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Die Thur: Noch schäumt
sie jung und wild
durchs Toggenburg.
Zur Person
MonaVetsch(39)istalsTochtereiner
BauernfamilieimthurgauischenHatten-
hausenaufgewachsen.DieJournalistin
undModeratorinarbeitetheutevor
allemfürRadioundFernsehenSRF.
SielebtmitMannundKinderninZürich.
DenöVinderStadtfindetsiegenial.
LängerePendelstreckenweniger.
Erleben Der Thur entlang
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Der Thur entlang Erleben
K
ürzlich habe ich mal wieder Herr der Ringe
von Tolkien gelesen. Beim Lesen fragte ich
mich dauernd, woran mich Auenland er-
innert, die Gegend, in der die freundlichen Hobbits
leben. Plötzlich wurde mir bewusst: Das ist ja ein
wenig wie der Thurgau: Die Landschaft heisst einen
willkommen, sie ist freundlich und weich. Die Men-
schen sind bodenständig und nah bei den Wurzeln.»
Mona Vetsch besucht an diesem Vormittag mit uns
die Thurauen. Das ist das Mündungsgebiet der Thur,
woderzweitgrössteFlussderOstschweizindengröss-
ten, den Rhein, fliesst. Die Gegend zwischen den
Zürcher Gemeinden Ellikon und Flaach zählt zu den
wertvollsten und ausgedehntesten Auengebieten der
Schweiz. Ein kleines Stück Wildnis und seit 2011 kan-
tonales Schutzgebiet.
Kleines Tal, grosse Namen
Rund 130 Kilometer weiter oben, im Sankt Gallischen
Toggenburg, beginnt alles. Und zwar gleich doppelt:
Die Quelle der Säntisthur liegt in der Tüfenwies bei
Unterwasser. Ungeduldig und wild stürzt sie als Was-
serfallimChämmerlitobelzwanzigMeterindieTiefe,
bevor sie sich mit der Wildhauser Thur vereinigt, um
endlich als Thur Richtung Rhein zu fliessen.
Hier oben hat die Welt noch eine Ordnung. Man
hat sich an die Fremden gewöhnt, seit sie im Winter
hochkommen zum Skifahren auf dem Iltios oder dem
Chäserrugg, den Gamplüt oder der Alp Sellamatt.
Oder wenn sie im Sommer mit Sack und Pack unter-
wegs sind zu den sieben Churfirsten oder ins Alpstein-
massiv mit dem Ostschweizer Hausberg, dem Säntis.
In dieser Gegend liegt die Heimat der Skisprung-
legende Simon Ammann, vierfacher Olympiasieger
in Salt Lake City und Vancouver. Und natürlich die
von Walter Steiner, dem Holzschnitzer und genialen
Skiflieger der Siebzigerjahre. «Vogelmensch» nann-
ten sie das schlaksige Schanzengenie aus Wildhaus,
das freiwillig seinen Anlauf verkürzte, um nicht über
sich hinaus ins Elend zu stürzen. Und dann ist da
noch einer, der hatte den Draht nach ganz oben:
Huldrych Zwingli, der Bauernsohn und spätere Zür-
cher Reformator, wurde im Toggenburg geboren.
Ebenso wie Ulrich Bräker, der 1756 ins preussische
Heer gezwungen wurde, das nicht so gut fand und
desertierte, ins Tal zurück-
kehrte und seine berühmte
«Lebensgeschichte» verfasste.
Die füdliblutte
Enttäuschung
Hinaus in die Welt: Die Faszi-
nation des Reisens, kennt sie
auch Mona Vetsch? «Diese
Lust von vielen – nach der
Schule ab nach Australien –,
die habe ich nie gehabt. Ich
muss gar nicht weit weg fah-
ren, um Neues zu entdecken
oder Abenteuer zu erleben.»
Wer meint, für das ganz grosse
Erlebnis müsse man möglichst
weit von zu Hause weg, könne
sichgewaltigtäuschen,sagtsie.«FürsFernsehensind
wir mal an den nördlichsten Rand Europas gefahren,
ans Nordkap. Der Ort selbst war eine füdliblutte Ent-
täuschung. Ein riesiger Parkplatz, Autobusse, aus de-
nen Touristen quollen, grausam.» Der Weg als Ziel
Die Wasserfälle bei Unterwasser.Idylle auf dem «Älpli» bei Wildhaus.
Die Thur: Wild, gezähmt und renaturiert zeigt sie von der Quelle
bis zur Mündung viele Gesichter. Mona Vetsch hat uns in
die Thurauen begleitet, wo der Wildbach in den Rhein fliesst.
Text:Gaston Haas; Fotos: Zeljko Gataric
Bei den freundlichen Hobbits
Die Thur
Quellhöhe: 900 m ü. M.
Mündungshöhe: 345 m ü. M.
bei Flaach und Ellikon
in den Rhein
Höhenunterschied: 555 m
Länge: 134,6 km
Frauenfeld
Flaach
Uesslingen
Thur
Bischofszell
Weinfelden
Wil
Wattwil
Wildhaus
Unterwasser
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also? «Ganz klar, ja, und die Begegnungen mit Frem-
den, das war super. Ich lasse mich gerne treiben und
überraschen.»
Hinter Wil verlässt die Thur das voralpine Gelän-
de und den Kanton St. Gallen. Bei Bischofszell mün-
det sie in thurgauisches Gebiet und erhält beim
Zusammenfliessen mit der Sitter gleich noch einmal
kräftigen Schub. Aus dem lauschigen, manchmal
schäumenden Bergbach wird
hier unten ein veritables
Flüsschen, desen Wellen ganz
schnell ganz schön hoch ge-
hen können, wenn es oben in
den Bergen gewittert und
schüttet. Das merkte man zuletzt im Frühling 2013,
als die Thur nach tagelangem Dauerregen beim Zu-
sammenfluss mit dem Rhein die Thurauen unter
Wasser setzte. Ein Schönwetterflüsschen, auf dem
man nach Lust und Laune mit dem Gummiboot her-
umplanscht, ist die Thur nun wirklich nicht.
Wie hat Mona Vetsch den Fluss in Erinnerung, der
immerhin den gleichen Namen trägt wie ihr Heimat-
kanton? «Ich bin in Hattenhausen in der Nähe des Bo-
densees aufgewachsen. War also eher ein See- als ein
Flusskind. Wenn wir an der Thur waren, dann im Frei-
bad in Weinfelden, da konnte, wer mutig genug war,
auch in der Thur baden. Wir haben die
Thur immer als gefährlich empfunden mit
ihren Strömungen und Wirbeln. Wenn wir
am Fluss waren, dann haben wir grilliert,
schwimmen war uns zu gefährlich.»
Weinfelden, Frauenfeld, Uesslingen:
Korrigiert und kontrolliert gleitet der Fluss
durch die sanfte Landschaft des Thurgaus,
vorbei an den berühmten Obstplantagen
und weiten Feldern. «Mostindien» heisst
das Land seiner Apfelbäume wegen hier
auch. Für gestresste Städter ist es schlicht
ein Shangri-La für Auge, Geist und Seele.
Grossartige Artenvielfalt
Vermisst Mona Vetsch diese Ursprüng-
lichkeit nicht? «Im Thurgau zu wohnen,
hiesse auch pendeln. Ich habe das Glück,
nah an meinem Arbeitsort leben zu kön-
nen, das ist wirklich Lebensqualität, gera-
de mit Kindern. Es macht einen Riesen-
unterschied, ob ich am Abend eine Stunde
mit meinen Kindern verbringe oder im
Zug oder Bus sitze.» Auf die Heimat ihrer
Mutter müssen die Kleinen trotzdem nicht
verzichten. «In den Ferien besuchen wir
meine Eltern und gehen im Dorf auf den
gleichen Wegen, die einst mein Schulweg
waren. Das ist ein schönes Gefühl.»
Wir gehen weiter, und für kurze Zeit
bildet die Thur jetzt die Grenze zwischen
den Kantonen Zürich und Thurgau, um
dann in weiten Schleifen, als wolle sie
noch einmal richtig Schwung holen, in
Richtung Rhein zu mäandern. Wir sind
wieder im Gebiet der Thurauen, dem
Ausgangspunkt unserer Reise, mitten im
Naturschutzgebiet. Hier darf die Thur
nach jahrelangen Renaturierungsmass-
nahmen wieder ein richtiger Fluss sein.
Die Thurauen sind zwar
Schutzgebiet, aber Freizeit-
aktivitäten sind trotzdem
möglich. Velowege und Ba-
destrände sind gut ausge-
schildert. Neben umfangrei-
chem Informationsmaterial
bietet das Naturzentrum
Thurauen auch Ausstel-
lungen, einen Erlebnispfad,
Führungen mit Rangern und
ein Restaurant. Im Internet
sind alle Veranstaltungen
und Angebote aufgeführt.
Das Zentrum ist mit dem
öffentlichen Verkehr gut
erreichbar (Zug bis Winter-
thur, danach Postauto nach
Rafz, Haltestelle Flaach-
Ziegelhütte).
naturzentrumthurauen.ch
Naturzentrum
Thurauen
Gelebte Kultur: Im
Bräkerhaus bei
Lichtensteig kann man
auch Ferien buchen.
ulrichbraekerhaus.ch
Entlang der Thur laden
Feuerstellen zum Bräteln.
Imposante Brückenarchitektur bei Lütisburg.
«WennwiramFlusswaren,
dannhabenwirgrilliert.»
Erleben Der Thur entlang
4. Ranger Tobias Ryser kennt «seine»
Thurauen wie kaum ein Zweiter:
Vogelstimmen, seltene Schmetterlinge,
Orchideen – er hat die Namen alle parat.
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Erleben Der Thur entlang
Sehen Erleben Geniessen
«via»-Tipps entlangderThur
Zwinglihaus Wildhaus
630 Jahre ist es her, dass hier ein gewisser
Huldrych Zwingli geboren wurde. Als
Reformator hat er die damalige Welt radikal
verändert. Ein Stück Geschichte, geöffnet
Di–So, 14h–16h, ab 8. Juni bis Oktober.
toggenburg.org
Nussbaumersee
Das Baden in Naturseen hat einen ganz
eigenen Charme. Hier wird das Wasser
nicht gechlort, dafür teilt man es sich unter
Umständen mit Fröschen, Fischen und
Libellen. Ein Erlebnis!
badi.info.ch/nussbaumen
Hochmoorweg
Auf dem Hochplateau Rietbach über
Krummenau liegt dieses Hochmoor von
nationaler Bedeutung. Ein barfüssiger
Spaziergang über den weichen Torfboden
ist ein unvergleichliches Erlebnis.
wolzen.ch
Wil
Eine der schönsten Altstädte der Ost-
schweiz. Dafür gabs 1984 den Wakkerpreis
für die frühere Stadt der St. Galler Äbte. Der
Blick durch eine der Altstadtgassen
hinunter zum Stadtweiher ist fantastisch.
stadtwil.ch
Waldschenke Bischofszell
Das passt: Auf einer Velo- oder Wandertour
hier einkehren und die unvergleichliche
Waldstimmung geniessen. An allen
Sonntagen im Juni gibts Brunch von
8.30–11.30h (Anmeldung erwünscht).
waldschenke-bischofszell.ch
Bed&Breakfast
Käthi und Edi Koller führen das B&B an der
Zifferblattgasse 4 in Neu St. Johann. Im
liebevoll renovierten Haus sind die Preise
moderat, und der Empfang ist herzlich –
Toggenburg ganz unkompliziert.
zifferblattgasse.ch
Fotos:ZeljkoGataric,ThurgauTourismus;zVg
Und sie zahlt es zurück: mit einer grossartigen Arten-
vielfalt an Pflanzen und Tieren. Hier blühen seltene
Orchideen, prächtige Schmetterlinge flattern durch
die Wälder und Wiesen, und der Biber darf nagen,
bauen und stauen, wie es ihm passt. Wer ganz beson-
deres Glück hat, entdeckt sogar einen Eisvogel, der
hier wieder heimisch geworden ist.
Mona Vetsch hat dieses Glück, ist hin und weg.
«Wow, das absolute Highlight!», freut sie sich laut-
stark. «Die Natur», sagt sie, «hat mich lange nicht
wirklich interessiert, obwohl ich auf einem Bauern-
hof aufgewachsen bin. Das hat sich in den letzten
paar Jahren geändert. Vielleicht liegt es an meinen
Kindern. Oder am Alter. Man beginnt irgendwann,
sich für die Dinge zu interessieren, die einen über-
dauern. Für die Natur zum Beispiel. Oder die eigenen
Wurzeln. Heimkommen», sagt sie, «ist eindeutig
schwieriger als Weggehen». ■
Aussichtsturm im Naturschutzgebiet Thurauen.