Wenn die Bewerber nicht (mehr) zu den Arbeitgebern kommen, dann müssen diese halt auf sie zugehen. Wie das gelingen kann und ein paar zauberschöne Beispiele gibt es in diesem Denkzettel.
4. Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis
Warum ich dieses Buch geschrieben habe 6
1 Der schönste Job der Welt 27
2 Zum Lachen 39
3 Die goldene Regel im Personalmarketing 53
4 Regeln entrümpeln 65
5 HR heisst verkaufen 77
6 Anforderungsprofile: «Down Size me» 87
7 HR als Créateur des Idées 99
8 Mehr Textcharme 113
9 Stopp dem Lohnpoker 129
10 So richtig auftrumpfen:
De Tomaso Pantera schlägt Simca 141
11 Rauchen heisst leben 149
12 Geschichten erzählen 157
13 Hereinspaziert, hereinspaziert!
Sehen, erleben, staunen, bewerben! 167
14 Zurück in die Zukunft: Wie das Mitarbeitergespräch
zum Bewerbermagnet wird 181
15 Vom Vorstellungsgespräch zum Gesprächserlebnis 199
16 Ein Arbeitgeber ganz nach meinem Geschmack 211
17 Mitarbeitende als Botschafter 223
18 Au revoir, oder: Man sieht sich immer zweimal 235
Bildquellenverzeichnis 240
Quellenverzeichnis 241
5.
6. Hereinspaziert,
hereinspaziert! Sehen,
erleben, staunen,
bewerben!
Warum durchs Schlüsselloch äugen,
wenn man auch ungeniert eintreten
kann? In der Informationsphase
und später beim Bewerben sind mit
Kundennähe und der Kommunikation
von Mensch zu Mensch entscheidende
Sympathiepunkte zu gewinnen.
13
7. Personalmarketing
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Auf die Talente zugehen
Ich betrat den kleinen Laden am Ende der Fussgängerzone nicht zum
ersten Mal. Kurz vor Weihnachten kaufte ich dort handgemachte Kerzen
mit allerlei Science-Fiction-Motiven. Eine ähnelte Darth Vader; die Freude
beim Beschenkten hielt sich in Grenzen.
Als ich mich jetzt umsah, war alles ganz anders. Hell und modern, wenn
auch etwas improvisiert, was aber kaum zu sehen war und dem Ganzen
nur noch zusätzlich Sympathie verschaffte. Auf Regalen und in dezent
beleuchteten Vitrinen standen kunstvoll geschwungene, glänzende
Kleinteile aus Edelstahl, ungefähr in der Grösse meiner Hand. Ich tippte
auf Kniegelenke von Pflegerobotern. Nicht ganz: «Hochpräzise Messinst-
rumente für den Durchlauf von Gasen und Flüssigkeiten», klärte der
freundliche Mittvierziger auf, mich gleichzeitig zu einem Ledersessel
beordernd. Im Hintergrund hörte ich die typischen Bürogeräusche, ich
sah die Scheitel von zwei Köpfen hinter einer Wand. Jemand lachte.
Ich öffnete meine Mappe und legte das Couvert auf den kleinen Beistell-
tisch. Meinen CV gingen wir nur kurz durch, eine Espressolänge reichte
aus. Danach sprachen wir über meine Einsatzmöglichkeiten in der Firma
mit den kunstvollen Messinstrumenten. Der Bewerberbetreuer, so stand
es unter dem Namen auf seinem Namensschild, stellte mir ein paar Fra-
gen. Ich tat es ihm gleich. Ich fragte nach den Zukunftsplänen des Unter-
nehmens und den ethischen Grundsätzen. Wollte wissen, wie ich mir
den Umgang untereinander und mit den Vorgesetzten vorstellen könne.
Fragte nach Details zu den Arbeitszeiten und darüber, wie sich mein
Zweitjob als Betreuer in einer Kita mit den Aufgaben in der Firma mit der
coolen Idee des Pop-up-Stores verbinden liesse.
Das Dossier liess ich gleich dort.
8. Hereinspaziert, hereinspaziert! Sehen, erleben, staunen, bewerben!
169
Ja, ja, ich gebe es zu: Die Story ist fiktiv. Und lachen Sie von mir aus nur über
mich, im Sinne von: «Der Spinner träumt sogar von Personalmarketing.» Mir
ist das egal, ein bisschen träumen wird ja wohl noch erlaubt sein.
Fakt ist: Wenn die Kunden, in unserem Business
auch Bewerber genannt, nicht zu uns kommen – vielleicht
sollten wir dann halt ganz einfach zu ihnen gehen?
Ziemlich normale Folgerung jenseits des Digitalen.
Im Active Sourcing etabliert sich diese Auf-Menschen-zugehen-Haltung mehr
und mehr. Man spricht interessante Menschen vornehmlich auf den Busi-
nessnetzwerken an. Warum nicht auch in der realen Rekrutierungswelt?
Auch hier liesse sich einiges von Dienstleistern abschauen.
■ Food-Trucks sind in. Sie fahren dorthin, wo sich potenzielle
Kunden aufhalten.
■ In einer Kleinstadt in Süddeutschland las ich, dass in einem
während der Wintermonate geschlossenen Seerestaurant
ein zweitägiger Schuhverkauf stattfindet.
■ Pop-up-Stores bringen Leben in die Innenstädte.
Clevere Unternehmer nutzen geschlossene Geschäfte
zeitlich befristet bis zu ihrer nächsten Vermietung. Das
nutzen Künstler, Start-ups und selbst Grosskonzerne wie
Porsche oder IKEA, die in Zürichs Innenstadt temporäre
Shops einrichten und ihre Produkte aus den gesichtslosen
Gewerbezonen zu den Interessenten in die Stadt bringen.
■ Starköche kochen zu Hause bei Menschen, die sich in
den eigenen vier Wänden wohlfühlen, aber nicht auf die
Annehmlichkeiten eines gepflegten Restaurantbesuchs
verzichten wollen.
■ Eigentlich nichts Neues: In meinen Erinnerungen ist
schwach noch der Migros-Verkaufswagen präsent,
der früher Dinge des täglichen Gebrauchs in schwach
erschlossene Dörfer brachte. Und natürlich der Verkaufs-
wagen der Molkerei Schütz, der täglich Milchprodukte
und andere Lebensmittel direkt an die Haustür brachte.
9. Personalmarketing
170
Ich träume davon, dass das Recruiting vermehrt zu den Interessenten hin-
geht. Online geschieht es. Warum aber nicht auch mit einer ausgeprägten
Kundennähe abseits der virtuellen Welt verblüffen? Zum Beispiel mit einem
Pop-up-Store in der Innenstadt, der während Wochen oder Monaten als Job-
center dient (und zweifelsohne für viel Goodwill und öffentlichkeitswirksame
PR sorgt)? Oder:
■ Bewerbungen können am Kundendienst der grossen
Kaufhäuser abgegeben werden. Dort gibt es auch
Informationsmaterial über Karrieremöglichkeiten.
■ Bahn-, Post- oder Bankfilialen nehmen wie
selbstverständlich auch Bewerbungsdossiers an.
■ Standaktionen am Wochenmarkt in der Innenstadt
(«Garantiert vegan: Frische Jobs»).
■ Restaurants laden in den Randzeiten zum Job-Stammtisch
und der Möglichkeit, seine Bewerbung gleich zu platzieren.
Jeden Tag sind Hunderttausende von Firmenbotschaftern in Geschäftsautos
oder Lastwagen unterwegs. Unterwegs zu Kunden. Die Fahrzeuge sind eine
willkommene und ausserordentlich kostengünstige Werbefläche mit einem
sensationellen Kosten-Nutzen-Verhältnis. Firmenfahrzeuge sind sogar poten-
zielle Jobcenter. Deren Fahrerinnen oder Fahrer können, vielleicht mit einem
Button am Revers versehen oder einem entsprechenden Aufdruck auf dem
Sweater, auf die Arbeitsbedingungen im Unternehmen angesprochen wer-
den («Unser Team sucht Verstärkung. Sprechen Sie mich gerne darauf an.»).
«Unser Büssli»
Gut unterwegs ist auch das Kinderspital Zürich, kurz Kispi, mit seinem kleins-
ten Jobcenter der Schweiz. Vor zwei Jahren schafften es die Personalverant-
wortlichen an. Als Blickfang. Als fahrbaren Messestand jenseits der langwei-
ligen Standard-Messestände. Als ungewöhnlichen Begegnungsort zwischen
HR und Interessierten. Der eigens hergerichtete VW-Bulli ist ein bisweilen
launischer Begleiter. Sonja Auf der Maur und Désirée Nater, beide Bereichs-
personalverantwortliche am Kinderspital, erinnern sich an abenteuerliche
Ausfahrten. Wie zum Beispiel nach Davos an einen Pflegekongress, wo die
Autohilfe gleich zweimal zum Einsatz kam. Oder als mitten im Zürcher Feier-
10. Hereinspaziert, hereinspaziert! Sehen, erleben, staunen, bewerben!
171
abendverkehr plötzlich der zweite Gang kaputtging und das mobile Jobcen-
ter mitten auf einer Kreuzung für ungewollte Aufmerksamkeit sorgte.
Die Einsätze vor Ort bei den potenziellen Bewerberinnen und
Bewerbern brachten immer auch spannende Begegnungen in
örtlichen Autogaragen mit sich. Sonja Auf der Maur erinnert
sich: «Nicht auszurechnen, wenn wir im grösseren Stil
Automechaniker rekrutieren müssten – wir hätten vermutlich
heute eine ellenlange Warteliste», lacht die engagierte
Personalmarketerin.
Das fahrende Jobcenter hat schon vieles erlebt. Im Sommer
diente es vor der Ausbildungsstätte der Studierenden der
Pflege als mobile Eisdiele. Es stand in Hallen und profitierte
dank seinen fahrzeugtypischen Kulleraugen vom «Jöh-
Effekt». Und es half dutzendfach, um schnell mit Interessier-
ten ins Gespräch zu kommen. Und ganz nebenbei ist das
«Büssli», wie der VW liebevoll genannt wird, auch unter den
11. Personalmarketing
172
Mitarbeitenden im Kispi zum Liebling geworden. Schon mehr
als einmal wurde eine langjährige Mitarbeiterin am letzten
Arbeitstag vor der Pensionierung damit vom HR-Leiter
persönlich zu Hause abgeholt und ins Kinderspital chauffiert.
Sonja Auf der Maur zieht nach fast zwei Jahren eine positive Zwischenbilanz:
«Unser VW-Bus hat uns schon an zahlreichen Messen deutlich mehr Besu-
cher beschert als den Nachbarständen. Es ist aber nicht nur in Hallen, son-
dern vor allem auch auf der Strasse ein Blickfang, wodurch sich auch immer
wieder schönes Bildmaterial ergibt, das wir in den sozialen Medien weiterver-
werten können. Auch wenn das Büssli uns schon die eine oder andere Panne
bescherte, freuen wir uns jedes Mal riesig, wenn wir damit raus zu den
Bewerbern fahren und das Kinderspital auf diese Art präsentieren können.»
Please disturb
Die Idee, Personalwerbung in ein «analoges Live-Erlebnis» zu verwandeln,
hat nicht nur viel Charme und weckt Sympathien, sondern hat auch viel Dif-
ferenzierungspotenzial und das Zeug zum Medienstar. Manche Unterneh-
men tun es schon heute und haben Erfolg. So setzen die Schweizer Hoteliers
seit Jahren auf reale Erlebnisse und Begegnungen statt auf aufwendige Apps.
Mit dem augenzwinkernden Namen «Please Disturb», dem Tag der offenen
Hoteltüren, können seit 2008 in Luzern und seit 2014 in der ganzen Schweiz
junge Menschen und Hotelinteressierte in die faszinierende Welt der Hotels
eintauchen. Bis zu 250 Hotels nehmen jeweils teil, von der einfachen Pension
bis hin zum mondänen Fünfsternehaus.
Die Erfahrungen, die der veranstaltende Arbeitgeberverband hotelleriesuisse
damit über die Jahre gesammelt hat, sind überzeugend. Elian Schmid ist für
dieses wunderbare Projekt verantwortlich und erzählt mir: «Please Disturb
hat sich seit der Lancierung zum grössten Informationsanlass rund um die
Hotelberufe und Hotelkarrieren entwickelt. Fast 20000 Menschen nutzen
schweizweit die Möglichkeit, Eindrücke über die Berufswelt in der Hotellerie
zu gewinnen. Einzelne Hotels erleben am Please-Disturb-Tag einen regelrech-
ten Ansturm auf ihr Haus.»
12. Hereinspaziert, hereinspaziert! Sehen, erleben, staunen, bewerben!
173
Kein Wunder: Der Tag ist kommunikativ professionell aufgezogen und die
Besucherinnen und Besucher können in den meisten Betrieben sogar tatkräf-
tig mit anpacken. Sei dies im Restaurant bei einem Flambierworkshop, im
Hotelzimmer, wo die Besucher und Besucherinnen mit Zeitmessung unter
fachkundiger Anleitung ein Bett richtig beziehen oder man in der Küche
spannende Tipps und Tricks der Profis erfährt.
Die Berufsleute zeigen stolz ihr Können und erzählen den
Interessierten von ihren vielseitigen und spannenden Karrie-
rewegen – so wie hier einer Familie im Hotel Schweizerhof in
der Lenzerheide. Alles live, alles authentisch, alles in allerbes-
tem Sinne normal.
Elian Schmid erzählt, dass die meisten Hotels ihre Lernenden mit der Ausar-
beitung des Tagesprogramms rund um den Tag der offenen Hoteltüren
beauftragen. «Diese zeigen dann jeweils mit viel Enthusiasmus das bereits
Erlernte. Nicht wenige Jugendliche lassen sich von der Atmosphäre anste-
cken und bewerben sich im Anschluss um eine Lehrstelle. Darüber hinaus
verlassen die Besucherinnen und Besucher die Hotels mit vielen neuen
Erkenntnissen und wissen, wo sie als Nächstes eine Familienfeier abhalten,
13. Personalmarketing
174
einen Seminarraum buchen oder den Hotelbetrieb als Lernort für die Tochter
oder den Sohn ihrer Freunde empfehlen.»
Das gefällt mir: Personalwerbung und Unternehmens-
kommunikation Hand in Hand. Hier zahlt eine Personal-
marketinginitiative auch in die Unternehmensmarke ein.
Wunderbar.
In einigen Regionen spannen die teilnehmenden Hotelbetriebe zusammen.
Sei dies mit einem gemeinsamen Wettbewerb, bei dem in jedem der teilneh-
menden Hotels etwas gemacht, degustiert oder erraten werden muss. Es gibt
auch Betriebe, welche am Please-Disturb-Tag ein Fest für die ganze Dorfbe-
völkerung anbieten. Auch schon teilgenommen haben Betriebe, welche sich
inmitten einer Renovierung befanden oder bei denen das Hotel gerade erst
eröffnet wurde respektive kurz vor der Eröffnung stand. Nicht zu unterschät-
zen ist, dass auch bereits ausgelernte Mitarbeitende an diesem Tag unter-
wegs sind, um mögliche zukünftige Arbeitgeber unter die Lupe zu nehmen.
Elian Schmid erinnert sich an ein Zürcher Paar, beide bereits in der Gastro-
nomie tätig. «Die beiden wollten einmal für eine Saison in das Bündnerland
wechseln. Sie nutzten den Tag der offenen Hoteltüren, um hinter die Kulis-
sen zu schauen und mit zukünftigen Chefs ungezwungen zu plaudern. Und
viele Jugendliche nehmen bereits ihre Bewerbungsunterlagen mit und ge-
ben sie in der Hoffnung auf eine Schnupperlehre den Personalverantwort-
lichen ab.»
Please Disturb ist eine spannende Möglichkeit, den
Besuchenden einen realistischen Einblick in den
Hotelalltag zu ermöglichen und potenzielle Fachkräfte
für die Branche und ihr Hotel zu gewinnen.
Das schafft keine Website, kein Video, keine App.
Der persönliche Kontakt ist König.
Jedoch kommt der Erfolg des Tages der offenen Hoteltüren nicht einfach so.
Für Elian Schmid und ihr Team ist der Tag jeweils der Schlusspunkt einer inten-
siven Vorbereitungs- und Kommunikationsphase. «Wir vom Dachverband
sowie die Regionalverbände von hotelleriesuisse bewerben Please Disturb in
der ganzen Schweiz. Auch die Hotels müssen tatkräftig die Werbetrommeln
rühren und ihren ‹Bitte stören›-Tag der Bevölkerung schmackhaft machen. Sie
14. Hereinspaziert, hereinspaziert! Sehen, erleben, staunen, bewerben!
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tun das mit viel Kreativität wie zum Beispiel einem Riesenbanner an der Hotel-
fassade oder mit Besuchen der Lernenden in den Nachbarschulen.»
Der Aufwand lohnt sich, sagt Elian Schmid: «Erfreulicherweise erhalten wir
immer wieder Rückmeldungen, dass dank Please Disturb Lehrstellen, Schnup-
perplätze, aber auch andere Arbeitsstellen im Hotel besetzt werden konn-
ten.»
Personalmarketing aus bestem Schrot
und Korn
Einen ähnlich direkten Weg zu ihren potenziellen Bewerberinnen und Bewer-
bern hat die Bäckerei Ströck eingeschlagen. Sie lädt unkompliziert in ihr Kar-
rierezentrum in der Wiener Innenstadt – Musterfiliale zum Ausprobieren
inklusive.
Das familiengeführte Bäckereiunternehmen bringt seine Backwaren über
den Handel und mehr als 70 eigene Filialen an den Mann und an die Frau.
Das Unternehmen beschäftigt 1600 Mitarbeitende und 70 Auszubildende.
Entsprechend gross ist der Personalbedarf: Das Team um HR-Chefin Eva Pla-
nötscher-Stroh sucht jedes Jahr viele neue Fachkräfte, Verkaufstalente, Aus-
hilfen und Auszubildende.
Seit Ende 2015 lädt Ströck Interessierte in ihr Karrierezentrum ein. Damit
gehen die Personalverantwortlichen neue Wege. Ein persönlicher Erstkon-
takt, wo doch alle Welt von CV-Parsing, automatisierter Vorauswahl und
Algorithmen spricht und sich so manches Unternehmen überlegt, wie sie die
Personalauswahl noch schneller, noch günstiger und noch unpersönlicher
organisieren können. Sofern sie nicht sowieso schon irgendwohin ausgela-
gert wurde.
Wie kam es dazu, dass die Wiener geradezu
einem Recruiting-Anachronismus frönen?
Das Karrierezentrum ist nicht einfach so als vorübergehende Massnahme
oder gar Marketinggag entstanden. Vielmehr steht dahinter eine klare Stra-
tegie, basierend auf den Erfahrungen mit der klassischen Personalauswahl.
In der Vergangenheit wählte das Recruitingteam Mitarbeitende «klassisch»
aus: Bewerbungen sichten und aufgrund des CV abschätzen, ob es passen
15. Personalmarketing
176
könnte. Dutzende pro Tag. Hunderte in der Woche. Tausende im Jahr. «Doch
eine gute Verkäuferin muss nicht zwingend einen im klassischen Sinne guten
CV haben», erklärt Eva Planötscher-Stroh den Ursprung des neuen Vorge-
hens. «Jemand kann ein wunderbares Verkaufstalent sein, ohne dass sich
dieses Talent aus dem CV ergibt – oder natürlich auch umgekehrt. Wie gut
sich jemand für den Verkauf unserer Backwaren eignet, sehen wir noch
immer am besten im persönlichen Gespräch.»
Nachdem auch Versuche mit gross angelegten Vorstellungsrunden und
Speeddating nicht den gewünschten Erfolg brachten, entstand in einem
Brainstorming die Idee, dem «Schwachsinn mit der herkömmlichen Vorselek-
tion» (Zitat Planötscher-Stroh) ein schickliches Begräbnis zu spendieren und
neue, frechmutige Wege zu begehen. Diese basieren auf dem persönlichen
Kennenlernen. Denn nur dort können letztlich soziale Kompetenzen erlebbar
gemacht werden.
Mörderisch gute Tipps
Dieser Meinung ist auch Thomas Müller. Der Profiler hilft sonst, das Verhalten
von Schwerverbrechern wie dem Gefängnisliteraten Jack Unterweger zu
deuten und so Fälle zu lösen. In einem Interview mit dem Human Resources
Manager Magazin zieht er Parallelen zur Personalauswahl.22
Soziale Intelligenz können Sie nicht elektronisch
messen. Wir sind gut beraten, die automatisierte und
standardisierte Beurteilung von anderen Menschen
durch etwas zu ersetzen, was wir leider ein bisschen
verloren haben: den gesunden Menschenverstand.
Profiler Müller empfiehlt, anstelle von Software wieder vermehrt auf Hard-
ware zu vertrauen. Hardware in Form unserer Augen. Beobachten, aufmerk-
sam sein, hinschauen und auf die Signale achten. Und dies dann mit dem
Gehörten in Einklang bringen.
Zurück in die Recruiting-Backstube von Ströck. Gesunden Menschenverstand
und Pragmatismus bringen die HR-Profis aus Österreich jede Menge mit. Job-
suche ganz einfach. Nicht wie anderswo einfach für das Unternehmen, son-
dern einfach für die Bewerberinnen und Bewerber.
16. Hereinspaziert, hereinspaziert! Sehen, erleben, staunen, bewerben!
177
Seit Oktober 2015 können diese nun drei Mal pro Woche einfach mal im
Karrierecenter vorbeischauen. Ohne Voranmeldung. Ohne Unterlagen. «Für
diese Fälle haben wir Bewerbungsbögen aufliegen, die können direkt bei uns
ausgefüllt werden», sagt Eva Planötscher-Stroh.
Ins Karrierecenter integriert ist auch eine Schulungsfiliale. Dort können die
Bewerberinnen und Bewerber gleich einmal ihr Talent auf die Probe stellen.
«Wir versetzen sie dann mit einem kurzen Rollenspiel in eine realistische Ver-
kaufssituation. Das ist aussagekräftiger als jedes Papier», so die Personalche-
fin. Meist erhalten die Bewerberinnen und Bewerber sofort ein Feedback.
Der Frechmut im Entdecken und Gehen neuer Wege beschert Ströck viele
frischgebackene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Eva Planötscher-Stroh:
«Unser Vorgehen funktioniert sehr gut, wir sind echt zufrieden.» Die Erfolgs-
quote ist in der Tat hoch: In überdurchschnittlichen 20 Prozent der Vor-Ort-
Bewerbungen kommt es zu einer Anstellung. Im ersten Jahr nach der Eröff-
nung fanden mehr als 2500 Interessierte den Weg an die Berggasse 13. In
Spitzenzeiten empfangen die kundenorientierten Personalerinnen bis zu
100 Interessierte pro Woche.
Beflügelt vom Erfolg mit dem Recruitingcenter in der Innenstadt probiert das
Recruitingteam von Ströck immer wieder Neues aus. Und geht noch konse-
quenter dahin, wo sich interessante Zielgruppen aufhalten könnten. In den
Wiener Westbahnhof zum Beispiel. Auch dies war ein Erfolg. Nicht wirklich
funktioniert hat hingegen der Besuch im Freibad. «Vielleicht war dieses Set-
ting dann doch zu privat, zu persönlich. Oder die Leute hatten ganz einfach
Hemmungen, berufliche Alternativen in der Badehose zu diskutieren. Das ist
aber überhaupt nicht schlimm. Wir haben wieder ganz viel gelernt. Mit
jedem Anlass wissen wir wieder besser, was funktioniert und was nicht. Das
hilft uns, auf der Basis von Praxis statt Theorie unsere künftigen Massnahmen
noch besser abzustimmen», sagt Eva Planötscher-Stroh.
Toll! Das ist learning by doing!
Tun statt lamentieren!
Warum kompliziert, wenn es auch einfach geht? Oder um es
mit den Schlussworten von Eva Planötscher-Stroh zu sagen:
Unser Vorgehen ist nicht wissenschaftlich,
sondern basiert auf Hausverstand.
17. DENKZETTEL
Wenn die Bewerber Sie nicht finden, dann besuchen Sie sie halt
vor Ort.
Bauen Sie im Recruiting auch auf Hausverstand.
Ein Tag der offenen Tür, modern interpretiert und kommunikativ
über verschiedene Kanäle begleitet, ermöglicht Hunderte spannender
Begegnungen direkt mit der Zielgruppe.
Versuchen Sie, die Prüfung praktischer Fähigkeiten gleich mit in
das Vorstellungsgespräch zu integrieren.
Wie wäre es mit einer Standaktion am Wochenmarkt oder gleich
einem Pop-up-Recruitingcenter in der Innenstadt? Sorgt bestimmt
für viel (mediale) Aufmerksamkeit und gibt viele kleine Geschichten
für die Kommunikation danach.
Den Fuhrpark und dialogstarke Aussendienstmitarbeiter so ganz
nebenbei als Jobcenter nutzen.
18. ISBN 978-3-286-50565-0
www.verlagskv.ch
Wenn man sich so umhört, könnte man fast
meinen, der digitale Messias sei direkt aus der
Cloud herabgestiegen, um die Menschen
im Human Resources mit grossartigen Erleich-
terungen rund um das Werben und Halten
der Talente zu beglücken.
«Di-gi-tal!» So lautet Schlachtruf und Zauber-
wort für noch schlankere Prozesse. Autor Jörg
Buckmann mag nicht so recht in diesen Chor
mit einstimmen. Er liefert stattdessen mit
diesem ungewöhnlichen Inspirationsbuch eine
kleine und feine Auswahl an 18 charmanten
Denkzetteln für alle, die mit kostengünstigen
und verblüffend einfachen Ideen vielverspre-
chende Talente zum Tanz bitten wollen – und
auf die fantastischen Versprechen von
Algorithmen, Robot Recruiting und künstlicher
Intelligenz vorerst pfeifen.