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Sie sind im Grenzgebiet Schweiz–Frankreich
aufgewachsen. Quasi zwischen den Welten.
Inwiefern hat dies Ihre Identität beeinflusst?
Am Zoll, den wir mehrmals täglich passierten, habe
ich mich immer gefragt, wo ich bin: Frankreich?
Schweiz? Diese 30 Meter zwischen den Ländern ha-
ben meine Fantasie angeregt. Ich habe mir diesen
«leeren Raum» zu eigen gemacht und ihn mit meiner
Fantasie aufgefüllt. Ja, die France Voisine, dieses
Niemandsland, hat mich sehr
geprägt.
Beeinflusst das heute Ihre
Arbeit?
Ich glaube schon. Dieses
«Zwischen-den-Ländern-
Sein» hat etwas sehr Freies
und auch etwas Märchenhaf-
tes. Ich glaube, das merkt
man meinen Filmen auch an.
Und gerade weil sie sich nicht
konkret auf einen geografi-
schen Ort festlegen, haben sie
etwas Universelles, werden
sie auf der ganzen Welt ver-
standen. Wie eine Fabel oder
wie die Märchen der Grimms,
die ich über alles liebe.
Ist das eines Ihrer Themen,
das «Dazwischen-Sein»?
Ich liebe es, ständig die
Grenzen auszuloten, Neu-
land zu erkunden, mit die-
sem Wunsch, zu filmen, was
sich unter der Oberfläche
verbirgt, die Grauzonen, das
Durcheinander, und dabei
die ganze Zeit die Regeln des
Films infrage zu stellen. Die
Angst vor dem Eingesperrt-
Sein spielt in meiner Arbeit eine zentrale Rolle (im
Film «Home» schliessen sich die Darsteller übrigens
tatsächlich ein). Deshalb liebe ich auch das Spiel mit
den unterschiedlichen Genres, den Formen. Ich will
nicht, dass man glaubt: Die Meier macht Autoren-
filme oder Sozialdramen. Ich mag diese Etiketten
nicht. Ich mache Filme. Punkt.
Sie reisen durch die ganze Welt, sehen sich aber
als Franko-Schweizerin. Muss man von zu Hause
weggehen, um ein Heimatgefühl zu
entwickeln?
Es gibt einen Satz von
Blaise Cendrars, der mir
sehr gefällt: Wenn du
liebst, musst du wegge-
hen. Das gilt auch für
mein Verhältnis zur Schweiz: Ich ziehe mich gern zu-
rück, um sie besser betrachten und danach umso mehr
schätzen zu können. Das tut gut, ja.
Im Film «Home» kämpft eine Familie gegen eine
Autobahn, in «Sister» ein ungleiches Duo gegen
wirtschaftliche und emotionale Widrigkeiten.
Was fasziniert Sie an diesen Aussenseiterfiguren?
Ich mag Menschen, die unorthodox sind, und die von
der Norm abweichen. Die ein anderes Leben wollen,
als der Rest, die eine Utopie haben, ein eigenes
Gleichgewicht suchen, das aber viel zu zerbrechlich
ist für diese Welt.
Sie experimentieren gerne, mögen überraschende
Wendungen in Ihren Filmen. Gleichzeitig müssen
Sie als Regisseurin sehr pragmatisch sein. Wie
geht das zusammen?
Ich glaube ganz fest an die Intuition …
Das heisst?
Ganz am Anfang, wenn eine Geschichte geboren
wird, da regiert die Intuition. Verschiedene Wünsche
treffen aufeinander, schliessen sich kurz. Das ist pure
Ihre Filme feiern auf der ganzen Welt Erfolge. Bei uns
spricht die Regisseurin Ursula Meier über Heimat, die Zukunft des
Kinos und ihre liebsten Filmikonen.
Text:Gaston Haas; Fotos:Raphael Zubler
«Der Erfolg hat mich
nicht verändert»
Erleben Interview Ursula Meier
«IchmagMenschen,die
unorthodoxsind,unddievon
derNormabweichen.»
Ideen, Schuld&Demut
Die liebste Tätigkeit im Zug?
Aus dem Fenster schauen, in meine
innere Gedankenwelt abtauchen, neue
Ideen entwickeln. Das ist der einzige
Moment, an dem ich mir erlaube,
nichts zu tun. Die Idee zu «Sister»
hatte ich im TGV von Paris nach
Lausanne, daran erinnere ich mich
noch gut. Das Billett habe ich immer
noch, weil ich darauf die ersten Notizen
zum Film gemacht habe.
1. Klasse oder 2. Klasse?
(Wie aus der Pistole geschossen)
2. Klasse, immer. Das hat mit meiner
protestantischen Erziehung zu tun. In
der 1. Klasse fühle ich mich immer
etwas schuldig.
Die schönste Zugstrecke in
der Schweiz?
Lausanne – Montreux. Klischeehaft
vielleicht, aber diese Reise ist einfach
wunderschön. Der See, die Landschaft,
ich bin jedes Mal total gebannt und
überwältigt von so viel Schönheit, das
macht bescheiden und demütig.
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Interview Ursula Meier Erleben
«Kino, das ist eine Erfahrung, die man zusammen in einem dunklen Saal macht»: Ursula Meier im Kino Le Capitole in Lausanne.
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Erleben Interview Ursula Meier
Alchemie, der entscheidende Moment im Leben eines
Filmes. Das spüre ich ganz tief in mir, wenn ein Film
entsteht. Der Verstand, der dramatische Aufbau, die
Arbeit als solche kommen erst viel später ins Spiel.
Leiten Sie Ihre Schauspieler auch mit Intuition?
Eigentlich geht es immer um den Ausgleich zwischen
Intuition und Vernunft, zwischen Bauch und Kopf.
Ich erkläre den Schauspielern die Charaktere, ihren
Hintergrund, ihre Motive, ihre Schwächen, was bei
jeder Szene auf dem Spiel steht, aber auch, wie sich
die Schauspieler zu
bewegen, wie sie
etwas zu sagen ha-
ben. Das hat etwas
Mathematisches in
der Strenge. Und dann kommt das Intuitive, das nicht
Erklärbare dazu, vor allem vor der Kamera. Meine
Art, die Schauspieler anzuweisen, hat etwas Instink-
tives, etwas sehr Körperliches. Kontrolle und Experi-
ment richtig dosiert.
Wir sitzen hier in einem der schönsten Kinos der
Schweiz. Haben diese Plüschprunksäle im Zeital-
ter von youtube und Streaming noch Zukunft?
Ich bin da optimistisch. Letztlich ist Kino eine ge-
meinsame Erfahrung in einem dunklen Saal. Daran
glaube ich. Aber die grosse Frage ist natürlich jene
der Verteilung.
Ist das nicht etwas gar romantisch?
Ich bin eine grosse Romantikerin
(lacht). Im Ernst: Das Kino lebt, das be-
weisen doch die grossen Erfolge der
Filmfestivals auf der ganzen Welt. Im-
mer mehr Menschen stehen Schlange,
um sich die Filme anzuschauen: Die
Säle sind tagelang vollständig ausge-
bucht und nicht nur bei den grossen
Festivals wie Cannes oder Berlin. Das
beweist, dass eine wirkliche Nachfrage
besteht. Heute beanspruchen die
grossen kommerziellen Filme alle Kinos
für sich und es hat sogar für Filme, die in
den Kinosälen wirklich erfolgreich sein
könnten, keinen Platz mehr. Zudem
bleibt keine Zeit mehr für die Mund-zu-
Mund-Propaganda für Filme, die nicht
von riesigem Werbeaufwand profitie-
ren. Der Verleih und der Vertrieb sind
die grossen Herausforderungen von
heute und morgen. Wie und wo sollen
die Filme gezeigt werden? Diese Fragen
fesseln mich.
Für «Sister» haben Sie einen silbernen Bären am
Filmfestival in Berlin erhalten, Sie waren in der
Jury des Festivals in Venedig – Sie sind ein Star.
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Zur Person
UrsulaMeierwurde1971alsTochter
einerfranzösischenMutterundeines
Deutschschweizer VatersinFrankreich
geboren.NachdiversenKurzfilmen,
Dokumentarfilmenundeiner
FernsehproduktionfürArteunddie
TSRkam2008ihrersterabendfüllen-
derSpielfilm«Home»,derfürdas
FilmfestivalinCannesnominiertwar,
indieKinos.EinJahrspäterhatsiefür
diesenFilmdenSchweizerFilmpreis
erhalten.FürihrenZweitling«Sister»
(inderSchweiz«L’enfantd’enhaut»)
erhieltUrsulaMeier2012inBerlin
einensilbernenBärenundweiteredrei
SchweizerFilmpreise,darunterdenfür
denbestenFilm.SielebtinBrüsselund
Lausanne,wosie2009mitihren
FreundenLionelBaier,Jean-Stéphane
BronundFrédéricMermouddie
ProduktionsgesellschaftBandeàpart
Filmsgegründethat.
«DerVerstand,derdramatische
Aufbau,dieArbeitalssolche
kommenerstvielspäterinsSpiel.»
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Interview Ursula Meier Erleben
Überhaupt nicht, nein. Ich bin immer ich selber
(denkt nach, insistiert). Ja, wirklich, der Erfolg zwingt
mich dazu, mich nicht zu verlieren, mich auf mich
selbst zu konzentrieren und bringt mich sogar noch
näher an mich heran, als ich es eh schon bin.
Sie bekommen unzählige Anfragen von Medien,
Filmjurys, Festivals, Angebote für Videoclips. Wie
schaffen Sie das alles?
Der Zeitaufwand für all die Anfragen hat extrem
zugenommen, ja. Deshalb sage ich
öfter ab als früher. Aber wenn ich
zusage, dann gebe ich alles: Ich
engagiere mich gleich stark, egal, ob
es um ein Interview für eine lokale
Studentenzeitung oder «Le Monde»
geht, um einen Kurzfilm für die
«Zauberlaterne» oder um ein
grosses Spielfilmprojekt, ich wäge
das nie ab. Der Tag, an dem ich
aus Prestige- oder aus Geldgründen
etwas annehme, wäre der Anfang
von meinem künstlerischen Ende.
Ich mache alles mit ganzer Energie
und von Herzen. Oder ich lasse es
bleiben.
In «Home» konnten Sie Isabelle
Huppert für eine Hauptrolle
Die liebsten und
die grössten
Die liebsten Filme
«Fanny und Alexander» von
Ingmar Bergman. Vitali
Kanevskis «Bouge pas, meurs
et ressuscite». Orson Welles’
«Citizen Kane», «Wanda» von
Barbara Loden und «À nos
amours» von Maurice Pialat.
Die grössten Schauspieler
Frauen:Anna Magnani, Gena
Rowlands, Meryl Streep,
Isabelle Huppert, Monica Vitti.
Männer: Marlon Brando,
Leonardo DiCaprio, Sean
Penn, Viggo Mortensen,
Robert De Niro, Al Pacino,
Jean-Louis Trintignant.
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gewinnen. Wie bekommt
man solche Stars? Ruft
man da einfach mal an
und fragt, ob sie Lust und
Zeit hätten?
Isabelle Huppert hatte einer
meiner Fernsehfilme für
Arte sehr gut gefallen, und
sie hat mich bei unserem
ersten Treffen darauf ange-
sprochen. Sie ist unglaub-
lich neugierig und risiko-
bereit. Sie hat das Drehbuch
von «Home» sehr gemocht, und wir haben uns sehr
gut verstanden. Voilà, und da stand sie vor meiner
Kamera!
Wann dürfen wir uns auf Ihren nächsten Film
freuen?
Im Augenblick arbeite ich an zwei Projekten gleich-
zeitig. Einer der Filme spielt wieder in der Schweiz.
Ich drehe sehr gern in der Schweiz und vor allem im
Wallis. Diese Landschaft mit den zerklüfteten
Bergwänden und den langen Strassen hat etwas
Amerikanisches.
Verraten Sie uns etwas über die Schauspieler und
die Geschichte?
Ich werde mich hüten (lacht laut)? ■
Den Ausgleich zwischen Intuition und
Vernunft finden.