1. Sprache und Identität
Webinar am 26.11.2013
Prof. Dr.Nina Janich
Ich spreche, also bin ich ... ich?
Webinar „Sprache und Identität“ 26.11.2013 | Prof. Dr. Nina Janich | TU Darmstadt
2. Was heißt „Identität“?
Wechselspiel von Abgrenzung und Solidarität:
wer/was bin ich – und wer/was bin ich nicht?
Vielschichtigkeit statt Einheitlichkeit: offene und
dynamische Verbindung zu mehreren Bezugssystemen
Gleichgewicht zwischen Kontinuität und
Veränderung: wird erworben und mit anderen
ausgehandelt, angestrebt und erwartet, erfolgreich
behauptet oder zerstört
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3. Was heißt „Identität“?
„Während persönliche Identität so etwas wie die
Kontinuität des Ich in der Folge der wechselnden
Zustände der Lebensgeschichte garantiert, wahrt
soziale Identität die Einheit in der Mannigfaltigkeit
verschiedener Rollensysteme, die zur gleichen
Zeit ,gekonnt’ sein müssen.“
(Krappmann 2000: 9)
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4. „Identität“ und Spracherwerb
Ich spreche, also bin ich!
Objektpermanenz und vernünftiges Ich-Bewusstsein
kooperatives Handeln vs. strategisches Handeln
Fundamentale Verfahren beim Sprechen:
Referentialisierung – Alterisierung – Finalisierung
(Schlieben-Lange 1983: 13-25, Völzing 1982)
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5. „Identität“ und Muttersprache
In der BRD sind wir Gastarbeiter, Ausländer, noch
schlimmer: die Türken. In den Heimatländern sind wir
Deutschländer, die Alamannen, noch schlimmer: die
Kapitalisten. Unsere Sprachen setzen sich aus mehreren
Sprachen zusammen. Wir reden gemischt. (...) Wir sind in
keiner Sprache mehr zuhaus. Wir sind auf der
vergeblichen Suche nach der Antwort, wer wir eigentlich
sind. Dabei ist unsere Angst, die eigene Sprache zu
verlieren, genauso groß wie die Angst, eingedeutscht zu
werden.
(zitiert nach Oppenrieder/Thurmair 2003: 49 aus Ackermann „In zwei
Sprachen leben“)
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6. „Identität“ und Muttersprache
Ich spreche Deutsch und X,
also bin ich Deutsche ... oder X?
Territoriale Mehrsprachigkeit (z.B. Schweiz)
Kollektive Mehrsprachigkeit (z.B. deutsche Sorben)
Individuelle Mehrsprachigkeit
Minderheiten vs. Migranten
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7. „Identität“ und Muttersprache
Ich spreche Deutsch und X,
also bin ich Deutsche ... oder X?
freiwillige und unfreiwillige Mehrsprachigkeit
Sprachenwahl und Sprachenabwahl
identitätsstiftende vs. identitätsbedrohende
Mehrsprachigkeit
(vs. Sprachkontakt)
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8. „Identität“ und Muttersprache
Anders gewendet:
Lommer bäde, sagte die Großmutter, und bekreuzigte sich.
Kumm, Herr Jesus, sei unser Jast un seschne wat de uns
bescheret has. Ich betete mit. In meinem reinen Hochdeutsch
war Jesus unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.
Amen. Der Vater sah mich an. Wat sull dat? Das ist richtig,
sagte ich. Ach, nä, äffte er. Dat es reschtesch, un wie mer
kalle, dat es nit rechschtesch. Nein, sagte ich. (...) Wat denks
de ejentlich, wer de bes! Denks de, dat de jet Besseres bes?
Denk jo nit, dat de jet Besseres bes. Janix bes de, janix! (...)
Ich verstummte nicht. Aber sprechen, wir mir der Schnabel
gewachsen war, konnte ich nur noch auf dem Papier.
(Ulla Hahn: Das verborgene Wort, S. 175f.)
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9. „Identität“ und Muttersprache
Ich spreche Dialekt,
also bin ich keinesfalls was Besseres?
Standardsprache: überregional, schriftlich fixiert, in
der Schule erworben, (normiert), prestigebesetzt
Dialekt: areal definierte Varietät (oft
außersprachlich beeinflusst), Erstsprache, oft sozial
konnotiert
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10. „Identität“ und Muttersprache
Ich spreche Dialekt,
also bin ich keinesfalls was Besseres?
Nord-Süd-Gefälle in Deutschland:
Bayern: 75% im Privaten,
50% bei der Arbeit
Norddeutschland: 50% in
der Familie, 30% bei der
Arbeit
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11. „Identität“ und Muttersprache
Ich spreche Dialekt,
also bin ich keinesfalls was Besseres?
Hanni, sagte ich und zupfte die Cousine am Ärmel.
Isch weiß wat. Ich hatte mir angewöhnt, mit Eltern,
Verwandten und Nachbarn eine unbestimmte
Mischung aus Kölsch und Hochdeutsch zu
sprechen. Kölsch für Belangloses, Hochdeutsch fürs
Wichtige. Reines Hochdeutsch für den Widerspruch.
(Ulla Hahn: Das verborgene Wort, S. 197)
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13. „Identität“ und Alter
Bottel kam auf meinem Rad und hielt mit quietschenden
Reifen direkt vor meinen Füßen. „Scheiße, Mann!“, sagte
er. „Ich hab ewig gebraucht, um meinen Alten
abzuhängen.“ „Meinen Alten“, sagte ich. Bottel nickte. „Die
Kacke ist am Dampfen“, sagte er. „Sie glauben, ich hab
völlig abgedreht, weil ich dem Psycho-Daddy, zu dem sie
mich geschleift haben, die Wahrheit erzählt habe, und das
Schwein hat gepetzt.“ „Du redest nicht wie ein Prinz,
Bottel“, sagte ich. Ich versuchte mir vorzustellen, was
Momma zu seiner Ausdrucksweise gesagt hätte.
(Kirsten Boie: Der Prinz und der Bottelknabe, S. 213)
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14. „Identität“ und Alter
Ich spreche „Jugendsprache“, also bin ich cool?
transitorische Varietät: Spracherwerbsphase mit
Sprachspielen (bricolage), Medienverarbeitung und
Expressivität (z.B. lästern)
Sprechstile in peer groups: Gruppenidentität
Abgrenzung, ggf. Protest
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15. „Identität“ und Geschlecht
die Quasselstrippe
das Klatschweib
die Plaudertasche
die Tratschtante
die zänkische Alte
das stille Mäuschen
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16. „Identität“ und Geschlecht
Ich spreche mehr, also bin ich eine Frau?
Ich spreche kooperativer, also bin ich eine Frau?
Stereotype über weibliches Gesprächsverhalten
(schlechter, besser/standardnäher, kooperativer,
mehr, weniger)
Sexus vs. Gender
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17. „Identität“ und Profession
ich hatte das gefühl, (...) dass es tendenzen gab
seitens politikwissenschaftler1 und auch seitens von
politikwissenschaftler2, es tendenzen gab der
abgrenzung zu sagen: wir machen politikwissenschaft,
wir sind die experten von politikwissenschaft, es gibt
ein begriffssystem, dieses begriffssystem ist
konstitutiv und ihr seid die physiker. ich war ...
physiker2 und ich gewissermaßen wurden dann eher
in die physiker-schublade gesteckt
(aus einem Interview mit einem Physiker über interdiszipl. Kooperation)
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18. „Identität“ und Profession
Ich spreche Fachsprache, also bin ich Profi!
Funktionale Eigenschaften von Fachsprachen:
Deutlichkeit
Verständlichkeit
Ökonomie
Anonymität
aber auch: ...
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(Roelcke 1999: 28)
19. „Identität“ und Profession
Ich spreche Fachsprache, also bin ich Profi!
...Identitätsstiftung:
Prestige von Fachsprachen nach außen
Stiftung und Sicherung von Gruppenidentitäten nach
innen (z.B. scientific community, Handwerkergilden)
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20. Ich ... und die anderen
„Das oberste Interaktionsprinzip ist die Orientierung
des Sprechers am jeweiligen Hörer [...]. Der
Sprechstil eines Sprechers ist ein Zeichen dafür, wie
er seine Beziehung zum Hörer definiert. Durch seine
Sprache will er ein Bild von sich vermitteln und die
Einschätzung seiner Person durch den (die) Hörer in
seinem Sinne beeinflussen.“ (Last 1989: 50f)
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21. Ich ... und die anderen
Ich ... = multiple und dynamische Identität
Individualstil vs. Kooperationsprinzip
... und die anderen = Image/Fremdbild
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22. Literatur
Eichhoff-Cyrus, Karin M. (Hrsg.) (2004): Adam, Eva und die Sprache. Beiträge zur
Geschlechterforschung, Mannheim u.a.
Janich, Nina/Thim-Mabrey, Christiane (Hrsg.) (2003): Sprachidentität – Identität durch
Sprache, Tübingen. Darin besonders Beiträge von Oppenrieder/Thurmair
(Mehrsprachigkeit), Eroms (Dialekt in der Literatur)
Krappmann, Lothar (1987): Identität, in: Ammon, Ulrich/ Dittmar, Norbert/ Mattheier, Klaus J.
(Hrsg.) (1987): Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache
und Gesellschaft, Bd. 2, Berlin/ New York, 132-139.
Kresic, Marijana (2006): Sprache, Sprechen und Identität. Studien zur sprachlich-medialen
Konstruktion des Selbst. München.
Last, Annette (1989): „Heiße Dosen“ und „Schlammziegen“ – Ist das Jugendsprache?, in:
Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 41, 35-68.
Roelcke, Torsten (1999): Fachsprachen, Berlin (= Grundlagen der Germanistik 37).
Schlieben-Lange, Brigitte (1983): Traditionen des Sprechens. Elemente einer pragmatischen
Sprachgeschichtsschreibung, Stuttgart u.a
Völzing, Paul-Ludwig (1982): Kinder argumentieren. Die Ontogenese argumentativer
Fähigkeiten, Paderborn u.a. (= Informationen zur Sprach- und Literaturdidaktik 36).
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