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Finanzkrise unterwegs zur plutokratie
1. Quelle: http://www.zeit.de/2011/36/Finanzkrise-
Demokratie
Finanzkrise Unterwegs zur Plutokratie
Hemmungsloser Reichtum, betrogene Bürger: Der entfesselte
Markt bringt die Demokratie in Gefahr
Weit liegen die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück, da der
Kapitalismus allgemein nur als »Schweinesystem« bezeichnet wurde,
tatsächlich aber, im Westen wenigstens, ein weitgehend menschliches
Antlitz trug und gegen seine Kritiker leicht verteidigt werden konnte. Er
versprach Wohlstand für alle und schien diese Hoffnung, sehr im
Gegensatz zum Sozialismus, sogar einlösen zu können. Er sorgte sich um
Bildung, sozialen Aufstieg, die wirtschaftliche Teilhabe aller, er war in
Betrieben wie in der Gesellschaft dringlich interessiert, Gründe für
Klassenhass und Klassenkampf zu beseitigen. Man könnte auch sagen: Er
war bereit, sich zähmen zu lassen, um alle Menschen für sein Wachsen
und Gedeihen zu gewinnen – oder doch von der sozialistischen
Versuchung abzuhalten. Vielleicht waren die Unternehmer willens, auf
einen Teil ihrer Profite zu verzichten, um die Akzeptanz des »Systems«
und damit sein langfristiges Überleben zu sichern.
Aber wie auch immer man das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und
Arbeitnehmern, Politik und Wirtschaft damals einschätzen will – die
Bereitschaft des Kapitals, Akzeptanzkosten zu tragen, ist verschwunden.
Im Gegenteil: Für die Rettung der Banken, von denen die Finanzkrisen der
letzten Jahre verursacht wurden, musste der Steuerzahler aufkommen. Er
zahlt auch heute nicht nur, um überschuldete Staaten zu retten, sondern
um die Gewinne der Spekulanten zu sichern, die auf den Bankrott dieser
Staaten wetten. Das wird im Übrigen nicht einmal beklagt. Ein
Heilsversprechen dichtet niemand mehr dem Kapitalismus an. Der Markt,
so heißt es inzwischen, sei nun einmal dazu da, die Überlebenskräfte von
Staaten, Firmen, Menschen zu testen und die Starken von der Last der
Schwachen zu befreien.
Das ist der Kern der Lehre, die allgemein, aber vielleicht zu Unrecht,
neoliberal genannt wird. In jedem Fall hat sie nur noch schwache
Ähnlichkeit mit dem klassischen Liberalismus, der die Freiheit des
Individuums nicht nur als Freiheit des stärksten Marktteilnehmers sah, alle
Übrigen ins Elend zu stürzen. Einen gewissen, manchmal vagen Nutzen für
das Gemeinwohl erwartete auch der Liberale von der Marktkonkurrenz. Er
war vielleicht ein Träumer – in seiner Hoffnung auf eine magische Macht
der Märkte, alles zum Guten zu wenden –, aber ein Zyniker war er nicht.
Das änderte sich, als in der Bankenkrise plötzlich nach dem Staat gerufen
werden musste, den der Liberale bisher immer als Störenfried draußen
halten wollte. Der Eindruck war so überwältigend, dass der Markt nicht
mehr dem Allgemeinwohl, sondern das Allgemeinwohl dem Markt zu
2. dienen hatte, dass die Lobredner des Kapitals augenblicklich ihre letzten
menschenfreundlichen Versprechungen fallen ließen.
Das hieß jedoch nicht, dass den Regierungen auch nur irgendeine der
dringend notwendigen Regulierungen der Märkte gestattet wurde.
Vielmehr galt der Markt nunmehr als Naturgesetz, das als solches allen
menschlichen Wünschen nach Glück oder Moral entzogen ist. Der Markt
wurde zur Schicksalsmacht, und alles Klagen offenbarte nur die
Untüchtigkeit der Klagenden, die sich auf ihm nicht zu behaupten
vermögen. Von der Fortschrittshoffnung der Liberalen blieb nichts als ein
Darwinismus, der sich am survival of the fittest freut und die
Aussonderung schwacher Schuldner, schwacher Staaten, schwacher
Arbeitnehmer feiert.
Die Demonstranten wirken beängstigend unpolitisch
Im Rückblick wird man wahrscheinlich sagen, dass es der Untergang des
Sozialismus war, der den Kapitalismus auf diese Weise enthemmte und
seine Schönredner von der Schönrednerei zu einer Rhetorik der Härte
führte. Die Systemkonkurrenz war entfallen, und der Kapitalismus meinte,
um seine Akzeptanz nicht mehr bangen zu müssen. Das allerdings könnte
sich als schwerer Fehler erweisen. Noch ist freilich keine Revolution
ausgerufen worden, und die Demonstranten, die in London, Athen oder
Madrid auf die Straße gehen, wirken beängstigend unpolitisch. Gegen wen
richtet sich ihr Protest? Glauben sie, durch Unmutsbekundungen das
Börsengeschehen beeinflussen zu können?
Die friedlichen wie die stumm randalierenden Protestzüge zeigen vor allem
ein Bild ungeheurer Entmutigung: wie von Schafen, die auf dem Weg zur
Schlachtbank blöken. Und manches spricht dafür, dass sie darin nur die
Haltung ihrer Regierungen in der Finanzkrise spiegeln, deren Botschaft an
die Masse der Bürger lautet: dulden, durchstehen, den Schaden bezahlen,
den sie nicht angerichtet haben. Wo aber stumme Duldung die einzig
empfohlene Haltung bleibt, hat sich das Politische tatsächlich verflüchtigt
und keine demokratische Adresse mehr. Wenn ein so gewaltiger
Lebensbereich wie die Wirtschaft, die noch dazu viele weitere
Lebensbereiche tyrannisch bestimmt, der gesellschaftlichen
Gestaltungskraft entzogen wird, ist auch die Demokratie sinnlos. Eine
Demokratie, die sich darauf beschränkt, Rauchverbote in Gaststätten zu
erlassen oder die Helmpflicht von Radfahrern zu diskutieren, also dem
gegenseitigen Gängelungsverhalten der Bürger nachzugeben, aber die
eine große Macht, die alle gängelt, nicht beherrschen kann, ist das Papier
nicht wert, auf dem ihre Verfassung gedruckt wird.
Es wäre verwunderlich, wenn das lähmende Ohnmachtsgefühl, die
Entpolitisierung der Jugend nicht hier ihren Ursprung hätten. Sie steht
sprachlos vor Regierungen, die sie gewählt hat, die aber nichts
unternehmen, was im Wählerinteresse wäre. Wer hat die Politiker
erpresst, wer hat sie bestochen? Wo sind die Bärenführer, von denen sich
3. ganze Kabinette wie am Nasenring durch die Manege führen lassen? Ganz
augenscheinlich ist die Furcht vor einer Wahlniederlage nichts im Vergleich
zu dem Druck, den Wirtschaftskreise auf Politiker auszuüben vermögen.
Und in der Tat haben die Politiker von einer Wahl nichts zu befürchten:
Der Bürger, der die Politiker für ihren Verrat an seinen Interessen
bestrafen möchte, fände keine Partei im demokratischen Spektrum, die
bereit wäre, sein Interesse gegen die Wirtschaft durchzusetzen. Er könnte
in Deutschland die SPD gegen die CDU oder die CDU gegen die SPD oder
beide gegen die Grünen auswechseln, ohne dass sich am Katzbuckeln vor
dem Kapital etwas ändern würde. Der Grund ist einfach: Das Kapital, dem
Regulierung bevorsteht, würde um den Globus weiterziehen, unter
Mitnahme von Wohlstand und Arbeitsplätzen. Die Drohung mit
Arbeitsplatzverlusten, aber auch die Finanzkraft, ganze Staaten in den
Abgrund zu spekulieren, verleihen dem Kapital eine politische Macht, die
bei Weitem bedrohlicher ist als alles, was eine feintuerische
Kapitalismuskritik über Entfremdung und andere seelische Fernwirkungen
formuliert hat.
Die marktliberale Gehirnwäsche hat bislang Erfolg
Indes könnte es durchaus sein, dass die Arbeitsplätze ohnehin schwinden
und der Wohlstand auch hierzulande sich auf eine Weise von unten nach
oben umverteilt, dass er der Masse der Bürger kein Versprechen mehr ist.
Mit anderen Worten: Manches spricht dafür, dass die kapitalistische
Dynamik der Profitmaximierung etwas leistet, was die schärfsten Kritiker
des Systems bisher nicht geschafft haben: ihm jedes Glücksversprechen
auszutreiben. Wenn diese Ernüchterung ebenfalls um den Globus zieht,
wird das Kapital, das sich so gerne als scheues Reh sieht, kein Plätzchen
mehr finden, die zarten Glieder zu betten.
Und tatsächlich breitet sich die Ernüchterung schon aus. Sie kennt keine
Parteigrenzen und erst recht keine Grenzen zwischen links und rechts.
Schon sagen selbst konservative Beobachter, dass sich in Amerika unter
dem Mäntelchen der Marktrhetorik in Wahrheit ein Umbau des Landes
zugunsten einer Plutokratie vollzieht. Es scheint nur unendlich schwer –
und das zeigt den Erfolg der marktliberalen Gehirnwäsche –, das
Mäntelchen hinwegzuziehen und uns von dem Gedanken zu befreien, dass
die Ökonomie, so wie sie ist, unser Schicksal sei und mit ihm zu hadern
einer Gotteslästerung gleichkomme. All die Wirtschaftsprofessoren und
Wirtschaftsjournalisten, die den Markt zur entscheidenden
Lenkungsinstanz unseres Daseins erklärt haben, mehr noch die
Unternehmensberater, die nach den Firmen auch die Schulen, die
Universitäten, die Theater, den Sport, alle Lebensbereiche dem Gesetz der
Rentabilität unterworfen haben oder höchstens noch als Zulieferbetriebe
für die Zwecke der Wirtschaft alimentieren wollen, haben an der großen
Umerziehung mitgewirkt, die uns einhämmert, dass es nur einen letzten
Wert gebe: den des Profits.
4. Einen Beleg dieses Denkens hat gerade erst Hans-Peter Keitel, Präsident
des Bundesverbands der deutschen Industrie (BDI) geliefert, als er den
Erfolg der libyschen Rebellen mit den Worten feierte: »Die Freiheit, die
Millionen von Menschen gerade gewinnen, bietet auch wirtschaftliche
Chancen – auch für deutsche Unternehmen.« Da ist also in der Sicht der
deutschen Wirtschaft etwas gerade noch, mit knapper Not, gut gegangen:
Gott sei Dank ist die Freiheit in Libyen kein Selbstzweck, sondern wirft
ökonomischen Nutzen ab.
Manchmal haben kleine Dinge große Wirkungen. Vielleicht muss es nur
noch ein paar kleine Zynismen dieser Art – es sind fast Delikatessen –
geben, und die ganze Menschenverachtung dieser Wirtschaftsgesinnung
wird offenbar.