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Nothilfe und Neubeginn                                                                         Tagung, 3. 2. 2011




Haiti ein Jahr nach dem Erdbeben
Eine Tagung im Gremiensaal der Deutschen Welle/Bonn am 3. Februar 2011




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Kooperationspartner




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                                               tion Deutschland Hilft“ und „Bündnis Ent-
    Am 12. Januar 2010 wurden Teile Haitis
                                               wicklung Hilft“ haben gemeinsam rund 38
durch ein verheerendes Erdbeben zerstört.
                                               Millionen Euro für die Menschen in Haiti ge-
Nach offiziellen Angaben kamen dabei über
                                               sammelt.
200 000 Menschen ums Leben. Viele Kinder
                                                  Die weltweite Spendenbereitschaft und
verloren ihre Angehörigen, rund 1,5 Million-
                                               das Engagement der Katastrophen- und
en Menschen wurden obdachlos. Insgesamt
                                               Nothilfe-Organisationen haben viel bewirkt,
waren über drei Millionen Menschen - rund
                                               Dennoch leben gut ein Jahr nach dem Erd-
ein Drittel der Gesamtbevölkerung Haitis -
                                               beben immer noch über eine Millionen Men-
von dem Erdbeben betroffen.
                                               schen in Zelten, eine Cholera-Epidemie hat
    Die nordrhein-westfälische Landesregier-
                                               bislang mehr als 3 000 Opfer gefordert.
ung hatte unmittelbar nach der Katastrophe
                                                 Am 3. Februar 2011 kamen auf Einladung
die Spendenaktion „NRW hilft Haiti“ ge-
                                               der Stiftung Umwelt und Entwicklung Ver-
startet. Die Aktion wurde von der Stiftung
                                               treter von „NRW hilft Haiti“ sowie den beiden
Umwelt und Entwicklung koordiniert und von
                                               Spenden- und Nothilfebündnissen „Aktion
zehn Hilfsorganisationen aus NRW gemein-
                                               Deutschland Hilft“ und „Bündnis Entwicklung
schaftlich getragen. Bis heute kamen dabei
                                               Hilft“ in Bonn zusammen, um gemeinsam
über 1,1 Millionen Euro an Spendengeldern
                                               mit Experten den Beitrag der deutschen Or-
zusammen. Die beiden Hilfsbündnisse „Ak-
                                               ganisationen zur Nothilfe und zur weiteren

1
Entwicklung in Haiti zu diskutieren. Für die      zeichnete es als eminent wichtig, aus den
insgesamt 90 Teilnehmerinnen und Teilneh-         Erfahrungen mit der Nothilfe und dem Wie-
mer stand dabei auch die Frage nach dem           deraufbau in Haiti zu lernen, um die Eine
Verhältnis   zwischen   Medien     und   Hilfs-   Welt tatsächlich besser gestalten zu können.
organisationen angesichts solcher Katastro-       Die heutige Veranstaltung könne dazu si-
phen wie in Haiti im Blickpunkt.                  cher einen Beitrag leisten. Karl Lamers be-
                                                  dankte sich ausdrücklich bei der Deutschen
    In seiner Begrüßung rief Karl Lamers,
                                                  Welle, dem Gastgeber von „Nothilfe und
Vorstandsvorsitzender der Stiftung Umwelt
                                                  Neubeginn“.
und Entwicklung Nordrhein-Westfalen, noch
einmal die einmalige Tragweite des Erdbe-
bens und seine verheerenden Folgen für ein
ohnehin von Naturkatastrophen gebeuteltes         Podium
Land in Erinnerung. Lamers erinnerte daran,       Haiti - ein Jahr nach dem Erdbeben
dass unter den Opfern auch ein junger UN-
Mitarbeiter aus Bonn gewesen ist, und be-
                                                     Nach einer kurzen Vorstellungsrunde der
grüßte die anwesenden Eltern ganz beson-
                                                  Podiumsteilnehmer begann Moderator Jerry
ders herzlich.
                                                  Sommer mit einer Frage an Elmar Frank
                                                  nach dessen Einschätzung der aktuellen
                                                  Situation in Haiti. Frank betonte die bisheri-
                                                  gen enormen Leistungen der Nothilfe ange-
                                                  sichts der gewaltigen Herausforderung, mit
                                                  der man es in Haiti zu tun habe. Immerhin
                                                  seien mehr als 800 000 Opfer in provisori-
                                                  schen Unterkünften untergebracht, auch bei
                                                  der Betreuung der Opfer habe man schon
                                                  einiges erreicht. Allerdings sei viel Geduld
                                                  nötig, schließlich habe auch in Deutschland
                                                  20 Jahre nach dem 2. Weltkrieg noch vieles
                                                  in Trümmern gelegen. Der Wiederaufbau
                                                  könne nur gemeinsam mit den Menschen in
                                                  Haiti geschehen, allerdings müssten dazu
                                                  erst einmal die notwendigen staatlichen
                                                  Rahmenbedingungen geschaffen werden.
                                                     Wolfgang Jamann von der Welthunger-
                                                  hilfe teilte diese Einschätzung der erfolgrei-
                                                  chen Nothilfe grundsätzlich, zeigte sich aber
    Nach Ansicht des Vorstandsvorsitzen-
                                                  insgesamt deutlich skeptischer. Haiti sei
den (s. Bild oben) der Stiftung habe die er-
                                                  nicht nur von Naturkatastrophen heimge-
folgreiche Spendenkampagne wieder einmal
                                                  sucht, sondern ein ausgeplündertes und
gezeigt, dass sich die Deutschen vor der
                                                  zerrissenes Land, ein „failed state“. Es
Entwicklung und den Problemen anderer
                                                  seien zu hohe Erwartungen an die Möglich-
Länder nicht verschließen - die Spendenbe-
                                                  keiten eines raschen Neubeginns geweckt
reitschaft sei „weltmeisterlich“. Lamers be-
                                                  worden, realistisch sei ein Zeithorizont von

2
mindestens 15 Jahren. Es bedürfe sowohl              keinen Rückhalt in der Bevölkerung.
einer Menge Glück als auch der „richtigen“              Michael Kaasch von Haiti-Care bestätigte
politisch Verantwortlichen in Haiti, um hier         die Einschätzung, dass die meisten Haitia-
tatsächlich langfristige Verbesserungen zu           ner - in der Mehrzahl politische Menschen -
erreichen.                                           die Präsidentschaftswahlen als Betrug emp-




Podiumsteilnehmer v.l.n.r.:                          finden würden. Am meisten Rückhalt bei der
Elmar Frank (Aktion Deutschland Hilft), Dr. Wolf-    einfachen Bevölkerung habe noch der Sän-
gang Jamann (Welthungerhilfe), Moderator Jerry       ger Michel Martelly (der am 20. März mit
Sommer (freier Journalist), Michael Kaasch (Haiti-   Mirlande Manigat in die Stichwahl geht,
Care), Ulrich Mercker (Journalist), Bernd Pastors    Anm. der Redaktion). Bisher habe noch kein
(action medeor)                                      Präsident einen guten Job gemacht, nicht
                                                     Aristide und schon gar nicht Duvalier. Es sei
    Der Journalist Ulrich Mercker bezeichne-         daher beunruhigend, dass beide wieder in
te die Präsidentschaftswahlen in Haiti mit           Haiti mitmischen wollten.
einer Wahlbeteiligung von 25 Prozent als                Für Bernd Pastors von action medeor
„absehbares Desaster“. Die internationale            sind die Hilfsorganisationen in Haiti an ihre
Gemeinschaft habe in dem Wunsch, ver-                Grenzen gestoßen. Das übliche Handwerk
lässliche Ansprechpartner in Haiti zu finden,        habe wegen fehlender Partner vor Ort nur
die prekären Voraussetzungen für Wahlen in           schlecht funktioniert. Es komme jetzt we-
dem völlig fragmentierten Land einfach igno-         sentlich darauf an, in Haiti die Ansätze einer
riert. Zudem sei die Mehrheit der politisch          Zivilgesellschaft zu stärken und auszubau-
denkenden Bevölkerung immer noch An-                 en. Möglicherweise sei es eine Aufgabe der
hänger der verbotenen Partei des früheren            politischen Stiftungen, vor Ort zur Ausbil-
Präsidenten Aristide, die anderen Anwärter           dung    politischer   und   organisatorischer
wie die frühere First Lady Mirlande Manigat          Strukturen beizutragen.
oder der Kandidat des scheidenden Präsi-                Michael Kaasch kritisierte die fehlenden
denten René Préval, Jude Célestin, hätten            Kenntnisse über Haiti bei einigen Hilfsorga-

3
nisationen. So seien Häuser mit Innenkü-         man müsse dabei an der Basis beginnen:
chen geplant und gebaut worden, obwohl in        mit der Bildung von Interessengruppen in
Haiti überwiegend mit Holzkohle vor dem          den Dörfern, mit der Gründung von Kinder-
Haus gekocht werde. Elmar Frank stimmte          gärten und Schulen. Gerade im Bildungsbe-
dem grundsätzlich zu, richtete den Blick         reich gebe es ermutigende Ansätze zu einer
aber auf eine grundsätzliche Ebene. In ei-       Zusammenarbeit zwischen staatlichen In-
nem Land wie Haiti, das immer ein Spielball      stanzen und den in Haiti traditionell privat
der großen Mächte gewesen sei, müsse             organisierten Bildungsträgern. Grundsätzlich
Demokratie erst langsam erlernt werden.          allerdings sollten die Hilfsorganisationen
Um solide und nachhaltige Grundlagen für         nicht so tun, als hätten sie für alle Probleme
eine staatliche Entwicklung gemeinsam mit        eine Lösung - man könne lediglich dazu bei-
der Bevölkerung zu schaffen, sei sehr viel       tragen, dass die Menschen in Haiti die eige-
Geduld notwendig.                                nen Potenziale künftig stärker ausschöpften.
    Der Einfluss der internationalen Gemein-        Bei der Diskussion mit dem Publikum
schaft sei viel zu groß, als dass eine eigen-    ging es zunächst um die fehlende Einbezie-
ständige Entwicklung in Haiti möglich wäre -     hung der Haitianer, auch der haitianischen
so die These von Ulrich Mercker. Es gehe         Diaspora in den USA, in Kanada und Euro-
um geopolitische Interessen, möglicherwei-       pa. Es sei bezeichnend, dass bislang kein
se auch um den Aufbau einer Industrie mit        Haitianer in den zuständigen internationalen
billigen Arbeitskräften im Hinterhof der USA.    Gremien zu finden sei, auch bei dieser Ver-
Mercker richtete den Blick dann auf ein an-      anstaltung säße kein Haitianer auf einem
deres, seiner Meinung nach zentrales Prob-       Podium. Die Runde war sich einig, dass
lem: Viele Hilfsorganisationen seien vor al-     man diese Einbeziehung ausbauen müsse,
lem auf kurzfristige, vorzeigbare Erfolge wie    trotz fehlender Partner vor Ort und einer
den Bau einer Schule bedacht, es gebe            vielfach zersplitterten haitianischen Diaspo-
zwar „viele Tropfen auf den heißen Stein“,       ra. Vor Ort werde schon - wo möglich - nach
aber weder eine Koordination untereinander       dem Prinzip „cash for work“ verfahren, die
noch mit den haitianischen Akteuren. Die         Menschen in Haiti würden viele Arbeiten
notwendige Prioritätensetzung bei der Hilfe      selber übernehmen und auch dafür bezahlt.
finde nicht statt. Die Öffentlichkeitsarbeit     Als weiteres Problem wurde der so genann-
mancher    Hilfsorganisationen   bezeichnete     te „brain drain“ benannt, also die Abwan-
Mercker in diesem Zusammenhang als               derung der gebildeten und ausgebildeten
„Blendwerk“, das strukturelle Elend und die      Menschen aus Haiti. Dies erschwere den
eigenen Misserfolge würden einfach ausge-        Aufbau funktionierender Strukturen und ei-
blendet.                                         ner Zivilgesellschaft ungemein, sei aber ein
    Diese Kritik wurde von den Vertretern der    grundsätzliches Problem der Entwicklungs-
Hilfsorganisationen einhellig zurückgewie-       arbeit. Verhindern lasse sich der brain drain
sen. Zwar gebe es durchaus Probleme bei          nur durch eine nachhaltige Verbesserung
der Koordination, aber die Zusammenarbeit        der Rahmenbedingungen - was durchaus
der Hilfsorganisationen habe sich deutlich       möglich sei, wie etwa das positive Beispiel
verbessert. Auf haitianischer Seite allerdings   Ghana zeige.
fehlten bislang die dafür notwendigen Part-
ner. Deshalb habe der langfristige Aufbau
von Strukturen in Haiti höchste Priorität, und

4
Der provokante Vorschlag, angesichts         mitten im Chaos rasch damit begonnen, ihr
der chaotischen Verhältnisse in Haiti ein        Leben neu zu organisieren. Daran müsse
UN-Protektorat einzurichten, wurde einhellig     jede Hilfe von außen anknüpfen, auch wenn
zurückgewiesen.       Ein   solches   Vorgehen   sich der gewünschte Fortschritt dadurch
würde den Stolz der Haitianer auf die eigene     mitunter verzögere. „Servant leadership“
antikoloniale Vergangenheit mit Füßen            sei die Maxime, an der die Hilfsorganisatio-
treten. Vielmehr müsse der begonnene Dia-        nen ihre Arbeit ausrichten sollten.
log mit den vorhandenen Partnern in Haiti           Eine andere Perspektive wählte Thomas
ausgebaut werden. Es gehe darum, die             Fues vom DIE für seinen einleitenden Bei-
Menschen dort in die Lage zu versetzen,          trag. In Anlehnung an das Buch „How to
selber das zu entwickeln, was sie wollen.        run the world“ von Parag Khanna stellte er
Die Hilfsorganisationen überflüssig zu ma-       die Frage nach den künftigen Handlungsop-
chen - das sei die richtige Perspektive.         tionen von Hilfsorganisationen. Nach Khan-
                                                 na seien die gewohnten globalen Machtver-
                                                 hältnisse im Umbruch, die Fragmentierung
                                                 staatlicher Autorität sei verbunden mit der
                                                 Herausbildung neuer Machtzentren und re-
                                                 levanter Einzelakteure wie globale Konzer-
Podium
                                                 ne, Medien, Prominente (z. B. der U2-
Von der Nothilfe zu Wiederaufbau                 Sänger Bono), aber eben auch international
und erfolgreicher Entwicklung                    tätige Hilfsorganisationen. Diese nähmen im
                                                 Hilfsfall - ob sie wollten oder nicht - ange-
                                                 sichts fehlender Strukturen bereits jetzt oft
                                                 kompensatorisch      staatliche       Funktionen
                                                 wahr, und sie müssten sich ernsthaft mit der
    Am Beginn der Podiumsrunde stand die         Frage auseinandersetzen, ob sie langfristig
Frage nach der Kooperation und Koordinati-       zumindest in Teilbereichen - und in Koope-
on bei den Hilfsmaßnahmen in Haiti. Für          ration mit anderen Akteuren, die Ressour-
Karin Settele von Help ist beides extrem         cen zur Problemlösung mobilisieren könnten
wichtig, hängt aber immer von den Struktu-       - politische Steuerungsverantwortung über-
ren und Ansprechpartnern vor Ort ab. Bei         nehmen wollten.
der Zusammenarbeit mit der einheimischen            Hier widersprach Dietmar Roller vehe-
Bevölkerung sei die Kooperation auf Augen-       ment und plädierte für strikte Neutralität. Es
höhe entscheidend, niemand dürfe von oben        sei eine abwegige Vorstellung, dass Nicht-
herab handeln. Eine andere Perspektive als       regierungsorganisationen (NGOs) auch nur
die von unserem Effizienzverständnis ge-         in Teilen Regierungsverantwortung über-
prägte sei notwendig, man müsse sich             nähmen - Regierungen hartnäckig in die
manchmal Zeit nehmen, selbst wenn gar            Verantwortung zu nehmen sei die tatsächli-
keine Zeit da sein.                              che Aufgabe. Dazu gehöre auch, dass man
    Dietmar Roller von der Kindernothilfe        die Menschen vor Ort befähige, ihre Rechte
verwies auf die Fähigkeiten der Betroffenen,     in Anspruch zu nehmen. Roller verwies auf
ihr Überleben selbst zu sichern. So hätten       vermeintlich altmodische, aber nach wie vor
die Menschen nach dem Tsunami vor der            in der Entwicklungshilfe gültige Werte wie
                                                 Demut und Respekt.

5
indonesischen Küste im Dezember 2004
Für Peter Hesse gibt es bei der Entwick-             Ebene sei extrem wichtig, und man müsse
lungshilfe nur einen Weg, und zwar den ge-               sich immer die Frage stellen, welche Hilfe
duldigen Aufbau von unten. Er selbst habe                die Menschen tatsächlich stark mache.
lange gebraucht um zu verstehen, wie Haiti               Manche Intervention von außen sei trotz
funktioniert, was die Menschen dort selber               guten Willens kontraproduktiv, wenn etwa
wollen. Er berichtete von seinen Erfahrun-               die vorhandene Solidarität vor Ort durch den
gen     beim      Aufbau        von    Montessori-       Streit um externe Hilfsleistungen zerstört
Bildungseinrichtungen, von der Überwin-                  werde. Hilfe müsse immer an vorhandene
dung vorhandener Skepsis - und auch von                  Strukturen anschließen, die lokalen Res-
den Erfolgen. Bis heute hat die Peter-                   sourcen müssten maximal genutzt werden.
Hesse-Stiftung zur Ausbildung von über 800               Ebenso sei es beim „Rhythmus des Hel-
Montessori-Erzieherinnen in Haiti beigetra-              fens“, also dem Tempo der Verbesserungen
gen, die selbst wiederum als Kommunikato-                in den zerstörten Gebieten. Auch da müsse
ren und Multiplikatoren bei der Herausbil-               man als Hilfsorganisation gegebenenfalls
dung regionaler, sich selbst tragender Netz-             langsamere Fortschritte akzeptieren, trotz
werke fungieren.                                         des herrschenden Effizienzdruckes. Das




Podiumsteilnehmerin und -teilnehmer v.l.n.r.:            mancherorts vorhandene Selbstverständnis
Peter Hesse (Peter-Hesse-Stiftung), Karin Settele        von Hilfsorganisationen, „wir kommen da hin
(Help), Moderator Peter Mucke (Bündnis Entwick-          und dann wird alles gut“, werde zwar durch
lung Hilft), Heinrich Ölers (Misereor), Dietmar Roller   die Medien noch verstärkt, sei aber grund-
(Kindernothilfe), Thomas Fues (Deutsches Institut        falsch.
für Entwicklungspolitik, DIE)                               Bei der Diskussion mit dem Publikum
                                                         ging es zunächst um die Evaluation der Ar-
    Misereor hat keine eigenen Projekte in
                                                         beit von Entwicklungsorganisationen. So
Haiti, deshalb berichtete Heinrich Ölers von
                                                         komplex diese auch sein möge, so sei eine
grundsätzlichen Erfahrungen bei der Nothilfe
                                                         ständige kritische Überprüfung doch not-
und in der Entwicklungsarbeit. Die lokale
                                                         wendig. Dem wurde auf dem Podium weit-

6
gehend zugestimmt. Die Unterstellung, die
Hilfsorganisationen drückten den Betroffe-
nen vor Ort ihr Programm auf, wurde jedoch      Podium
zurückgewiesen. Jede Hilfsmaßnahme wür-         Medien und Hilfsorganisationen
de vorher mit den Menschen vor Ort geklärt,
und alle Hilfsorganisationen seien froh,           Für Manuela Roßbach vom Bündnis „Ak-
wenn sich aus punktuellen Ansätzen lang-        tion Deutschland Hilft“ ist das Verhältnis
fristige und eigenständige Strukturen vor Ort   zwischen Medien und Hilfsorganisationen
entwickelten.                                   zwangsläufig eng. Um Spenden, Mitglieder
    Auch über die These von Thomas Fues,        und damit die Basis für Hilfsleistungen zu
Hilfsorganisationen müssten künftig teilwei-    organisieren, sei eine rasche Berichterstat-
se staatliche Funktionen übernehmen, wur-       tung der Medien bei Katastrophen sehr
de kontrovers debattiert. Für Eberhard Neu-     wichtig. Ansonsten habe sie den Eindruck,
gebohrn von der Stiftung Umwelt und Ent-        dass Hilfsorganisationen und ihre Arbeit von
wicklung sei das schon längst der Fall, wenn    den Medien oft zum Stopfen von „Themen-
z. B. Hilfsorganisationen den Schutz von        löchern“ benutzt würden.
Kindern vor Verschleppung gewährleisteten          Die Journalistin Renate Wilke-Launer
- eigentlich eine staatliche Aufgabe. Dietmar   warnte die Vertreterinnen und Vertreter ihrer
Roller stimmte im konkreten Fall der Durch-     Profession davor, sich für noch so gute
setzung von Kinderrechten zu, allerdings        Zwecke instrumentalisieren zu lassen. Lei-
sollten diese legitimatorischen Funktionen      der gebe es bei der Berichterstattung über
nicht von externen NGOs, sondern von de-        Katastrophen oft eine Verstrickung von Me-
ren Partnern vor Ort übernommen werden.         dien und NGOs, die sie als „wechselseitiges
Fues selbst bekräftige seine These ab-          Parasitentum“ bezeichnete. Dabei hätten die
schließend: NGOs hätten Macht, ob sie woll-     Hilfsorganisationen wegen ihrer stärkeren
ten oder nicht, und müssten sich darüber im     Ressourcen die Nase vorn, Journalisten
Klaren sein, wie und für wen sie diese Macht    seien auch wegen des Abbaus von Stellen
effektiv einsetzen wollten.                     auf den guten Willen und die Informationen
                                                der Hilfsorganisationen angewiesen. Merk-
                                                würdigerweise gebe es kaum Journalismus,
                                                der sich systematisch und kritisch mit der
                                                Arbeit von Hilfsorganisationen auseinander-
                                                setze.
                                                  Wolfgang Tyderle von Care beschrieb das
                                                enge Zeitfenster, innerhalb dessen in den
                                                Medien öffentliche Aufmerksamkeit für die
                                                notwendige Hilfe bei Katastrophen erzeugt
                                                werden müsse. Fraglos gebe es bei Hilfsor-
                                                ganisationen Konflikte zwischen den eher
                                                sachorientierten Programmabteilungen und
                                                den Kommunikationsfachleuten, die gerne
                                                plakative Bilder - wie etwa das Beladen ei-
                                                nes Flugzeugs mit Hilfsgütern - liefern wür-


7
                                                den. Dabei habe sich das Gewicht immer
mehr zugunsten der Programmabteilungen                 tung der Medienberichte nach dem Erdbe-
verschoben. Es sei mittlerweile Konsens,               ben in Haiti habe ergeben, dass vor allem
mehr auf Sachinformation als auf Betroffen-            solche Organisationen häufig in den Medien
heit zu setzen. Regelmäßige Hintergrundge-             vorkamen, die früh plakative Bilder lieferten.
spräche mit Journalisten zu den komplexen              Das sei wichtig, weil die Spendenkonten vor
Zusammenhängen der Nothilfe und der                    allem in den ersten zwei Tagen der Bericht-
Entwicklungsarbeit seien daher sehr wichtig.           erstattung genannt wurden - und weil die
    Katja   Maurer,     Pressesprecherin       von     meisten Menschen auch unmittelbar nach
medico international, machte ihren Anspruch            einer solchen Katastrophe spenden.
deutlich, die Komplexität der Projektarbeit               Numrich ergänzte seine Ausführungen
auch gegenüber den Medien zu verdeutli-                mit der These, dass Medien Hilfsorganisati-
chen. Platte Bilder wolle medico internatio-           onen im Katastrophenfall gerne als aufop-
nal nicht liefern, sondern auch über die               fernd idealisieren würden. Wenn dann die
Probleme und Fehler reden. NGOs könnten                Realität anders aussehen mag - wie im Fall
sowohl den Medien als auch ihren Spendern              von UNICEF vor wenigen Jahren - seien
mehr zutrauen, als sie dies häufig tun.                Medien dann auch aus „enttäuschter Liebe“




Podiumsteilnehmerinnen und –teilnehmer v.l.n.r.:       besonders ungnädig. Auch Spendenbriefe
Oliver Numrich (Blätterwald), Manuela Roßbach          oder Mitgliederwerbung kämen in der Be-
(Aktion Deutschland Hilft), Moderatorin Mirjam         richterstattung nicht gut weg, obwohl klar
Gehrke (Deutsche Welle), Renate Wilke-Launer           sei, dass Spendenorganisationen in ihrer
(Journalistin), Katja Maurer (medico international),   Arbeit auf Geld und Mitglieder angewiesen
Wolfgang Tyderle (Care Deutschland-Luxemburg)          sind.
                                                          Das Fernsehen unterwirft sich einem
                                                       vermeintlichen Bilderzwang, der sich auch in
„blätterwald“ ist ein Büro für Medienreso-             der Schwarz-Weiß-Malerei der Boulevard-
nanzanalyse und Medienbeobachtung. Ge-                 presse wiederfindet. In diesem Punkt bestä-
schäftsführer Oliver Numrich relativierte in           tigte Renate Wilke-Launer die Ausführungen
seinem Beitrag das allgemeine Bekenntnis               von Oliver Numrich. Allerdings würden "seri-
zu Komplexität und Bedachtsamkeit bei der              öse" Printmedien sehr viel differenzierter
Pressearbeit von Hilfswerken. Die Auswer-              über Katastrophen und die Arbeit der Hilfs-

8
organisationen      berichten.   Als     Beispiele         Oliver Numrich erinnerte daran, dass
nannte sie die ZEIT, die FAZ, die Süddeut-           Medien nicht nur optimal informieren, son-
sche Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung.           dern vor allem auch verkaufen wollten. Trau-
      Viele, auch vermeintlich seriöse Medien        rige Bilder, möglichst viele Opfer - das sei
finden unspektakuläre Informationen seitens          die Währung, die in den Medien zähle. Die
der Organisationen im Katastrophenfall nicht         Sensation, die Katastrophe sei entschei-
spannend und sind enttäuscht, wenn ihre              dend, der Alltag in Haiti interessiere nur eine
reißerischen     Erwartungen     nicht    bedient    ganz kleine Gruppe. Das könne man mit
werden - so die Erfahrungen von Manuela              gutem Grund bedauern, müsse sich dieser
Roßbach. Natürlich sei dies auch ein Zeit-           Realität aber stellen.
und Ressourcenproblem von NGOs und                         Die anderen Vertreterinnen und Vertreter
Medien, aber trotz der bescheidenen Rah-             auf dem Podium, aber auch die Mehrzahl
menbedingungen auf beiden Seiten sei es              des Publikums plädierte dagegen für eine
wichtig, über die Voraussetzungen für eine           anspruchsvolle, sachliche und differenzierte
gute und informative Berichterstattung mit-          Berichterstattung. Die Hilfsorganisationen
einander im Gespräch zu bleiben.                     hätten durchaus die Möglichkeit, mit ihren
      Katja Maurer und Wolfgang Tyderle wa-          exklusiven Informationen die Inhalte in den
ren einhellig der Auffassung, dass eine reine        Medien positiv zu beeinflussen.
Erfolgsberichterstattung auch nicht im Sinne               Renate Wilke-Launer ermahnte die Ver-
der Hilfsorganisationen sein könne. Tyderle          treter der Organisationen und die Journalis-
führte als Beispiel die Flutkatastrophe in Pa-       ten, nicht nur an Spender, sondern an alle
kistan an, wo die Hilfsorganisationen durch-         Bürger zu denken. Die hätten einen An-
aus kritische Informationen an die Medien            spruch auf kritische Berichterstattung, auch
weitergegeben hätten. Dies hätte sich auch           über die Hilfsorganisationen, die oft genug
in vielen Medienberichten widergespiegelt.           als    „Mitleidsindustrie“   aufträten.   Es   sei
      Einige Vertreter aus dem Publikum ver-         durchaus legitim, dass private Medien aus
missten die Kreativität der Medien bei der           wirtschaftlichem Druck auf plakative Be-
Berichterstattung über Haiti. Es gebe auch           richterstattung und Personalisierung setzen
schöne Aspekte wie die verbreitete Solidari-         würden. Bei öffentlich-rechtlichen Medien
tät unter den Bewohnern Haitis. Für deut-            sehe das allerdings anders aus. Wir alle
sche Mediennutzer allerdings entstehe der            seien gefordert, hier Druck im Sinne eines
verfälschte Eindruck, die Haitianer seien vor        anspruchsvollen, auch Hintergründe vermit-
allem Weltmeister im Betteln.                        telnden Journalismus zu machen.
      Die anschließende Diskussion drehte sich             Wolfgang Tyderle wehrte sich gegen den
zunächst um die Möglichkeit, gemeinsame              Begriff Mitleidsindustrie. Die Hilfsorganisati-
Interessen und Strategien von Medien und             onen betrieben eine Art globaler Sozialar-
NGOs im Sinne einer optimal informierten             beit, unter schweren Bedingungen und für
Öffentlichkeit zu entwickeln. Dazu gehörte           relativ wenig Geld. Es sei im Interesse aller,
auch der Vorschlag, dass die Stiftung Um-            dass diese Arbeit nicht schlecht geredet
welt und Entwicklung eine Runde aus Poli-            würde.
tik, Medien, Hilfswerken und Entwicklungs-                 Kritische Fragen von Journalisten würden
organisationen einladen solle, die sich auf          den NGOs dabei helfen, noch besser zu
gemeinsame Standards verständigen könn-              werden, so Katja Maurer. Die Presseabtei-
te.                                                  lungen der Hilfsorganisationen müssten sich

9
entscheiden: bedienen sie vordergründige
Wünsche nach stereotypen Bildern, oder
bemühen sie sich um eine komplexe, diffe-
renzierte und selbstkritische Information der
Medien und der Öffentlichkeit.




     Eberhard Neugebohrn, Geschäftsführer
der     Stiftung   Umwelt   und   Entwicklung
Nordrhein-Westfalen (Bild oben), erinnerte
abschließend daran, dass es „die“ Öffent-
lichkeit nicht gebe, sondern dass Öffentlich-
keit immer hoch differenziert sei. In diesem
Sinne seien alle Teilnehmerinnen und Teil-
nehmer der Veranstaltung eine spezifische,
aber für Nothilfe und Entwicklungspolitik
wichtige Öffentlichkeit. „Die offene Diskussi-
on der tatsächlichen Schwierigkeiten bei den
Hilfsmaßnahmen ist unverzichtbar. Dem
Spender muss die Wahrheit zugemutet wer-
den.“




10
Glossar
Failed State
Als gescheitert gilt ein Staat, der seine grundlegenden Funktionen nicht mehr erfüllen kann. Der private „Fund for
Peace“ veröffentlicht in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift Foreign Policy jährlich den sogenannten Failed States Index,
der das Zerfallsrisiko der Staaten mit Hilfe von zwölf Indikatoren beschreibt. www.fundforpeace.org


Servant Leadership
Ursprünglich ein Führungskonzept aus der Wirtschaft, das die Mitarbeiter und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt
und die Vorgesetzten zu „Dienenden“ erklärt. Ebenso wichtig ist die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verantwor-
tung, der Corporate Social Responsibility (CSR). Im Zusammenhang mit der Entwicklungshilfe bedeutet Servant
Leadership die Orientierung an den Fähigkeiten, Potenzialen und Bedürfnissen derer, die unterstützt werden sollen.


Cash for Work
Bei Cash for Work arbeiten die Betroffenen einer Katastrophe selbst gegen Bezahlung an Wiederaufbauprojekten mit.
Der Lohn in diesen „Bargeld für Arbeit“-Programmen wird in der Regel von der ausführenden Hilfsorganisation bezahlt.
Weil die Bevölkerung dadurch in die Katastrophenbewältigung mit einbezogen wird und sich ihre finanzielle Situation
verbessert, werden Hilfsmaßnahmen besser akzeptiert. Im Idealfall wird so der Keim für eine eigenständige wirtschaftli-
che Entwicklung der Region gelegt. Mögliche Probleme entstehen durch die Abzweigung des Geldflusses durch lokale
Eliten sowie die Entwicklung von Neid und Missgunst, da nicht alle Betroffenen von Cash for Work-Programmen profitie-
ren können.

Brain Drain
Als brain drain (wörtlich deutsch: Gehirn-Abfluss) bezeichnet man den Verlust der menschlichen Ressourcen eines
Landes durch die Abwanderung besonders gut ausgebildeter oder talentierter Menschen. Der in einer fehlenden Per-
spektive begründete Verlust von Spitzenkräften aus Wissenschaft oder Wirtschaft führt oft zu einem volkswirtschaftli-
chen Niedergang. Es gibt allerdings auch positive Effekte, etwa durch den Rückfluss von Mitteln in das Heimatland.


Die antikoloniale Vergangenheit Haitis
Der wirtschaftliche Aufschwung Haitis im 18. Jahrhundert durch den Handel mit Zucker und Kaffee beruhte auf Skla-
venarbeit und Sklavenhandel. Nach Beginn der französischen Revolution begannen die Sklaven auf der Insel His-
paniola für die Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten zu rebellieren. Im Jahr 1801 erklärte der neu gegründete
Staat, der erst ab diesem Zeitpunkt offiziell den Namen „Haiti“ trug, seine Unabhängigkeit und gab sich eine Verfas-
sung.

Parag Khanna
How to run the world. Charting a course to the next Renaissance. Random House, New York, ISBN: 978-4000-6827-2


UNICEF
2007 geriet UNICEF wegen des Verdachts finanzieller Unregelmäßigkeiten bei Beraterverträgen und Provisionszahlun-
gen stark in die Kritik. Obwohl sich manche Vorwürfe als übertrieben erwiesen, kam es zu einem Wechsel in Vorstand
und Geschäftsführung. In der Folge entwickelte sich eine breite gesellschaftliche Diskussion über Professionalität und
Transparenz der Arbeit von Hilfsorganisationen.



11
Links

Aktion Deutschland hilft
www.aktion-deutschland-hilft.de
Mitglieder
action medeor, ADRA Deutschland, Arbeiter-Samariter-Bund,
Arbeiterwohlfahrt International, CARE Deutschland-Luxemburg,
Help, Die Johanniter, Malteser, Der PARITÄTISCHE Wohl-
fahrtsverband, arche noVa, Bundesverband Rettungshunde,
Handicap international, Hammer-Forum, Kinderhilfswerk Globa-
le Care, Solidaritätsdienst-international, Terra Tech, World Visi-
on Deutschland.
Gastmitglieder
Habitat for Humanity, Islamic Relief Worldwide




Bündnis Entwicklung Hilft
www.entwicklung-hilft.de
Mitglieder
Brot für die Welt, medico international, MISEREOR, terre des
hommes Deutschland, Deutsche Welthungerhilfe
Bündnispartner
Ärzte für die dritte Welt, Christoffel-Blindenmission, Deutsche
Lepra- und Tuberkulosehilfe, EIRENE Internationaler christli-
cher Friedensdienst, Kindernothilfe, Weltfriedensdienst




NRW hilft Haiti
www.nrw-hilft-haiti.de
UNICEF, CARE, Kindernothilfe, Kinderhilfswerk Die Sternsinger,
action medeor, MISEREOR, Deutsche Welthungerhilfe,
Malteser, Arbeiter-Samariter-Bund




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Dokumentation nothilfe+neubeginn

  • 1. Nothilfe und Neubeginn Tagung, 3. 2. 2011 Haiti ein Jahr nach dem Erdbeben Eine Tagung im Gremiensaal der Deutschen Welle/Bonn am 3. Februar 2011 _____________________________________________________________________ Kooperationspartner _____________________________________________________________________ tion Deutschland Hilft“ und „Bündnis Ent- Am 12. Januar 2010 wurden Teile Haitis wicklung Hilft“ haben gemeinsam rund 38 durch ein verheerendes Erdbeben zerstört. Millionen Euro für die Menschen in Haiti ge- Nach offiziellen Angaben kamen dabei über sammelt. 200 000 Menschen ums Leben. Viele Kinder Die weltweite Spendenbereitschaft und verloren ihre Angehörigen, rund 1,5 Million- das Engagement der Katastrophen- und en Menschen wurden obdachlos. Insgesamt Nothilfe-Organisationen haben viel bewirkt, waren über drei Millionen Menschen - rund Dennoch leben gut ein Jahr nach dem Erd- ein Drittel der Gesamtbevölkerung Haitis - beben immer noch über eine Millionen Men- von dem Erdbeben betroffen. schen in Zelten, eine Cholera-Epidemie hat Die nordrhein-westfälische Landesregier- bislang mehr als 3 000 Opfer gefordert. ung hatte unmittelbar nach der Katastrophe Am 3. Februar 2011 kamen auf Einladung die Spendenaktion „NRW hilft Haiti“ ge- der Stiftung Umwelt und Entwicklung Ver- startet. Die Aktion wurde von der Stiftung treter von „NRW hilft Haiti“ sowie den beiden Umwelt und Entwicklung koordiniert und von Spenden- und Nothilfebündnissen „Aktion zehn Hilfsorganisationen aus NRW gemein- Deutschland Hilft“ und „Bündnis Entwicklung schaftlich getragen. Bis heute kamen dabei Hilft“ in Bonn zusammen, um gemeinsam über 1,1 Millionen Euro an Spendengeldern mit Experten den Beitrag der deutschen Or- zusammen. Die beiden Hilfsbündnisse „Ak- ganisationen zur Nothilfe und zur weiteren 1
  • 2. Entwicklung in Haiti zu diskutieren. Für die zeichnete es als eminent wichtig, aus den insgesamt 90 Teilnehmerinnen und Teilneh- Erfahrungen mit der Nothilfe und dem Wie- mer stand dabei auch die Frage nach dem deraufbau in Haiti zu lernen, um die Eine Verhältnis zwischen Medien und Hilfs- Welt tatsächlich besser gestalten zu können. organisationen angesichts solcher Katastro- Die heutige Veranstaltung könne dazu si- phen wie in Haiti im Blickpunkt. cher einen Beitrag leisten. Karl Lamers be- dankte sich ausdrücklich bei der Deutschen In seiner Begrüßung rief Karl Lamers, Welle, dem Gastgeber von „Nothilfe und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Umwelt Neubeginn“. und Entwicklung Nordrhein-Westfalen, noch einmal die einmalige Tragweite des Erdbe- bens und seine verheerenden Folgen für ein ohnehin von Naturkatastrophen gebeuteltes Podium Land in Erinnerung. Lamers erinnerte daran, Haiti - ein Jahr nach dem Erdbeben dass unter den Opfern auch ein junger UN- Mitarbeiter aus Bonn gewesen ist, und be- Nach einer kurzen Vorstellungsrunde der grüßte die anwesenden Eltern ganz beson- Podiumsteilnehmer begann Moderator Jerry ders herzlich. Sommer mit einer Frage an Elmar Frank nach dessen Einschätzung der aktuellen Situation in Haiti. Frank betonte die bisheri- gen enormen Leistungen der Nothilfe ange- sichts der gewaltigen Herausforderung, mit der man es in Haiti zu tun habe. Immerhin seien mehr als 800 000 Opfer in provisori- schen Unterkünften untergebracht, auch bei der Betreuung der Opfer habe man schon einiges erreicht. Allerdings sei viel Geduld nötig, schließlich habe auch in Deutschland 20 Jahre nach dem 2. Weltkrieg noch vieles in Trümmern gelegen. Der Wiederaufbau könne nur gemeinsam mit den Menschen in Haiti geschehen, allerdings müssten dazu erst einmal die notwendigen staatlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Wolfgang Jamann von der Welthunger- hilfe teilte diese Einschätzung der erfolgrei- chen Nothilfe grundsätzlich, zeigte sich aber Nach Ansicht des Vorstandsvorsitzen- insgesamt deutlich skeptischer. Haiti sei den (s. Bild oben) der Stiftung habe die er- nicht nur von Naturkatastrophen heimge- folgreiche Spendenkampagne wieder einmal sucht, sondern ein ausgeplündertes und gezeigt, dass sich die Deutschen vor der zerrissenes Land, ein „failed state“. Es Entwicklung und den Problemen anderer seien zu hohe Erwartungen an die Möglich- Länder nicht verschließen - die Spendenbe- keiten eines raschen Neubeginns geweckt reitschaft sei „weltmeisterlich“. Lamers be- worden, realistisch sei ein Zeithorizont von 2
  • 3. mindestens 15 Jahren. Es bedürfe sowohl keinen Rückhalt in der Bevölkerung. einer Menge Glück als auch der „richtigen“ Michael Kaasch von Haiti-Care bestätigte politisch Verantwortlichen in Haiti, um hier die Einschätzung, dass die meisten Haitia- tatsächlich langfristige Verbesserungen zu ner - in der Mehrzahl politische Menschen - erreichen. die Präsidentschaftswahlen als Betrug emp- Podiumsteilnehmer v.l.n.r.: finden würden. Am meisten Rückhalt bei der Elmar Frank (Aktion Deutschland Hilft), Dr. Wolf- einfachen Bevölkerung habe noch der Sän- gang Jamann (Welthungerhilfe), Moderator Jerry ger Michel Martelly (der am 20. März mit Sommer (freier Journalist), Michael Kaasch (Haiti- Mirlande Manigat in die Stichwahl geht, Care), Ulrich Mercker (Journalist), Bernd Pastors Anm. der Redaktion). Bisher habe noch kein (action medeor) Präsident einen guten Job gemacht, nicht Aristide und schon gar nicht Duvalier. Es sei Der Journalist Ulrich Mercker bezeichne- daher beunruhigend, dass beide wieder in te die Präsidentschaftswahlen in Haiti mit Haiti mitmischen wollten. einer Wahlbeteiligung von 25 Prozent als Für Bernd Pastors von action medeor „absehbares Desaster“. Die internationale sind die Hilfsorganisationen in Haiti an ihre Gemeinschaft habe in dem Wunsch, ver- Grenzen gestoßen. Das übliche Handwerk lässliche Ansprechpartner in Haiti zu finden, habe wegen fehlender Partner vor Ort nur die prekären Voraussetzungen für Wahlen in schlecht funktioniert. Es komme jetzt we- dem völlig fragmentierten Land einfach igno- sentlich darauf an, in Haiti die Ansätze einer riert. Zudem sei die Mehrheit der politisch Zivilgesellschaft zu stärken und auszubau- denkenden Bevölkerung immer noch An- en. Möglicherweise sei es eine Aufgabe der hänger der verbotenen Partei des früheren politischen Stiftungen, vor Ort zur Ausbil- Präsidenten Aristide, die anderen Anwärter dung politischer und organisatorischer wie die frühere First Lady Mirlande Manigat Strukturen beizutragen. oder der Kandidat des scheidenden Präsi- Michael Kaasch kritisierte die fehlenden denten René Préval, Jude Célestin, hätten Kenntnisse über Haiti bei einigen Hilfsorga- 3
  • 4. nisationen. So seien Häuser mit Innenkü- man müsse dabei an der Basis beginnen: chen geplant und gebaut worden, obwohl in mit der Bildung von Interessengruppen in Haiti überwiegend mit Holzkohle vor dem den Dörfern, mit der Gründung von Kinder- Haus gekocht werde. Elmar Frank stimmte gärten und Schulen. Gerade im Bildungsbe- dem grundsätzlich zu, richtete den Blick reich gebe es ermutigende Ansätze zu einer aber auf eine grundsätzliche Ebene. In ei- Zusammenarbeit zwischen staatlichen In- nem Land wie Haiti, das immer ein Spielball stanzen und den in Haiti traditionell privat der großen Mächte gewesen sei, müsse organisierten Bildungsträgern. Grundsätzlich Demokratie erst langsam erlernt werden. allerdings sollten die Hilfsorganisationen Um solide und nachhaltige Grundlagen für nicht so tun, als hätten sie für alle Probleme eine staatliche Entwicklung gemeinsam mit eine Lösung - man könne lediglich dazu bei- der Bevölkerung zu schaffen, sei sehr viel tragen, dass die Menschen in Haiti die eige- Geduld notwendig. nen Potenziale künftig stärker ausschöpften. Der Einfluss der internationalen Gemein- Bei der Diskussion mit dem Publikum schaft sei viel zu groß, als dass eine eigen- ging es zunächst um die fehlende Einbezie- ständige Entwicklung in Haiti möglich wäre - hung der Haitianer, auch der haitianischen so die These von Ulrich Mercker. Es gehe Diaspora in den USA, in Kanada und Euro- um geopolitische Interessen, möglicherwei- pa. Es sei bezeichnend, dass bislang kein se auch um den Aufbau einer Industrie mit Haitianer in den zuständigen internationalen billigen Arbeitskräften im Hinterhof der USA. Gremien zu finden sei, auch bei dieser Ver- Mercker richtete den Blick dann auf ein an- anstaltung säße kein Haitianer auf einem deres, seiner Meinung nach zentrales Prob- Podium. Die Runde war sich einig, dass lem: Viele Hilfsorganisationen seien vor al- man diese Einbeziehung ausbauen müsse, lem auf kurzfristige, vorzeigbare Erfolge wie trotz fehlender Partner vor Ort und einer den Bau einer Schule bedacht, es gebe vielfach zersplitterten haitianischen Diaspo- zwar „viele Tropfen auf den heißen Stein“, ra. Vor Ort werde schon - wo möglich - nach aber weder eine Koordination untereinander dem Prinzip „cash for work“ verfahren, die noch mit den haitianischen Akteuren. Die Menschen in Haiti würden viele Arbeiten notwendige Prioritätensetzung bei der Hilfe selber übernehmen und auch dafür bezahlt. finde nicht statt. Die Öffentlichkeitsarbeit Als weiteres Problem wurde der so genann- mancher Hilfsorganisationen bezeichnete te „brain drain“ benannt, also die Abwan- Mercker in diesem Zusammenhang als derung der gebildeten und ausgebildeten „Blendwerk“, das strukturelle Elend und die Menschen aus Haiti. Dies erschwere den eigenen Misserfolge würden einfach ausge- Aufbau funktionierender Strukturen und ei- blendet. ner Zivilgesellschaft ungemein, sei aber ein Diese Kritik wurde von den Vertretern der grundsätzliches Problem der Entwicklungs- Hilfsorganisationen einhellig zurückgewie- arbeit. Verhindern lasse sich der brain drain sen. Zwar gebe es durchaus Probleme bei nur durch eine nachhaltige Verbesserung der Koordination, aber die Zusammenarbeit der Rahmenbedingungen - was durchaus der Hilfsorganisationen habe sich deutlich möglich sei, wie etwa das positive Beispiel verbessert. Auf haitianischer Seite allerdings Ghana zeige. fehlten bislang die dafür notwendigen Part- ner. Deshalb habe der langfristige Aufbau von Strukturen in Haiti höchste Priorität, und 4
  • 5. Der provokante Vorschlag, angesichts mitten im Chaos rasch damit begonnen, ihr der chaotischen Verhältnisse in Haiti ein Leben neu zu organisieren. Daran müsse UN-Protektorat einzurichten, wurde einhellig jede Hilfe von außen anknüpfen, auch wenn zurückgewiesen. Ein solches Vorgehen sich der gewünschte Fortschritt dadurch würde den Stolz der Haitianer auf die eigene mitunter verzögere. „Servant leadership“ antikoloniale Vergangenheit mit Füßen sei die Maxime, an der die Hilfsorganisatio- treten. Vielmehr müsse der begonnene Dia- nen ihre Arbeit ausrichten sollten. log mit den vorhandenen Partnern in Haiti Eine andere Perspektive wählte Thomas ausgebaut werden. Es gehe darum, die Fues vom DIE für seinen einleitenden Bei- Menschen dort in die Lage zu versetzen, trag. In Anlehnung an das Buch „How to selber das zu entwickeln, was sie wollen. run the world“ von Parag Khanna stellte er Die Hilfsorganisationen überflüssig zu ma- die Frage nach den künftigen Handlungsop- chen - das sei die richtige Perspektive. tionen von Hilfsorganisationen. Nach Khan- na seien die gewohnten globalen Machtver- hältnisse im Umbruch, die Fragmentierung staatlicher Autorität sei verbunden mit der Herausbildung neuer Machtzentren und re- levanter Einzelakteure wie globale Konzer- Podium ne, Medien, Prominente (z. B. der U2- Von der Nothilfe zu Wiederaufbau Sänger Bono), aber eben auch international und erfolgreicher Entwicklung tätige Hilfsorganisationen. Diese nähmen im Hilfsfall - ob sie wollten oder nicht - ange- sichts fehlender Strukturen bereits jetzt oft kompensatorisch staatliche Funktionen wahr, und sie müssten sich ernsthaft mit der Am Beginn der Podiumsrunde stand die Frage auseinandersetzen, ob sie langfristig Frage nach der Kooperation und Koordinati- zumindest in Teilbereichen - und in Koope- on bei den Hilfsmaßnahmen in Haiti. Für ration mit anderen Akteuren, die Ressour- Karin Settele von Help ist beides extrem cen zur Problemlösung mobilisieren könnten wichtig, hängt aber immer von den Struktu- - politische Steuerungsverantwortung über- ren und Ansprechpartnern vor Ort ab. Bei nehmen wollten. der Zusammenarbeit mit der einheimischen Hier widersprach Dietmar Roller vehe- Bevölkerung sei die Kooperation auf Augen- ment und plädierte für strikte Neutralität. Es höhe entscheidend, niemand dürfe von oben sei eine abwegige Vorstellung, dass Nicht- herab handeln. Eine andere Perspektive als regierungsorganisationen (NGOs) auch nur die von unserem Effizienzverständnis ge- in Teilen Regierungsverantwortung über- prägte sei notwendig, man müsse sich nähmen - Regierungen hartnäckig in die manchmal Zeit nehmen, selbst wenn gar Verantwortung zu nehmen sei die tatsächli- keine Zeit da sein. che Aufgabe. Dazu gehöre auch, dass man Dietmar Roller von der Kindernothilfe die Menschen vor Ort befähige, ihre Rechte verwies auf die Fähigkeiten der Betroffenen, in Anspruch zu nehmen. Roller verwies auf ihr Überleben selbst zu sichern. So hätten vermeintlich altmodische, aber nach wie vor die Menschen nach dem Tsunami vor der in der Entwicklungshilfe gültige Werte wie Demut und Respekt. 5 indonesischen Küste im Dezember 2004
  • 6. Für Peter Hesse gibt es bei der Entwick- Ebene sei extrem wichtig, und man müsse lungshilfe nur einen Weg, und zwar den ge- sich immer die Frage stellen, welche Hilfe duldigen Aufbau von unten. Er selbst habe die Menschen tatsächlich stark mache. lange gebraucht um zu verstehen, wie Haiti Manche Intervention von außen sei trotz funktioniert, was die Menschen dort selber guten Willens kontraproduktiv, wenn etwa wollen. Er berichtete von seinen Erfahrun- die vorhandene Solidarität vor Ort durch den gen beim Aufbau von Montessori- Streit um externe Hilfsleistungen zerstört Bildungseinrichtungen, von der Überwin- werde. Hilfe müsse immer an vorhandene dung vorhandener Skepsis - und auch von Strukturen anschließen, die lokalen Res- den Erfolgen. Bis heute hat die Peter- sourcen müssten maximal genutzt werden. Hesse-Stiftung zur Ausbildung von über 800 Ebenso sei es beim „Rhythmus des Hel- Montessori-Erzieherinnen in Haiti beigetra- fens“, also dem Tempo der Verbesserungen gen, die selbst wiederum als Kommunikato- in den zerstörten Gebieten. Auch da müsse ren und Multiplikatoren bei der Herausbil- man als Hilfsorganisation gegebenenfalls dung regionaler, sich selbst tragender Netz- langsamere Fortschritte akzeptieren, trotz werke fungieren. des herrschenden Effizienzdruckes. Das Podiumsteilnehmerin und -teilnehmer v.l.n.r.: mancherorts vorhandene Selbstverständnis Peter Hesse (Peter-Hesse-Stiftung), Karin Settele von Hilfsorganisationen, „wir kommen da hin (Help), Moderator Peter Mucke (Bündnis Entwick- und dann wird alles gut“, werde zwar durch lung Hilft), Heinrich Ölers (Misereor), Dietmar Roller die Medien noch verstärkt, sei aber grund- (Kindernothilfe), Thomas Fues (Deutsches Institut falsch. für Entwicklungspolitik, DIE) Bei der Diskussion mit dem Publikum ging es zunächst um die Evaluation der Ar- Misereor hat keine eigenen Projekte in beit von Entwicklungsorganisationen. So Haiti, deshalb berichtete Heinrich Ölers von komplex diese auch sein möge, so sei eine grundsätzlichen Erfahrungen bei der Nothilfe ständige kritische Überprüfung doch not- und in der Entwicklungsarbeit. Die lokale wendig. Dem wurde auf dem Podium weit- 6
  • 7. gehend zugestimmt. Die Unterstellung, die Hilfsorganisationen drückten den Betroffe- nen vor Ort ihr Programm auf, wurde jedoch Podium zurückgewiesen. Jede Hilfsmaßnahme wür- Medien und Hilfsorganisationen de vorher mit den Menschen vor Ort geklärt, und alle Hilfsorganisationen seien froh, Für Manuela Roßbach vom Bündnis „Ak- wenn sich aus punktuellen Ansätzen lang- tion Deutschland Hilft“ ist das Verhältnis fristige und eigenständige Strukturen vor Ort zwischen Medien und Hilfsorganisationen entwickelten. zwangsläufig eng. Um Spenden, Mitglieder Auch über die These von Thomas Fues, und damit die Basis für Hilfsleistungen zu Hilfsorganisationen müssten künftig teilwei- organisieren, sei eine rasche Berichterstat- se staatliche Funktionen übernehmen, wur- tung der Medien bei Katastrophen sehr de kontrovers debattiert. Für Eberhard Neu- wichtig. Ansonsten habe sie den Eindruck, gebohrn von der Stiftung Umwelt und Ent- dass Hilfsorganisationen und ihre Arbeit von wicklung sei das schon längst der Fall, wenn den Medien oft zum Stopfen von „Themen- z. B. Hilfsorganisationen den Schutz von löchern“ benutzt würden. Kindern vor Verschleppung gewährleisteten Die Journalistin Renate Wilke-Launer - eigentlich eine staatliche Aufgabe. Dietmar warnte die Vertreterinnen und Vertreter ihrer Roller stimmte im konkreten Fall der Durch- Profession davor, sich für noch so gute setzung von Kinderrechten zu, allerdings Zwecke instrumentalisieren zu lassen. Lei- sollten diese legitimatorischen Funktionen der gebe es bei der Berichterstattung über nicht von externen NGOs, sondern von de- Katastrophen oft eine Verstrickung von Me- ren Partnern vor Ort übernommen werden. dien und NGOs, die sie als „wechselseitiges Fues selbst bekräftige seine These ab- Parasitentum“ bezeichnete. Dabei hätten die schließend: NGOs hätten Macht, ob sie woll- Hilfsorganisationen wegen ihrer stärkeren ten oder nicht, und müssten sich darüber im Ressourcen die Nase vorn, Journalisten Klaren sein, wie und für wen sie diese Macht seien auch wegen des Abbaus von Stellen effektiv einsetzen wollten. auf den guten Willen und die Informationen der Hilfsorganisationen angewiesen. Merk- würdigerweise gebe es kaum Journalismus, der sich systematisch und kritisch mit der Arbeit von Hilfsorganisationen auseinander- setze. Wolfgang Tyderle von Care beschrieb das enge Zeitfenster, innerhalb dessen in den Medien öffentliche Aufmerksamkeit für die notwendige Hilfe bei Katastrophen erzeugt werden müsse. Fraglos gebe es bei Hilfsor- ganisationen Konflikte zwischen den eher sachorientierten Programmabteilungen und den Kommunikationsfachleuten, die gerne plakative Bilder - wie etwa das Beladen ei- nes Flugzeugs mit Hilfsgütern - liefern wür- 7 den. Dabei habe sich das Gewicht immer
  • 8. mehr zugunsten der Programmabteilungen tung der Medienberichte nach dem Erdbe- verschoben. Es sei mittlerweile Konsens, ben in Haiti habe ergeben, dass vor allem mehr auf Sachinformation als auf Betroffen- solche Organisationen häufig in den Medien heit zu setzen. Regelmäßige Hintergrundge- vorkamen, die früh plakative Bilder lieferten. spräche mit Journalisten zu den komplexen Das sei wichtig, weil die Spendenkonten vor Zusammenhängen der Nothilfe und der allem in den ersten zwei Tagen der Bericht- Entwicklungsarbeit seien daher sehr wichtig. erstattung genannt wurden - und weil die Katja Maurer, Pressesprecherin von meisten Menschen auch unmittelbar nach medico international, machte ihren Anspruch einer solchen Katastrophe spenden. deutlich, die Komplexität der Projektarbeit Numrich ergänzte seine Ausführungen auch gegenüber den Medien zu verdeutli- mit der These, dass Medien Hilfsorganisati- chen. Platte Bilder wolle medico internatio- onen im Katastrophenfall gerne als aufop- nal nicht liefern, sondern auch über die fernd idealisieren würden. Wenn dann die Probleme und Fehler reden. NGOs könnten Realität anders aussehen mag - wie im Fall sowohl den Medien als auch ihren Spendern von UNICEF vor wenigen Jahren - seien mehr zutrauen, als sie dies häufig tun. Medien dann auch aus „enttäuschter Liebe“ Podiumsteilnehmerinnen und –teilnehmer v.l.n.r.: besonders ungnädig. Auch Spendenbriefe Oliver Numrich (Blätterwald), Manuela Roßbach oder Mitgliederwerbung kämen in der Be- (Aktion Deutschland Hilft), Moderatorin Mirjam richterstattung nicht gut weg, obwohl klar Gehrke (Deutsche Welle), Renate Wilke-Launer sei, dass Spendenorganisationen in ihrer (Journalistin), Katja Maurer (medico international), Arbeit auf Geld und Mitglieder angewiesen Wolfgang Tyderle (Care Deutschland-Luxemburg) sind. Das Fernsehen unterwirft sich einem vermeintlichen Bilderzwang, der sich auch in „blätterwald“ ist ein Büro für Medienreso- der Schwarz-Weiß-Malerei der Boulevard- nanzanalyse und Medienbeobachtung. Ge- presse wiederfindet. In diesem Punkt bestä- schäftsführer Oliver Numrich relativierte in tigte Renate Wilke-Launer die Ausführungen seinem Beitrag das allgemeine Bekenntnis von Oliver Numrich. Allerdings würden "seri- zu Komplexität und Bedachtsamkeit bei der öse" Printmedien sehr viel differenzierter Pressearbeit von Hilfswerken. Die Auswer- über Katastrophen und die Arbeit der Hilfs- 8
  • 9. organisationen berichten. Als Beispiele Oliver Numrich erinnerte daran, dass nannte sie die ZEIT, die FAZ, die Süddeut- Medien nicht nur optimal informieren, son- sche Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung. dern vor allem auch verkaufen wollten. Trau- Viele, auch vermeintlich seriöse Medien rige Bilder, möglichst viele Opfer - das sei finden unspektakuläre Informationen seitens die Währung, die in den Medien zähle. Die der Organisationen im Katastrophenfall nicht Sensation, die Katastrophe sei entschei- spannend und sind enttäuscht, wenn ihre dend, der Alltag in Haiti interessiere nur eine reißerischen Erwartungen nicht bedient ganz kleine Gruppe. Das könne man mit werden - so die Erfahrungen von Manuela gutem Grund bedauern, müsse sich dieser Roßbach. Natürlich sei dies auch ein Zeit- Realität aber stellen. und Ressourcenproblem von NGOs und Die anderen Vertreterinnen und Vertreter Medien, aber trotz der bescheidenen Rah- auf dem Podium, aber auch die Mehrzahl menbedingungen auf beiden Seiten sei es des Publikums plädierte dagegen für eine wichtig, über die Voraussetzungen für eine anspruchsvolle, sachliche und differenzierte gute und informative Berichterstattung mit- Berichterstattung. Die Hilfsorganisationen einander im Gespräch zu bleiben. hätten durchaus die Möglichkeit, mit ihren Katja Maurer und Wolfgang Tyderle wa- exklusiven Informationen die Inhalte in den ren einhellig der Auffassung, dass eine reine Medien positiv zu beeinflussen. Erfolgsberichterstattung auch nicht im Sinne Renate Wilke-Launer ermahnte die Ver- der Hilfsorganisationen sein könne. Tyderle treter der Organisationen und die Journalis- führte als Beispiel die Flutkatastrophe in Pa- ten, nicht nur an Spender, sondern an alle kistan an, wo die Hilfsorganisationen durch- Bürger zu denken. Die hätten einen An- aus kritische Informationen an die Medien spruch auf kritische Berichterstattung, auch weitergegeben hätten. Dies hätte sich auch über die Hilfsorganisationen, die oft genug in vielen Medienberichten widergespiegelt. als „Mitleidsindustrie“ aufträten. Es sei Einige Vertreter aus dem Publikum ver- durchaus legitim, dass private Medien aus missten die Kreativität der Medien bei der wirtschaftlichem Druck auf plakative Be- Berichterstattung über Haiti. Es gebe auch richterstattung und Personalisierung setzen schöne Aspekte wie die verbreitete Solidari- würden. Bei öffentlich-rechtlichen Medien tät unter den Bewohnern Haitis. Für deut- sehe das allerdings anders aus. Wir alle sche Mediennutzer allerdings entstehe der seien gefordert, hier Druck im Sinne eines verfälschte Eindruck, die Haitianer seien vor anspruchsvollen, auch Hintergründe vermit- allem Weltmeister im Betteln. telnden Journalismus zu machen. Die anschließende Diskussion drehte sich Wolfgang Tyderle wehrte sich gegen den zunächst um die Möglichkeit, gemeinsame Begriff Mitleidsindustrie. Die Hilfsorganisati- Interessen und Strategien von Medien und onen betrieben eine Art globaler Sozialar- NGOs im Sinne einer optimal informierten beit, unter schweren Bedingungen und für Öffentlichkeit zu entwickeln. Dazu gehörte relativ wenig Geld. Es sei im Interesse aller, auch der Vorschlag, dass die Stiftung Um- dass diese Arbeit nicht schlecht geredet welt und Entwicklung eine Runde aus Poli- würde. tik, Medien, Hilfswerken und Entwicklungs- Kritische Fragen von Journalisten würden organisationen einladen solle, die sich auf den NGOs dabei helfen, noch besser zu gemeinsame Standards verständigen könn- werden, so Katja Maurer. Die Presseabtei- te. lungen der Hilfsorganisationen müssten sich 9
  • 10. entscheiden: bedienen sie vordergründige Wünsche nach stereotypen Bildern, oder bemühen sie sich um eine komplexe, diffe- renzierte und selbstkritische Information der Medien und der Öffentlichkeit. Eberhard Neugebohrn, Geschäftsführer der Stiftung Umwelt und Entwicklung Nordrhein-Westfalen (Bild oben), erinnerte abschließend daran, dass es „die“ Öffent- lichkeit nicht gebe, sondern dass Öffentlich- keit immer hoch differenziert sei. In diesem Sinne seien alle Teilnehmerinnen und Teil- nehmer der Veranstaltung eine spezifische, aber für Nothilfe und Entwicklungspolitik wichtige Öffentlichkeit. „Die offene Diskussi- on der tatsächlichen Schwierigkeiten bei den Hilfsmaßnahmen ist unverzichtbar. Dem Spender muss die Wahrheit zugemutet wer- den.“ 10
  • 11. Glossar Failed State Als gescheitert gilt ein Staat, der seine grundlegenden Funktionen nicht mehr erfüllen kann. Der private „Fund for Peace“ veröffentlicht in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift Foreign Policy jährlich den sogenannten Failed States Index, der das Zerfallsrisiko der Staaten mit Hilfe von zwölf Indikatoren beschreibt. www.fundforpeace.org Servant Leadership Ursprünglich ein Führungskonzept aus der Wirtschaft, das die Mitarbeiter und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt und die Vorgesetzten zu „Dienenden“ erklärt. Ebenso wichtig ist die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verantwor- tung, der Corporate Social Responsibility (CSR). Im Zusammenhang mit der Entwicklungshilfe bedeutet Servant Leadership die Orientierung an den Fähigkeiten, Potenzialen und Bedürfnissen derer, die unterstützt werden sollen. Cash for Work Bei Cash for Work arbeiten die Betroffenen einer Katastrophe selbst gegen Bezahlung an Wiederaufbauprojekten mit. Der Lohn in diesen „Bargeld für Arbeit“-Programmen wird in der Regel von der ausführenden Hilfsorganisation bezahlt. Weil die Bevölkerung dadurch in die Katastrophenbewältigung mit einbezogen wird und sich ihre finanzielle Situation verbessert, werden Hilfsmaßnahmen besser akzeptiert. Im Idealfall wird so der Keim für eine eigenständige wirtschaftli- che Entwicklung der Region gelegt. Mögliche Probleme entstehen durch die Abzweigung des Geldflusses durch lokale Eliten sowie die Entwicklung von Neid und Missgunst, da nicht alle Betroffenen von Cash for Work-Programmen profitie- ren können. Brain Drain Als brain drain (wörtlich deutsch: Gehirn-Abfluss) bezeichnet man den Verlust der menschlichen Ressourcen eines Landes durch die Abwanderung besonders gut ausgebildeter oder talentierter Menschen. Der in einer fehlenden Per- spektive begründete Verlust von Spitzenkräften aus Wissenschaft oder Wirtschaft führt oft zu einem volkswirtschaftli- chen Niedergang. Es gibt allerdings auch positive Effekte, etwa durch den Rückfluss von Mitteln in das Heimatland. Die antikoloniale Vergangenheit Haitis Der wirtschaftliche Aufschwung Haitis im 18. Jahrhundert durch den Handel mit Zucker und Kaffee beruhte auf Skla- venarbeit und Sklavenhandel. Nach Beginn der französischen Revolution begannen die Sklaven auf der Insel His- paniola für die Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten zu rebellieren. Im Jahr 1801 erklärte der neu gegründete Staat, der erst ab diesem Zeitpunkt offiziell den Namen „Haiti“ trug, seine Unabhängigkeit und gab sich eine Verfas- sung. Parag Khanna How to run the world. Charting a course to the next Renaissance. Random House, New York, ISBN: 978-4000-6827-2 UNICEF 2007 geriet UNICEF wegen des Verdachts finanzieller Unregelmäßigkeiten bei Beraterverträgen und Provisionszahlun- gen stark in die Kritik. Obwohl sich manche Vorwürfe als übertrieben erwiesen, kam es zu einem Wechsel in Vorstand und Geschäftsführung. In der Folge entwickelte sich eine breite gesellschaftliche Diskussion über Professionalität und Transparenz der Arbeit von Hilfsorganisationen. 11
  • 12. Links Aktion Deutschland hilft www.aktion-deutschland-hilft.de Mitglieder action medeor, ADRA Deutschland, Arbeiter-Samariter-Bund, Arbeiterwohlfahrt International, CARE Deutschland-Luxemburg, Help, Die Johanniter, Malteser, Der PARITÄTISCHE Wohl- fahrtsverband, arche noVa, Bundesverband Rettungshunde, Handicap international, Hammer-Forum, Kinderhilfswerk Globa- le Care, Solidaritätsdienst-international, Terra Tech, World Visi- on Deutschland. Gastmitglieder Habitat for Humanity, Islamic Relief Worldwide Bündnis Entwicklung Hilft www.entwicklung-hilft.de Mitglieder Brot für die Welt, medico international, MISEREOR, terre des hommes Deutschland, Deutsche Welthungerhilfe Bündnispartner Ärzte für die dritte Welt, Christoffel-Blindenmission, Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe, EIRENE Internationaler christli- cher Friedensdienst, Kindernothilfe, Weltfriedensdienst NRW hilft Haiti www.nrw-hilft-haiti.de UNICEF, CARE, Kindernothilfe, Kinderhilfswerk Die Sternsinger, action medeor, MISEREOR, Deutsche Welthungerhilfe, Malteser, Arbeiter-Samariter-Bund 12