Prof. Dr. Oliver Scheytt: Der öffentliche Kulturauftrag
1. B 1.9
Der öffentliche Kulturauftrag
Pflichtaufgabe, Grundversorgung und kulturelle Infrastruktur als
kulturpolitische Begründungsmuster
Prof. Dr. Oliver Scheytt
In diesem Beitrag wird der kulturpolitische Diskurs über die Rolle des Staates und der Kommunen
in der Kulturförderung anhand von drei Grundmustern kulturpolitischer Argumentation beleuchtet.
Bei allen drei Begründungslinien geht es darum herauszuarbeiten, welche „Pflichten“ die öffentli-
che Hand aufgrund und aber auch jenseits von Rechtsnormen hat. Gerade mit Blick auf die Ausein-
andersetzungen um eine gesicherte Finanzierung von Kulturaufgaben ist es hilfreich, die Argumen-
tationslinien im Detail und in ihrer nun schon über drei Jahrzehnte reichenden Entwicklungsge-
schichte zu kennen. Der Schlussbericht der Enquête-Kommission „Kultur in Deutschland“ des
Deutschen Bundestages hat mit der Begrifflichkeit der „kulturellen Infrastruktur“ und der Heraus-
arbeitung ihrer Elemente die früheren Begründungslinien „Pflichtaufgabe Kultur“ sowie „kulturelle
Grundversorgung“ in einem Modell integriert, das eine neue Gesamtperspektive ermöglicht.
Gliederung Seite
1. Kulturpolitische Grundbegriffe und die Rolle der öffentlichen Hand 2
2. Juristische Begründungslinie: Pflichtaufgabe und Staatszielbestimmungen 3
2.1 Spezifische verfassungsrechtliche Bindungen 4
2.2 Kommunalrechtlicher Aufgabencharakter 5
2.3 Spezialgesetzliche Verpflichtungen 7
2.4 Ermessensbindungen 9
2.5 Folgerung 10
3. Die kulturpolitische Begründungslinie: Kulturelle Grundversorgung und
Daseinsvorsorge 11
3.1 Kulturelle Daseinsvorsorge 11
3.2 Kulturelle Grundversorgung und der aktivierende Kulturstaat 12
4. Ganzheitliche Begründung: Kulturelle Infrastruktur 15
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2. B 1.9 Kultur und Politik
Strukturen und Prozesse in der Kulturpolitik
1. Kulturpolitische Grundbegriffe und die
Rolle der öffentlichen Hand
Künste, Kulturpolitische Diskussionen machen sich immer wieder an „Leitvo-
kulturelle Bildung, kabeln“ fest. Solche Grundbegriffe helfen zum einen, kulturpolitische
Geschichtskultur Auftragslagen zu bestimmen sowie Argumentationsketten zu analysie-
ren. Zum anderen helfen solche allgemeingültigen Begrifflichkeiten in
politischen Auseinandersetzungen, klar Position zu beziehen im Sinne
eines Politmarketing. Beispielsweise beschreiben „kulturelle Vielfalt“
sowie „kulturelle Teilhabe“ zwei wesentliche Auftragslagen im kul-
turpolitischen Pflichtenheft, die als „Kultur für alle und von allen“ seit
den siebziger Jahren zu den Leitmotiven kulturpolitischer Reden und
Diskurse gehören und zentrale Begründungselemente für die öffentli-
che Kulturförderung schlechthin darstellen.
Ein „weites Feld“ und Alle Versuche, allgemeingültige kulturpolitische Begründungsmodelle
„der eine Begriff“ zu entwickeln und zu formulieren, sind mit der Problematik eines
„weiten Felds“ konfrontiert: Wie gelingt es, die sehr unterschiedlichen
Handlungsfelder „auf den (einen) Begriff“ zu bringen? Denn die in-
haltlichen Bezugsfelder Künste, kulturelle Bildung und Geschichts-
kultur haben sehr unterschiedliche Ausprägungen: Die Künste leben
vom Wagnis, entfalten Visionen, geben dem Experiment Raum und
stärken den Eigen-Sinn der Individuen. Kulturelle Bildung entfaltet
künstlerische und schöpferische Impulse, sie fördert gesellschaftliche
Handlungskompetenz, soziale und politische Mündigkeit. Ge-
schichtskultur tradiert, reflektiert und inszeniert Historie im Spektrum
von Aufklärung und Bildung, Wissenschaft und politischer Verantwor-
tung, Ästhetik und spielerischer Aneignung.
Eine alle Handlungsfelder durchziehende kulturpolitische Fragestel-
lung lautet: Wie lässt sich die Rolle des Staates und der Kommunen im
kulturellen Leben bestimmen? Drei wesentliche Begründungslinien,
die auf eine Funktionsbeschreibung der öffentlichen Hand abzielen und
in den kulturpolitischen Reflexionen der letzten drei Jahrzehnte immer
wieder anzutreffen waren, sollen hier im Einzelnen erörtert werden:
Pflichtaufgabe • Die juristische Begründungslinie tritt mit der Frage an, ob Kultur-
arbeit eine freiwillige Leistung oder eine Pflichtaufgabe sei. Die ju-
ristische Diskussion der „Pflichtaufgabe Kultur“ hat Teilerfolge in-
soweit erzielt, als die kulturelle Bildung heute in der Regel nicht
mehr als freiwillige Leistung eingestuft wird. Hier hat die Diffe-
renzierung zwischen den Künsten einerseits und der kulturellen
Bildung andererseits Wirkung gezeigt. Eine offene Aufgabe bleibt
die Hereinnahme einer kulturellen Staatszielbestimmung in das
Grundgesetz. Doch zeigt sich, dass die Vorschriften der Landesver-
fassungen und der Gemeindeordnungen hinreichende Anknüp-
fungspunkte bieten, Kultur aus dem Bereich der „freiwilligen Leis-
tung“ herauszuführen, zumal es weitere verpflichtende gesetzliche
Regelungen gibt, wie etwa das Sächsische Kulturraumgesetz.
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3. Kultur und Politik B 1.9
Strukturen und Prozesse in der Kulturpolitik
• Die kulturpolitische Begründungslinie ist mit den Vokabeln „kultu- Grundversorgung
relle Grundversorgung“ und „kulturelle Daseinsvorsorge“ verbun-
den. Diese Begrifflichkeiten haben vor allem mit Blick auf die Be-
gründung der kulturellen Bildung als (politische) Pflichtaufgabe ih-
re Wirkung nicht verfehlt. Der Begriff der kulturellen Grundver-
sorgung hat Eingang in zahlreiche kulturpolitische Texte, in die
kulturjuristische Literatur und in Parteiprogramme und Koalitions-
vereinbarungen gefunden.
• In den letzten Jahren gibt es eine integrale Begründungslinie, die Kulturelle Infrastruktur
an der Begrifflichkeit der „kulturellen Infrastruktur“ festgemacht
wird und insbesondere im Zuge der Diskussion der Enquête-
Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages
(2003-2007) entwickelt wurde. Der Begriff der kulturellen Infra-
struktur ermöglicht eine Gesamtbetrachtung und eine Integration
der juristischen und der kulturpolitischen Argumentationslinie. Er
ist neutraler und kann gleichzeitig für die verschiedenen Hand-
lungs- und Anwendungsfelder „politisch aufgeladen“ werden.
2. Juristische Begründungslinie: Pflicht-
aufgabe und Staatszielbestimmungen
Im Mittelpunkt kulturrechtlicher Erörterungen stand in den letzten drei
Jahrzehnten vor allem ein zentrales Thema: Die Diskussion darüber,
ob Kulturarbeit als „freiwillige Leistung“ oder „Pflichtaufgabe“ ein-
zuordnen sei.1 In der juristischen Literatur gab es zum einen Autoren,
die die Pflichtigkeit des Charakters der „Aufgabe Kultur“ herausgear-
beitet haben.2 Demgegenüber haben andere Autoren den Charakter der
„Freiwilligkeit“ betont und Beiträge mit einem gegenläufigen Akzent
als „kulturrechtliche Wohltätigkeitsliteratur“ bezeichnet.3
Solch allgemeine Charakterisierungen werden der Ausdifferenzierung Ausdifferenzierung
der Kultur in Deutschland in unterschiedliche Sparten allerdings nicht der „Pflichtenlage“ je
gerecht. Eine auf die Spezifika der Handlungsfelder und Sparten wie nach Kulturbereich
Künste (mit Theater, Musik, bildende Kunst etc.), kulturelle Bildung
(an Kindergärten, Schulen und außerschulischen Einrichtungen, Bib-
liotheken etc.) und Geschichtskultur (Museen, Archive etc.) nicht ein-
gehende allgemeine rechtliche Bewertung als „freiwillig“ ist in Folge
ihrer Undifferenziertheit nicht tragfähig. Bei der kulturjuristischen
Analyse einer etwaigen Pflichtigkeit ist vielmehr genauer zu analysie-
ren, mit welchen spezifischen rechtlichen Bindungen die jeweilige
Kulturaufgabe einhergeht. So haben die verschiedenen Kultureinrich-
tungen jeweils eigene verfassungsrechtliche Bezüge und mitunter
auch spezielle einfachgesetzliche Grundlagen, man denke nur an so
unterschiedliche Bereiche wie Theater (Kunstfreiheit) und Bibliothe-
ken (Informationsfreiheit). Zudem gibt es mitunter Spezialgesetze,
wie zum Beispiel zu den Musikschulen oder den Volkshochschulen.
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4. B 1.9 Kultur und Politik
Strukturen und Prozesse in der Kulturpolitik
Die Ausdifferenzierung wird hier in folgenden Schritten vorgenommen:
1. Spezifische verfassungsrechtliche Bindungen wirken auf den Cha-
rakter der „Aufgabe Kultur“ ein.
2. Die Charakterisierung einer Aufgabe als „freiwillig“ oder „pflich-
tig“ hat als vorrangigen Bezugspunkt das Kommunalrecht, das da-
her näher zu analysieren ist.
3. Sodann geht es um spezialgesetzliche Bindungen.
4. Schließlich können sich Ermessungsbindungen sowohl aus den
kommunal-rechtlichen Vorschriften zu den öffentlichen Einrich-
tungen als auch aus kommunaler Selbstbindung ergeben.
2.1 Spezifische verfassungsrechtliche Bindungen
Landesverfassungen In nahezu allen Bundesländern sind der Schutz, die Pflege bzw. die
enthalten Förderung von Kunst und Kultur eine staatliche Aufgabe von Verfas-
„Staatsziel Kultur“ sungsrang. Die Formulierungen in den Landesverfassungen variieren
indes: In manchen Verfassungen ist die Aufgabe der Kulturförderung
knapp und allgemein beschrieben. So heißt es in Artikel 20 Abs. 2
Verfassung von Berlin etwa: „Das Land schützt und fördert das kultu-
relle Leben.“ oder in Artikel 18 Abs.1 der Landesverfassung Nord-
rhein-Westfalen „Kultur, Kunst und Wissenschaft sind durch Land und
Gemeinden zu pflegen und zu fördern.“ In Artikel 16 Abs. 1 der Ver-
fassung Mecklenburg-Vorpommern heißt es ähnlich: „Land, Gemein-
den und Kreise schützen und fördern Kultur, Sport, Kunst und Wis-
senschaft.“ Andere Landesverfassungen gehen in der Umschreibung
der Schutzpflicht weiter, so benennen etwa die Verfassungen des Frei-
staats Sachsen (Artikel 11 Abs. 2) und des Landes Sachsen-Anhalt
(Artikel 36 Abs. 3) konkret die Unterhaltung von Theatern als staatli-
che Aufgabe. Artikel 36 Abs. 3 der Verfassung Sachsen-Anhalt lautet
wörtlich: „Das Land und die Kommunen fördern im Rahmen ihrer
finanziellen Möglichkeiten die kulturelle Betätigung aller Bürger ins-
besondere dadurch, dass sie öffentlich zugänglich Museen, Bücherei-
en, Gedenkstätten, Theater, Sportstätten und weitere Einrichtungen
unterhalten.“ Ähnlich heißt es in Art. 11 Abs. 2 S. 2 Verf. Sachsen zur
„Teilnahme des gesamten Volkes an der Kultur“: „Zu diesem Zweck
werden öffentlich zugängliche Museen, Bibliotheken, Archive, Ge-
denkstätten, Theater, Sportstätten, musikalische und weitere kulturelle
Einrichtungen sowie allgemein zugängliche Universitäten, Schulen
und andere Bildungseinrichtungen unterhalten.“ Als Adressaten der
Kulturpflege- und Kulturförderpflicht benennen die Landesverfassun-
gen der meisten Flächenstaaten neben dem Staat auch ausdrücklich die
Kommunen.4 Demgegenüber richten sich die Kulturförderklauseln in
den übrigen Landesverfassungen allgemein an den „Staat“5 und damit
implizit auch an die Gemeinden und die Gemeindeverbände.
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