Dokumentation der Veranstaltung "Haiti - Nothilfe & Neubeginn", ausgerichtet von Stiftung Umwelt und Entwicklung, Aktion Deutschland hilft und Bündnis Entwicklung hilft am 3. Februar 2011 in Bonn. Auch die Podiusmdiskssion "Medien und HIlfsorganisationen" mit Oliver Numrich wird darin reflektiert.
Hildesheim Präsentation-Ankunftsort LAG Tagung 4-2024.pptx
Dokumentation nothilfe+neubeginn
1. Nothilfe und Neubeginn Tagung, 3. 2. 2011
Haiti ein Jahr nach dem Erdbeben
Eine Tagung im Gremiensaal der Deutschen Welle/Bonn am 3. Februar 2011
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Kooperationspartner
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tion Deutschland Hilft“ und „Bündnis Ent-
Am 12. Januar 2010 wurden Teile Haitis
wicklung Hilft“ haben gemeinsam rund 38
durch ein verheerendes Erdbeben zerstört.
Millionen Euro für die Menschen in Haiti ge-
Nach offiziellen Angaben kamen dabei über
sammelt.
200 000 Menschen ums Leben. Viele Kinder
Die weltweite Spendenbereitschaft und
verloren ihre Angehörigen, rund 1,5 Million-
das Engagement der Katastrophen- und
en Menschen wurden obdachlos. Insgesamt
Nothilfe-Organisationen haben viel bewirkt,
waren über drei Millionen Menschen - rund
Dennoch leben gut ein Jahr nach dem Erd-
ein Drittel der Gesamtbevölkerung Haitis -
beben immer noch über eine Millionen Men-
von dem Erdbeben betroffen.
schen in Zelten, eine Cholera-Epidemie hat
Die nordrhein-westfälische Landesregier-
bislang mehr als 3 000 Opfer gefordert.
ung hatte unmittelbar nach der Katastrophe
Am 3. Februar 2011 kamen auf Einladung
die Spendenaktion „NRW hilft Haiti“ ge-
der Stiftung Umwelt und Entwicklung Ver-
startet. Die Aktion wurde von der Stiftung
treter von „NRW hilft Haiti“ sowie den beiden
Umwelt und Entwicklung koordiniert und von
Spenden- und Nothilfebündnissen „Aktion
zehn Hilfsorganisationen aus NRW gemein-
Deutschland Hilft“ und „Bündnis Entwicklung
schaftlich getragen. Bis heute kamen dabei
Hilft“ in Bonn zusammen, um gemeinsam
über 1,1 Millionen Euro an Spendengeldern
mit Experten den Beitrag der deutschen Or-
zusammen. Die beiden Hilfsbündnisse „Ak-
ganisationen zur Nothilfe und zur weiteren
1
2. Entwicklung in Haiti zu diskutieren. Für die zeichnete es als eminent wichtig, aus den
insgesamt 90 Teilnehmerinnen und Teilneh- Erfahrungen mit der Nothilfe und dem Wie-
mer stand dabei auch die Frage nach dem deraufbau in Haiti zu lernen, um die Eine
Verhältnis zwischen Medien und Hilfs- Welt tatsächlich besser gestalten zu können.
organisationen angesichts solcher Katastro- Die heutige Veranstaltung könne dazu si-
phen wie in Haiti im Blickpunkt. cher einen Beitrag leisten. Karl Lamers be-
dankte sich ausdrücklich bei der Deutschen
In seiner Begrüßung rief Karl Lamers,
Welle, dem Gastgeber von „Nothilfe und
Vorstandsvorsitzender der Stiftung Umwelt
Neubeginn“.
und Entwicklung Nordrhein-Westfalen, noch
einmal die einmalige Tragweite des Erdbe-
bens und seine verheerenden Folgen für ein
ohnehin von Naturkatastrophen gebeuteltes Podium
Land in Erinnerung. Lamers erinnerte daran, Haiti - ein Jahr nach dem Erdbeben
dass unter den Opfern auch ein junger UN-
Mitarbeiter aus Bonn gewesen ist, und be-
Nach einer kurzen Vorstellungsrunde der
grüßte die anwesenden Eltern ganz beson-
Podiumsteilnehmer begann Moderator Jerry
ders herzlich.
Sommer mit einer Frage an Elmar Frank
nach dessen Einschätzung der aktuellen
Situation in Haiti. Frank betonte die bisheri-
gen enormen Leistungen der Nothilfe ange-
sichts der gewaltigen Herausforderung, mit
der man es in Haiti zu tun habe. Immerhin
seien mehr als 800 000 Opfer in provisori-
schen Unterkünften untergebracht, auch bei
der Betreuung der Opfer habe man schon
einiges erreicht. Allerdings sei viel Geduld
nötig, schließlich habe auch in Deutschland
20 Jahre nach dem 2. Weltkrieg noch vieles
in Trümmern gelegen. Der Wiederaufbau
könne nur gemeinsam mit den Menschen in
Haiti geschehen, allerdings müssten dazu
erst einmal die notwendigen staatlichen
Rahmenbedingungen geschaffen werden.
Wolfgang Jamann von der Welthunger-
hilfe teilte diese Einschätzung der erfolgrei-
chen Nothilfe grundsätzlich, zeigte sich aber
Nach Ansicht des Vorstandsvorsitzen-
insgesamt deutlich skeptischer. Haiti sei
den (s. Bild oben) der Stiftung habe die er-
nicht nur von Naturkatastrophen heimge-
folgreiche Spendenkampagne wieder einmal
sucht, sondern ein ausgeplündertes und
gezeigt, dass sich die Deutschen vor der
zerrissenes Land, ein „failed state“. Es
Entwicklung und den Problemen anderer
seien zu hohe Erwartungen an die Möglich-
Länder nicht verschließen - die Spendenbe-
keiten eines raschen Neubeginns geweckt
reitschaft sei „weltmeisterlich“. Lamers be-
worden, realistisch sei ein Zeithorizont von
2
3. mindestens 15 Jahren. Es bedürfe sowohl keinen Rückhalt in der Bevölkerung.
einer Menge Glück als auch der „richtigen“ Michael Kaasch von Haiti-Care bestätigte
politisch Verantwortlichen in Haiti, um hier die Einschätzung, dass die meisten Haitia-
tatsächlich langfristige Verbesserungen zu ner - in der Mehrzahl politische Menschen -
erreichen. die Präsidentschaftswahlen als Betrug emp-
Podiumsteilnehmer v.l.n.r.: finden würden. Am meisten Rückhalt bei der
Elmar Frank (Aktion Deutschland Hilft), Dr. Wolf- einfachen Bevölkerung habe noch der Sän-
gang Jamann (Welthungerhilfe), Moderator Jerry ger Michel Martelly (der am 20. März mit
Sommer (freier Journalist), Michael Kaasch (Haiti- Mirlande Manigat in die Stichwahl geht,
Care), Ulrich Mercker (Journalist), Bernd Pastors Anm. der Redaktion). Bisher habe noch kein
(action medeor) Präsident einen guten Job gemacht, nicht
Aristide und schon gar nicht Duvalier. Es sei
Der Journalist Ulrich Mercker bezeichne- daher beunruhigend, dass beide wieder in
te die Präsidentschaftswahlen in Haiti mit Haiti mitmischen wollten.
einer Wahlbeteiligung von 25 Prozent als Für Bernd Pastors von action medeor
„absehbares Desaster“. Die internationale sind die Hilfsorganisationen in Haiti an ihre
Gemeinschaft habe in dem Wunsch, ver- Grenzen gestoßen. Das übliche Handwerk
lässliche Ansprechpartner in Haiti zu finden, habe wegen fehlender Partner vor Ort nur
die prekären Voraussetzungen für Wahlen in schlecht funktioniert. Es komme jetzt we-
dem völlig fragmentierten Land einfach igno- sentlich darauf an, in Haiti die Ansätze einer
riert. Zudem sei die Mehrheit der politisch Zivilgesellschaft zu stärken und auszubau-
denkenden Bevölkerung immer noch An- en. Möglicherweise sei es eine Aufgabe der
hänger der verbotenen Partei des früheren politischen Stiftungen, vor Ort zur Ausbil-
Präsidenten Aristide, die anderen Anwärter dung politischer und organisatorischer
wie die frühere First Lady Mirlande Manigat Strukturen beizutragen.
oder der Kandidat des scheidenden Präsi- Michael Kaasch kritisierte die fehlenden
denten René Préval, Jude Célestin, hätten Kenntnisse über Haiti bei einigen Hilfsorga-
3
4. nisationen. So seien Häuser mit Innenkü- man müsse dabei an der Basis beginnen:
chen geplant und gebaut worden, obwohl in mit der Bildung von Interessengruppen in
Haiti überwiegend mit Holzkohle vor dem den Dörfern, mit der Gründung von Kinder-
Haus gekocht werde. Elmar Frank stimmte gärten und Schulen. Gerade im Bildungsbe-
dem grundsätzlich zu, richtete den Blick reich gebe es ermutigende Ansätze zu einer
aber auf eine grundsätzliche Ebene. In ei- Zusammenarbeit zwischen staatlichen In-
nem Land wie Haiti, das immer ein Spielball stanzen und den in Haiti traditionell privat
der großen Mächte gewesen sei, müsse organisierten Bildungsträgern. Grundsätzlich
Demokratie erst langsam erlernt werden. allerdings sollten die Hilfsorganisationen
Um solide und nachhaltige Grundlagen für nicht so tun, als hätten sie für alle Probleme
eine staatliche Entwicklung gemeinsam mit eine Lösung - man könne lediglich dazu bei-
der Bevölkerung zu schaffen, sei sehr viel tragen, dass die Menschen in Haiti die eige-
Geduld notwendig. nen Potenziale künftig stärker ausschöpften.
Der Einfluss der internationalen Gemein- Bei der Diskussion mit dem Publikum
schaft sei viel zu groß, als dass eine eigen- ging es zunächst um die fehlende Einbezie-
ständige Entwicklung in Haiti möglich wäre - hung der Haitianer, auch der haitianischen
so die These von Ulrich Mercker. Es gehe Diaspora in den USA, in Kanada und Euro-
um geopolitische Interessen, möglicherwei- pa. Es sei bezeichnend, dass bislang kein
se auch um den Aufbau einer Industrie mit Haitianer in den zuständigen internationalen
billigen Arbeitskräften im Hinterhof der USA. Gremien zu finden sei, auch bei dieser Ver-
Mercker richtete den Blick dann auf ein an- anstaltung säße kein Haitianer auf einem
deres, seiner Meinung nach zentrales Prob- Podium. Die Runde war sich einig, dass
lem: Viele Hilfsorganisationen seien vor al- man diese Einbeziehung ausbauen müsse,
lem auf kurzfristige, vorzeigbare Erfolge wie trotz fehlender Partner vor Ort und einer
den Bau einer Schule bedacht, es gebe vielfach zersplitterten haitianischen Diaspo-
zwar „viele Tropfen auf den heißen Stein“, ra. Vor Ort werde schon - wo möglich - nach
aber weder eine Koordination untereinander dem Prinzip „cash for work“ verfahren, die
noch mit den haitianischen Akteuren. Die Menschen in Haiti würden viele Arbeiten
notwendige Prioritätensetzung bei der Hilfe selber übernehmen und auch dafür bezahlt.
finde nicht statt. Die Öffentlichkeitsarbeit Als weiteres Problem wurde der so genann-
mancher Hilfsorganisationen bezeichnete te „brain drain“ benannt, also die Abwan-
Mercker in diesem Zusammenhang als derung der gebildeten und ausgebildeten
„Blendwerk“, das strukturelle Elend und die Menschen aus Haiti. Dies erschwere den
eigenen Misserfolge würden einfach ausge- Aufbau funktionierender Strukturen und ei-
blendet. ner Zivilgesellschaft ungemein, sei aber ein
Diese Kritik wurde von den Vertretern der grundsätzliches Problem der Entwicklungs-
Hilfsorganisationen einhellig zurückgewie- arbeit. Verhindern lasse sich der brain drain
sen. Zwar gebe es durchaus Probleme bei nur durch eine nachhaltige Verbesserung
der Koordination, aber die Zusammenarbeit der Rahmenbedingungen - was durchaus
der Hilfsorganisationen habe sich deutlich möglich sei, wie etwa das positive Beispiel
verbessert. Auf haitianischer Seite allerdings Ghana zeige.
fehlten bislang die dafür notwendigen Part-
ner. Deshalb habe der langfristige Aufbau
von Strukturen in Haiti höchste Priorität, und
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5. Der provokante Vorschlag, angesichts mitten im Chaos rasch damit begonnen, ihr
der chaotischen Verhältnisse in Haiti ein Leben neu zu organisieren. Daran müsse
UN-Protektorat einzurichten, wurde einhellig jede Hilfe von außen anknüpfen, auch wenn
zurückgewiesen. Ein solches Vorgehen sich der gewünschte Fortschritt dadurch
würde den Stolz der Haitianer auf die eigene mitunter verzögere. „Servant leadership“
antikoloniale Vergangenheit mit Füßen sei die Maxime, an der die Hilfsorganisatio-
treten. Vielmehr müsse der begonnene Dia- nen ihre Arbeit ausrichten sollten.
log mit den vorhandenen Partnern in Haiti Eine andere Perspektive wählte Thomas
ausgebaut werden. Es gehe darum, die Fues vom DIE für seinen einleitenden Bei-
Menschen dort in die Lage zu versetzen, trag. In Anlehnung an das Buch „How to
selber das zu entwickeln, was sie wollen. run the world“ von Parag Khanna stellte er
Die Hilfsorganisationen überflüssig zu ma- die Frage nach den künftigen Handlungsop-
chen - das sei die richtige Perspektive. tionen von Hilfsorganisationen. Nach Khan-
na seien die gewohnten globalen Machtver-
hältnisse im Umbruch, die Fragmentierung
staatlicher Autorität sei verbunden mit der
Herausbildung neuer Machtzentren und re-
levanter Einzelakteure wie globale Konzer-
Podium
ne, Medien, Prominente (z. B. der U2-
Von der Nothilfe zu Wiederaufbau Sänger Bono), aber eben auch international
und erfolgreicher Entwicklung tätige Hilfsorganisationen. Diese nähmen im
Hilfsfall - ob sie wollten oder nicht - ange-
sichts fehlender Strukturen bereits jetzt oft
kompensatorisch staatliche Funktionen
wahr, und sie müssten sich ernsthaft mit der
Am Beginn der Podiumsrunde stand die Frage auseinandersetzen, ob sie langfristig
Frage nach der Kooperation und Koordinati- zumindest in Teilbereichen - und in Koope-
on bei den Hilfsmaßnahmen in Haiti. Für ration mit anderen Akteuren, die Ressour-
Karin Settele von Help ist beides extrem cen zur Problemlösung mobilisieren könnten
wichtig, hängt aber immer von den Struktu- - politische Steuerungsverantwortung über-
ren und Ansprechpartnern vor Ort ab. Bei nehmen wollten.
der Zusammenarbeit mit der einheimischen Hier widersprach Dietmar Roller vehe-
Bevölkerung sei die Kooperation auf Augen- ment und plädierte für strikte Neutralität. Es
höhe entscheidend, niemand dürfe von oben sei eine abwegige Vorstellung, dass Nicht-
herab handeln. Eine andere Perspektive als regierungsorganisationen (NGOs) auch nur
die von unserem Effizienzverständnis ge- in Teilen Regierungsverantwortung über-
prägte sei notwendig, man müsse sich nähmen - Regierungen hartnäckig in die
manchmal Zeit nehmen, selbst wenn gar Verantwortung zu nehmen sei die tatsächli-
keine Zeit da sein. che Aufgabe. Dazu gehöre auch, dass man
Dietmar Roller von der Kindernothilfe die Menschen vor Ort befähige, ihre Rechte
verwies auf die Fähigkeiten der Betroffenen, in Anspruch zu nehmen. Roller verwies auf
ihr Überleben selbst zu sichern. So hätten vermeintlich altmodische, aber nach wie vor
die Menschen nach dem Tsunami vor der in der Entwicklungshilfe gültige Werte wie
Demut und Respekt.
5
indonesischen Küste im Dezember 2004
6. Für Peter Hesse gibt es bei der Entwick- Ebene sei extrem wichtig, und man müsse
lungshilfe nur einen Weg, und zwar den ge- sich immer die Frage stellen, welche Hilfe
duldigen Aufbau von unten. Er selbst habe die Menschen tatsächlich stark mache.
lange gebraucht um zu verstehen, wie Haiti Manche Intervention von außen sei trotz
funktioniert, was die Menschen dort selber guten Willens kontraproduktiv, wenn etwa
wollen. Er berichtete von seinen Erfahrun- die vorhandene Solidarität vor Ort durch den
gen beim Aufbau von Montessori- Streit um externe Hilfsleistungen zerstört
Bildungseinrichtungen, von der Überwin- werde. Hilfe müsse immer an vorhandene
dung vorhandener Skepsis - und auch von Strukturen anschließen, die lokalen Res-
den Erfolgen. Bis heute hat die Peter- sourcen müssten maximal genutzt werden.
Hesse-Stiftung zur Ausbildung von über 800 Ebenso sei es beim „Rhythmus des Hel-
Montessori-Erzieherinnen in Haiti beigetra- fens“, also dem Tempo der Verbesserungen
gen, die selbst wiederum als Kommunikato- in den zerstörten Gebieten. Auch da müsse
ren und Multiplikatoren bei der Herausbil- man als Hilfsorganisation gegebenenfalls
dung regionaler, sich selbst tragender Netz- langsamere Fortschritte akzeptieren, trotz
werke fungieren. des herrschenden Effizienzdruckes. Das
Podiumsteilnehmerin und -teilnehmer v.l.n.r.: mancherorts vorhandene Selbstverständnis
Peter Hesse (Peter-Hesse-Stiftung), Karin Settele von Hilfsorganisationen, „wir kommen da hin
(Help), Moderator Peter Mucke (Bündnis Entwick- und dann wird alles gut“, werde zwar durch
lung Hilft), Heinrich Ölers (Misereor), Dietmar Roller die Medien noch verstärkt, sei aber grund-
(Kindernothilfe), Thomas Fues (Deutsches Institut falsch.
für Entwicklungspolitik, DIE) Bei der Diskussion mit dem Publikum
ging es zunächst um die Evaluation der Ar-
Misereor hat keine eigenen Projekte in
beit von Entwicklungsorganisationen. So
Haiti, deshalb berichtete Heinrich Ölers von
komplex diese auch sein möge, so sei eine
grundsätzlichen Erfahrungen bei der Nothilfe
ständige kritische Überprüfung doch not-
und in der Entwicklungsarbeit. Die lokale
wendig. Dem wurde auf dem Podium weit-
6
7. gehend zugestimmt. Die Unterstellung, die
Hilfsorganisationen drückten den Betroffe-
nen vor Ort ihr Programm auf, wurde jedoch Podium
zurückgewiesen. Jede Hilfsmaßnahme wür- Medien und Hilfsorganisationen
de vorher mit den Menschen vor Ort geklärt,
und alle Hilfsorganisationen seien froh, Für Manuela Roßbach vom Bündnis „Ak-
wenn sich aus punktuellen Ansätzen lang- tion Deutschland Hilft“ ist das Verhältnis
fristige und eigenständige Strukturen vor Ort zwischen Medien und Hilfsorganisationen
entwickelten. zwangsläufig eng. Um Spenden, Mitglieder
Auch über die These von Thomas Fues, und damit die Basis für Hilfsleistungen zu
Hilfsorganisationen müssten künftig teilwei- organisieren, sei eine rasche Berichterstat-
se staatliche Funktionen übernehmen, wur- tung der Medien bei Katastrophen sehr
de kontrovers debattiert. Für Eberhard Neu- wichtig. Ansonsten habe sie den Eindruck,
gebohrn von der Stiftung Umwelt und Ent- dass Hilfsorganisationen und ihre Arbeit von
wicklung sei das schon längst der Fall, wenn den Medien oft zum Stopfen von „Themen-
z. B. Hilfsorganisationen den Schutz von löchern“ benutzt würden.
Kindern vor Verschleppung gewährleisteten Die Journalistin Renate Wilke-Launer
- eigentlich eine staatliche Aufgabe. Dietmar warnte die Vertreterinnen und Vertreter ihrer
Roller stimmte im konkreten Fall der Durch- Profession davor, sich für noch so gute
setzung von Kinderrechten zu, allerdings Zwecke instrumentalisieren zu lassen. Lei-
sollten diese legitimatorischen Funktionen der gebe es bei der Berichterstattung über
nicht von externen NGOs, sondern von de- Katastrophen oft eine Verstrickung von Me-
ren Partnern vor Ort übernommen werden. dien und NGOs, die sie als „wechselseitiges
Fues selbst bekräftige seine These ab- Parasitentum“ bezeichnete. Dabei hätten die
schließend: NGOs hätten Macht, ob sie woll- Hilfsorganisationen wegen ihrer stärkeren
ten oder nicht, und müssten sich darüber im Ressourcen die Nase vorn, Journalisten
Klaren sein, wie und für wen sie diese Macht seien auch wegen des Abbaus von Stellen
effektiv einsetzen wollten. auf den guten Willen und die Informationen
der Hilfsorganisationen angewiesen. Merk-
würdigerweise gebe es kaum Journalismus,
der sich systematisch und kritisch mit der
Arbeit von Hilfsorganisationen auseinander-
setze.
Wolfgang Tyderle von Care beschrieb das
enge Zeitfenster, innerhalb dessen in den
Medien öffentliche Aufmerksamkeit für die
notwendige Hilfe bei Katastrophen erzeugt
werden müsse. Fraglos gebe es bei Hilfsor-
ganisationen Konflikte zwischen den eher
sachorientierten Programmabteilungen und
den Kommunikationsfachleuten, die gerne
plakative Bilder - wie etwa das Beladen ei-
nes Flugzeugs mit Hilfsgütern - liefern wür-
7
den. Dabei habe sich das Gewicht immer
8. mehr zugunsten der Programmabteilungen tung der Medienberichte nach dem Erdbe-
verschoben. Es sei mittlerweile Konsens, ben in Haiti habe ergeben, dass vor allem
mehr auf Sachinformation als auf Betroffen- solche Organisationen häufig in den Medien
heit zu setzen. Regelmäßige Hintergrundge- vorkamen, die früh plakative Bilder lieferten.
spräche mit Journalisten zu den komplexen Das sei wichtig, weil die Spendenkonten vor
Zusammenhängen der Nothilfe und der allem in den ersten zwei Tagen der Bericht-
Entwicklungsarbeit seien daher sehr wichtig. erstattung genannt wurden - und weil die
Katja Maurer, Pressesprecherin von meisten Menschen auch unmittelbar nach
medico international, machte ihren Anspruch einer solchen Katastrophe spenden.
deutlich, die Komplexität der Projektarbeit Numrich ergänzte seine Ausführungen
auch gegenüber den Medien zu verdeutli- mit der These, dass Medien Hilfsorganisati-
chen. Platte Bilder wolle medico internatio- onen im Katastrophenfall gerne als aufop-
nal nicht liefern, sondern auch über die fernd idealisieren würden. Wenn dann die
Probleme und Fehler reden. NGOs könnten Realität anders aussehen mag - wie im Fall
sowohl den Medien als auch ihren Spendern von UNICEF vor wenigen Jahren - seien
mehr zutrauen, als sie dies häufig tun. Medien dann auch aus „enttäuschter Liebe“
Podiumsteilnehmerinnen und –teilnehmer v.l.n.r.: besonders ungnädig. Auch Spendenbriefe
Oliver Numrich (Blätterwald), Manuela Roßbach oder Mitgliederwerbung kämen in der Be-
(Aktion Deutschland Hilft), Moderatorin Mirjam richterstattung nicht gut weg, obwohl klar
Gehrke (Deutsche Welle), Renate Wilke-Launer sei, dass Spendenorganisationen in ihrer
(Journalistin), Katja Maurer (medico international), Arbeit auf Geld und Mitglieder angewiesen
Wolfgang Tyderle (Care Deutschland-Luxemburg) sind.
Das Fernsehen unterwirft sich einem
vermeintlichen Bilderzwang, der sich auch in
„blätterwald“ ist ein Büro für Medienreso- der Schwarz-Weiß-Malerei der Boulevard-
nanzanalyse und Medienbeobachtung. Ge- presse wiederfindet. In diesem Punkt bestä-
schäftsführer Oliver Numrich relativierte in tigte Renate Wilke-Launer die Ausführungen
seinem Beitrag das allgemeine Bekenntnis von Oliver Numrich. Allerdings würden "seri-
zu Komplexität und Bedachtsamkeit bei der öse" Printmedien sehr viel differenzierter
Pressearbeit von Hilfswerken. Die Auswer- über Katastrophen und die Arbeit der Hilfs-
8
9. organisationen berichten. Als Beispiele Oliver Numrich erinnerte daran, dass
nannte sie die ZEIT, die FAZ, die Süddeut- Medien nicht nur optimal informieren, son-
sche Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung. dern vor allem auch verkaufen wollten. Trau-
Viele, auch vermeintlich seriöse Medien rige Bilder, möglichst viele Opfer - das sei
finden unspektakuläre Informationen seitens die Währung, die in den Medien zähle. Die
der Organisationen im Katastrophenfall nicht Sensation, die Katastrophe sei entschei-
spannend und sind enttäuscht, wenn ihre dend, der Alltag in Haiti interessiere nur eine
reißerischen Erwartungen nicht bedient ganz kleine Gruppe. Das könne man mit
werden - so die Erfahrungen von Manuela gutem Grund bedauern, müsse sich dieser
Roßbach. Natürlich sei dies auch ein Zeit- Realität aber stellen.
und Ressourcenproblem von NGOs und Die anderen Vertreterinnen und Vertreter
Medien, aber trotz der bescheidenen Rah- auf dem Podium, aber auch die Mehrzahl
menbedingungen auf beiden Seiten sei es des Publikums plädierte dagegen für eine
wichtig, über die Voraussetzungen für eine anspruchsvolle, sachliche und differenzierte
gute und informative Berichterstattung mit- Berichterstattung. Die Hilfsorganisationen
einander im Gespräch zu bleiben. hätten durchaus die Möglichkeit, mit ihren
Katja Maurer und Wolfgang Tyderle wa- exklusiven Informationen die Inhalte in den
ren einhellig der Auffassung, dass eine reine Medien positiv zu beeinflussen.
Erfolgsberichterstattung auch nicht im Sinne Renate Wilke-Launer ermahnte die Ver-
der Hilfsorganisationen sein könne. Tyderle treter der Organisationen und die Journalis-
führte als Beispiel die Flutkatastrophe in Pa- ten, nicht nur an Spender, sondern an alle
kistan an, wo die Hilfsorganisationen durch- Bürger zu denken. Die hätten einen An-
aus kritische Informationen an die Medien spruch auf kritische Berichterstattung, auch
weitergegeben hätten. Dies hätte sich auch über die Hilfsorganisationen, die oft genug
in vielen Medienberichten widergespiegelt. als „Mitleidsindustrie“ aufträten. Es sei
Einige Vertreter aus dem Publikum ver- durchaus legitim, dass private Medien aus
missten die Kreativität der Medien bei der wirtschaftlichem Druck auf plakative Be-
Berichterstattung über Haiti. Es gebe auch richterstattung und Personalisierung setzen
schöne Aspekte wie die verbreitete Solidari- würden. Bei öffentlich-rechtlichen Medien
tät unter den Bewohnern Haitis. Für deut- sehe das allerdings anders aus. Wir alle
sche Mediennutzer allerdings entstehe der seien gefordert, hier Druck im Sinne eines
verfälschte Eindruck, die Haitianer seien vor anspruchsvollen, auch Hintergründe vermit-
allem Weltmeister im Betteln. telnden Journalismus zu machen.
Die anschließende Diskussion drehte sich Wolfgang Tyderle wehrte sich gegen den
zunächst um die Möglichkeit, gemeinsame Begriff Mitleidsindustrie. Die Hilfsorganisati-
Interessen und Strategien von Medien und onen betrieben eine Art globaler Sozialar-
NGOs im Sinne einer optimal informierten beit, unter schweren Bedingungen und für
Öffentlichkeit zu entwickeln. Dazu gehörte relativ wenig Geld. Es sei im Interesse aller,
auch der Vorschlag, dass die Stiftung Um- dass diese Arbeit nicht schlecht geredet
welt und Entwicklung eine Runde aus Poli- würde.
tik, Medien, Hilfswerken und Entwicklungs- Kritische Fragen von Journalisten würden
organisationen einladen solle, die sich auf den NGOs dabei helfen, noch besser zu
gemeinsame Standards verständigen könn- werden, so Katja Maurer. Die Presseabtei-
te. lungen der Hilfsorganisationen müssten sich
9
10. entscheiden: bedienen sie vordergründige
Wünsche nach stereotypen Bildern, oder
bemühen sie sich um eine komplexe, diffe-
renzierte und selbstkritische Information der
Medien und der Öffentlichkeit.
Eberhard Neugebohrn, Geschäftsführer
der Stiftung Umwelt und Entwicklung
Nordrhein-Westfalen (Bild oben), erinnerte
abschließend daran, dass es „die“ Öffent-
lichkeit nicht gebe, sondern dass Öffentlich-
keit immer hoch differenziert sei. In diesem
Sinne seien alle Teilnehmerinnen und Teil-
nehmer der Veranstaltung eine spezifische,
aber für Nothilfe und Entwicklungspolitik
wichtige Öffentlichkeit. „Die offene Diskussi-
on der tatsächlichen Schwierigkeiten bei den
Hilfsmaßnahmen ist unverzichtbar. Dem
Spender muss die Wahrheit zugemutet wer-
den.“
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11. Glossar
Failed State
Als gescheitert gilt ein Staat, der seine grundlegenden Funktionen nicht mehr erfüllen kann. Der private „Fund for
Peace“ veröffentlicht in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift Foreign Policy jährlich den sogenannten Failed States Index,
der das Zerfallsrisiko der Staaten mit Hilfe von zwölf Indikatoren beschreibt. www.fundforpeace.org
Servant Leadership
Ursprünglich ein Führungskonzept aus der Wirtschaft, das die Mitarbeiter und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt
und die Vorgesetzten zu „Dienenden“ erklärt. Ebenso wichtig ist die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verantwor-
tung, der Corporate Social Responsibility (CSR). Im Zusammenhang mit der Entwicklungshilfe bedeutet Servant
Leadership die Orientierung an den Fähigkeiten, Potenzialen und Bedürfnissen derer, die unterstützt werden sollen.
Cash for Work
Bei Cash for Work arbeiten die Betroffenen einer Katastrophe selbst gegen Bezahlung an Wiederaufbauprojekten mit.
Der Lohn in diesen „Bargeld für Arbeit“-Programmen wird in der Regel von der ausführenden Hilfsorganisation bezahlt.
Weil die Bevölkerung dadurch in die Katastrophenbewältigung mit einbezogen wird und sich ihre finanzielle Situation
verbessert, werden Hilfsmaßnahmen besser akzeptiert. Im Idealfall wird so der Keim für eine eigenständige wirtschaftli-
che Entwicklung der Region gelegt. Mögliche Probleme entstehen durch die Abzweigung des Geldflusses durch lokale
Eliten sowie die Entwicklung von Neid und Missgunst, da nicht alle Betroffenen von Cash for Work-Programmen profitie-
ren können.
Brain Drain
Als brain drain (wörtlich deutsch: Gehirn-Abfluss) bezeichnet man den Verlust der menschlichen Ressourcen eines
Landes durch die Abwanderung besonders gut ausgebildeter oder talentierter Menschen. Der in einer fehlenden Per-
spektive begründete Verlust von Spitzenkräften aus Wissenschaft oder Wirtschaft führt oft zu einem volkswirtschaftli-
chen Niedergang. Es gibt allerdings auch positive Effekte, etwa durch den Rückfluss von Mitteln in das Heimatland.
Die antikoloniale Vergangenheit Haitis
Der wirtschaftliche Aufschwung Haitis im 18. Jahrhundert durch den Handel mit Zucker und Kaffee beruhte auf Skla-
venarbeit und Sklavenhandel. Nach Beginn der französischen Revolution begannen die Sklaven auf der Insel His-
paniola für die Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten zu rebellieren. Im Jahr 1801 erklärte der neu gegründete
Staat, der erst ab diesem Zeitpunkt offiziell den Namen „Haiti“ trug, seine Unabhängigkeit und gab sich eine Verfas-
sung.
Parag Khanna
How to run the world. Charting a course to the next Renaissance. Random House, New York, ISBN: 978-4000-6827-2
UNICEF
2007 geriet UNICEF wegen des Verdachts finanzieller Unregelmäßigkeiten bei Beraterverträgen und Provisionszahlun-
gen stark in die Kritik. Obwohl sich manche Vorwürfe als übertrieben erwiesen, kam es zu einem Wechsel in Vorstand
und Geschäftsführung. In der Folge entwickelte sich eine breite gesellschaftliche Diskussion über Professionalität und
Transparenz der Arbeit von Hilfsorganisationen.
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12. Links
Aktion Deutschland hilft
www.aktion-deutschland-hilft.de
Mitglieder
action medeor, ADRA Deutschland, Arbeiter-Samariter-Bund,
Arbeiterwohlfahrt International, CARE Deutschland-Luxemburg,
Help, Die Johanniter, Malteser, Der PARITÄTISCHE Wohl-
fahrtsverband, arche noVa, Bundesverband Rettungshunde,
Handicap international, Hammer-Forum, Kinderhilfswerk Globa-
le Care, Solidaritätsdienst-international, Terra Tech, World Visi-
on Deutschland.
Gastmitglieder
Habitat for Humanity, Islamic Relief Worldwide
Bündnis Entwicklung Hilft
www.entwicklung-hilft.de
Mitglieder
Brot für die Welt, medico international, MISEREOR, terre des
hommes Deutschland, Deutsche Welthungerhilfe
Bündnispartner
Ärzte für die dritte Welt, Christoffel-Blindenmission, Deutsche
Lepra- und Tuberkulosehilfe, EIRENE Internationaler christli-
cher Friedensdienst, Kindernothilfe, Weltfriedensdienst
NRW hilft Haiti
www.nrw-hilft-haiti.de
UNICEF, CARE, Kindernothilfe, Kinderhilfswerk Die Sternsinger,
action medeor, MISEREOR, Deutsche Welthungerhilfe,
Malteser, Arbeiter-Samariter-Bund
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