1. 130
Carl R. Rogers und John K. Wood
3. Kapitel: Klientenzentrierte Theorie1:
,,Gern würde ich alle Worte dieses Manuskriptes for:
wenn es mir auf irgendeineWeise gelänge, unmittelba
Geschehen hinzuzeigen, was Therapie ist. Therap:,
Prozeß, ein Ding an sich, ein Erlebnis, eine Bezieh-..:
wirkende Kraft. Was dieses Buch davon sagt, das is:
wenig die Therapie selbst, wie die Beschreibung c,
nikers oder die Begeisterung des Dichters die Blume:,
dieses Buch als ein Wegweiser dient, der hinzeig�
Erfahrung, die offensteht für unser Hören und Sehe:-:
unser emotionales Erlebnisvermögen, und wenn es .:.
esse von einigen anregt und sie veranlaßt, die Sa,:�
tiefer zu erfassen, dann hat es seinen Zweck erfi.:::
dieses Buch statt dessen nur zu dem schwindele:-:
Stapel von Worten über Worte beiträgt, wenn der L
ihm den Eindruck gewinnt, daß die Wahrheit in de:-.
:äge und daß das Gedruckte das Eigentliche sei, da:
auf traurige Weise sein Ziel verfehlt. Und wen:-:
iußerste Erniedrigung erlitte, »Schulwissen« zu we:-.:
die toten Worte eines Autors seziert undin die Köpre
Studenten gegossen werden, so daß lebendige :1ens,:
:oten, zerstückelten Fragmente einst lebendiger G,
und Erfahrungen herumtragen und nicht einma:
werden, daß diese einst lebendig waren - dann war,
::,esser, daß dieses Buch nie geschrieben worden wi
Diese Sätze standen in der Einleitung zu dem Buc�
Centered Therapy (ROGERS, deutsch: Die kllen=-;:
. Aus: Operational Theories of Personality. Hrsg.: A. BCR".':''
!azel, New York 1974.
Dieser Beitrag wurde von beiden Autoren gemeinsam veria::,.
cesten Person singular geschrieben. »Ich« repräsentiert mal diesec
·:erfasser. Der Gebrauch der ersten Person schien ihnen angeze.:·
:as Material auf diese Weise menschlicher darstellen läßt. D:e,
:eschlossene Theorie. Es sind die persönlichen Schlußfolge:-_c_,
'.!änner, die über reiche therapeutische Erfahrung verfügen 11c�
."rbeitsweise und den vorsichtigen Formulierungen, die sie ac:s
,6leiten, kongenial sind.
2. Gesprächstherapie), der ersten umfassenderen Formulierung
der Theorie, die der klientenzentrierten Auffassung von
zwischenmenschlichen Beziehungen zugrunde liegt.
Seitdem hat die klientenzentrierte Therapie weit über das
von uns erwartete Maß hinaus an Bedeutung gewonnen. Von
ihren Anfängen, in denen sie einen radikal neuen Zugang zur
Psychotherapie eröffnete, bis heute ist ihr Einfluß so gewach
sen, daß ihre Prinzipien auch im Erziehungswesen, im
Geschäftsleben und allgemein in zwischenmenschlichen
Beziehungen Anwendung finden, ja sogar in so außer
gewöhnlichen Situationen wie beispielsweise einer lntensiv
gruppe, die eigens zu dem Zweck gebildet wurde, um die
Kommunikation zwischen verfeindeten nordirischen Partei
gängern zu verbessern.
Ich fürchte jetzt tatsächlich, daß die klientenzentrierte
Theorie allzu schnell und allzu leicht zu einem abgeschlosse
nen Lehrgebäude geworden ist, obwohl ich immer davor
gewarnt habe. Sie ist zergliedert, analysiert und memoriert
worden, bis sie tatsächlich zu bloßem »Schulwissen« herab
gewürdigt wurde, zu einer Art Dogma.
_
Im psy�hotherapeutischen Bereichgehören ihre Prinzipien
mittlerweile zu den Grundvoraussetzungen der psychologi
schen Beratung - und wahrscheinlich jeder wirksamenThera
pie. Dies beruht zumTeil auf derTatsache, daß vieleverschie
deneTherapeuten mit vielen Arten von Klienten seit mehr als
drei Jahrzehnten gearbeitet und dabei die nachweisliche
Erfahrung gemacht haben, daß in einem klientenzentrierten
therapeutischen Klima häufig schon nach relativ kurzer Zeit
signifikante positive Veränderungen im Verhalten, in den
Einstellungen, den Gefühlen und der Gesamtpersönlichkeit
des Klienten einzutreten pflegen. Diese auf Erfahrung beru
hende professionelleAnerkennung istan sich begrüßenswert.
Doch da die klientenzentrierten Grundsätze unterschiedslos
auf alle möglichen Arten von zwischenmenschlichen Bezie
hungen in unserer Gesellschaft angewendet wurden -und das
ist an sich eine gesunde Tendenz -, ist die Theorie entspre
chend oft oberflächlich vermittelt und ebenso oberflächlich
verstanden worden. Und das ist es, wogegen ich etwas
einzuwenden habe.
Da Therapeuten, angehende Therapeuten und andere Per
sonen diese Grundsätze häufig nur oberflächlich verstanden
132
haben, wurden ihre tieferenImplikationen oftübersehen. Die
Präzision der klientenzentrierten Therapie findet wenig
.nerkennung. Dabei sind ihre theoretischen Grundlagen
wahrscheinlich exakter formuliert worden als die aller ande
:-en therapeutischen Theorien (ROGERS, 1959). Ebensowenig
.nerkennung haben ihre radikalen und revolutionären philo
sophischen Folgerungen gefunden.
Tatsächlich läßt sich die klientenzentrierte Philosophie
:1icht bequem in eine technologisch orientierte Gesellschaft
einpassen. Sogar in der Psychotherapie wird immer mehr auf
,Effektivität« Wert gelegt. Eine ordentliche Diagnose, Theo
;ien, die auf einem unmittelbaren Ursache-Wirkung-Zusam
:nenhang basieren, und andere lineare Konstrukte werden als
3ie Mittel betrachtet, mit deren Hilfe sich rasch »feststellen
Jnd kurieren läßt, was nicht stimmt«. Daran gemessen
erscheint die klientenzentrierte Therapie, die über keine so
Jlendenden Methoden und Techniken verfügt, die auf die
1obilisierung der Kräfte des Klienten vertraut und den
:(lienten dasTempo der Entwicklung bestimmen läßt, vielen
als naiv und uneffektiv. Sie fügt sich nicht in eine Kultur, die
schnelle Reparaturen verlangt.
Ich hoffe, mit diesem Kapitel einen Beitrag zum besseren
'erständnis der klientenzentriertenTheorieleistenzukönnen.
Ich möchte »hinzeigen« auf das Geschehen, welches die
,klientenzentrierteTherapie« ist. Ich will deshalb über einige
Jer Kämpfe berichten, die ich durchgemacht habe, umzu den
·.-orläufigen Schlüssen zu gelangen, welche die gegenwärtige
Theorie ausmachen. Ichhoffe, Siedadurchzuermutigen, Ihre
eigene, aufIhrenpersönlichenErfahrungen beruhendeThera
::,ieauffassung hiermitzuintegrieren-aufdiegleicheWeise,auf
�ie diese Theorie entstanden ist. Außerdem hoffe ich, daß
:hnen dieser Beitrag helfen wird, eineAntwortaufdieFragezu
;inden: »Was hat die klientenzentrierteTherapie - in der Flut
.::erTherapien - mir zu bieten, wennichmeinem Klientenoder
:-:-ieinem problembeladenen Freund gegenüberstehe?«
5pezifische Merkmale
:Jie klientenzentrierte Theorie ist noch immer im Wachsen
::,egriffen, und zwar nicht als »Schule« oder als Dogma,
;ondern als vorläufige Aufstellung einer Reihevon Grundsät-
133
3. zen. Ich glaube tatsächlich, daß sich mit der Erweiterung
unseres Wissens über den therapeutischen Prozeß die soge
nannten psychotherapeutischen Schulen auflösen und ver
schmelzen werden zu einer einheitlichen Methode des Hei
lens.
Dies sind einige der Merkmale, die die klientenzentrierte
Orientierung gegenwärtig von anderen Auffassungen unter
scheiden:
1. Die fortdauernde Überzeugung, daß der Klient selbst
verantwortlich und fähig ist, herauszufinden, welche
Schritte ihn zu einer wirksamen Begegnung mit seiner
Realität führen werden. Der Klient ist der einzige, dem es
möglich ist, voll die Dynamik seinesVerhaltens und seiner
Realitätswahrnehmung zu erkennen und folglich für sich
selbst geeignete Verhaltensweisen zu finden. Es ist nicht
das Ziel dieserTherapie, einer Person zurAnpassung an die
»Gesellschaft« zu verhelfen. Tatsächlich läßt sich die
Methode dazu nicht einmal benutzen, wie mir ein ange
hender Berater vor kurzem versichert hat. »Während
meines Praktikums in einem Rehabilitationszentrum habe
ich die klientenzentrierte Methode angewandt«, berichtete
er, »und meine Klienten haben sich nicht geändert; also
ging ich auf Verhaltensmodifikation über, und sie fingen
an, den Erwartungen der Behörde zu entsprechen.« Die
klientenzentrierte Therapie, deren Schwerpunkt auf der
Förderung der Ziele des Klienten liegt, befand sich hier im
Widerspruch zu den Bedürfnissen der Behörde, die diese
Klienten mit bestimmten Erwartungen in bezug auf das
Behandlungsziel zur Therapie geschickt hatte.
2. Die phänomenale Welt des Klienten steht fortwährend im
Mittelpunkt - der Therapeut bemüht sich, die Welt des
Klienten mit dessen Augen zu sehen.
3. Die Hypothese, daß die gleichen psychotherapeutischen
Prinzipien für alle Personen gelten, ob sie nun mit dem
Etikett »normal«, »neurotisch« oder »psychotisch« verse
hen sind.
4. Die Auffassung, daß die Psychotherapie ein Sonderfall
aller konstruktiven zwischenmenschlichen Beziehungen
ist. Im Rahmen dieser Beziehung - in der eine andere
Person dem Klienten dabei hilft, das zu tun, was ihm allein
134
nicht gelingt - erfährt der Klient psychotherapeutisches
Wachstum.
S. Die in Entwicklung befindliche Hypothese, daß bestimmte
Einstellungen der als »Therapeut« bezeichneten Person die
notwendigen und ausreichenden Bedingungen dafür sind,
daß sich bei der als »Klient« bezeichneten Person in Form
von Veränderungen ein therapeutischer Erfolg einstellt.
6. Das unfertige Konzept, wonach die Funktion des Thera
peuten darin besteht, für seinen Klienten unmittelbar
gegenwärtig und zugänglich zu sein und den therapeu
tischen Prozeß zu fördern, indem er sich auf das Erleben
stützt, das in der Beziehung von Augenblick zu Augen
blick abläuft.
�. Eine sich entwickelnde Theorie, die den therapeutischen
Prozeß begreift als eine fortwährende Veränderung in der
Erlebensweise des Klienten - wobei seine Fähigkeit
wächst, voller im unmittelbaren Augenblick zu leben.
S. Größeres Interesse am »Wie« des Prozesses der Persön
lichkeitsveränderung als am »Warum« der Persönlichkeits
struktur.
9. Die Betonung der Notwendigkeit, fortgesetzt Forschung
zu betreiben, um wesentliche psychotherapeutische
Erkenntnisse zu erlangen, und die Entschlossenheit, alle
theoretischen Formulierungen aus der Erfahrung abzulei
ten statt die Erfahrungen in ein vorgeformtes theoretisches
Schema zu pressen.
Die klientenzentrierte Therapie läßt sich am besten charakte
�isieren als eine Einstellung, eine Haltung, eine Seinsweise,
:1icht als eine Technik - mag sie nun »nicht-direktiv«, »reflek
:ierend« oder wie auch immer heißen. Die wichtigsteVoraus
setzung für die therapeutische Betätigung ist nicht eine
Theorie oder ein Dogma, sondern eine Weise mit anderen
1enschen zu sein, die für diese förderlich ist. Die Theorie
entwickelt sich aus den Erfahrungen, die in Tausenden von
Beratungs- und Beobachtungsstunden gesammelt werden,
Jnd verändert sich, wenn neue Forschungen neues Licht auf
Jnsere Formulierungen werfen.
135
4. Klientenzentrierte Lebensauffassung
Nach Jahren therapeutischer Erfahrung bin ich tastend zu der
Überzeugung gelangt, daß dem Menschen eine Tendenz zur
Entwicklung aller seiner Fähigkeiten innewohnt, die der
Erhaltung oder Förderung seines Organismus - seiner Geist
und Körper umfassenden Gesamtperson dienen. Dies ist das
einzige grundlegende Postulat der klientenzentrierten The
rapie.
In meinen Augen ist dies eine zuverlässige Tendenz, die,
wenn sie nicht behindert wird, das Individuum zu Reife,
Wachstum und einer Bereicherung seines Lebens führt. Die
ses eine Konzept schließt auch Bedürfnisreduktion, Span
nungslösung, Triebbefriedigung und Wachstumsmotivation
in sich.
Im Gegensatz zu der Auffassung, daß die tiefsten Instinkte
des Menschen destruktiv sind, bin ich zu der Überzeugung
gelangt, daß Menschen, denen (wie beispielsweise im sicheren
therapeutischen Klima) die Möglichkeit gegeben wird, wahr
haft zu werden, was sie zutiefst sind, wenn sie die Freiheit
haben, ihre eigentliche Natur zu entfalten, immer eine deut
liche Entwicklung auf Ganzheit und Integration hin durch
machen. Sohabeich an anderer Stelle gesagt (ROGERS, l961a):
»Wenn er (der Mensch) aber am vollständigsten Mensch ist, wenn ersein
ganzer Organismus ist, wenn die Bewußtheit des Erlebens, diesespezifi
sche menschliche Eigenschaft, voll wirksam wird, dann kann man ihm
vertrauen, dann ist sein Verhalten konstruktiv: nicht immer konventio
nell und konform, sondern individualisiert, aber immer auch soziali-
s1ert.«
»Sozialisiert« bedeutet in diesem Zusammenhang »in Zusam
menwirken mit anderen und sich selbst«, nicht unbedingt »in
Übereinstimmung mit der Gesellschaft«. In einer stark
repressiven Gesellschaft kann eine lebensbejahende Person
sehr leicht als Außenseiter eingestuft werden.
Es ist Verlaß darauf, daß das Verhalten einer Person in
Richtung auf Selbsterhaltung, Selbststeigerung und Selbstre
produktion hin zielt - hin zu Autonomie und fort von einer
Kontrolle durch äußere Einflüsse. Das trifft in jedem Fall zu,
ob der Anreiz nun von innen oder von außen kommt, ob die
Umwelt diese Tendenz nun begünstigt oder nicht. Dies ist das
eigentliche Wesen des Prozesses, den wir Leben nennen.
136
Ein biologisches Experiment mit Seeigeln gibt eine
anschauliche Vorstellung meines Konzepts von dieser Wachs
tumstendenz. Die Wissenschaftler haben eine Methode, die
beiden Zellen, die nach der ersten Teilung des befruchteten
Seeigeleis entstehen, auseinanderzutrennen. Wenn man diese
beiden Zellen sich normal entwickeln läßt, wächst jede von
ihnen zu einem Teil einer Seeigellarve heran - und beide
zusammen bilden dann ein Ganzes. Man könnte nun anneh
men daß die beiden Zellen, nachdem sie behutsam getrennt
worden sind, jeweils wieder zu einem Teil eines Seeigels
heranreifen. Diese Überlegung läßt jedoch die richtungswei
sende oder »aktualisierende Tendenz« außer acht, die für alles
organische Wachstum kennzeichnend ist. Tatsächlich entwik
kelt sich jede der beiden Zellen, falls sie am Leben bleibt, zu
einer ganzen Seeigellarve - die zwar kleiner als gewöhnlich,
aber normal und vollständig ausgebildet ist.
Diese Tendenz zur Ganzheit äußert sich bei Menschen
durch ein breites Spektrum von Bedürfnissen. Die Tendenz
kann den Organismus beispielsweise in einem Augenblick
veranlassen, Nahrung oder sexuelle Befriedigung zu suchen.
Doch solange diese Bedürfnisse nicht überwältigend stark
sind, wird ihre Befriedigung auf eine Weise angestrebt, die
z.B. das Verlangen nach Selbstachtung mehr steigert als es zu
vermindern. Andere Möglichkeiten der Erfüllung - wie etwa
das Bedürfnis zu explorieren, zu schaffen, zu verändern oder
zu spielen - sind ursprünglich ebenfalls durch die Aktualisie
rungstendenz »motiviert«.
Die Aktualisierungstendenz, die sich im Gesamterleben
der Einzelperson ausdrückt, bildet einen zuverlässigen
Bezugspunkt für das Verhalten. Ich glaube, daß der Mensch
klüger ist als sein Verstand allein und daß voll zur Entfaltung
kommende Personen es lernen, ihrem Erleben als dem befrie
digendsten und klügsten Maßstab für geeignetes Verhalten zu
vertrauen. Wenn das Bewußtsein dieser Aktualisierungsten
denz nicht in rivalisierender, sondern in koordinierter Form
zugeordnet ist, gestaltet sich die Begegnung der Person mit
dem Leben und seinen Herausforderungen als eine aufre
gende, adaptive und wechselvolle Erfahrung. Eine solche
Person macht zwar Fehler, aber ihr stehen auch die bestmög
lichen Mittel zur Verfügung, diese Fehler wieder zu berich
ngen.
137
5. Als Therapeut richte ich mein Verhalten nach diesem
Glauben an die natürlichen Prozesse aus, indem ich das Recht
und die Fähigkeit meines Klienten, sich selbst zu lenken und
zu wachsen, respektiere. Ich vertraue auf sein Vermögen, mit
seiner psychologischen Situation und sich selbst zurechtzu
kommen. Eine Therapeutin mit langjähriger Praxis berichtet
zum Beispiel, daß sie ihr Vertrauen in ihre Klienten als einen
fortwährenden Lernprozeß erlebt. Wenn sie bei einem Klien
ten nicht mehr weiß, welche Richtung sie einschlagen oder
welche Methode sie anwenden soll, »wartet« sie auf ihn.
»Immer, wenn ich auf meinen Klienten warten kann und
nicht glaube, ich müsse ihn sofort kurieren oder sein Wachs
tum vorantreiben, wenn ich seiner Person selbst die Lenkung
überlasse, dann beginnt er unausweichlich zu wachsen und
Fortschritte zu machen.«
Der Anfang einer Theorie: Der Prozeß im Klienten
Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir
heraus wollte. Warum war das so schwer?
HERMANN HESSE (Demian
Wenn jedes Individuum die Fähigkeit besitzt, selbstdarauf zu
kommen, durch welche Schritte es zu einer reiferen und
kraftvolleren Beziehung zu seiner Realität gelangen kann,
stellt sich die Frage, weshalb die Wirksamkeit und Qualität
des Lebens bei manchen Menschen so herabgemindert ist.
Warum suchen einige die Hilfe eines Therapeuten, und was
kann er tun, um zu helfen?
Aus meiner unmittelbaren Erfahrung, aus den therapeu
tischen Beziehungen mit meinen Klienten heraus, habe ich
angefangen, eine Erklärung für den Prozeß der Therapie zu
erarbeiten. (Eine Persönlichkeitstheorie wurde ebenfalls ent
wickelt, aber sie war immer von zweitrangigem Interesse..
Bei einer Theorie des therapeutischen Prozesses ging es mir
vor allem um eine Beschreibung des »Wie« von Veränderun
gen und weniger des »Warum«. Eine Theorie wird erst dann
nötig, wenn beobachtbare Phänomene, Veränderungen, ein
getreten sind, die nach einer Erklärung verlangen. Zuerst
kommt die Erfahrung, dann bildet sich eine Theorie. Wenn
wir uns auf diese Weise darum bemühen, das, was geschehen
138
ist, zu verstehen und zu erklären und überprüfbare Hypo
thesen hinsichtlich künftiger Erfahrungen aufzustellen, ge
winnt unsere therapeutische Arbeit an Wirksamkeit.
Eine einfache Form der Theorie
Drei wesentliche Formulierungen desTherapieprozesses sind
bis heute nacheinander entwickelt worden. In der frühesten
Darstellung der klientenzentrierten Therapie wurde der
therapeutische Prozeß als im wesentlichen aus drei Schritten
bestehend beschrieben. Als erstes findet der Klient in der
Außerung seiner persönlichen Gefühle Erleichterung. Nach
dieser emotionellen Katharsis entwickelt er gewöhnlich Ein
sicht in bezug auf die Ursache und Beschaffenheit seiner
persönlichen Schwierigkeiten. Dieses Sich-bewußt-Werden
befähigt ihn dazu, positive Wahlen und Entscheidungen
hinsichtlich der verschiedenen Probleme in seinem Leben zu
treffen. Dadurch wächst seinVermögen, sich selbstzulenken.
Diese Beschreibung des therapeutischen Prozesses wurde
durch Forschungsstudien (SNYDER, H45; SEEMAN, 1949)
bestätigt und ist noch immer ein möglicher Weg der Interpre
tauon.
Eine Theorie des Selbst
Wenn diese erste Beschreibung zwar einigermaßen angemes
sen erscheint, wurde ich doch durch meine Klienten zu einer
andersartigen Sicht gezwungen. Sie haben ihre Probleme und
ihren Fortschritt häufig in Form ihrer Beziehung zu ihrem
Selbst zum Ausdruck gebracht. »Ich habe das Gefühl, nicht
mein wahres Selbst zu sein.« - »Es war eine Erleichterung,
mich hier gehenzulassen und einfach ich selbst sein zu
können.«
Bei der Untersuchung des durch Tonbandaufnahmen von
therapeutischen Sitzungen gewonnenen Materials ist mir
aufgefallen, daß die Klienten im Lauf der Therapie eine
Veränderung in der Wahrnehmung ihres Selbst durchgemacht
haben. Es begann sich eine Theorie dieses Prozesses heraus
zubilden, die sich auf das Verhältnis zwischen Selbstkonzept
und Aktualisierungstendenz bei einer Person bezog. Ich
gelangte zu der Einsicht, daß das Selbstkonzept des Klienten
139
6. in einer Weise strukturiert ist, die »inkongruent« (im Wider
spruch) mit seinem Gesamterleben ist.
Wie kommt so etwas zustande? Das Kleinkind lebt in
einem phänomenalen Feld - seinem Lebensraum-, das alles
umfaßt, was sein Organismus bewußt oder unbewußt erlebt.
(Selbst als Erwachsene nehmen wir nur einen Teil unserer
vielfältigen sensorischen und viszeralen Reaktionen bewußt
wahr oder fassen sie in Gedanken und Worte.) Unter all den
Vorgängen innerhalb seines Lebensraums unterscheidet das
Kleinkind allmählich Erfahrungen, die sein »Mich« betreffen.
Langsam bildet sich eine zusammenhängende, strukturierte
Vorstellungsgestalt heraus. Die Wahrnehmungen dieses
»Mich« oder »Ich« sind die Figur, und die Wahrnehmungen
der Beziehung dieses »Ich« zur Außenwelt und zu andern
sind der Grund.
Diese Wahrnehmungen des »Ich« sind mit Wertvorstellun
gen verbunden, die aber zum Teil von anderen übernommen
wurden. Liebe seitens der Eltern oder einer anderen wich
tigen Bezugsperson ist an Bedingungen geknüpft. Um diesen
Personen zu gefallen und ihre Liebe zu erlangen, muß das
Kleinkind einige ihrerWertvorsteilungen introjizieren und zu
seinen eigenen machen. Da diese introjizierten Wertvorstel
lungen zu einemTeil seines Selbstkonzepts werden, der nicht
auf dem normalen Weg der Auswertung von Erfahrungen
gewonnen wurde, haben die darausentstehenden Konstrukte
rigiden und statischen Charakter - sie werden häufig in Form
eines »Sollte« oder »Müßte« erfahren. Das Individuum neigt
dazu, seinen eigenen Erfahrungsprozeß zu ignorieren, sobald
er mit diesen Konstrukten in Konflikt gerät. Es versucht,
anders gesagt, das Selbst zu sein, das andere von ihm erwar
ten, anstelle des Selbst, das es eigentlich ist. Aus diesem
Grund scheinen die Familie und andere institutionalisierte
Beziehungen in unserer Kultur häufig die Brutstätte für
psychische »Krankheit« zu sein.
Das Selbstkonzept ist nun ein Zusammenschluß vonWahr
nehmungsmustern, die zur Begegnung mit dem Leben
benutzt werden. Es kann zur Befriedigung der Bedürfnisse
einer Person wirksam beitragen oder auch nicht. Die Person
reagiert auf ihre Realität so, wie sie diese aufgrund ihres
Selbstkonzepts wahrnimmt und definiert. Eine Person kann
sich als stark oder schwach, als intelligent oder dumm, als
140
schön oder reizlos sehen. Die Art, wie sie sich selbst sieht,
beeinflußt wiederum ihre Wahrnehmung von der Realität
und damit ihr Verhalten. So kann der zuversichtliche, erfolg
reiche Student in einer Prüfung eine Gelegenheit sehen, seine
Beherrschung des Stoffs unter Beweis zu stellen. Einunsiche
rer Student mag der gleichen Erfahrung mitAngst gegenüber
stehen - als einem Beweis seiner Unzulänglichkeit.
Alles Erleben dringt zwar nicht immer ins Bewußtsein vor,
aber es manifestiert sich auf der leiblichen Ebene und beein
flußt das Verhalten. Gefühlsmäßig »wissen« wir oft Dinge,
die wir erkenntnismäßig nicht wissen. Der Student, der sich
vor einer Prüfung fürchtet, wird sich seiner Angst vielleicht
gar nicht bewußt, sondern bekommt plötzlich Kopfschmer
zen, so daß er nicht in der Lage ist, an der Prüfung teilzuneh
men. Wenn er von seinen Gefühlen noch mehr abgetrennt ist
oder sie nicht ins Bewußtsein treten läßt, kann er die Prüfung
unter Umständen völlig »vergessen« und an dem bestimmten
Tag einfach vom Unterricht fernbleiben.
Jeder Aspekt des Erlebens findet die Aufnahme, die seiner
Beziehung zum Selbst entspricht. Einige Phänomene werden
ignoriert, da sie für das Selbst ohne Bedeutung sind. Andere
Phänomene werden bewußt wahrgenommen und in die
Selbststruktur eingegliedert. Noch andere drängen sich
offenbar von selbst ins Bewußtsein. Zum Beispiel hat sich ein
Freund von mir ein ziemlich selten anzutreffendes auslän
disches Auto gekauft. Bevor er selbst Besitzer eines solchen
Wagens wurde, hatte er nie einen gesehen. Jetzt kommenihm
diese Wagen andauernd zu Gesicht - sie springen anscheinend
von selbst in den Blickpunkt. Sie sind für ihn von Bedeutung.
Noch andere Phänomene werden geleugnet oder verzerrt
wahrgenommen, weil sie eine Bedrohung für die festgefügte
Wahrnehmung vom Selbst darstellen - um sie zu akzeptieren,
müßte eine Person ihre Vorstellung von sich selbst verändern.
Solange die Selbstgestalt fest organisiert ist und im phäno
mentalen Feld kein zu ihr imWiderspruch stehendes Material
wahrgenommen wird, können positive Selbstgefühle beste
hen, kann das Selbst als wertvoll und akzeptabel betrachtet
werden und ist die bewußte Spannung minimal. Die Person
nimmt sich als angemessen funktionierend wahr.
Wenn die organisierte Selbststruktur den Bedürfnissen des
Individuums nicht mehr gerecht wird oder wenn dieses in
141
7. sich Widersprüche bemerkt, verliert es offenbar die Kontrolle
über sein Verhalten. »Ich fühl' mich einfach nicht wie ich
selbst«, ist eine oft geäußerte Klage. Als einfaches Beispiel
könnte man eine Mutter anführen, die sich als freundliche
und liebevolle Bezugsperson betrachtet, zugleich aber auch
ablehnende Gefühle gegenüber ihrem Kind hat. Ihr Konzept
von sich selbst als einer liebevollen Mutter ist inkongruent
mit ihrem Erleben. Sie ist einfach nicht »sie selbst«, wenn sie
sich als ablehnend erlebt.
Bei starker Inkongruenz nimmt die Aktualisierungsten
denz einen wirren oder zwiespältigen Charakter an. Auf der
einen Seite unterstützt diese Tendenz das Selbstkonzept der
Person und deren Bemühen um eine Steigerung ihres Selbst
bildes. Andererseits strebt der Organismus nach einer Befrie
digung seiner Bedürfnisse, die den bewußten Wünschen der
Person ganz entgegengesetzt sein können.
Was gewöhnlich als neurotisches Verhalten bezeichnet
wird, ist die Folge dieser Spaltung in der Aktualisierungsten
denz. Die Person bemüht sich um ein Verhalten, das mit
ihrem Selbstkonzept übereinstimmt. Aber ihr neurotisches
Verhalten - in welchem das gesamte Sein der Person nach
Erfüllung strebt - ist sogar für sie selbst unbegreiflich, da es
im Widerspruch steht zu dem, wassiebewußttun »möchte« -
nämlich ein Selbst verwirklichen, das mitihrem Erleben nicht
mehr übereinstimmt. »Was ich tun sollte oder tun möchte.
das tue ich nicht.« So wurde beispielsweise ein junger Bur
sche, der sich in der Pubertät befand und den starken
organischen Bedürfnissen seiner sich entwickelnden Sexuali
tät und Neugierde ausgesetzt war, festgenommen, weil er
zwei kleinen Mädchen unter den Rock geschaut hatte. Durch
seine Erziehung war ihm beigebracht worden, die ursprüng
lichen sexuellen Impulse als Teil seines Selbstkonzepts zu
verleugnen, und als man ihn über sein Verhalten befragte.
bestand er hartnäckig darauf, daß er so etwas nie getan haben
könne. Als man ihn Zeugen gegenüberstellte, war er sich ganz
sicher: »Ich war nicht ich selbst.« SeinVerhalten wurde weder
als seinem Selbst zugehörig wahrgenommen, noch war es das.
Unter geeigneten Bedingungen, beispielsweise im sicheren
therapeutischen Klima, kann eine Person diese Inkongruenz
verringern, indem sie lernt, stärker auf ihr erlebendes Selbst
zu vertrauen. Wenn sie sich nicht bedroht fühlt und ihr
142
Selbstkonzept nicht unbedingt verteidigen muß, kann sie die
rigiden Konstrukte, aus denen sich ihre Selbststruktur
zusammensetzt, lockern. Indem sie derart »ihre Gefühle in
Besitz nimmt« - und eine ganze Reihe von vormals verleug
neten Erfahrungen in ihre Selbstgestalt eingliedert -, bildet
sich eine neue Gestalt, ein revidiertes Selbst heraus. Diese
neue Struktur ist nicht so rigide und unflexibel, sondern
wandelt sich öfter, wenn Gefühle im Bewußtsein Raum
finden. Die Therapie ist eine Erfahrung unmittelbar des Selbst
und nicht über das Selbst. Intellektuelle Einsicht allein reicht
nicht aus. Änderungen imVerhalten stellen sichfast von selbst
ein, wenn eine Reorganisation der Wahrnehmungsstruktur
erlebt wird.
Die neue Selbstgestalt ist eine fließende, veränderliche
Struktur, wobei das eigene Erleben immer mehr zur Grund
lage der Selbstbewertung wird. Am Endpunkt der Therapie
was nicht das Ende von Wachstum oderVeränderung bedeu
tet) erscheint die Wahrnehmung des Selbst radikalgewandelt.
Sie ist fließender, nicht mehr so starr und statisch, das »Ich«
hat sich fast im Wahrnehmungsfeld verloren. In mancherlei
Hinsicht gleicht das Erleben der Person jetzt dem eines
Kindes, nur daß die fließenden Erlebnisprozesse weitere
Bereiche umfassen. Das reife Individuum vertraut wie das
Kind auf die Weisheit seines Gesamtorganismus, aber auf
wissende, auf bewußte Weise. Es gebraucht alle seine Fähig
keiten.
Die Theorie des Selbst bietet ebenso wie die vorangegan
gene Theorie in ihrem Rahmen eine angemessene Beschrei
::,ung. Durch ihren heuristischen Charakter hat sie zu frucht
::iarer Forschungsarbeit angeregt. Man kann diese Beschrei
:rnng des Therapieprozesses noch immer als gültig be
:rachten.
Das Prozeßkontinuum
1it dem Wandel der Selbstgestalt wurde ein einzelner Aspekt
der therapeutischen Veränderung beschrieben, und zwar wie
:nit Schnappschüssen, die vor und nach dem Ereignis erfol
,::en. Was ich nun brauchte, war gleichsam eine fortlaufende
�ilmaufnahme der zahlreichen Dimensionen. Es ging mir um
eine Beschreibung, die der BROWNSchen Bewegung - den
143
8. fortwährend wechselndenAspekten - dieser Gestalten besser
gerecht wurde und die auch andere, in Zusammenhang mit
der therapeutischen Veränderung auftretende Phänomene
detailliert erfaßte.
Aufgrund der Untersuchung einer großen Zahl von Ton
bandaufnahmen bin ich zu einer neuen Sichtweise des Verän
derungsprozesses in der Psychotherapie gelangt. Nach die
sem neuen Bild findet dieser Prozeß auf einer Reihe von
Kontinuen statt. Ein Klient beginnt die Therapie an irgend
einem Punkt des umfassenden Prozeßkontinuums, das der
Handlichkeit halber in sieben Stufen unterteilt ist, und macht
Veränderungen in Richtung auf den Endpunkt der Skala hin
durch (ROGERS, 1961a; 1961b). Während die Therapie ein
Prozeß ist, läßt sich die Skala, unser Bild von diesem Prozeß.
mit sieben Ausschnitten aus einem Film vergleichen, die die
Bewegung an diesen Punkten festhalten. Kein Klient verän
dert sich von Stufe eins bis Stufe sieben, außer vielleicht irr.
Laufe vieler Jahre, aber die Skala ist dennoch ein sehr
nützliches Mittel, um den Prozeß, der sich in der Therapie
vollzieht, zu beschreiben und zu untersuchen.
Die Skala beginnt am einen Ende mit der Beschreibuns
eines rigiden, statischen, undifferenzierten, gefühllosen.
oberflächlichen Typs der psychischen Funktion. Sie schreite:
stufenweise voran bis zum andern Ende, wo die psychischer.
Funktionen gekennzeichnet sind durch Veränderlichkeit.
fließen, äußerst differenzierte Reaktionen, durch unmittel
bares Erleben persönlicher Gefühle, die tief empfunden, al,
zugehörig erkannt und akzeptiert werden. Ich wage zc
behaupten, daß sich bei jeder erfolgreichen Therapie irr.
Verhalten des Klienten Fortschritte in dieser Richtung ein
stellen, gleich, auf welcher Stufe er anfängt.
Bei meinem Bemühen, dieses Prozeßkontinuum zu verste
hen, konnte ich eine Anzahl von mehr oder weniger geson
derten Strängen herauslösen, die allerdingsim oberen Bereicl-.
der Skala konvergieren. Hier eine Beschreibung von ihnen
1. Veränderung in der Beziehung zu den Gefühlen. Ar..
unteren Ende des Kontinuums sind dem Klienten seint
Gefühle nicht bewußt oder sie werden von ihm nicht al,
zugehörig erkannt. Eine Anstaltspatientin erklärt beispiels
weise: »Ich werde dauernd von Stimmen belästigt, d::
144
schmutzige Sachen sagen, und ich kann sienichtzum Schwei
gen bringen.« Sie erkennt die Beziehung zwischen sich und
ihren Gefühlen nicht an. Wenn sie wenigstens in der Lage
wäre, zu sagen: »Meinesexuellen Gefühlequälen mich«, wäre
sie innerhalb des Kontinuums ein ganzes Stück weiter. Auf
einer fortgeschritteneren Stufe beschreibt der Klient Gefühle
vielleicht als Objekte, die in der Vergangenheit liegen, er
intellektualisiert diese Gefühle, aber er vermag sie noch
immer nicht in Besitz zu nehmen.
Im mittleren Bereich der Skala, wo sich ein Großteil des
therapeutischen Geschehens abspielt, beschreibt der Klient
seine Gefühle als Objekte in der Gegenwart. Gelegentlich
drückt er seine Gefühle sogar in der Gegenwart aus, wenn sie
gegen seinen Willen durchbrechen. Er fürchtet sich davor,
Gefühle in unmittelbarer Gegenwart zu erleben.
Auf den obersten Stufen der Skala kommt es dann zu
.ußerungen wie: »Ich habe die Empfindung, als ob ich- ich
weiß nicht. Ich habe ein Gefühl von Stärke und zugleich auch
ein Gefühl von- es ist irgendwie furchtbar, das wahrzuneh
men - von Angst.« Diese Klientin äußert ihre Gefühle im
.-ugenblick, sie kann sie gleichzeitig erleben, empfinden,
differenzieren, in Besitz nehmen und ausdrücken.
]. Veränderung in der Art des Erlebens. Der therapeutische
Prozeß läßt sich auch anders, nämlich unter Bezugnahme auf
die Erlebnisweise des Klienten formulieren - ein Konzept,
das vor allem von GENDLIN entwickelt wurde (GENDLIN,
1961; 1962; 1963).
Der Klient bewegt sich auf eine Stufe zu, wo er seinem
Erleben nahesteht, ihm vertraut und es als Bezugspunkt
betrachtet, an dem er sein Verhalten ausrichten kann. Er ist
nicht mehr gekennzeichnet durch Entferntheit des Erlebens
und entdeckt dessen Sinn nicht erst aus großer zeitlicher
Distanz.
Bezeichnend für einen niedrigen Punkt innerhalb des
Kontinuums ist die Art, wie ein Klient ein Problem zu
beschreiben versucht, aufgrund dessen er therapeutische
Behandlung gesucht hatte: »Das Symptom war - war einfach
eine tiefe Depression.« Er hatte offenbar irgendwann eine
tiefe Depression erlebt, aber er kommt diesem Erlebnis nicht
näher, als daß er es begrifflich in derVergangenheitfaßt-und
145
9. damit von sich abrückt. Nicht er war deprimiert. Es war
einfach ein Symptom. Er ist von seinem gegenwärtigen
Erleben so abgetrennt, daß er es nicht wahrnimmt.
Mit wachsenden Fortschritten in der Therapie kommen
Klienten immer näher an ihr eigenes Erleben heran. Ihr
Erleben ist für sie keine so große Bedrohung mehr, und sie
merken, daß es vielleicht als Bezugspunkt und Grundlage für
ihre persönliche Sinngebung dienen könnte. So sagt beispiels
weise ein Klient in bezug auf das, was in ihm vorgeht: »Ich
hab' es noch nicht so richtig erfaßt, ich kann es nur irgendwie
beschreiben.« Er weiß, daß er nicht ganz im Fluß seines
Erlebens steht, aber er möchte es gern.
Auf einer noch höheren Ebene innerhalb des Kontinuums
werden persönliche Bedeutungen (oder Gefühle), dievonder
Gewahrwerdung ausgeschlossen waren, nahezu voll erlebt -
zuweilen allerdings mit Angst, Mißtrauen oder Verwunde
rung. Der Klient möchte nicht nur seine eigenen Gefühle in
Besitz nehmen, sondern auch sein »wahres Ich« sein. Er wird
sich in wachsendem Maß der Diskrepanzen zwischen seinem
aufgebauten Selbst und seinem aktuellen Erleben bewußt und
stellt sich ihnen. Wie ein Klient es ausdrückt: »Man muß sich
von seinem Erleben dessen eigene Bedeutung sagen lassen; in
dem Moment, wo ich ihmdie Bedeutung gebe, bin ich mit mir
selbst zerstritten.« Diese Art von Reaktion ist charakteri
stisch für jemanden, der sehr weit bis zum oberen Ende der
Skala vorgedrungen ist.
3. Veränderung in denpersönlichenKonstrukten. Einweiterer
Strang innerhalb des Prozeßkontinuums ist eineVeränderung
in der Art und Weise, wie der Klient sein Erleben deutet. Am
unteren Ende der Skala sind seine persönlichen Konstrukte in
bezug auf sich selbst und seine Welt starr und werden als
objektive Tatsachen betrachtet und nicht als Konstrukte
erkannt. So sagt ein Klient beispielsweise: »Ich mache niE
etwas richtig - bring' nichts zu Ende.« Das scheint für ihr.
eine Tatsache zu sein - die Art und Weise, wie die Dinge nun
einmal beschaffen sind. Im sicheren Klima der Therapie fängt
er dann vielleicht an, dieses Konstrukt in Frage zu stellen.
In der Mitte der Prozeßskala wird das Erleben nicht mehr
so rigide gedeutet, und die Gültigkeit solcher Konstrukte
überhaupt wird angezweifelt. Es ist verständlich, daß sie!-:
146
Klienten auf dieser Stufe von ihren Verankerungen losgeris
sen fühlen.
Am oberen Ende des Kontinuums wird das Erleben nur
noch versuchsweise strukturiert. Die Konstrukte, an denen
das Individuum sein Leben ausgerichtet hat, lösen sich in
einer Unmittelbarkeit des Erlebens auf. Deutungen werden
als eigene Schöpfungen der Person betrachtet, nicht als die
einer Situation innewohnende Qualität. Konstrukte werden
ebenso leicht aufgestellt wie fallengelassen. Bedeutung ist
etwas, das einer Erfahrung zugemessen wird, und nicht
etwas, das unausweichlich mit dieser Erfahrung verknüpft
!St.
-+. Veränderung in der Mitteilung desSelbst.Am unteren Ende
dieses Stranges besteht eine starke Abneigung dagegen, das
Selbst mitzuteilen. Klienten geben häufig Äußerungen von
sich wie: »Wissen Sie, mir kommt es immer ein bißchen
albern vor, über sein Selbst zu sprechen, außer wenn es einem
sehr schlecht geht.« Aufdieser Stufe werden nur Mitteilungen
über äußere Vorgänge und nicht zum Selbst gehöriges Mate
rial gemacht.
Allmählich lernt der Klient, daß es ungefährlich und sogar
befriedigend ist, wenn er von sich als einem Objektberichtet.
Er kann sich freier über sein Selbst und über dinghaft
gesehene Erfahrungen äußern, die dieses Selbst betreffen.
Dann lernt er, seine Selbstgefühle in Besitz zu nehmen und
auszudrücken.
Am oberen Ende des Kontinuums wird das Selbst nicht
mehr als Objekt wahrgenommen. Das Selbst istdas Erleben,
dieser fortschreitende Prozeß, der vonAugenblickzuAugen
:ilick wechselt. Die Person verliert ihr Bewußtsein vom
Selbst. Das »Ich« geht im Wahrnehmungsfeld auf. Die Person
:indet Befriedigung darin, ihre komplexen augenblicklichen
Gefühle zu sein und auszudrücken. Sie ist enger verbunden
mit ihrem organischen, viszeralen Erleben, das ständig in
:::inem Prozeß begriffen ist. Sie ist sich ihrer selbst viel stärker
::iewußt und beginnt zu spüren, daß sie die Stimmigkeit ihres
:1ach außenhin sichtbar werdenden Selbst am Fluß des organi
;chen Erlebens in ihr messen kann.
147
10. 5. Veränderung in der Beziehung zu Problemen. Am unterer.
Ende dieses Stranges erkennt der Klient Probleme gar nich:
oder nimmt sie als völlig außerhalb seiner selbst liegend wahr.
Ein Patient einer psychiatrischen Anstalt äußert: »Ich schlafe
ein bißchen zuviel. Ich habe einen schlimmen Zahn und nod:
einige ähnliche Probleme.« Er ist sich des Problems, dasseine
Funktionsfähigkeit beeinträchtigt, nicht bewußt und fühl:
sich daran auch nicht beteiligt.
Wenn der Klient in derTherapie zunehmend lockerer wird.
nimmt er mehr Probleme wahr undgewinnt ein Gefühl seine�
eigenen Verantwortlichkeit. Er kann allmählich der Tatsache
ins Auge sehen, daß seine Gefühle in Beziehungen zu anderer.
das Hauptproblem darstellen. Zunehmend hat er das Bedüri
nis, die inneren Reaktionen zu untersuchen, welche diese
Schwierigkeit verursachen könnten. Er lernt diese problema
tischen Gefühle in der Beziehung mit dem Therapeuter.
auszuleben, und indem er sie akzeptiert, erlangt er die
Fähigkeit, sie auf konstruktivere Weise einzusetzen.
6. Veränderung in zwischenmenschlichen Beziehunger.
Schließlich läßt sich aus dem Kontinuum noch der Strani:
herauslösen, der die Beziehungen zu anderen betrifft. A,;
unteren Ende des Kontinuums scheut sich der Klient vo�
einem engen persönlichen Kontakt und weiß ihn mit vielerle:
Mitteln zu umgehen, unter anderem durch Intellektualisie
rung. Er stellt dem Therapeuten Fragen. Er möchte seine
Rolle einwandfrei spielen, ein guter Klient sein. Er vermeide:
es, sich als Person in das gefährliche und unbekannte Gebie:
der zwischenmenschlichen Beziehung zu wagen. Allmählid:
lernt er es, seine Gefühle als eine sichere Basis zu betrachten.
auf der er sich vorantrauen kann. So wagt beispielsweise eir.
Klient, zu seiner Therapeutin zu sagen: »Also gut, ich traue
Ihnen nicht.« In wachsendem Maß wagt er es, in der thera
peutischen Beziehung als ein ständig wechselnder, aber inte
grierter Fluß von Gefühlen offen in Erscheinungzu treten. E�
kann seine Gefühle gegenüber dem Therapeuten frei äußern
Er erkennt, daß er fähig ist, eine Beziehung auf der Basis des
Fühlens zu leben.
7. Das obere Ende des Kontinuums. Am oberen Ende de�
Skala werden diese Stränge eins. Die siebte oder letzte Stuit
148
der Skala ist eher eine Richtung oder ein Ziel als etwas, das
vollständig erreicht wird. Es ist eine Beschreibung des »voll
sich entfaltenden Menschen« (ROGERS, 1961a).
Auf dieser Stufe fürchtet die Person sich nicht mehr davor,
Gefühle unmittelbar und reich differenziert zu erleben, und
zwar sowohl in der Therapie als auch in anderen zwischen
menschlichen Beziehungen. Dieses Aufwallen von augen
blicklichem Erleben stellt einen Bezugspunkt dar, dem die
Person entnehmen kann, wer sie ist, was sie will und welche
positive oder negative Einstellungen sie hat. Sie akzeptiert
sich selbst und vertraut auf ihren organismischen Prozeß, der
weiser ist als ihr Verstand allein (oder ihr Körper allein). Jedes
Erlebnis trägt seine eigene Bedeutung und wird nicht wie ein
vergangenes Konstrukt interpretiert. Das Selbst der Person
ist ihr subjektives Bewußtsein von dem, was sie im Augen
blick erfährt. Sie ist kongruent geworden, kann ihr Erlebenin
ihrem Bewußtsein angemessen symbolisieren und vermag
diese Einheit mitzuteilen.
Damit ist das Prozeßkontinuum kurz umrissen, das sich
aus der Beobachtung an Klienten entwickelt hat, welche die
Veränderung von einem starren zu einem fließenden Zustand
erlebten. Es ist eine Beschreibung der Transformationen, die
sowohl beobachtet wie erlebt werden können, wenn eine
Person sich in einer förderlichen und therapeutischen Bezie
hung zur psychischen Reife hin entwickelt.
Therapeutisches Klima: Der Prozeß im Therapeuten
Welches sind nun die Bedingungen für ein solches therapeu
:isches Klima? Wie kann der Therapeut eine Entwicklung im
Prozeßkontinuum am besten fördern?
Forschungsarbeiten über die klientenzentrierte Psycho
:herapie legen die Annahme nahe, daß eine Persönlichkeits
·:eränderung - ein Voranschreiten auf der Prozeßskala- mehr
3urch bestimmte Einstellungen des Therapeuten als durch
sein Wissen, seine Theorien oder seine Techniken gefördert
-;,:ird (RIOCH, 1960; TRUAX U. MITCHELL, 1971).
Der zentrale Lehrsatz der klientenzentrierten Psycho
:herapie, der als »Prozeßgleichung« (ROGERS, 1961b) formu
:,ert wurde, lautet:
149
11. »Je mehr der Klient den Therapeuten als real oder echt, als empathiscC.
und ihn bedingungsfrei akzeptierend wahrnimmt, desto mehr wird sicC.
der Klient von einem statischen, gefühlsarmen, fixierten, unpersönliches
Zustand psychischer Funktionen auf einen Zustand zu bewegen, de,
durch ein fließendes, veränderliches, akzeptierendes Erleben differec
zierter persönlicher Gefühle gekennzeichnet ist.«
In einer Reihe von Forschungsarbeiten wurde die Beziehuns:
zwischen den Einstellungen des Therapeuten und der Wirk�
samkeit der Therapie untersucht. HALKIDES (1958) ließ Ton
bandprotokolle von Therapiegesprächen durch objekti:
Beurteiler einschätzen, um die Gültigkeit der »notwendige�
und ausreichenden Bedingungen« (ROGERS, 1957) für eine
therapeutische Veränderung zu überprüfen. Ihre Untersu
chung stützt die oben vorgetragene Hypothese.
BARRETT-LENNARD (1959) kam aufgrund eines Papier-unc:
Bleistift-Tests, den er an Klienten eines Beratungszentrum,
durchführte, zu dem Ergebnis, daß das Vorhandensein de,
genannten drei Einstellungen auf seiten des Therapeute:-:
Vorhersagen über den Erfolg einer Therapie erlaubt.
VAN DER VEEN (1970) fand heraus, daß schizophrer.:
Anstaltspatienten, deren Therapeuten nach objektiver Eir.
schätzung diese drei Bedingungen in stärkerem Maß erfüL
ten, auf der Prozeßskala größere Fortschritte machten a_,
Patienten, deren Therapeuten diese Bedingungen in geringe
rem Maße erfüllten. Das Ausmaß an Veränderung in de:
Therapie stand in direktem Zusammenhang sowohl mit de�
wahrgenommenen als auch mit den tatsächlich vorhandene�
therapeutischen Bedingungen.
TRUAX und MITCHELL (1971) kommen aufgrund eine,
Untersuchung des veröffentlichten Materials über die Wirk
samkeit von Psychotherapie zu dem Schluß, daß die ther"
peutischen Bemühungen im Durchschnitt zwar ziemlic
fruchtlos bleiben, daß aber Therapeuten, die die drei obc
erwähnten Eigenschaften mitbringen, tatsächlich Erfok:
erzielen. Sie berichten über eine an der Universität v;�
Wisconsin durchgeführte, einen Zeitraum von vier Jahre�
umfassende Untersuchung über die psychotherapeutisd::
Behandlung von sechzehn schizophrenen Ansta!tspatiente:-:
Der Befund dieser Untersuchung war, daß Patienten, dere:-:
Therapeuten in hohem Maß nichtpossissive Wärme, Echthe::
und präzises einfühlendes Verstehen besaßen, anhand de:
150
verschiedensten Messungen signifikante positive Persönlich
keits- und Verhaltensänderungen aufwiesen, während bei
Patienten, deren Therapeuten relativ wenig von diesen Eigen
schaften in die Therapie einbrachten, eine Persönlichkeits
und Verhaltensänderung zum Schlechteren hin eintrat.
Diese Einstellungen, die dem Klienten (verbal oder nicht
-erbal, aber nicht erklärend) mitgeteilt und von ihm auch
wahrgenommen werden müssen, sind offenbar die entschei
denden Voraussetzungen für einen therapeutischen Fort
schritt und konstruktive Persönlichkeitsveränderungen.
Wegen der ausschlaggebenden Bedeutung der Einstellun
gen des Therapeuten für die Wirksamkeit der Psychotherapie
möchte ich ihre Merkmale hier genauer definieren.
Echtheit oder Kongruenz - reales Zugegensein
Ein therapeutischer Erfolg stelltsich mitgrößterWahrschein
lichkeit dann ein, wenn ich in der Beziehung zu meinem
Klienten ohne Maske oder Abwehr ich selbst bin. Was ich zu
meinem Klienten sage, steht nicht im Widerspruch zu dem,
was ich ihm gegenüber fühle. Ich speise ihn nicht mit
bewährten Phrasen, ausgeklügelten Wendungen oder einer
professionellen Haltung ab. Mein Mangel an Abwehr, meine
Echtheit tragen wesentlich dazu bei, daß zwischen uns ein
-enrauensvolles Verhältnis entsteht und aufrechterhalten
wird.
Mein echtes Zugegensein wirkt sich in meinen therapeuti
schen Beziehungen auf vielerlei Weise aus. Es dient mir als
Richtlinie für meine Reaktionen oder Eingriffe. (In diesem
Zusammenhang soll an die von GENDLIN [1970] aufgestellte
:ormulierung erinnert werden, der zufolge »reagieren«
sowohl »verstehen« wie auch »hinweisen« oder sogar
„Genaueres darüber wissen wollen« bedeuten kann.) Ich
::iemerke, daß mein Klient häufig Erleichterung spürt, wenn
:eh auf den von ihm »gefühlten Bedeutungsgehalt« reagiere.
'enn er sein viszerales Erleben mit einem zutreffenden
:'amen oder Etikett verbinden kann, fühlt er sich körperlich
erleichtert. Und wenn ich wiederum sein Gefühl, voranzu
:-:ommen, seinem eigenen Erleben näherzukommen, mitemp
:inde, dann weiß ich, daß ich auf der richtigen Spur bin.
Mir geht es vor allem darum, meinen Klienten seinem
151
12. eigenen Erlebensprozeß (HART, 1970) näherzubringen - ihm
zu ermöglichen, daß er seine Gefühle erkennt, akzeptiert und
in Besitz nimmt und ihnen die für ihn gültige Bedeutung
beimißt. Wenn meine Reaktionen also wirksam sind, unter
stützen sie ihn bei seinem Bemühen, in seinem Erlebenspro
zeß über seine »Blockierungen« hinwegzukommen. Sein
Kampf auf der Suche nach immer neuen gefühlten Bedeu
tungsgehalten soll durch meine Reaktionen gefördert wer
den. Ich empfinde es als natürlich und nützlich, wenn ich in
diesem Prozeß meine Gefühle zum Ausdruck bringe, Fragen
beantworte, falls ich ein Bedürfnis danach habe, und unver
nünftige Gedanken oder Phantasien in bezug auf meinen
Klienten oder unsere Beziehung mitteile, falls solche bei mir
anhaltend bestehen.
Wenn meine Reaktionen keine Veränderung und keinen
Anstoß bewirken - wenn sie für den Kampf meines Klienten
keine Bedeutung haben -, beziehe ich mich sofort wieder
zurück auf seinen Erlebensfluß. Wenn ich beispielsweise zu
einer Äußerung von ihm meinen Eindruck wiedergebe oder
die Grenze dessen, was ihm bewußt ist, überschreite, und er
erwidert darauf etwas in der Art wie:»Ja, das klingt so, als ob
es stimmen würde«, kann ich meine ihn ablenkende Bemer
kung korrigieren, indem ich zum Beispiel sage:»Esklingt, als
ob es stimmen würde, aber es trifft nicht ganz Ihre Gefühle.
Sie haben gerade davon gesprochen ...« und ihn dadurd:
wieder zum Fluß seiner Gefühle - seines Erlebens zurück
führe. Dieser Prozeß ist vergleichbar mit dem Versuch, am
einem Labyrinth herauszufinden. Ich gehe einen Gang ent
lang, und wenn sich dieser als Sackgasse erweist, gehe id:
zurück bis zur Kreuzung und probiere einen anderen Wef
aus.
In der therapeutischen Beziehung nichtecht oder nicht rea:
zu sein bringt dagegen überhaupt keinen Nutzen.Unnatürli
che Ausdrucksformen - beispielsweise die Benutzung des
Verhaltensstils oder der Technik einer anderen Person -
können für die therapeutische Beziehung und für die persön
liche Entwicklung des Therapeuten schlimme Folgen haben.
Ein Berater berichtete mir von einem Erlebnis aus seine:
Ausbildungszeit. Er behandelte unter Aufsicht eine sehr
schweigsame Klientin. Seine Ausbilder erklärten ihm, er
würde zuviel reden (als er sich natürlich gab), und so wandte
152
warten, bis seine Klientin von sich aus zu sprechen begann. Er
wartete, und die junge Damewarteteebenfalls. Er quälte sich,
sie quälte sich, beiden war äußerst unbehaglich zumute, und
schließlich begannen sich gegen Ende der Sitzung auf ihrem
>J"acken große rote Flecken zu bilden.Er hatte seine echten
Gefühle zurückgehalten, und ihrUnbehagen brach buchstäb
lich durch die Haut.
In dem Zeitraum zwischen dieser ersten, sehr unbehag
lichen Sitzung und der nächsten nahm der Therapeut zum
erstenmal an einer Encounter-Gruppe teil. Im Klima einer
Gruppe von Personen, die ihre Gefühle in einer Beziehung
auszuleben versuchten, entdeckte er, daß er ungefährdet
realen persönlichen Kontakt aufnehmen - anderen Menschen
gegenüber echt sein konnte.Dies war für ihn ein tiefgreifen
des Erlebnis, und als er wieder in die Ausbildung zurück
kehrte, hatte er eine vollkommen veränderte Auffassung von
einer Beziehung zu einer anderen Person. Ihm lag stärker
daran, real zu sein, er war akzeptierender, natürlicher und
zufrieden damit, sich selbst in die Beziehung einbringen zu
können und der natürlichen Wachstumstendenz des Indivi
duums die Heilung zu überlassen. Bei der nächsten Sitzung
mit der schweigsamen jungen Frau hatte er das Gefühl,
wirklich »da« zu sein, und die Veränderung in ihrer Bezie
hung und die Fortschritte, die sie machte, waren bemerkens
wert. Er brauchte sich nicht mehr direktiv zu verhalten und
natte es ebenfalls nicht mehr nötig, eine nicht-direktive Rolle
zu spielen.Er wareinfach er selbst.Seine Klientin konnte sich
,hrem eigenen Erleben annähern, als er, der Therapeut, auf
sein Erleben vertraute - als er real war.
Der Bericht eines jungen angehenden Beraters über seine
ersten unbeholfenen Therapieversuche gibt ebenfalls die
Erfahrung wieder, welcher Wert dem Realsein zukommt:
Das erstemal, als eine Klientin mit einem schwierigen per
,cinlichen Problem zu mir kam, mein erster »Fall<, traf mich
3ie Frage: ,Wer bin ich, daß ich dieser Patientin helfen
;;,önnte?< Alle Theorien, die ich mir angeeignet hatte, zerbrök
:-;.elten einfach, und ich hatte nichts Greifbares in der Hand.
:eh fühlte, wie ich in einem Meer versank, das ich selbst
c:eschaffen hatte. Ich hatte zahlreiche Therapieverläufe von
3ekannten und von mir selbst studiert, aber jetzt in den
153
13. Prozeß einer völlig fremden Person bezogen zu sein - id:
fühlte mich einfach verloren.Jetzt fühle ich mich nicht mehr
verloren. Ich bin über dieses Gefühl sogar schon in jene�
ersten Sitzung hinweggekommen ... Sobald ich eingestieger:
war, damals in dieser ersten Sitzung, war meine Beratungs
theorie weg, und ich fiel zurück auf ein Wertsystem, da,
sozusagen automatisch da war. Das war nicht geplant gewe
sen. Ich betrachtete mich nicht einmal als ,nicht-direkti
oder ,reflektierend<, aber als ich Schwierigkeiten hatte.
begann ich meiner Klientin einfach zuzuhören, versuchteid:.
ihre Gefühle zu verstehen und ihr dabei zu helfen, sie zc:
klären. Das waren Werte, die ich in meiner Kindheit erwor
ben hatte. In den ersten paar Minuten, als ich mich verlore,.
fühlte, dachte ich nur an mich - wie ich mich verhalten sollte.
was ich tun sollte. Des einen war ich mirjedenfalls sicher, da:;
es nicht das sein würde, was ich zu tun beabsichtigt hatte. Icr:
begann mich auf das einzustellen, was meine Klientin sagte
Das gelang mir zuerst nicht allzu gut, aber ich versicherte ihr.
daß ich mein Bestes tun wolle.AmSchluß der Sitzungfühlte,.
wir uns beide behaglicher, und jeder von uns hatte einige
Dinge, die ihn betrafen, richtiggestellt.« Er lernt, in eine:
Beziehung real - er selbst - zu sein und darauf zu vertrauer:.
daß diese Haltung der Veränderung, die er und sein Klier.:
anstreben, förderlich ist.
Echt sein bedeutet, in einer Beziehung ich selbst zu seir:.
die Person, die ich bin, ohne Fassade, undderanderen Perso;.
meine gefühlsmäßigen Wahrnehmungen mitzuteilen, au,
meinem eigenen Erlebensprozeß heraus zu reagieren, ur:-.
meinem Klienten die Suche nach gefühlten Bedeutungen L
erleichtern.
Wertschätzung oder bedingungsfreies Akzeptieren
AlsTherapeut ermutige ich meinen Klienten nicht zu »Selbs:
mitleid« oder »Vertrauen«, und ich »verstärke« bei ihm auci
nicht irgendwelche bestimmten Gefühle oder Verhaltenswei
sen. Ich ermutige und akzeptiere den freien Ausdruck alle�
Gefühle. Meine Haltung ist weder patriarchalisch noc:...
gefühlvoll noch oberflächlich freundschaftlich oder liebens
würdig - ich schlüpfe nicht in eine Rolle.Meine Haltung is:
entgegenkommend, positiv, warm, aber nicht besitzergrei-
154
fend, nicht einschränkend und nicht wertend. Ich akzeptiere
das, was ist. Wenn ich in dieser Weise erlebe - dieses Klima
schaffe -, höre ich von meinen Klienten, daß sie in der Lage
seien, über das zu sprechen, was ihnen wirklich Probleme
:iereitet. Sie können die »schrecklichen Orte« in sich erkun
den, nicht nur die an ihr Alltagserleben angrenzenden siche
�en Territorien.
Es fällt schwer, nicht zu urteilen. Die Einstellung, die ich
:neine, umfaßt in gleicher Weise die Annahme defensiver,
:eindseliger, negativer und schmerzlicher Gefühlsäußerun
,:;en des Klienten wie seiner liebevollen, reifen oder positiven
Gefühlsäußerungen.Für vieleTherapeuten ist es schwieriger,
3ie positiven, freudigen Gefühle zu akzeptieren, denn Thera
:.ieuten neigen dazu, diese mißtrauisch als Abwehr zu be
:rachten.
Ich bin in vielerlei Hinsicht leichtgläubig und akzeptiere
:neinen Klienten als den, der er zu sein behauptet, ohne
·.rntergründig zu argwöhnen, daß er vielleicht anders sein
�önnte. Ich akzeptiere das, was in meinem Klienten ist, nicht
Jas, was in ihm sein sollte. Einer hat es einmal soausgedrückt:
,Hier bei Ihnen kann ich immer einfach ich selbst sein.Ich
:nache mir nie Gedanken darüber, ob ich mich richtig ver
:1alte.Und wenn ich von hier fortgehe, fühle ich mich immer
;ehr viel kreativer - und dieses Gefühl dauert hinterher an.«
Wenn ich eine Person auf der Stufe, wo sie zu sein meint,
1kzeptiere, gebe ich ihr offenbar die Möglichkeit, sich selbst
:iefer zu erforschen. Ein Klient wollte beispielsweise über
,eine Schuldgefühle in bezug auf seine Kinder sprechen.
Doch zuerst hatte er das Bedürfnis, mir mitzuteilen, daß er
,ein Leben als erfolgreich betrachte und dieses Problem ihn
:1icht besondersberühre.Ichakzeptiertedie Gefühle, dieer in
diesem Augenblick empfand. Kurze Zeit später, nachdem
.:-im erlaubt worden war, anderen Gefühlen nachzugeben
ohne sich durch meinen Argwohn oder mein Mißtrauen
::,edroht zu fühlen), war er imstande, seine komplexen
Gefühle von Traurigkeit und Groll in bezug auf seine Kinder
::,ewußt wahrzunehmen und anzuerkennen.
Eine Frage, die in diesem Zusammenhang häufig auftaucht,
,t folgende: »Angenommen, ich empfinde als Therapeut
"egenüber meinem Klienten starke Ablehnung?« SEEMAN
.1954) hat festgestellt, daß der Erfolg einer Therapie eng
155
14. verbunden ist mit einem starken und wachsenden Gefül:.
gegenseitiger Zuneigung und Achtung zwischen Klient un.:
Therapeut. Eine andere, von DITTES (1957) durchgeführte
Untersuchung zeigt, daß es sich hierbei um eine äußers:
feinfühlige Beziehung handelt. DITTES wies anhand der ps·
chogalvanischen Hautreaktion, mit derAngst, ein Gefühl vo:-.
Bedrohung oder erhöhteWachsamkeitbeim Klienten gemes
sen werden können, nach, daß die Anzahl abrupter galvani
scher Hautreaktionen signifikant anstieg, sobald die Einstel
lung desTherapeuten auch nurgeringfügigeSchwankungen 1:-:
Richtungauf einewenigerakzeptierendeHaltunghinaufwies
Wenn die therapeutische Beziehung als weniger akzeptieren.:
erlebt wird, stellt sich der Organismussogar aufderphysiolo
gischen Ebene auf eine Bedrohung ein. Dies weist darauf hir..
daß in einer solchen Beziehung nicht nur eine akzeptierende
Haltung, sondern auch die Kongruenz des Therapeute:-:.
wichtig ist. Da der Klient diese weniger akzeptierende:
Gefühle spürt, sollten sie in der Beziehung offen zur Sprache
kommen.
WennderTherapeut nicht dazu in der Lageist, den Kliente:-.
zu akzeptieren, ist die therapeutische Behandlung bedroh:
Die einzige Möglichkeit, dieses Problem zu bewältiger:.
besteht darin, daß er dem Klienten seine Reaktionen mitteil:
Indem er diese wertenden Gefühle (die der Klient vermut!ic�.
spürt) zugibt, können beide gemeinsam an dem Probier.
arbeiten und den therapeutischen Prozeß unter Umstände:-.
wieder wirksam werden lassen und vielleicht sogar steigern
Bei allzu häufig auftretenden urteilenden Reaktionen de,
Therapeuten kann die Wirksamkeit des therapeutischen Pro
zesses verlorengehen. In seinem Bericht über die vorerwähnt:
Untersuchung über schizophrene Klienten kam TRUAX (1971
zu dem Schluß: »Wenn Therapeuten besitzergreifend sind i:
dem Sinn, daß sie häufig wertende Äußerungen treffen, übe:
sie auf ihre Klienten eine destruktive Wirkung aus.« Ei::
Therapeut, der entdeckt, daß er oft Urteile fällt, muß seir::
Gefühle vielleicht zusammen mit einem Kollegen exploriere:
oder selbst in therapeutischeBehandlunggehen. DieFähigke::
des Therapeuten, seinem Klienten warme und akzeptierenc:
Gefühle entgegenzubringen, istwahrscheinlich davon abhär.-
gig, inwieweit er sich selbst akzeptierend und warm geger:-
übersteht.
156
Eine weitere Dimension dieser Einstellung akzeptierender
Zuwendung zum Klienten beinhaltet offenbar eine Bereit
,,haft auf seiten des Therapeuten, seinen Klienten in die
-=-iefen seiner Angst hinabzubegleiten und darauf zu ver
:�auen, daß sie beide zurückkehren werden. Ich wage die
3egegnung mit dem Unbekannten in meinem Klienten und
:-:-iir selbst ohne die Gewißheit, aber doch im Vertrauen
.:arauf, daß es zu einem guten Ende kommen wird.
Hier ein Beispiel für eine ungewöhnliche Art, einer ande
�en Person emotionale Zuwendung zu zeigen. Eine Freundin
·. on mir, die durch eine schleichende Krankheit, durchwelche
,,e ans Bett gefesselt wurde, zermürbt war und das Gefühl
:-:atte, niemand könnte ihre Verzweiflung verstehen oder
"�zeptieren, »gab schließlich auf«. Sie lag zwei Tage lang
�ewegungslos im Bett, sagte kein Wort, aß nichts und schlief
öJch nicht; sie war wie im Koma. Ich sagte ihr, daß ich
;:aubte, ihre Gefühle nachempfinden zu können, daß mir an
�r liege und daß mich ihr Entschluß, nicht mehr weiterleben
=J wollen traurig mache. Ich versuchte mir vorzustellen, wie
,:e sich in dem Augenblick fühlte, und gab versuchsweise
::npathische Reaktionen. MeineWorte übten auf siekeinerlei
·x-irkung aus. Sie hörte mir nicht zu. Ich dachte nicht einmal
.:1rüber nach, was ich tun könnte, sondern war ganz bei
:::einer Freundin. Ich wußte, daß ich ihr meine Gefühle
:-:-:itteilen wollte. Ob sielebte oder starb, war mirganzund gar
:-...:ht gleichgültig, aber zugleich achtete ich ihre Gefühle und
�:!ligte ihr die Verantwortung für ihr eigenes Leben zu. Ich
cgte ihre Lieblingsplatte auf und pflückte draußen in ihrem
::;arten eine Blume, die ich in eine Schale mit Wasser legte.
·:(·onlos stellte ich die Schale unmittelbar neben ihren Kopf.
ZJm erstenmal lockerte sich ihr starrer Blick. Ihre Augen
-:-,·urden feucht, als sie die Blume erblickte. Meine Freundin
-.at an sich Freude am Essen, und wir hatten oft miteinander
:::1e einfache Knäckebrotmahlzeit eingenommen. Ich holte
.:eshalb ihr Vitamin-C-Fläschen, ein Stück Knäckebrot und
:::1s ihrer Lieblingsplätzchen herbei. Sie bewegte sich ein
-:: enig und brach in leises Schluchzen aus. Daraufhin nahm
::i die Morgenzeitung, schnitt daraus Bilder von spielenden
:.indem, jungen Mädchen, kleinen Tieren - das heißt: von
:..eben - aus undgestaltete eine Collage, die meineVorstellung
.:1·on, wie sie das Leben normalerweise betrachtete, wieder-
157
15. gab. Als ich ihr diese Collage zeigte, brach sie in Tränen unc
heftiges Schluchzen aus, das nur ab und zu in Lacher:
umzuschlagen schien. Inzwischen weinte ich ebenfalls, uns:
zehn bis fünfzehn Minuten lang vergossen wir gemeinsar.:
unsere Tränen. Nachdem wir insgesamt fast zwei Stunde:-.
ohne verbale Kommunikation miteinander verbrachthatter..
konnte sie über ihr Erlebnis sprechen, und wir konnte:-.
gemeinsam ihren Gefühlen nachgehen. Wochen späte
äußerte meine Freundin: »Mich hat eine Person buchstäblicl
vor dem Sterben bewahrt, indem sie sich um mich sorgte unc
sich nicht scheute, mich in die Tiefen meiner Angst unc
Verzweiflung hinab zu begleiten.«
Ich hoffe hierdurch niemanden zu der Schlußfolgerung z-_:
verleiten, daß das allerneueste Selbstmordverhütungsmitte:
für eklektische Therapeuten aus einer Blume, einem Stüc�
Knäckebrot und einer Collage auf Filzpapier besteht. Ic}
hoffe vielmehr, daß dies als ein Sonderbeispiel der unend
lichen Vielfalt von Möglichkeiten aufgefaßt wird, wie ma:-.
einer anderen Person seine Zuwendung mitteilen kann.
Diese nichtbesitzergreifende Zuwendung - bei der ich e,
nicht nötig habe, meinem Klienten zu sagen, was für ihn da,
beste ist, oder ihn zu kontrollieren, bei der ich all seine
gemischten Gefühle akzeptieren kann, ihn so akzeptiere:-.
kann, wie er gerade ist, diese Art von Zuwendungschafft ei:-.
sicheres Klima, in dem er die »schrecklichen« Gefühle, die e:
erlebt, die verborgensten Elemente von sich explorieren, :;.
überhaupt erst zulassen kann.
Präzises einfühlendes Verstehen
Wenn ich die phänomenale Welt meines Klienten versteher:
will, muß ich mehr als nur den einfachen Sinn seiner Worte
verstehen. Ich muß eintauchen in die Welt komplexer Sinnge
halte, die mein Klient durch seinen Tonfall und ebenso durc�.
seine Gesten zum Ausdruck bringt. Ein solches Versteher:
äußert sich im besten Fall durch Bemerkungen, die nicht nu:
spiegeln, was dem Klienten voll bewußt ist, sondern auch die
möglichen Zonen erfassen, die am Rande seiner Gewahrwer
dung auftauchen. Bei diesem Versuch, den Klienten seinerr:
eigenen Erleben näherzubringen, hilft es mir, wennich voll ir:
meinem eigenen Erleben drinstehe - wenn ich mit meiner:
158
Gefühlen in Berührung bin. Indem ich in das Universum
:-:-ieines Klienten eintauche und mein eigenes Erleben sensibel
cvahrnehme und mitteile, kann ich ihm zuweilen den gefühl
:cn Sinngehalt vermitteln, dessen mein Klient sich nur vage
:cewußt ist. Er ist in wachsendem Maß in der Lage, mehr von
-einem aktuellen organischen Erleben, das in ihm leibhaft
:::iläuft, ins Bewußtsein zuzulassen.
Ein solches sondierendes Abtasten des Randes der Ge
-:-ahrwerdung erfordert sehr vielFeingefühl. Ein allzugewag
:cr Vorstoß seitens des Therapeuten, mit dem er zu weit über
.::en Rand dessen, was dem Klienten bewußt ist, vordringt,
-:-,ird von diesem häufig als Bewertung oder Urteil empfun
.::en. Bei seiner Selbstexploration ist der Klient wie ein Kind,
.::as sich zum erstenmal hinaus in die Dunkelheit wagt. Er
::igstigt sich und schreckt leicht zurück, bis er mit dieser
:-.cuen Welt vertraut wird. Andeutungen desTherapeuten, daß
::- über diese Welt mehr wisse als der Klient, können diesen
::'edrohen in seinem zaghaften, gleichsam kindlichen Bestre
:en, gefährliche Bereiche seiner selbst zu erforschen.
Das folgende Beispiel aus einer Encountergruppeillustriert
:: anschaulicher Weise den grundlegenden Unterschied zwi
<nen einem klinisch sondierenden Verfahren und einer
::-:-ipathischen Reaktionsweise, die das befreiende Erlebnis
-:-.it sich bringt, endlich verstanden zu werden.
Doug, ein achtunddreißigjähriger Kaufmann, hat der
::-uppe gerade davon erzählt, wie er sein Geschäft, seine
:':-au, seine Familie und seine Kreditwürdigkeit innerhalbder
:emeinschaft, in der er lebte, verloren hatte und wie er sich
.:::in in jahrelangen mühseligen Kämpfen allmählich sein
:cSchäft wieder aufgebaut und seine Kreditwürdigkeit
= �:-ückgewonnen hatte.
Gruppenmitglied: »Du hast von deiner Scheidung gespro
::-.en und davon, daß es dich traurig macht, von deinen
::..::idern getrennt zu sein. Es scheint so, als ob du Probleme
- ::test, von denen du uns nichts erzählst.«
Doug: »Nun, das war ein sehr schmerzliches Erlebnis in
-.emem Leben, und ich habe eben versucht, euch das mitzu
::::en. Für mich war es sehr traurig, und das wird es auch
-:-:'.Tler bleiben, aber ich hab' das Gefühl, daß ich diese
::.:-iahrung durchstehen konnte und dadurch gewonnen
- .:.:,e.«
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16. Mitglied: »Glaubst du, daß es durch einen Mangel an
Stabilität zu diesem Bruch gekommen ist?«
(Doug wird unruhig und runzelt die Stirn.)
Mitglied: »Ich hab' das Gefühl, daß du eine Last mit dir
herumschleppst, die mit diesem Ereignis zusammenhängt
und dich behindert. Als ob du damit irgendwie nicht fertif
geworden wärst - eine Wunde, die nicht aufhört zu schmer
zen.Mir scheint, unter der Oberfläche bist zu sehr verletzt.,,
(Doug kreuzt die Beine, verschränkt die Arme über de�
Brust und zündet sich dann eine Zigarette an.Er trägt dabe:
eine gleichgültige, abwesende Miene zur Schau.)
Doug: »In gewisser Weise hast du wahrscheinlich recht.Icl-.
bin ein ziemlich unbeständiger Charakter.« (Mit sehr leise
Stimme.) »Ich komme aus einer puritanischen Familie, unc
wegen meiner Kinder habe ich noch immer große Schuld
gefühle.«
Mitglied: »Ich frage mich, inwieweit du dir erlaubt hast.
deinen Schmerz zu fühlen ... ihn einfach voll zu fühlen?«
(Die Gruppenmitglieder versuchen ihn mit sondierende:
Bemerkungen dazu zu bringen, daß er seinen »offenkun
digen« Schmerz oder seine Gefühle äußert.Doug steht seiner.
gefühlten Bedeutungsgehalten zu diesem Zeitpunkt nich:
sehr nahe.Er schließt sich infolgedessen immer mehr ab unc
verbirgt seine innersten Gefühle vor der Gruppe.)
Mitglied: »Hat deine Frau dich verlassen? Ist sie di�
davongelaufen?«
Mitglied: »Wie hast du das empfunden?«
Doug: (Unbeteiligt.) »Nun, es gab Probleme.«
Mitglied: »Warum hat sie dich verlassen?«
Doug: »Ich hatte finanziell Ruin gemacht, und sie wollte
nicht länger in der Gemeinde bleiben und ständig Gläubiger:-.
von mir gegenübertreten müssen, und so ging sie weg...Ic�
blieb und bemühte mich darum, unsere Schulden zurückzu
zahlen - einen Neuanfang zu machen. Sie hatte bestimmte
Vorstellungen in bezug auf unsern Lebensstil. Gesellschaft
liche Anerkennung war für sie sehr wichtig - wichtiger, als e,
mir war.«
Mitglied: »Du empfindest offenbar noch immer große:-.
Schmerz. Es scheint dir sehr nahezugehen. Du hast die�
davon noch nicht gelöst.«
Mitglied: »Wann ist das passiert?«
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Doug: »Vor vier Jahren.«
.ifitglied: »Eine lange Zeit, wenn man so etwas (den
�:hmerz) mit sich herumschleppt.«
.ifitglied: »Hast du andere Beziehungen aufgenommen?«
Doug: »Ja.«
.tfitglied: »Wie lassen die sich an?«
Doug: »Gut.« (Sehr abwehrend.) »Ich glaube, die Gruppe
:1t recht mit dem, was sie über meine Wut und meinen
�:hmerz sagt.Aber ich fühl' mich gut. Ich habe mit meiner
'::x-Frau und mit meiner Wut abgeschlossen.Ich glaube nicht,
.:111 es mir so schlecht geht, wie ihr zu glauben meint.«
_-n dieser Stelle führt der Therapeut den Erlebensfluß
= Jrück zu dem Punkt, wo Doug offenbar den Bezug zu
-einen gefühlten Bedeutungsgehalten verlorenhatte,indemer
:::1ige dieser Gefühle empathisch erfaßt und bemerkt: »Es
-:--.uß unheimlich viel Mut und Kraft gekostet haben, den Weg
:..:rück zu finden und nach einem so niederschmetternden
::�lebnis noch einmal von vorn anzufangen.«
Doug: »Nun, weißt du, eswar verdammthart (seineAugen
-:-, erden feucht), der psychische und der physische Schmerz.
'.eine ganze Welt brach zusammen ...aus der Gemeinschaft
:...:sgeschlossen ... nachdem sie mich verlassen hatte. Ver
.::.mmt harte Jahre, während ich mich wieder aufgerappelt
�.abe ... (schluchzt jetzt und berichtet noch einmal seine
�eschichte...). Erst seit einem Jahr bin ich wieder in der
�1ge, zu lachen und mir finanziell keine Sorgen mehr zu
-:--.achen. (Mit Zorn in der Stimme.) Und für meine Kinder
-:.6e ich die ganze Zeit gesorgt und tue es auch jetzt noch.«
Einfaches Verständnis für Dougs Gefühle brachte ihm die
::�'.eichterung, die die Gruppe trotz all ihrer wohlmeinenden
'.:>sichten ihm nicht hatte geben können.
Ich möchte diesen Abschnitt mit einem Beispiel abschlie
:.::1, das anschaulich zeigt, welche Überraschung ein Thera
:tut erleben kann, der die private Welt eines anderen aus
.:essen Perspektive betrachtet.In New Directions in Client
�entered Therapy (1970) berichtet JOHN SHLIEN die
�eschichte eines Psychologen, der auf den Wunsch der
:tsorgten Eltern hin einen »schwierigen« Jungen zu beob
:.�:1ten hatte. Der Junge war still, sensibel, einsam, nervös,
�.:.tte Angst vor anderen Kindern und wurde durch sie sehr
:...:igeregt. Das Kind stotterte, wenn es mit Fremden sprach,
161
17. und zog sich immer mehr in sich zurück. Unbemerkt beob
achtete der Therapeut das Kind, während es für sich allein ir.
elterlichen Garten spielte. Es saß versonnen da und lauschte
dem Gebrüll der Nachbarskinder. Der Junge runzelte d:c
Stirn, rollte sich auf den Bauch und hämmerte mit seine
weißbeschuhten Füßen auf den Rasen. Er setzte sich wiedc
auf und betrachtete seine schmutzigen Schuhe. Dar.�
erblickte er einen Regenwurm. Er legte ihn auf eine Steir.
platte, suchte sich einen scharfkantigen Kieselstein un.:
begann den Wurm in der Mitte durchzutrennen. An diese�
Punkt machte sich der Psychologe im Geist vorsichtige
Notizen des Inhalts: »Scheint isoliert und zornig zu sein, is:
vielleicht übermäßig aggressiv oder sadistisch, sollte beob
achtet werden, wenn er mit anderen Kindern spielt, ma�.
sollte ihm kein Messer in die Hand geben und ihm keir.c
Haustiere anvertrauen.« Dann bemerkte er, daß der Junge
mit sich selbst sprach. Er beugte sich näher heran und spitz:c
die Ohren, um zu verstehen, was der Junge sagte, als er de�.
Wurm durchtrennt hatte. Er sagte, wobei sich seine Sri:-�
glättete: »Da, jetzt hast du einen Freund.« Der Unterschie.:
zwischen dem, was man von außen beobachtet, und de�
inneren Welt ist manchmal verblüffend.
Rangfolge der therapeutischen Einstellungen
In bezug auf die Priorität der therapeutischen Einstellungc
von Echtheit, Zuwendung und Empathie sind die Autorc
unterschiedlicher Ansicht.
Carl: Im Augenblick bin ich der Meinung, daß von den dre
Einstellungen, die der Therapeut besitzen sollte, Echthc
oder Kongruenz die grundlegende ist. AlsTherapeut muß ic::
sehr starkes Einfühlungsvermögen erwerben, um die ther;.
peutische »Arbeit« erfüllen zu können. Ein solches Gesp;.:�
für das augenblickliche »Sein« eineranderen Person setzt abe�
voraus, daß ich diese andere Person akzeptiere und ihr einige
Hochschätzung entgegenbringe. Diese Haltungen sir..:
jedoch nur dann von Bedeutung, wenn sie wirklich sind, ur.:
deshalb muß ich in der therapeutischen Begegnung zualle�
erst integriert und echt sein.
John: Aus der Perspektive des Klienten gesehen ist meine�
Ansicht nach die wichtigste therapeutische Einstellur.:
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etwas, das ich in Freundschaften und anderen Beziehungen
�eistens nicht bekommen kann, das bedingungsfreie Akzep
:ieren. Diese Art von nichturteilender Zuwendung erlaubt
�ir, meine tiefsten und am meisten behüteten Gefühle zu
erforschen. Die drei therapeutischen Einstellungen sind
�achgewiesenermaßen eng miteinander verbunden. Es sind
·:ielleicht drei Dimensionen eines elementaren Faktors. Ich
:,abe die Vermutung, daß dieser grundlegende Faktor darin
::iesteht, daß der klientenzentrierte Therapeut sein Vertrauen
:1 die natürliche Selbstverwirklichungs- und Selbstbestim
�ungstendenz des Klienten setzt und sie respektiert.
Alle unsere spekulativen Vorstellungen bedürfen noch
eines empirischen Nachweises. Gesichert ist bis jetzt nur, daß
eine Therapie offenbar dann optimal wirksam ist, wenn der
:-herapeut alle drei Einstellungen - Echtheit, Akzeptieren
.:nd präzises einfühlendes Verstehen - in hohem Maß ver
wirklicht.
Um diesen Abschnitt zusammenzufassen: Indem der
::;.!ient jemanden findet, der ihm mit gleichbleibend akzeptie
�ender Haltung zuhört, während er seine Gedanken und
Gefühle äußert, wird er nach und nach immer mehr fähig,
!itteilungen aus seinem Innern aufzunehmen; er nimmt
::iewußt wahr, daß er wütend ist; oder daß er verängstigt ist;
]der daß er liebevolle Gefühle erlebt. Allmählich kommt er in
:ie Lage, auf Gefühle in seinem Innern zu horchen, die ihm
:�üher so absonderlich, so schrecklich und so bedrohlich
erschienen waren, daß sie völlig von der Gewahrwerdung
o.usgeschlossen waren. Während er diese verborgenen und
schrecklichen« Aspekte von sich enthüllt, merkt er, daß die
Zuwendung des Therapeuten ihm gegenüber nicht nachläßt.
:._-nd allmählich übernimmt er die gleiche Einstellung gegen
.:ber sich selbst, er beginnt sich so, wie er ist, anzunehmen
.:nd bereitet seinen weiteren Werdeprozeß vor. Wenn der
:S:.lient schließlich so weit ist, daß ergrößere Bereiche von sich
,:ahrnehmen kann, entwickelt er immer mehr Kongruenz
.:nd nähert sich dem freien, offenen Ausdruck seiner selbst
o.n. Er ist zuletzt frei, sich zuverändern undin die Richtungen
=u wachsen, die dem reifenden menschlichen Organismus
.on Natur eigen sind.
Psychotherapie ist ein Prozeß, durch den der Mensch eins
-xird mit seinem Erleben, ohne Selbsttäuschung, ohneVerzer-
163
18. rung. Er kehrt auf wissende Weise zu seinem ursprünglicher:
sinnenhaften und leibhaften Erleben zurück. Psychotherapie
ist ein Prozeß der Erkundung der eigenen Person, den T. s.
ELIOT in die Worte einfängt: »Und am Ende all unsere,
Suchens werden wir dorthin gelangen, von wo wir ausgegan
gen sind, und wir werden den Ort zum erstenmal kennen."
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