleichsam mitwandern muB; den internen Struk- mrwandel, den das kapitalistische System der Naturbeherrschung seit seiner liberalen Ara vollzogen hat, muB die kritische Theorie, will sie Ausdruck einer aktuellen Geschichtssituation sein, sach- lich nachvollziehen. Für den Horkheimer der dreifüger Jahre, dem als Õkonom im lnstitut für Sozialforschung Friedrich Pol- lock zur Seite steht31, stellt sich die Aufgabe der Okonomischen Disziplin dann darin, die aus dem Konzentrationsprozefi des Ka- pitals heraustreibende Tendenz zur planwirtschaftlichen Organi- sation des Kapitalismus zu untersuchen; auf dieser Linie liegen auch die rechts- und staatstheoretischen Arbeiten Franz Neu- manns und- Otto Kirchheimers, die die juristische und politische Mediatisierung der kapitalistischen Krisendynamik zum Gegen- stand haben.32 Horkheimer jedoch thematisiert die postliberale Entwicklungssmfe der kapitalistischen Produktionsweise, die das Steuerungsmedium des Marktes durch die Planungsorgane wirt- schaftlicher Machteliten, die »Fabrikanten« des liberalistischen Zeitalters durch die »Monopolist'en(( einer kapitalistischen Plan- wirtschaft ersetzt hat33, primar als das ükonomische Strukturge- , foge, dessen psychische lnnenseite die zweite Teildisziplin d:: 1 ~
  • 15. interdisziplinaren Sozialwissenschaft, die Psychologie, zu erkla- ren hat. Das Argument, mit dem Horkheimer die Psychologie als die der Okonomischen Theorie komplementã:re Teildisz.iplin einer kriti- schen Sozialforschung vorstellt, klingt vertraut; es formuliert den theoretischen Konsens, vor dessen gemeinsamen Hintergrund die ,<Freudsche Linke« (1Vlarcuse) in den zwanziger und dreifüger Jahren Anstrengungen zur Integration voo historischem Materia- lismus und psychoanalyt.ischer Theorie unternahm.34 Horkhei- mer wendet sich gegen eine gesellschaftstheoretische Überstrapa- zierung des in der êikonomischen Theorie vorausgesetzten Erkliirungsmodells: eine Theorie der Gesellschaft, die von den in der Wirtschaftstheorie hypothetisch unterstellten Handlungsmo- tiven auf die Ebene faktischen Handelns zurückschliefü, stützt sich implizit auf eine dem utilitaristiscben Denken verpílichtete Trivialpsychologie, die als Motiv sozialen Handelns allein den »wirtschaftlichen Egoismus« zulaBt; all die psychischen Motiv.e jedoch, die über die zweckrationale Verfolgung eines privaten Nutzens hinaus in den sozialen Handlungszusammenhang ein- fliefien, sind in einer zur Psychologie blofi willkürlich erhobenen Wirtschaftstheorie ausgespart. An die Stelle einer am rationalisti- schen Handlungsmodell des Utilitarismus orientierten Trivial- psychologie hat daher eine Psychologie zu treten, die ihren Ausgang in der Plastizitat und Verschiebbarkeit des menschlichen Triebpotentials nimmt; denn erst wenn wir berücksichtigen, da.G die ein Subjekt treibenden Bedürfnisansprüche nicht nur eine un- gewOhnliche Vielfalt aufweisen, sondem unter Frustrationsdruck auch auf kompensatorisch errichtete Triebziele abdrJ.ngbar sind, kOnnen wir uns sozialwissenschaftlich die Handlungsweisen all jener sozialen Gruppen erkliiren, die ihrem rationalen Interesse zuwider an einem gesellschaftlichen Unterdrückungsverhiiltnis partizipieren. Deshalb mu.G sich eine kritische Theorie der Gesell- schaft, die die Ursache für die Latenz eines von ihr selbst progno- stizierten Klassenkonflikts zu ergründen hat, auf eine Psycholo- gie stützen, die die theoretische Voraussetzung der zweckrationa- len Motivierung alles menschlichen Handelns hinter sich gelassen hat: »Jedenfalls entspringen die Handlungen der Menschen nicht bloB ihrem physischen Selbsterhaltungsstreben, auch nicht bloG dem unmittelbaren ]O Geschlechtstrieb, sondem z. B. auch den Bedürfnissen nach Bctatigung der aggressiven Krafte, ferner nach Anerkennung und Bestiitigung der eigenen Person, nach Geborgenheit in einer Kollektivitat und anderen Triebregungen mehr. Die moderne Psychologie (Freud) hat gezeigt, wie sich solche Ansprüche vom Hunger dadurch unterscheiden, daB dieser eine direktere und stetigere Befriedigung verlangt, wahrend jene weitge- hend aufschiebbar, modellierbar und der Phamasiebefriedigung zugãng- lich sind.«35 Das psychologische Konzept, das die soziale Integration der Sub- jekte in eine an sich widersprüchliche Produktionsweise zu ana- lysieren hat, muB so beschaffen sein, daB es 'das menschliche Antriebsleben ais ein zuniichst plastisches, unter gesellschaftli- chen Handlungserfordernissen formbares und zu psychischen Ersatzbildungen sti:indig bereites Triebgeschehen in den Blick tre- ten lafü. Dann wird versti:indlich, warum die Erfahrung sozialer Abhangigkeit und Unterdrückung, noch bevor sie zur »Erkennt- nis(( wird, durch »eine das Bewu.Gtsein verfalschende Triebmoto- rik((36 gleichsam blockiert und verdriingt wird: die kognitive ErschlieBung der gesellschaftlichen Realitat, die das Ich zur Wahrnehmung des Unrechts instand setzen würde, wjrd durch einen triebdynamischen Prozefi der Verleugnung und Verdri:in- gung hintertrieben, der an die Stelle erfahrener Ohnmacht die imaginiire Erfahrung von persünlicher oder kollektiver Macht setzt; die psychischen Mittel, die diese phantastische Verkehrung realer Herrschaft ermüglichen, sind Projektion und Identifika- tion. Es ist der Dualismus von realitatsgerechter Erkenntnis und irra- tionalem Triebgeschehen, der den Ort kennzeichnet, an dem Horkheimer sich den Einbau der Psychologie indas interdiszipli- ni:ire Gefüge einer kritischen Sozialforschung vorstellt. Der Pro- ze.G der kapitalistischen Naturbeherrschung, in dem Entwick- lungsstand und Organisationsweise der gesellschaftlichen Arbeit in ein eklatantes MiBverhaltnis geraten sind, ist mit einem ProzeB der individuellen Bedürfnissozialisation verschri:inkt, der das An- triebspotential der Subjekte indas etablierte Umerdrückungsver- haltnis einpafü; dies geschieht in einem triebdynamischen Vor- gang, der dadurch, dafi er die so,zial unerwünschten Bedürfnisan- sprüche auf herrschaftssichernde Ziele umleitet, das Subjekt unbewufü zu einer stiindigen Realitatsverkennung zwingt, die die JI
  • 16. Leistungen rationaler Erkenntnis untergTabt. Nur auf dem flie- Renden Fundament dieses sich ununterbrochen wiederholenden Triebgeschehens sitzt mithin die Okonomische Reproduktion des kapitalistischen Systems der Naturbeherrschung auf: es sind >)die geschichtlich gewordenen seelischen Eigenschaften, die Triebver- anlagung«, wie Horkheimer schreibt, die >>für die Aufrechterhal- tung überholter Produktionsverh:iltnisse und für die Festigkeit des darauf gegründeten gesellschaftlichen Baus jeweils bestim- mend« sind.37 Daher hat in einer interdisziplinaren Sozialwissen- schaft, die sich die empirische Untersuchung des kapitalistischen Krisenzusammenhangs zum Ziel setzt, der ókonomischen Grundlagendisziplin eine psychologische Theorie zur Seite zu treten; diese analysiert den Proze6 der individuellen Triebsozia- lisation, durch den hindurch sich ein gesellschaftliches System der Naturbeherrschung zur sozial akzeptierten Einheit eines Lebens- zusammenhangs integriert. Das theoretische Paradigma, dem Horkheimer die Erklarungs- kraft zutraut, die an die Psychologie als sozialwissenschaftliche Teildisziplin gestellte Aufgabe zu lOSen, bietet die Psychoanalyse; ihre Grundvorstellung, die Strukturierung des libidinOsen Trieb- potentials in der kindlichen Interaktion mit Mutter und Vater, liefert mithin das zweite Theoriemodell, das komplementar neben das geschichtsphilosophische Grundmodell der gesellschaftlichen Arbeit tritt. Horkheimer nimmt die Psychoanalyse in der Version auf, die ihr die analytische Sozialpsychologie Erich Fromms gegeben hatte. Fromm war im intellektuellen Kreis des Instituts für Sozialfor- schung mit der Aufgabe betraut, eine an die Okonomische Aus- gangsdisziplin nahtlos anschlieBende Psychologie auszuarbeiten; sein Lêisungsvorschlag mufüe daher an die Überlegung anknüp- fen, die auch Horkheimer zum Einbau einer Psychologie in die interdisziplinfre Sozialforschung motiviert hatte: »Aber weder der âuí3ere Machtapparat noch die rationalen lnteressen würden ausreichen, um das Funktionieren der Gesellschaft zu garantie- ren, wenn nicht die libidinéisen Strebungen der Menschen hinzukâmen. Es sind die libidinéisen Krâfre der Menschen, die gleichsam den Kitt for- mieren, ohne den die Gesellschaft nicht zusammenhielte, und die zur Produktion der groí3en gesellschafdichen Ideologien in allen kulturellen Sphâren beitragen.«38 32 Fromm fügt zwei aus verschiedenen Qudlen stammende Kon- zepte ineinander, um den Prozefs der Triebsozialisation, der die libidinósen Strebungen in das gesellschaftlich geforderte Verhal- tensgefüge einzwingt, zu analysieren.39 Erstens geht er, wie die marxistisch orientierten Psycboanalytiker seiner Zeit, davon aus, daE die institutionellen Forderungen, die das kapitalistische Sy- stem der gesellschafdichen Arbeit erhebt, dem Heranwachsenden durch die Eltern repr2sentiert werden; daher ist die Familie das soziale Medium, in dem die sozioókonomischen Verhaltensimpe- rative sozialisationswirksam aufgehoben sind. Einer durch die Lektüre der Schriften Karl Abrahams vermittelten Interpretation der psychoanalytischen Charakterlehre Freuds entnimmt er zweitens den Gedanken, da6 die Persõnlichkeitsstruktur eines Menschen aus den stabilisierten Verhaltenszügen einer Stufe der psychosexuellen Entwicklung zusammengesetzt ist; der individu- elle Charakter ist ein Bündel von festgeklemmten Strebungen der frühkindlichen Erotik. Beide Konzepte zusammengenommen er- geben den Gru.ndgedanken der Sozialpsychologie Fromms: das Erziehungsverhalten der Eltern, das den auEeren Zwang der Ge- sellschaft innerfamilial abbildet, fixiert die psychosexuel1e Ent- wicklung des Kindes auf der Stufe, die in das sozial geforderte Verhaltensschema pafü; die Triebanteile dagegen, die über das in der Familie priimiierte AuEerungsspektrum hinausstreben, wer- den künftig sublimiert oder verdriingt ~ die libidinOsen Strebun- gen des heranwachsenden Subjekts sind also in die gesellschaftlich erwünschten Handlungsbahnen hineingewachsen. Diese sozialpsychologische Konzeption, die Fromm in seinen Aufsiitzen zu Beginn der dreiBiger Jahre noch auf klassenspezifi- sche Persünlichkeitsstrukturen hin ausdifferenziert, bis er in der groEangelegten Institutsuntersuchung über Autoritdt und Familie das schichtenübergreifende Konzept des sadomasochistischen Charakters zugrundelegt40 , hat Horkheimer vor Augen, wenn er von der Psychologie als Teildisziplin einer kritischen Gesell- schaftstheorie spricht. lhre Schw:ichen mu6 er zwangslaufig adoptieren, solange er ihnen nicht in konzeptuellen Korrekturen begegnet. Fromm l:ifü die Grundbegriffe einer psychoanalyti- schen Persünlichkeitstheorie und die Grundbegriffe einer Okono- mischen Gesellschaftstheorie unmittelbar ineinandergreifen; zwi- schen beiden Begrifflichkeiten wird die Dimension sozialen 33
  • 17. Handelns, an deren konkreter Realitiât sich das individuelle Trieb- potential schrittweise formt, kategorial gleichsam zerrieben. Die Familie, die im Bezugsrahmen der Konzeption Fromms den ge- sellschaftlichen Kommunikationszusarnmenhang im ganzen re- priisentiert, erscheint ais bloBe Funktion eines übergreifenden Wirtschaftsprozesses: die Funktionsimperative der kapitalisti- schen Õkonomie bilden sich als Verhaltenszwiânge in dem fami- lialen Interaktionsgeschehen, mit dem das Kind zuniichst kon- frontiert ist, einfach ab; in das Gefüge dieser durch das elterliche Erziehungsverhalten abgesteckten Systemerfordernisse wachsen die libidinüsen Strebungen des Heranwachsenden scheinbar rei- bungslos hinein. Der geschlossene Funktionalismus, in dem diese Herleitung mündet, ist der verdeckte Kern der Sozialpsychologie Fromms; sie muB in der Nahe einer, wie Helmut Dahmer sagt, >>Theorie der totalen Sozialisation« geraten41, weil sie weder der individuellen Bedürfnisdisposition einen libidinOsen Überschu:B noch dem sozialen Handeln eine sozialisatorische Eigenstiindig- keit gegenüber den Okonomischen Systemzwangen zugesteht. Horkheimer scheint sich dessen bewufü zu sein. Wie um dem Okdnomischen Reduktionismus vorzubeugen, auf den eine Ge- sellschaftstheorie festgelegt wiire, in der die Sozialpsychologie Erich Fromms mit einer Friedrich Pollock endehnten Kapitalis- musanalyse kurzgeschlossen ist, schaltet Horkheimer zwischen die Sphire individueller Triebsozialisation und das übergreifende System gesellschaftlicher Arbeit eine dritte Dimension sozialer Reproduktion, die der Kultur. Der Begriff der )>Kultur« stellt offenbar das kategoriale Mittel dar, mit dessen Hilfe er sich der Gefahr zu erwehren hofft, die kritische Gesellschaftstheorie auf dem Wege eines theoretischen Zusammenschlusses allein von Psychoanalyse und politischer Õkonomie in einen latenten Funk- tionalismus abgleiten zu lassen; in der schillernden Bedeutung und in dem ambivalenten Stellenwert freilich, den dieser Begriff im Konzept der interdiszipliniiren Sozialwissenschaft annimmt, holt Horkheimer der kategoriale Reduktionismus seiner eigenen Geschichtsphilosophie hinterrücks ein. Horkheimer rechnet einerseits mit einer Sphiire kulturellen Han- delns, die über den gesellschaftlich ausdifferenzierten Sektor der 2sthetischen oder inteliektuellen Produktion binaus den alltagli- chen Bereich symbolischer Au:Berungen und sozialer Intetaktio- 34 nen umfa.Bt. In seiner Antrittsrede als Direktor am Institut für Sozialforschung geht e:r davon aus, da:B die Kultur neben dem System gesellschaftlicher Arbeit und dem Proze:B individueller Triebsoziahsation die dritte Dimension sozialer Reproduktion ist, auf die eine interdiszipliniire Sozialwissenschaft ihre Auf- merksamkeit richten muB, wenn sie die Integration der Okonomi- schen Funktionsimperative in die wie auch immer brüchige Einheit eines Lebenszusammenhangs analysieren will; daher steht die kritische Gesellschaftstheorie auf den drei Fundamenten der Okonomischen, der psychologischen und der kulturtheoretischen Disziplin: »Nicht bloís innerhalb der Sozialphilosophie im engeren Sinn, sondem ebenso in den Kreisen der Soziologie wie in denen der allgemeinen Phi- losophie haben sich die Diskussionen über die Gesellschaft allmãhlich um eine Frage kristallisiert, die nicht blofS gegenwiirtig wirksam, sondem zugleich die aktuelle Fassung altester und wichtigster philosophischer Problemc ist, nimlich um die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwick- lung der Individuen und den Verinderungen auf den Kulturgebieten im engcren Sino, zu denen nicht nur die sogenannten geistigen Gehalte der Wissenschaft, Kunst und Religion gehi::iren, sondem auch Recht, Sitte, Mode, Offentliche Meinung, Sport, Vergnügungsweisen, Lebenssril usf. Der Vorsatz, die Beziehungen zwischen diesen drei Verliiufen zu erfor- schen, ist nlchts ais cine dcrrzur Verfügung stehenden Methoden wie dem Stand unseres Wissens angepafüere Formulierung der alten Frage nacb dem Zusammcnhang von besonderer Existenz und allgemeiner Vernunft, von Realitiit und Idee, von Leben und Geist, nur eben auf die neue Pro- blemkonscellation bezogen.«4_,. Die hier zur Geltung gebrachte Kategorie der Kultur, die an die aus der englischen Kulturgeschichtsschreibung und Unterschich- tensoziologie heute in die bundesrepublikanische Soziologie im- portierte Verwendungsweise des Begriffs erinnert43 , steckt ein Feld gesellschaftlichen Handelns ab, in dem soziale Gruppen ge- meinsame Wertorientierungen gewinnen, in den Institutionen ihres Alltagslebens objektivieren und in Form symbolischer Au- flerungen tradieren. Die Dimension gesellschafdicher Reproduk- tion, auf die Horkheimer mit Hilfe eines solchen Kulturbegriffs also abzuzielen scheint, ist die der Erzeugung und Sicherung von sowohl kognitiven als auch normativen Selbstverstiindlichkeiten im Medium sozialen Handelns; diese gruppenspezifisch hervor- 35
  • 18. gebrachten und kommunikativ abgestützten Orientierungsmu- ster vermitteln, wei] in ihnen die 0konomischen Handhmgs- zwiinge alltagspraktisch uminterpretien und daher sozialisations- wirksam gespeichert sind, zwischen dem System der gesellschaft- lichen Arbeit und der individuellen Motivbildung. Das natürliche Potential der menschlichen Antriebe und der sozial verse]bstã:n- digten Zwange der 0konomischen Reproduktion brechen sich an dem Fundus von alltiiglichen Interpretationsleistungen, in denen die Subjekte sich wechselseitig einer mit anderen Subjekten geteil- ten Sozialdeutung und Wertorientierung immer erneut versichern müssen. Erst durch den Filter dieser gemeinsamen Handlungs- normen hindurch, die in gruppenspezifischen Auffassungen von »Recht« und »Sitte« auf Dauer gestellt und in den habitualisierten Ausdrucksformen der »Mode« und des »Lebensstils« symbolisch dargestellt werden, flie.Gen die von oben vorgegebenen Hand- lungszwiinge und die von innen driingenden Handlungsamriebe wirksam in den Lebenszusammenhang vergesellschafteter Sub- jekte ein. Der »Kitt« einer Gesel1schaft, der in der Redeweise Horkheimers ihre ))auseinanderstrebenden Teile künstlich zu- sammenhiilt«44, setzt sich dann aus den kulturell erzeugten und standig erneuerten Handlungsorientierungen zusammen, in de- nen soziale Gruppen die ihnen unter Bedingungen klassenspezi- fischer Arbeitsteilung zugemuteten Aufgaben und die je individu- ellen Bedürfnispotentiale imerpretatorisch zur Deckung gebracht haben, Diese Schlu.Gfolgerung jedoch zieht Horkheimer nicht; statt dessen leitet er die Kategorie der Kultur, noch bevor er sich die handlungstheoretische Logik seiner eigenen Begriffsverwen- dung zu BewuGtsein führt, auf ein traditionelles Begriffsgleis zurück, das nun nicht mehr auf ein spezifisches Spektrum so- zialen Handelns, sondem auf einen Bereich gesellschaftlich gene- ralisierter Sozialisationsagenturen zielt. Dieser zweite Begriff von ))Kultur« ist in dem kategorialen Rahmen, den Horkheimer sei- nem Entwurf einer interdiszipliniiren Sozialwissenschaft zugrun- delegt, richtungweisend: »Der Produktionsprozeís beeinfluíst díe Menschen nicht nur in der un- vermittelten und gegenwiirtigen Gestalt, wie sie ihn bei ihrer Arbeít selbst erleben, sondem auch, wie er in den relariv festen, das heifü sich nur langsam umbildenden Instítutíonen wie Familie, Schule, Kirche, Kunst- anstalten und dergleichen aufgehoben ist. Zum Verstiindnis des Problems, warum eine Gesellschaft in einer bestimmten Weise funktio- niert, warum sie stabil ist oder sich aufl6st, gehOrt daher die Erkenntnis der jeweiligen pif),chischen Verfassung der Menschen in den verschiede- nen sozialen GJ-uppen, das Wissen darum, wie sich ihr Charakter im Zusammenhang 1 •mit allen kulcurellen Bildungsmiichten der Zeit gesraltet hat.«45 Es ist das Bezugssystem des Kulturbegriffs und nicht allein sein kategoriales Umfeld, das sich im Kontext dieser Argumentation gewandelt hat. Horkheimer rechnet hier mit einer Reihe von kul- turellen Einrichtungen, die die Verhaltensanforderungen des ge- sellschaftlichen Produktionsprozesses in stabil institutionalisier- ten Prozessen der Erziehung und Bildung an die Subjekte rückvermitteln; die elterlichen Erziehungsprozeduren, die schuli- schen Curricula oder die religiüsen Rituale sind auf alle soziale Klassen einwirkende Medien, über die die Verhaltenszwange des Wirtschaftssystems zwar indirekt und gebrochen, aber doch le- benslang und unaufh.0rlich auf die individuelle Psyche ausstrah- len. In einer derartigen Verwendungsweise nahert sich der Begriff der Kultur, auch wenn Horkheimer strikter als seine Vorliiufer die Eigendynamik kultureller Einrichtungen hervorhebt46 , dem marxistischen Schliisselbegriff des )>kulturellen Überbaus« an; das Bezugssystem namlich, das nun maGgebend ist, schneidet den Kulturbegriff auf dauerhaft angelegte, dem alltaglichen Hand- lungsflu.G scheinbar enthobene Institmionen zu. Nicht mehr die kooperative Erzeugung normativer Orientierungsmuster, kultu- relles Handeln also, sondem die sozialisierende Funktion von Bildungseinrichtungen, die kulturelle Institution, gibt das reale Vorbild ab, an dem dieser zweite Kulturbegriff Horkheimers sich orientiert. Horkheimer hat den handlungstheoretischen Begriff der Kultur, den er in seinem Antrittsvortrag im Blick zu haben scheint, unter der Hand in den institutionstheoretischen Begriff des ))kulturellen Apparats«47 transformiert; die Kultur tritt nun in der eigensinnigen Gestalt organisierter LernprozesSe, die die 0ko- nomisch erforderlichen Verhaltenszumutungen als libidin0se Handlungsziele in der individuellen Psyche verankern, zwischen das System der gesellschaftlichen Arbeit und das plastische Trieb- potential des Menschen. ln so gut wie allen Texten, die Horkhei- mer wiihrend der dreiBiger Jahre in der Zeitschrift für Sozialfor- schung publiziert, hat dieser Begriff der kulturellen Institution 37
  • 19. den Handlungsbegriff der Kulmr ersetzt; darin verschaHt sich in dem sozialwissenschaftlichen Theorieprogramm Horkheimers der kategoriale Reduktionismus seiner Geschichtsphilosophie Geltung. Er kann den Begriff des kulturellen Handelns kategorial nicht weiter verfolgen, weil sein geschichtsphilosophisches GrundmodeH neben der gesellschaftlichen Naturbearbeitung ei- nem anderen Typus sozialen Handelns keinen Raum lafü. Nur eine institutionstheoretische Kategorie der Kultur, die der sozialintegrativen Funktion p:idagogischer uri.d religiéiser Ein- richrnngen habhaft zu werden versucht, vertriigt sich mit einer Geschichtsvorstellung, die die zivilisatorische Entwicklung auf den einen Prozefi der stufenweisen Erweiterung und Verfeine- rung der menschlichen Arbeitsfahigkeiten verkürzt. In diesem ProzeE übernimmt dann ein institutionalisiertes Gefüge kulturel- ler Agenturen auf jeder Entwicklungsstufe erneut die Funktion, die in der sozialen Organisation der Arbeit verlangten Hand- lungsmotive sozialisatorisch zu wecken und das etablierte Privi- legiengefalle ideologisch zu stützen; die Institutionen der Kultur sind also auf das individuelle Triebpotential durchgreifende Sta- bilisierungsfaktoren im gattungsgeschichtlichen Vervollkomm- nungsprozeB der gesellschaftlichen Naturbeherrschung. Einen Begriff des kulturellen Handelns jedoch, der die kooperative Ta- tigkeit der Hervorbringung und Sicherung von gruppenspezifi- schen Handlungsoriemierungen· benennt, darf Horkheimer in diesem Geschichtsmodell systematisch ebensowenig dulden wie den erkenntnistheoretisch angelegten Begriff des kritischen Ver- haltens, weil beide durch die Rückführung alles menschlichen Handelns auf Arbeit kategorial ausgeschlossen sind; in beiden Begriffen zielt Horkheimer theoretisch mehr an, ais er auf ge- schichtsphilosophischer Ebene vertreten darf. Ihm steht zwischen dem marxistischen Modell der gesellschaftlichen Arbeit und dem psychoanalytischen Modell der individuellen Triebsozialisation kein drittes Theoriemodell mehr zu Verfügung, anhand dessen er die Struktur sei es des kulturellen Handelns oder des sozialen Kampfes kategorial entfalten kónnte. Das ist der Grund, der Horkheimer schlieBlich zwingt, das handlungstheoretische Kon- zept der Kultur ebenso ungenutzt zu lassen wie die Kategorie des kritischen Verhaltens, obwohl er sie doch beide ins Spiel bringt. Der soziale Íampf ist, folgt man den Anregungen, die Horkhei- mers frühe Texte selber geben, das konfliktuOse Gegenstück zum kulturellen Handeln. In ihrem alltiglichen Hande]n haben die Mitglieder einer sozialen Gruppe ihre positionsbedingten Interes- sen und ihre je individuellen Bedürfnispotentiale in relativ stabi- len Wertoriemierungen und Interpretationsmustern synthetisiert, die es erlauben, andem institutionalisierten Handlungsgefüge ei- ner Sozialordnung ohne psychischen Identitatsverlust aktiv zu partizipieren; im Horizont solcher kulturellen Handlungssy- steme, die in tradierten Interaktionsweisen und Symbolordnun- gen eine gewisse Dauer angenommen haben, scheinen die klassenspezifisch verteilten Belastungen auf ein biographisch er- triigliches Ma:G reduziert und die individuellen Triebansprüche in eine zumutbare Bedürfnisorganisation integriert. Ein gruppen- spezifischer Orientierungshorizont, der beide Aufgaben erfüllen soll, ist freilich, da er gleichsam tagtaglich unter den Gruppenmit- gliedern erneuert und bestatigt werden mu:G, au:Gerst fragil; schon unerwartbare Ereignisse und bislang nicht bekannte Informatio- nen unterbrechen die Wiederberstellung der eingeübten Hand- lungsorientierungen und gefahrden das brüchige Normengefüge einer sozialen Gruppe. Das kritische Verhalten ist nun der gerich- tete ProzeB einer kooperativen Überprüfung und Problematisie- rung von gruppenintern eingespielten SelbstverstaDdlichkeiten; er wird angestoEen durch interpretatorisch noch nicht abgedeckte Erfahrungen, die das bisher akzeptierte AusmaR an sozialen Be- lastungen und an libidinOsen Versagungen in ein neues Licht rücken. Die Unterbrechung des kulturell abgesicherten und ge- schützten Alltagshandelns zwingt die Gruppenmitglieder, den tradierten Orientierungshorizont an der blofigestellten Rea!itat zu korrigieren und zu erweitern; daher ist das kritische Verhalten die reflexive Fortsetzung einer in ihrem Selbstverstandnis er- schütterten Alltagskommunikation. Der soziale Kampf la:Bt sich auf dieser Basis als die kooperative Organisation dieser alltagli- chen Kritik begreifen: er ware der unter Bedingungen klassenspe- zifischer Arbeitsteilung und Belastungszumutung erzwungene Versuch sozialer Gruppen, ihren an der wiederholten Erfahrung erlittenen Unrechts gewonnenen Handlungsnormen im Normen- gefüge eines sozialen Lebenszusammenhangs zur Durchsetzung zu verhelfen. Horkheimer jedoch mug auch dieses Muster kriti- 39
  • 20. schen Verhaltens, weil er den. Norma]fall alltaglichen Handdns nicht zu entschlüsseln weiB, theoretisch unbestimmt lassen. Der Zwang seines geschichtsphilosophischen Grundmodells ist so stark, daB er nicht umhin kann, das kulturell geleitete Alltagshan- deln und die kritisch-praktische Tatigkeit sozialer Gruppen, noch bevor er sie kategorial entfalten kann, in den auf gesellschaftliche Arbeit und individuelle Triebsozialisation allein zugeschnittenen Kategorienrahmen zurückzudtangen: zwischen dem Okonomi- schen Imperativ der gesellschaftlichen Selbsterhaltung und der komplementfren Aufgabe der individuellen Bedürfnissozialisa- tion vermittelt nicht das soziale Handeln der Gesellschaftsmit- glieder, sondem ein institutionalisierter Ring kultureller Agentu- ren. In der Folge dieser begrifflichen Inkonsequenz blendet Horkhei- mer das gesamte Spektrum sozialen Alltagshandelns aus dem Gegenstandsbereich der interdiszipliniiren Sozialwissenschaft aus. Der soziologischen Aufgabe gegenüber, die gesellschaftliche Realitat auf den gruppenspezifischen Erfahrungshintergrund und den kooperativen ErzeugungsprozeB sozialer Orientierungsmu- ster hin zu untersuchen, zeigt er sich in der Programmierung einer kritischen Sozialforschung verschlossen; weder die kulturell eingespielte Alltagskommunikation noch der kulturelle Dauer- konflikt zwischen den sozialen Gruppen erhalten den Status ernstzunehmender Gegenstandsbereiche von einzelwissenschaft- licher Forschungsarbeit. Im Disziplinengefüge der kritischen Ge- sellschaftstheorie Horkheimers nimmt daher die Soziologie die marginale Stellung einer Hilfswissenschaft ein; weil sie ein eigen- st:indiges Theoriemodell nicht besitzt, springt sie entweder der politischen Õkonomie oder der Psychoanalyse 6106 zur Seite, wenn die kulturelle Stabilisierung des Wirtschaftsprozesses oder die soziale Vermitdung der Bedürfnisbildung Themen von Un- tersuchungen werden. Um eine kategoriale Grundlegung der Soziologie jedoch bemüht Horkheimer sich nicht; die handlungs- theoretischen Entwürfe, in denen Max Weber auf der einen Seite, George Herbert Mead auf der anderen Seite der Soziologie die Gestalt einer selbst:indigen Wissenschaft zu geben versuchen, bleiben ihm fremd. Deshalb mu6 er schliefüich doch- :ihnlich wie Fromm, dessen Konzept er in seinen funktionalistischen Konse- quenzen durch den Einbau einer Kulturtheorie zu korrigieren hoffte - die /'kritische Gesellschaftstheorie sich mit dem Zusam- menschlu6 'Von politischer Ókonomie und Psycho:malyse be- scheiden lassen. Horkheimer ist auf den Dualismus von realitats- gerechter Erkenntnis und irrationalem Triebgeschehen zurückge- worfen, wenn er den ProzeB analysieren wi11, über den ein System der N aturbeherrschung zur kollektiv akzeptierten Einheit eines sozialen Lebenszusammenhangs sich integriert; es bleibt der epo- chale Bruch zwischen rationaler Realitiitseinsicht und libidinéis erzwungener Realitiitsverkennung, der über den Mechanismus der sozialen Integration allein empirisch Auskunft gibt. Dies ist die Grundüberlegung, die das »Autoritiit und Familie« betitelte und von Horkheimer geleitete Forschungsprojekt über die latente Faschismusbereitschaft der deutschen Bevülkerung triigt. Der Gesamtbau der interdiszipliniiren Sozialwissenschaft, den Horkheimer im Laufe der dreifüger Jabre zu entwerfen versucht, ruht auf den beiden Fü6en der Okonomischen und der psycho- analytischen Disziplin allein; in ihm markiert der Posten einer Kulturtheorie blo!s den gescheiterten Versuch einer systema- tischen Berücksichtigung sozialen Handelns. Die Kulturtheorie freilich, die in der Arbeit des Instituts für Sozialforschung fak- tisch zur Anwendung gelangt, stützt sich weder auf die hand- lungstheoretische noch auf die institutionstheoretische, sondern auf eine dritte Version des Kulturbegriffs: hier setzt sich, in einem zweiten Reduktíonsschritt gewisserma!sen, der traditionalisti- sche, auf 8.sthetische Produkte zugeschnittene Begriff der Kultur erneut durch, von dem Horkheimer in seiner Begriffsverwendung sich ursprünglich getrennt hatte. Leo Lüwenthal und Theodor W. Adorno, d.ie in der Arbeitsteilung des Instituts für den Sektor der Kulturtheorie zustiindig waren, nehmen in ihrer Forschung kulturelle Vorgange in dieser eingeschri:inkten Perspektive wahr; das Ziel ihrer Forschungsarbeit, der sich Adornos berühmt ge- wordene Aufsatze über denJazz und den »Fetischcharakter in der Musik(( ebenso verdanken wie LOwenthals einfluBreiche Studien über die bürgerliche Roman- und Dramenliteratur, ist die ideolo- giekritische Entschlüsselung des gesellschaftlichen Gehalts des Kunstwerks. Eine materialistische Literatur- und Musiksoziolo- gie tritt an die Stelle, die in Horkheimers Programm einer inter- diszipliniiren Sozialwissenschaft eine Theorie der Kultur einneh- men sollte, der die Analyse der sozialen Vermittlung von 41
  • 21. Okonomischem EntwicklungsprozeB und menschlichem Trieb- potential zur Aufgabe gestellt war. Im heimlichen Wandel des Kulturbegriffs von einer ursprünglich handlungstheoretisch be- absichtigten, dann institutionalistisch eingeschrankten und schlieBlich kunsttheoretisch verwendeten Kategorie freilich kün- digt sich der geschichtsphilosophische Y/andei schon an, den die Kritische Theorie mit dem Ende der dreifüger Jahre im Werk Theodor W, Adornos vollziehen wird. 2. Die geschichtsphilosophische Wende der Dialektik der Aufkliirung: Eine Kritik der Naturbeherrschung Horkheimer hat den Aufsatz )>Traditionelle und kritische Theo- rie« mit Überlegungen beschlossen, die mit dem geschichtsphilo- " sophischen Rahmen seiner Argumentation nicht so recht in E-inklang stehen. Das theoretische Vertrauen in das Vernunftpo- tential der gesellschaftlichen Naturbeherrschung, das dem Auf- satz eine zuversichtliche Grundtéinung verleiht, mufl zum Ende einer unerwartet pessimistischen Gegenwartsdiagnose weichen, der sich das nachliberale Stadium des Kapitalismus als ein gewan- deltes LebensverhJ.ltnis zu erkennen gibt. Die Herausbildung eines planwirtschaftlichen Kapitalismus, der die Okonomischen Entscheidungsvorgange dem kapitalistischen Kleinunternehmer entrissen und der Verwaltungsleitung der GroBunternehmen überamwortet hat, zieht riefgreifende Verinderungen der indivi- duellen Sozialisationsbedingungen nach sich. Der Fabrikbesitzer verliert mit seiner Entscheidungskompetenz, aus deren Anschau- lichkeit und Wirksamkeit seine Autoritat im Liberalkapitalismus sich speiste, die kognitiven und moralischen Stützen seiner Iden- titit; über die Auszehrung seiner Persünlichkeit, an deren vor- bildhafter Erscheinung in der Familie das aufwachsende Kind bislang ein stabiles, moralisch geleitetes Ich ausbilden konnte, verwandelt sich allmiihlich das Individualititsgefüge der Gesamt- gesellschaft. Horkheimer liest an der epochalen Schwichung des autonomen Kleinunternehmers den historischen Trend eines Endes der Persünlichkeit ab: »Durch die Trennung voo der wirklichen Produktion und durch ihren sinkenden EinfluG verengert sich der Horizont der bloGen Inhaber von Besitztiteln, ihre Lebensbedingungen und ihre PersOnlichkeit werden im- mer ungeeigneter für sozial ausschlaggebende Positionen, und schliefüich erscheint der Anteil, den sie aus dem Eigentum noch beziehen, ohne etvtas zu seiner Vergrõilerung wirklich leisten zu kõnnen, als gesellschaft- lich nutzlos und moralisch zweifelhaft ... Unter den monopolkapitalisri- rleo Ma,,,_ e, .. "",O,<""""'""º"'"ª''''".:__
  • 22. Individuums zu Ende. Es hat keinen eigenen Gedanken. Der Inhalt des Massenglaubens, an den niemand recht glaubt, ist ein unmittelbares Pro- dukt der herrschenden Bürokratien in Wirtschaft und Staat, und seine Anhiinger folgen insgeheim nur ihren atomisierten und daher unwahren Interessen, sie handeln als reine Funktionen des 6konomischen Mecha- nismus.«1 Ungeachtet aller klassenspezifischen Differenzen2 schliefü Hork- heimer aus der wachsenden Zentralisierung von Okonomischen Entscheidungsbefugnissen auf den PersOnlichkeitsverlust des ver- gesellschafteten Individuums: in dem MaBe, in dem der Mono- polisierungsprozeB des Kapitals mit dem wirtschaftlichen Frei- heitsspielraum der Subjekte auch die Wirksamkeit der kulturellen Einrichtungen absorbiert, geht die Verhaltenskontrolle voo der individuel1en Gewissensinstanz unmittelbar auf die Planungsin- stanzen gesellschaftlicher Verwaltungen über; die Subjekte kOn- nen sich immer weniger von einem sozialisatorisch ausgebildeten Über-Ich leiten lassen und sind daher immer direkter der Beein- flussung durch :iuBerliche Leitbilder ausgesetzt. Den Erfahrungs- hintergrund für diese sozialpsychologische Hypothese bildet nun freilich nicht eigendich der wirtschaftliche KonzentrationsprozeB selbst, sondem die weltweite Etablierung totalitiirer Staatssy- steme. Horkheimer gewinnt das Bild einer durch Herrschaftsin- stanzen dirigierbaren, auBengeleiteten Masse, das durch die letzten Seiten seines programmatischen Aufsatzes hindurch- scheint, zuniichst an der Erfahrung einer den faschistischen oder stalinistischen Machthabern applaudierenden Publikumsmenge; es ist das durch das Erlebnis der amerikanischen Kulturindustrie erg:inzte Bewufüsein eines globalen, durch die unterdrückten Subjekte mitgetragenen Herrschaftssystems, das von nun an da5 Selbstverstandnis und die Konzeption der kritischen Theori<: priigt. Der letzte Jahrgang der Zeitschrift für Sozialforschung, die 1941 ihr Erscheinen einstellen muB, enthiilt zwei Studien Horkhei• mers, die dem gewandelten SelbstbewuBtsein seiner Theorie defi, nitiv Ausdruck geben. Der Aufsatz »Art and Mass Culture< markiert einen Wendepunkt in der Kulturtheorie Horkheimers. »Kultur« ist nun nicht mehr der Sammelbegriff für ein institutio• nalisiertes Gefüge von in sich eigendynamischen Sozialisations medien. Da der kapitalistische IndustrialisierungsprozeB inzwi 44 schen in die Inneníaume der kulturellen Institutionen eingedrun- gen ist und sie der direkten EinfluBnahme der gesellsch~.ftlichen Verwaltungsspitzen geüffnet hat, hat der kulturelle Uberbau seine »relative Widerstandskraft« verloren. Diese neue Stufe der kulturellen Reproduktion halt der von nun an durch Horkheimer verwendete Begriff der >)Massenkultur« fest: er bezeichnet den institutionellen Komplex sowohl der mit den neuen Reproduk- tionstechniken entstandenen Massenkunst als auch der monopo- /Íistisch organisierten Vergnügungsindustrie, durch den die indivi- duellen Bedürfnisse beliebig manipuliert und die handlungsleiten- den Normen synthetisch erzeugt werden kOnnen. Die Resistenz- kriifte aber, die Horkheimer aus den neuen Einrichtungen der Kultur endgültig gewichen sieht, haben· sich in seinen Augen in den Werken der modernen Kunst versammelt; der schmale Sektor der i:isthetischen Produktion allein übernimmt in der Gegenwart die emanzipatorische Funktion, die einst der identititsschützende Freiraum des kulturellen Überbaus im ganzen innehatte, Daher stellt der Begriff der ))neuen Kunst(( den zweiten Pol der umfor- mulierten Kulmrtheorie Horkheimers dar: er kennzeichnet die >)authentischen Kunstwerke«, ),Monumente eines einsamen und verzweifelten Lebens, das keine Brücke zum anderen oder auch nur zum eigenen Bewuíhsein findet((.4 Die manipulative Kultur- industrie und das kommunikationslose Kunstwerk sind die aus- e.inandergetretenen Seiten der zeitgenOssischen Kultur, die die vergesellschafteten Subjekte, weil sie ihnen die persOnlichkeitsbil- denden Ressourcen nicht mehr bereitstellen kann, den Imperati- ven der Herrschaftsapparate ungeschützt preisgibt. Der zweite ,))The End of Reason« betitelte Aufsatz, den Hork- heimer im letzten Jahrgang der Zeitschrift verõffentlichte5, ent- hãlt die Rohskizze einer Geschichtsphilosophie, die der gewan- delten Kulturtheorie den ihr angemessenen Interpretationsrah- men zu geben versucht. Die Kategorie der Arbeit bildet im Begriff der Selbsterhaltung das Fundament auch dieser überarbei- teten Geschichtsphilosophie; Horkheimer jedoch umreifh mit ihrer Hilfe nun nicht den emanzipatorischen Gang der menschli- chen Naturbeherrschung, sondem den Proze:B einer SelbstzerstO- rung der Vernunft. Seine Argumentation stützt sich auf die Überzeugung, daB das menschliche Denken von Anbeginn an im Dienste der Selbsterhaltung des Subjekts steht. Dieser Gedanke 45 J
  • 23. ist der Schlüssel zu einer Theorie der Selbstauflüsung menschli- cher Vernunft: wei} mit der Monopolisierung aller Okonomischen Entscheidungskompetenzen im planwirtschafdichen Kapitalis- mus und mit der Zentralisierung aller politischen Emscheidungs- kompetenzen unter den autoritfren Staaten der Identitiitshori- zont der Individuen so sehr geschrumpft ist, daE er gerichtete Interessen und normative Orientierungen schon nicht mehr aus- zubilden zulafü, ist dem zweckrationalen Denken, das dem Men- schen einst in der technischen Beherrschung der iiufieren und der klugen Disziplinierung seiner inneren Natur cliente, das tiitige Subjekt gleichsam entzogen. Die instrumentelle Vernunft, ur- spriinglich das rationale Mittel menschlicher Natur- und Selbst- beherrschung, hat sich in dem MaEe, in dem die Persónlichkeit ihrer Triiger zerfa.llt, in das Mittel ))grofündustrieller Selbstbe- hauptung«6verkehrt; diesem subjekdos gewordenen System stra- tegischen und technischen Denkens ist der Mensch nun ohn- m;:íchtig als Opfer seiner eigenen Vernunft unterworfen. Daher fallt vom Verhingnis der Gegenwart aus ein Licht auf ein der menschlichen Naturbeherrschung selbst einsitzendes Ungenü- gen: ))Die neue, die faschistische Ordnung ist die Vernunft, in der Vernunft selbst als Unvernunft sich enthüllt,((7 Horkheimer hat in diesem Argumentationsgang, der die Idee ei- ner Kritik der instrumemellen Vernunft der kulturtheoretischen Gegenwartsdiagnose zur Seite treten lafü, all die Motive schon versammelt, die von nun an der kritischen Theorie eine veran- derte Gestalt geben werden; es ist ein neues Stadium seines Denkens, das Horkheimer mit den letzten Aufsatzen in der Zeit- schrift für Sozialforschung tastend betritt.8 Der Gedanke einer Selbstzerstürung menschlicher Vernunft, das sozialpsychologi- sche Konzept des Persónlichkeitszerfalls, der Begriff der Massen- kultur und das Ideal des authentischen Kunstwerks sind die Bausteine einer Theorie der Gesellschaft, die die politische Schlüsselerfahrung der Gleichzeitigkeit von stalinistischer und fa- schistischer Herrschaft zu ihrem innersten Gehalt macht. Ihr herausragender Autor freilich ist nicht Max Horkheimer, soo~ dern Theodor W. Adorno. Sein Denken ist bis in die Darstel- lungsform hinein voo einer Geschichtserfahrung gepragt, der sich die Gegenwart als ein soziokulturelles Verhlngnis darstellt. Der Nervenpunkt seiner Theorie ist nicht, wie der der Kritik Hork- i heimers in den drei-füger Jahren, die Enttauschung von revolutio- naren Erwartungen, sondern das Entsetzen über die katastrophi- sche Zuspitzung des Zivilisationsprozesses. Adorno nimmt die soziale Situation seiner Gegenwart als den Augenblick total ge- wordener Herrschaft wahr. In den von der stalinistischen Sowjet- union über das faschistische Deutschland bis in die staatskapita- listische USA reichenden Ring politischer Machtsysteme ent~ /deckt er die Einheit eines einzigen Herrschaftsgeschehens; das 1 Umschlagen der sowjetrussischen Revolution in die diktatorische Staatsbürokratie Stalins, die terroristische Etablierung von faschi- stischen Machtapparaten in Mitteleuropa und das scheinbar un- angefochtene Wachstum des amerikanischen Kapitalismus sind ihm bloE unterschiedliche Entwicklungsformen eines auf den Kulminationspunkt totaler Herrschaft zutreibenden Geschichts- prozesses.9 Von der geschichtsphilosophischen Frage nach der Ermóglichung dieser welthistorischen Konvergenz ist die Gesell- schaftstheorie Adornos wie keine andere motiviert. Adorno bewegte sich von Beginn an in anderen philosophischen Regionen als Horkheimer; schon in den dreifüger Jahren interes- sierten ihn die theoretischen Probleme, auf die Horkheimer erst stieB, als er das Programm einer interdiszipliniiren Theorie der Gesellschaft in der ursprünglichen Fassung hatte fallen lassen. Diesem originaren Programm des Horkheimerschen Instituts für Sozialforschung, der diszipliniir weitausholenden, praktisch orientierten Untersuchung der Krisensituation des Gegenwarts- kapitalismus, steht Adorno indifferent, wenn nicht gar skeptisch gegenüber. rn Auf der Linie einer Theorie der Massenkultur dage- gen liegen die musiksoziologischen Aufsitze, die Adorno in der Zeitschrift für Sozialforschung verüffemlicht.11 Dort stellt er sich die Aufgabe, die sozialintegrative Funktion der Massenkultur aus dem Warencharakter der standardisiert hergestellten Kunstpro- dukte zu erschlieBen; dieser Versuch einer Kritik der regressiven Rezeptionsweise des mit bloBem Warenkonsum verschmolzenen Kunstgenusses steht unter dem direkten EinfluB der Fetischis- musanalyse der Marxschen Kritik der politischen Ôkonomie. Auf der Linie einer Kritik der instrumentellen Vernunft liegen ande- rerseits schon die philosophischen Frühschriften Adornos, die sich zumeist den akademischen Verpflichtullgen der Hochschul- laufbahn verdanken. 12 In ihnen umernimmt er den Versuch, das 47
  • 24. rnerhodologische Instrumentarium einer die entfremdete Welt auf die sozial bestimmenden Handiungsfigmen hin entriitselnden Philosophie zu entwerfen; die Konzepte des geschichtlichen B.ildes und der konfigurativen Sprache, die die Mittel einer dem verfügenden Geist entzogenen Deutungstechnik sein sollen, sind indirekt der hermeneutischen Methodologie Walter Benjamins nachempfunden. 13 Beide Motivstrange also, die als Fetischismuskritik angelegte Theorie der Massenkultur wie die Idee einer den bewuBtlosen ProzeB der menschlichen Naturgeschichte aufschlieEenden Her- meneutik, gewinnen in der kritischen Theorie der vierziger Jabre die Oberhand, Obwohl sie Adorno zeitlebens dem Projekt einer empirisch komrollierten und interdisziplinar aufgebauten Gesell- schaftstheorie zwiespaltig gegenüberstehen lieEen, bilden sie fortan zentrale Bestandteile des das Institut für Sozialforschung leitenden Theoriemodells. Der Kern dieser neuen Fassung kriti- scher Theorie ist eine Geschichtsphilosophie, mit der Adorno sich die historische Heraufkunft totaler Herrschaft zu erklaren hofft; sie stellt in gewisser Weise die Umkehrung der geschichts- philosophischen Leitvorstellungen dar, die Horkheimer dem Programmentwurf einer kritischen Gesellschaftstheorie zunã:chst zugrundegelegt hatte. Die Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Systemen cotalitarer Herrschaft versteht Adorno so strikt ais den historischen Aus- gangspunkt seiner Theorie, daB er sie zum thematischen Hori- zont einer Konstruktion von Geschichte macht. ln der "Y/eise, in der Marx das bloEgelegte Produktionsverhi:iltnis der kapitalisti- schen Gesellschaftsformation als den kategorialen Schlüssel einer Rekonstruktion der Menschheitsgeschichte begreift, deutet Adorno das in seiner Gegenwart transparent gewordene Herr- schaftsverhiiltnis als ein Strukturmuster, an dessen Entwicklungs- verlauf die gehe.ime Logik des gesamten Zivilisationsprozesses abzulesen ist: die Kritische Theorie ist nunmehr )>Theorie von der faschistischen Gegenwart aus, in der das Verhfognis ans Licht tritt.« 1 4 Unter dieser verzweifelten Perspektive, die Adorno, wie sich zeigen wird, auch dann noch beibehalt, wenn die historische Situation des deutschen Faschismus schon überwunden ist, offen- bart sich der Fortschritt der Zivilisation als der verdeckte ProzeE einer Rückbildung des Menschen; die soziokulturelle Evolution, die in der Evidenz eines kumulativen Anwachsens der Produktiv- krâfte den Eindruck kontinuier1ichen Fortschritts erweckt, ent- puppt sich als der langgezogene Akt einer gattungsgeschichtl.i- chen Regression. Der Titel, den Adorno diesem Prozeg von sich aus gibt, ist der der )>rück]aufigen Anthropogenese«; er bildet das innere Organisationsprinzip seiner Geschichtsphilosophie.1 5 Die Dialektik der Aufkldrung, die Adorno und Horkheimer zu ;Beginn der vierziger Jahre gemeinsam verfassen, steHt den Ver- /such dar, der geschichtsphilosophischen Erfahrung der rücklaufi- / gen Gattungsgeschichte die unsystematische Gestalt einer Essay- sammlung zu geben. Ihr primares Material gewinnt die Untersu- chung an literarischen und philosophischen Werken, der homerischen Odyssee, den Erz2hlungen de Sades und den Ab- handlungen Kants und Nietzsches; aus diesen indirekten Zeug- nissen der Geistesgeschichte, nicht aus den Quellen der Sozialge- schichte, rekonstruieren Adorno und Horkheimer den Verlauf des europaischen Zivilisationsprozesses. Der Grundbegriff, der die Literaturinterpretationen der Untersuchung implizit leitet, ist der der instrumemellen Rationalitat; ihm kommt die Funktion zu, Ursprung und Dynamik des Prozesses zivilisatorischer Re- gression zu erkliren. Seither bildet die auf objektivierendes Den- ken eingeschrankte Kategorie der )>Rationalitat« für Adorno den Schlüssel für eine kritische Theorie der Gesellschaft. Er gewinnt sie mit Horkheimer in einer Generalisierung der Marxschen Ka- pitalismuskritik, die es zulassen soll, nicht nur die Geschichte der bürgerlich-kapitalistiscben Gesellschaft, sondern den gesamten Zivilisationsverlauf unter der theoretischen Perspektive wachsen- der Verdinglichung zu betrachten. Wã:hrend in der Tradition der Marxschen Kapitalanalyse von Georg Lukács bis Alfred Sohn- Rethel die Bewufüseinsfonnen der bürgerlichen GeseHschaft aus den Abstraktionszwfogen des Warentauschs entwickeit werden, unter denen die Handlungssubjekte in der reziproken Absehung von ihren Bedürfnissen und Empfindungen sich wechselseitig zu >)Dingen« werden'6, ist im totalisierenden Blick der Dialektik der Aufkldrung der Warentausch nur die geschichtlich entfaltete Handlungsfigur instrumenteller Rationalitit. Zwar ist Adorno an einigen Stellen seines Werkes dem formgenetischen Grundgedan- ken der Erkenntnistheorie Alfred Sohn-Rethels darin gefolgt, die abstraktiven Leistungen des neuzeitlichen Denkens aus den kog- 49